Gezeichnet fürs Leben sind die Menschen, die als Kinder und junge Erwachsene das Grauen der Ghettos und Displaced-Persons-Camps wie durch ein Wunder überlebten und sich in Israel eine neue Existenz schufen. Sie heißen Linka und Rafael, Klara und Batya, sie stammen aus Polen und anderswoher. Und obwohl man diese Geschichten von Schrecken und grausamen Schicksalen zu kennen meint, berühren und beeindrucken sie auf eine besondere, stille Weise.

Irit Amiel wurde 1931 in Polen als Irena Librowicz geboren. Sie überlebte den Krieg im Ghetto von Częstochowa mit falschen Papieren. 1947 kam sie nach Palästina und lebt seitdem als Autorin und Übersetzerin in Israel. Sie schreibt Lyrik auf Polnisch und Hebräisch und hat zahlreiche polnische Autoren ins Hebräische übersetzt. Ein Band ihrer eigenen Gedichte erschien 2013 in England.

Irit Amiel | Gezeichnete

Geschichten vom Überleben

Aus dem Hebräischen von Magali Zibaso

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel Osmaleni im Verlag Świat Literacki

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2015

© der deutschen Ausgabe Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Copyright © Irit Amiel 2006

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Umschlagabbildung: Dita Amiel (Mixed Media)

Umschlaggestaltung: Ute Fahlenbock

eISBN 978-3-633-73994-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Anstelle eines Mottos

Eine Seite aus dem Tagebuch

Linka

Rafael

Klara oder Weltflucht

Palestinschik

Batya

Daniel

Siva

Elisheva

Bruria

Gezeichnete

Verwicklungen der Gegenwart

Lucynka

Blitzlicht auf Częstochowa

Abschied von meiner toten Klasse

Eine israelische Geschichte

Drei Begegnungen

Vipassana

Chana

Optionen

Tikva und Salem

Familiäre Umwälzungen

Gespaltene Existenz

Letzte Gespräche

Versäumte Rache

Stammeltern

Eine holländische Geschichte

Kol Nidre

Schnappschuss

Glossar

Und Enosch sah Eva an den Toren von Sodom,

wo die wahre Lösung herrschte:

ARBEIT MACHT FREI

Und Enosch zählte zweiundvierzig Jahre und sein Gewicht betrug ebenso viel

Und Eva zählte dreißig Jahre, und sie saß im Staub

unter dem Tor und erwartete ihre beiden kleinen Söhne, die sich längst aufgelöst hatten

in den vier Windrichtungen des Himmels in einer schwarzen Rauchwolke

Und Enosch reichte Eva die Hand und sprach: Steh auf Frau und komm.

Niemand kehrt zurück von nirgendwo, und Kain hatte Abel bereits getötet

Blicke nicht zurück, damit du nicht werdest eine Salzsäule in alle Ewigkeit.

Und sie gingen durchs Tal des Mordens und der Trümmerhaufen in das Land Kanaan

und zeugten andere Töchter und Söhne und gaben ihnen neue Namen, um Gott irrezuführen.

Und Gott sprach, ich habe euch erlaubt, aus Sodom wegzuziehen,

aber weitere Geschäfte wird es nicht geben.

Eine Seite aus dem Tagebuch

Es war Spätherbst 1942. Es war noch nicht richtig kalt, und das rötlich-goldene Laub wirbelte im Staub und im Schlamm. Manchmal konnte man sogar eine Kastanie finden, dunkelbraun und feucht in der stachligen grünen Schale.

Die Straße lag still. Gelähmt vor Furcht. Wie leere Augenhöhlen blickten die Fenster aus zerbrochenen Scheiben. Vater sagte wie nebenbei, dass man so bald wie möglich in das jüdische Krankenhaus am Ende der Straße übersiedeln müsse. Aber in seiner Stimme hallte ein merkwürdiges Beben wider. Ich trug einen leichten Mantel und einen Schal, ein Barett und das grüne Wollkostüm, das meine Mutter mir gestrickt hatte. Vater machte sich noch immer über Mutters Strickleidenschaft lustig, aber niemand lachte mehr über seine Späße. Die Welt ging in Flammen auf, und wir waren im Zentrum der Feuersbrunst.

Mutter gab mir eine Scheibe trockenes Brot, küsste mich und nässte mein Gesicht mit ihren Tränen. Ich kaute das Brot und begriff nicht, weshalb sie so schluchzte, schließlich würden wir uns doch am Abend wiedersehen. So hatten sie es mir versprochen. Aber ich sah Mutter nie wieder. An ihre Gesichtszüge erinnere ich mich nur anhand eines zerrissenen und vergilbten Fotos, das mir ihre Schwester nach dem Krieg aus Amerika schickte.

Am Ende der Straße, der Grenze zur arischen Seite, stand ein ukrainischer Soldat und schoss in die Fenster, sobald er irgendeine Bewegung wahrnahm. Vater war sehr nervös und sagte mir, ich solle auf der Straße hinter ihm herkriechen, so dicht wie möglich an den Häusern. Auf eben derselben Straße, auf der ich einst mit meiner Schultasche zur Schule ging, umgeben von meinen lachenden Freundinnen, krochen wir beide jetzt auf allen vieren. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte eine Staubwolke auf und blendete mich für einen Augenblick. Der ukrainische Soldat gab drei Schüsse ab. Die Kugeln flogen pfeifend über unsere Köpfe. Wir erstarrten einen Augenblick, dann krochen wir weiter. Es war nicht weit, aber mir schien es eine Ewigkeit zu dauern. Es war die längste Strecke, die ich in meinem Leben zurückgelegt hatte. In letzter Zeit wecken mich diese Schüsse nachts auf.

An das schwere Tor des Krankenhauses gepresst, schlugen wir verzweifelt mit geballten Fäusten an das Tor, mit der letzten Kraft, die uns verblieben war. Ein jüdischer Polizist, ein Bekannter Vaters, öffnete einen schmalen Spalt, und wir schlüpften in den Hof. Vater reichte ihm ein Bündel grüner Geldscheine. Von diesem Augenblick an ging alles sehr schnell. Zu schnell. Er führte uns in einen dunklen Schuppen, zündete eine Laterne an und zog aus der glatten Wand ein Brett und dann ein zweites. Ein schwarzes Loch zeigte sich in der Wand. Vater hob mich hoch und sagte, ich solle die Hände ausstrecken, wie beim Schwimmen, und schob mich kopfüber in das Loch. Aber die Öffnung war zu eng, und ich musste rasch den Mantel ausziehen und wieder den Kopf und die Hände in das schwarze Loch stecken. Ich war fassungslos. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Ich erinnere mich nur, dass er sehr bleich war, und um seinen Mund zuckte etwas zwischen einem Lächeln und einem Weinen.

Am anderen Ende ergriff mich ein fremder Mann mit einem Schnurrbart und stellte mich auf. Noch bevor ich mich erholen konnte, fiel mein gelber Herbstmantel auf meine Füße. Als ich den Kopf hob, gab es kein schwarzes Loch mehr. An der glatten Wand hing friedlich das vergoldete Bild der Schwarzen Madonna von Częstochowa.

So verließ ich das Ghetto zum ersten Mal, mitten in der Aktion. Meine Kindheit, das Barett, der Schal, meine schöne Mutter und mein kahlköpfiger, geliebter Vater blieben für immer auf der anderen Seite. Ich war damals elf Jahre alt, und seit diesem Augenblick fühle ich mich im Leben nirgends mehr zuhause.

Linka

Linka verstand sehr bald, dass man danach nicht mehr weiterleben konnte. Sie verstand das lange Zeit vor den anderen, die älter und klüger waren als sie: Borowski, Celan, Wojdowski, Primo Levi, Kosiński, und sie versuchte wie eine Erwachsene ihrem Leben ein Ende zu machen. Zweimal konnte sie gerettet werden, aber sie blieb hartnäckig, überzeugt davon, dass ihre Wahl die richtige sei. Und beim dritten Mal gelang es ihr, endgültig aus unserer herrlichen Welt zu scheiden.

Sie wurde nur achtzehn Jahre alt. Hatte mandelförmige Augen, grünblau wie das Meer, schwarzes Haar, fast blau, üppig und glänzend, und einen vollen, weiblichen Körper, der ihr noch kaum Freude bereitet hatte.

Am Tag ihrer Beerdigung regnete es in Strömen, und alle wiederholten den abgedroschenen Satz: Sogar der Himmel weint. Ich, vier Jahre jünger als sie, dachte, dass sie recht hatte und das Richtige getan hatte. Ich bewunderte ihren Mut, den ich nicht besaß.

All das geschah 1945 in einem der Flüchtlingslager in Deutschland. Wir schleppten uns langsam hinter ihrem Sarg her, weil unsere eiskalten, nassen Füße im schwarzen, klebrigen Schlamm versanken. Und wir weinten. Scheinbar ihretwegen, aber eigentlich unseretwegen. Fürwahr, wenn das Feuer die Zedern verzehrt, was soll das Moos dazu sagen … Sie war schön und begabt, konnte singen, tanzen, und sie hatte eine liebe Mutter, die sich um sie sorgte, ihr Essen und Süßigkeiten und schöne, warme Kleidung brachte.

Die Jungen wurden von Linka angezogen wie die Bienen vom Nektar. Sie umschwärmten sie von allen Seiten, jederzeit bereit, ihr zu dienen, achteten auf jede ihrer Launen. Es ging das Gerücht, dass es im Lager irgendeinen schönen SS-Mann gab, der sich bis zum Wahnsinn in sie verliebt hatte und sogar bereit war, sich durch Rassenschande in Gefahr zu bringen. Aber sie wies seine Werbung zurück und verspottete ihn. Um sich an ihr zu rächen, schoss er auf ihren kleinen Bruder Miecio und tötete ihn.

In letzter Zeit denke ich viel an sie und stelle mir ihr Leben vor. Wenn es ihr gelungen wäre, ihren starken Todestrieb zu überwinden, wäre sie heute um die siebzig. Wahrscheinlich hätte sie einen Sohn, der nach ihrem Bruder Miecio benannt worden wäre, hebräisch Moshe, und seine Freunde hätten ihn Moshik gerufen. Sicher wäre Moshik heute Computerfachmann, denn der Sohn einer polnischen Mutter muss Rechtsanwalt, Arzt oder wenigstens Ingenieur sein. Sie könnte aber auch drei hochgewachsene, freche Enkel haben, und einer von ihnen würde in diesem Jahr seine Ausbildung bei den Fallschirmjägern beenden, und sie würde bei der Zeremonie zur Verleihung des Dienstgrades zu Tränen gerührt sein und sich sagen, das ist mein Enkel, ein Offizier in der Armee des jüdischen Staates.

Es hätte zu ihr gepasst, in Ramat Aviv zu wohnen, mit ihrem Mann, einem immer noch gutaussehenden Geschäftsführer einer Hightech-Firma, der einen weißen Mitsubishi fährt; sie würde ihr ergrauendes Haar blond färben und maßgeschneiderte Gucci-Kostüme mit ihrem Monogramm am Revers tragen. Gewiss hätte sie einmal im Monat montags mit uns im prächtigen Café Apropo gesessen, mit Süßstoff gesüßten Kaffee getrunken und eine lange, elegante Zigarette geraucht.

Aber all das ist nicht geschehen. Linka blieb im kalten, schwarzen deutschen Schlamm begraben. Ihr wurde die Sorge erspart, dass ihr Mann einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erleiden, ihr Enkel im Libanon eingesetzt, sie selbst an Alzheimer oder Parkinson erkranken würde. Einst bewunderte ich ihren Mut, den Tod zu wählen. Heute verstehe ich, dass viel mehr Mut dazu gehört, das Leben zu wählen.

Rafael

Am Tag nachdem ich in der Zeitung seine Todesanzeige gesehen hatte, erhielt ich einen Brief von Rafael, aus Deutschland. Heute will ich meine Schuld abtragen und niederschreiben, was er mir über die Jahre erzählt hat.

Ich begegnete Rafael zum ersten Mal 1945 im Flüchtlingslager Landsberg. Er war hochgewachsen, gebräunt und hatte ein auffällig vorspringendes Kinn. Er wirkte sehr männlich, trug einen Ledermantel und schwarze Stiefel. Ich dachte, so sieht ein wahrer Partisan aus, und verliebte mich sofort hoffnungslos. Ich war damals vierzehn und er einundzwanzig.

Rafael, der großen Erfolg bei meinen älteren Freundinnen hatte, mochte aber gerade mich und nannte mich hebräisch tinock – Baby. Ich war überzeugt, es sei ein französisches Wort, und liebte die Sprache der Liebe. Rafael war meine zweite unerwiderte Liebe. Die erste war das Land meiner Geburt – Polen.

In den ersten Jahren nach der Befreiung sprachen wir kaum über unsere Erlebnisse während des Krieges oder darüber, wie wir gerettet worden waren. Wir sprachen viel über unsere Zukunft in Israel, über Bücher, über Zionismus und über unsere Beziehung. Wir plauderten viel, aber wir waren noch nicht bereit, über unsere jüngste Vergangenheit zu reden. Später hatten wir in anderen Flüchtlingslagern in Italien und auf Zypern andere Liebesbeziehungen. Schließlich kamen wir nach Israel und begannen ein neues, stürmisches Leben. Ich schloss mich einem Kibbuz an, Rafael einem anderen. Wir begegneten uns erst Jahre später wieder – in einem Seminar über Gartenbau. Rafael war noch immer gebräunt und gutaussehend, aber da war ich bereits immun gegen seinen männlichen Charme.

»Sag, Rafi«, fragte ich, »wusstest du wirklich nicht, dass ich hoffnungslos in dich verliebt war?« »Nein«, antwortete er, »schau, du warst doch wirklich noch ein Baby.«

Damals sprachen wir zum ersten Mal über die Geschehnisse während der Kriegsjahre. Rafael erzählte, dass sein Vater ihn aus dem Zug geworfen hatte, der ins Vernichtungslager raste, und ihm befohlen hatte, sofort in den nächsten Wald zu laufen.

»Jemand muss übrig bleiben, um alles zu erzählen«, sagte sein Vater, »du bist jung und stark, vielleicht schaffst du es! Spring!« Damit stieß er Rafael durch die Öffnung, die er vorher erweitert hatte. Erschrocken und verwirrt sprang Rafael und rannte in Richtung des Waldes, während hinter ihm Schüsse krachten. Er lief, bis er besinnungslos umfiel. Als er, von Panik erfasst, wieder zu sich kam, sah er ein junges Gesicht über sich gebeugt. Das war Hans, ein deutscher Bauer, der mit seiner Frau Ilse am Waldrand wohnte, weit entfernt von allen anderen Häusern des Dorfes. Hans war vom Militärdienst befreit, weil er an Epilepsie litt. Das Paar war kinderlos, und Rafael fiel ihnen buchstäblich vom Himmel zu. Sie brauchten dringend eine Hilfskraft für den Hof und die Feldarbeit, weil sie dem Staat einen beträchtlichen Anteil der Ernte abliefern mussten.

Hans und Ilse beschlossen, Rafael bei sich zu verstecken, und lebten drei Jahre unter der Drohung der Todesstrafe, weil sie einen Juden in ihrem Haus verbargen. Die drei erlebten viele Momente panischer Angst. Aber Rafael, zum Leben verurteilt, wurde gerettet.

Nach dem Krieg verließ er Hans und Ilse, um seine Familie zu suchen. Als er herausfand, dass es niemanden mehr gab, beschloss Rafael, einsam und verwaist wie viele andere, Europa für immer zu verlassen und in das Altneuland auszuwandern. Auf dem Weg begegnete er vielen jüdischen Überlebenden und arbeitete als Freiwilliger in den Flüchtlingslagern der Bricha, wo wir einander begegneten.

Nach drei Tagen Seminar trennten wir uns in aller Herzlichkeit und blieben jahrelang in lockerem Kontakt. Ich wusste, dass Rafael einer der Hauptstützpfeiler seines Kibbuz war, verheiratet mit Nira, einer sephardischen Frau, deren Familie seit fünf Generationen im Land war. Sie half ihm sehr, sich in Israel und im Kibbuz zurechtzufinden. Ich wusste auch, dass sie einen Sohn hatten.

1988 machte ich eine Reise nach China. Zu meiner großen Freude entdeckte ich Rafael in unserer Gruppe. Aber nun sah er nicht mehr wie ein Filmstar oder ein junger Partisan aus. Er war noch immer gebräunt, ging aber gebeugt und sein Haar war grau. Zwei tiefe Falten der Verbitterung hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er war schweigsam und wie erloschen, als befände er sich unter einer Glasglocke, so dass nichts zu ihm durchdringen konnte.

Es war eine besondere Reise. China: das unbekannte Land, großartige Landschaften, neue, fremde Gerüche, ganz andere Menschen, eine ferne und geheimnisvolle Kultur. Aber anscheinend drang nichts von alldem zu Rafael. Er schaute und sah nicht, er lauschte und hörte nicht, vollkommen schweigsam und unzugänglich.

Am letzten Abend gingen wir zusammen spazieren, um von der zauberhaften Stadt Guillin Abschied zu nehmen, und da löste sich plötzlich seine Zunge, und er sagte: »Ich weiß, dass du über Dinge schreibst, die uns beiden wichtig sind, und deswegen werde ich dir etwas erzählen, was du nicht weißt – aber unter der Bedingung, dass du es niemandem erzählst, solange ich lebe. Nach meinem Tod schreib darüber, wo und wie immer du willst.«

»Rafi«, sagte ich munter, »du bist so gut in Form, dass du mich noch bei meiner Beerdigung beweinen wirst!« Aber ich versprach es ihm, und heute schreibe ich zum ersten Mal darüber.

Als spräche er zu sich selbst, erzählte mir Rafael in der Dunkelheit Chinas, dass seinerzeit, bevor er Deutschland nach Kriegsende verließ, sein Retter Hans sich an ihn gewandt und gesagt hätte: »Wir haben uns an dich gewöhnt wie an einen Sohn, aber wir verstehen, dass du deine Familie suchen möchtest. Ich habe nur eine Bitte – mach uns ein Kind, bevor du gehst, und versprich mir, dass du niemals zu uns und in dieses Land zurückkehrst.« Und so geschah es. Hans verbrachte diese letzte Nacht im Wald, und Rafael im Ehebett mit Ilse.

»Ich hatte in meinem Leben viele Frauen«, sagte Rafael, »aber niemals mehr ein so starkes Erlebnis. Ilse war meine erste Frau, sie war mir Mutter und Retterin. Das Bewusstsein, dass es das erste und letzte Mal war, steigerte die Sinnlichkeit.«

Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, mussten wir ins Hotel zurückkehren und die Koffer packen. Am folgenden Tag erzählte mir Rafael während des langen Fluges, dass er seinen einzigen Sohn bei einem Unfall verloren hätte. Der Traktor, den sein Sohn gelenkt habe, sei im Schlamm gerutscht, habe sich überschlagen und seinen Sohn und zwei ausländische Freiwillige unter sich zermalmt.

»Von diesem Schlag«, sagte Rafael, »kann ich mich nicht erholen. Nira ist in einer schlimmen seelischen Verfassung, unsere Beziehung zerrüttet, und ich fühle mich wieder genauso einsam und überflüssig wie damals.«

Ich dachte viel über Rafaels Erzählung nach. Alles, was die Schoa betrifft und das Schicksal derer, die zum Leben verurteilt worden sind, fesselt mich mehr als alles andere in der Welt.

Vielleicht waren die Götter eifersüchtig auf seine Rettung, sein warmes Land, auf seine Schönheit, seinen Erfolg, auf seine neue Familie – wer weiß?

Während der letzten Jahre hielten wir nur losen Kontakt, was hauptsächlich an mir lag. Vor den Feiertagen ein unverbindliches Telefongespräch, empfindliche Themen vorsichtig meidend. Letzthin erfuhr ich über gemeinsame Bekannte, dass Rafael beabsichtigte, nach Deutschland zu reisen, um Hans und Ilse zu besuchen. Ich war erstaunt. Wusste ich doch von seinem Versprechen, nie im Leben dorthin zurückzukehren.

Später gab es nur die Todesanzeige und den Brief aus Deutschland, in dem es hieß: Ich erinnere dich an dein Versprechen. Jetzt kannst du schreiben. Ich habe nur wenige Worte hinzuzufügen. Trotz meines Schwurs bin ich nach Deutschland gefahren. Hans fand ich in einem Altersheim. Ilse ist vor einigen Jahren gestorben. Es war eine merkwürdige Begegnung: eine große Nähe und Fremdheit zugleich. Bevor wir uns trennten, fragte ich stotternd: »Kinder?« Hans drehte mir den Rücken zu, und beinahe flüsternd erwiderte er: »Ja, einen Sohn. Er fuhr nach Israel, zur Wiedergutmachung, und kam nicht zurück. Er wurde bei einem Unfall getötet. Der Traktor, mit dem er von der Arbeit zurückfuhr, rutschte im Schlamm, kippte um und zermalmte ihn und noch zwei andere. Und jetzt geh und komm nie wieder!« Am Ende wurde ich besiegt, fasste Rafael zusammen.

Später erfuhr ich, dass Rafael in Deutschland Selbstmord begangen und verfügt hatte, seinen Körper in einem Krematorium verbrennen zu lassen.

Klara oder Weltflucht

Ein Freund, der aus Indien zu Besuch kam, bestellte mir einen Gruß von ihr. Vielleicht, weil wir vor fünfundfünfzig Jahren dazu bestimmt gewesen waren, in derselben Grube zu sterben. Wir beide standen auf einer Liste von Leuten, die durch einen geheimen Austausch die Chance erhielten, das Ghetto zu verlassen und nach Palästina zu fahren. Wer konnte eine solche Torheit ernst nehmen? Deutsche Templer aus Palästina gegen den Rest der jüdischen Intelligenz in dem kleinen Ghetto meiner Stadt!

Aber – der Ertrinkende greift nach dem Strohhalm, und die Juden glaubten es und bezahlten Riesensummen in Dollars, um in die Liste aufgenommen zu werden. Und Geld allein genügte nicht. Zuerst musste man beweisen, dass man in Palästina Verwandte ersten Grades hatte: Eltern, Kinder oder Geschwister. Erst dann wurde das Geld akzeptiert.

Und dann kamen eines Abends mit schwarzen Planen verhängte Lastwagen, sammelten die auf der Geheimliste verzeichneten Menschen ein und fuhren sie anstatt in ein Hotel in Warschau zum jüdischen Friedhof außerhalb der Stadt, mähten alle mit Maschinengewehren nieder und warfen sie in eine Grube, die zu diesem Zweck ausgehoben worden war.

Wir beide waren dazu verurteilt, im Alter von elf Jahren in diesem Massengrab zu sterben. Wir waren die einzigen Überlebenden von allen Menschen, die auf der Liste standen. Ich, weil ich mich hartnäckig weigerte, in irgendein Palästina zu fahren, und erst recht mit meiner Kusine Tamara, mit der ich mich wegen irgendeinem Unsinn gestritten hatte. Und sie, weil die Kugel sie nicht getroffen hatte und sie mit den übermenschlichen Kräften eines lebensgierigen Mädchens aus der Grube voller Leichen kroch – darunter auch ihre Eltern und ihre kleine Schwester.

Vor der Aktion im großen Ghetto gingen wir in dieselbe Klasse, und alle Schülerinnen waren in den schwarzhaarigen Tolek verliebt. Im Sommer fand der Unterricht im Garten von Frau Batavia statt, im Winter in den Häusern der Klassenkameraden. Wir mussten die Häuser immer wieder wechseln, denn im Ghetto war Schulunterricht per Gesetz verboten. Die Kinder der Juden seien ohnehin zu klug, daher sollten sie arbeiten statt lernen.

Der Sommer im Garten war besonders schön, dort stand ein alter Kastanienbaum, blühte die Linde, der Duft nach Flieder erfüllte die Luft mit Vorkriegsduft. Sobald eine Razzia für den Transport in die Lager stattfand, taten wir, als würden wir ein Kartoffelfeld bearbeiten. Wir saßen in der Gartenlaube, und jeder lernte sein Lieblingsfach. Frau Batavia ahnte wahrscheinlich, dass uns kein langes Leben bevorstand, und wollte nicht, dass wir leiden. Vielleicht fühlte sie sogar, dass wir noch genug leiden würden. Die Hälfte unseres Frühstücks spendeten wir den Flüchtlingskindern aus den umliegenden Städtchen und Dörfern; uns erzog man noch zur Nächstenliebe.

Schon vor dem Krieg war Klara ein seltsames Kind. Wenn es dämmerte, versteckte sie sich unter dem Tisch, und im Herbst litt sie unter einer richtigen Depression. Sie weinte und schrie, dass sie sich vor etwas fürchte, als es wirklich noch nichts zu fürchten gab. Möglicherweise prophezeite ihr Herz das bevorstehende Schicksal.

Als wir uns viele Jahre später in Israel begegneten, erzählte sie mir, dass sie nach Amsterdam gefahren sei, um sich bei einem bekannten Professor einer hypnotischen Behandlung zu unterziehen und Dinge über sich zu erfahren, die sie nicht wusste. Als Letztes konnte sie sich an Schüsse, Stöhnen und Wimmern erinnern. Dann verlor sie offensichtlich das Bewusstsein. Plötzlich fühlte sie Kälte und Nässe, Dunkelheit und Stille ringsum. Voller Panik rannte sie, als ob jemand sie in der Dunkelheit verfolgte. Gelangte an irgendeine Treppe. Klopfte aus Leibeskräften an irgendeine Tür. Eine verschlafene Nonne öffnete ihr mit dem erstickten Schrei »Jesus Maria« und zog sie ins Innere. Man gab ihr zu trinken und zu essen, sie wurde gewaschen und in ein sauberes Bett gelegt.

Lange Zeit war sie krank und unfähig zu sprechen. Man brachte sie in das Waisenhaus eines anderen Klosters. Dort lernte sie beten und dort kehrte ihre Sprache zurück. Und so wurde sie gerettet.

Nach dem Krieg kam eine fremde Frau, sagte, sie sei eine entfernte Verwandte und werde sie nach Palästina mitnehmen, denn Klara sei Jüdin und dort sei ihr Platz. Klara wollte überhaupt nicht Jüdin sein und erst recht nicht nach Palästina fahren. Schemenhaft erinnerte sie sich, schon einmal in Palästina gewesen zu sein. Aber niemand fragte sie, was sie wollte, sondern man brachte sie in ein jüdisches Kinderheim. Damals war sie knapp vierzehn, und es gab Leute, die der Ansicht waren, dass die überlebenden jüdischen Kinder gesammelt und dem Judentum wiedergegeben werden und am Aufbau des Staates Israel mitarbeiten sollten. Im jüdischen Kinderheim weinte Klara unausgesetzt, schlief nicht und betete heimlich zu Jesus dem Barmherzigen und der heiligen Maria.

Später kam sie in das wirkliche Palästina, und dort war