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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2014)

© 2014 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von © Sean Pavone/istockphoto.com

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-493-2

 

 

Jan Beinßen

 

Die toten Augen

von Nürnberg

 

Kriminalgeschichten

 

 

 

 

ars vivendi

 

Christkindraub

Noch sechs Stunden bis zur Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes

 

Verflixt, wie ging das noch mal? Paul Flemming stand vor dem Spiegel im Flur seiner Atelierwohnung und verzweifelte an dem Versuch, sich eine Krawatte zu binden. Einen Schlips trug er nur, wenn es unbedingt sein musste, denn sobald er den obersten Knopf eines Hemdes schließen musste, fühlte er sich eingeengt. Entsprechend wenig Übung hatte er darin, akkurate Knoten zustande zu bringen.

Für Notfälle wie diesen hatte er normalerweise ein halbes Dutzend vorgebundene Krawatten im Schrank hängen, die sein Vater Hermann für ihn vorbereitet hatte und die er sich nur noch um den Hals legen und zusammenziehen musste. Doch drei der Schlipse wiesen vom Gebrauch bereits Flecken auf, zwei lagen auf dem Schrankboden und waren daher zerknittert, und der sechste und letzte entsprach absolut nicht mehr der Mode. Also musste Paul selbst ran – und fluchte dabei vor sich hin.

Immer wieder blickte er auf die Uhr, was ihn nur nervöser machte und seinen ungeschickten Versuchen noch mehr schadete. Er musste sehr schnell sein, wenn er seine Verabredung mit Katinka Blohm noch pünktlich einhalten wollte. Die Staatsanwältin hatte ihn zum Mittagessen mit einigen führenden Juristen eingeladen, die wegen der Eröffnung des Christkindlesmarktes am heutigen Abend angereist waren und bei denen sie Paul als ihren Lebenspartner einführen wollte. »Zieh dir bitte etwas Vernünftiges an«, hatte sie ihm eingeschärft. »Du weißt ja, dass diese Leute große Stücke auf die Etikette setzen.«

Ja, das wusste er durchaus. Aber diese Einsicht half Paul jetzt auch nicht weiter. Mit einem energischen Ruck löste er den misslungenen Knoten und wollte die Krawatte wütend in die Ecke schmeißen. Doch als er ausholte, hörte er ein alarmierendes Ratschen. Er wusste, noch bevor er es sehen konnte, dass die Naht seines Jacketts seinen hektischen Bewegungen nicht standgehalten hatte. »Auch das noch!«, schimpfte Paul, der seine Felle davonschwimmen sah.

Als das Telefon klingelte, dachte er sofort an Katinka. Sie wollte sich sicher erkundigen, ob er es pünktlich zu ihrem Treffen im Restaurant Lorenz schaffen würde. Paul legte sich einige Worte zurecht, um sie hinzuhalten. Doch als er sein Telefon unter einer Fotofachzeitschrift auf dem Couchtisch fand und abnahm, war er überrascht:

»Flemming? Ich habe da ein Problem«, meldete sich Hannah.

Paul war nicht darauf eingestellt, es anstelle von Ka­tinka mit ihrer Tochter zu tun zu haben. Schon gar nicht war er auf den besorgten Tonfall gefasst gewesen, den die sonst so unbekümmert optimistische Studentin anschlug. »Um was geht es denn?«, fragte er mit einem weiteren kritischen Blick auf die Uhr.

»Es geht nicht um was, sondern um wen: Tina Brandstetter«, antwortete Hannah und klang nun noch bedrückter. Paul konnte den Namen nicht auf Anhieb unterbringen, war aber sicher, ihn schon einmal gehört zu haben. Hannah half ihm auf die Sprünge. »Das neue Christkind. Siebzehn Jahre, blond, hübsches Gesicht, aber etwas zu kräftige Oberschenkel. Doch die sieht man heute Abend ja nicht unter dem goldenen Gewand.«

»Was ist denn mit dieser Tina?«, fragte Paul zerstreut.

»Sie ist nicht gekommen.«

»Zu wem? Etwa zu dir? Kennt ihr euch denn?«

»Ja und nein. Sie wissen doch, dass ich selbst einmal Nürnberger Christkind war.«

»Wie könnte ich das vergessen? Dadurch haben wir uns ja überhaupt erst kennengelernt.«

»Genau.« Hannah schluckte. »Wegen meiner Erfahrung von damals wollte sich Tina mit mir treffen, um sich ein paar Tipps für den Prolog zu holen. Das ist ja nicht ohne, vor ein paar tausend Leuten und Fernsehkameras aus aller Welt die Eröffnungsrede zu halten.«

»Schön und gut«, versuchte Paul die Sache abzukürzen. Denn mit oder ohne Schlips – er musste jetzt dringend los! »Wann wart ihr denn verabredet? Vielleicht steckt sie irgendwo in der U-Bahn fest und kommt etwas später.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Hannah matt. »Wir hatten uns zum Frühstücken in der Ruhestörung verabredet. Dort habe ich geschlagene zwei Stunden auf sie gewartet. Ich habe auch versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Aber sie nahm nicht ab.«

»Hast du es bei ihr daheim probiert?«

»Ja, ebenfalls ohne Erfolg. Und die Eltern sind – soviel ich weiß – beide berufstätig. Jedenfalls ist niemand rangegangen, außer dem AB.«

Paul nagte auf seiner Unterlippe. Dann sagte er ein wenig zu schroff: »Dann hat sie es wahrscheinlich vergessen. Mach dir nichts daraus.« Er wollte das Gespräch nun schnörkellos beenden.

Doch Hannah hatte noch eine Information parat, die Paul innehalten ließ: »Tina ist auch nicht zur Anprobe ihres Kostüms bei der Gewandmeisterin des Staatstheaters erschienen.«

»Ist sie nicht?«, fragte Paul nun etwas aufmerksamer.

»Nein. Nachdem Tina nicht in die Ruhestörung gekommen war, bin ich nämlich direkt zu ihrem nächsten Termin geradelt; ich kenne ja die Abläufe am Tag der C-Markt-Eröffnung.«

»C-Markt?«

»Na, Christkindlesmarkt.«

»Und was hat die Gewandmeisterin gesagt?« Paul wurde neugierig.

»Die war völlig aus dem Häuschen. So etwas sei ihr noch nie passiert. Sie hat geschimpft wie ein Rohrspatz.«

»Wann war das genau?«

»Das war … Moment, das war vor einer halben Stunde.«

Paul sah auf die Uhr: Noch sechs Stunden bis zur Eröffnung des Christkindlesmarktes – und noch eine Viertelstunde bis zu seinem Date mit Katinka. »Hast du es in der Zwischenzeit noch mal auf ihrem Handy versucht?«, fragte er.

»Klar! Alle fünf Minuten. Aber ich glaube kaum, dass ich damit Glück haben werde.«

»Warum?«, wunderte sich Paul über Hannahs Vermutung. »Denkst du, dass sie einen Unfall hatte?«

»Nein«, sagte Hannah entschieden. »Das hätte man inzwischen erfahren, denn das Krankenhaus hätte das Rathaus informiert, damit man die Markteröffnung noch umplanen könnte.«

»Also?«, erkundigte sich Paul besorgt.

»Sie kann nicht ans Handy gehen – weil sie entführt wurde!«

 

Noch fünf Stunden bis zur Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes

 

»Nein, das werde ich dir nicht durchgehen lassen. Diesmal nicht!« Katinka klang höchst erbost, nachdem sie sich Pauls mit vielen Worten beinahe unterwürfig vorgebrachte Absage angehört hatte. Ohne näher nach Pauls Beweggründen zu fragen, unterbrach sie die Verbindung und ließ Paul mit einem schlechten Gewissen am anderen Ende der Leitung zurück. Wenigstens muss ich mir nun nicht mehr diesen Binder antun, dachte er und eilte zur Wohnungstür, an der Hannah Sturm klingelte.

Ihre Wangen glühten vor Aufregung, als sie einige Schneeflocken aus ihren Haaren schüttelte und ihre Winterjacke auf den Boden fallen ließ. »Ich habe eine heiße Spur«, sagte sie gehetzt.

»Langsam, langsam«, versuchte Paul sie zu beruhigen. »Wie kommst du überhaupt darauf, dass das Christkind entführt worden ist?«

»Weil ich das im Gefühl habe!«

»Das ist kein sehr überzeugendes Argument. Hat denn jemand Tina als vermisst gemeldet?«

»Nein!«, stieß Hannah aus. »Wie denn auch? Ihre Eltern sind bei der Arbeit. Und die Leute vom Theater sind einfach nur genervt, weil sie nicht gekommen ist. Ich bin die Einzige, die etwas unternehmen kann, bevor es zu spät ist. Wir müssen die Polizei einschalten!«

»Die Polizei wird erst vierundzwanzig Stunden nach Eingehen der Vermisstenmeldung tätig«, erklärte ihr Paul. »Bis dahin ist die Christkindlesmarkteröffnung vorbei. – Abgesehen davon: Wer sollte ein Interesse daran haben, das Nürnberger Christkind zu entführen? Etwa die Fürther, um ihr eigenes Christkind zu pushen?«

»Sehr witzig!« Hannah stemmte die Arme in die Hüften. »Als ich gestern mit Tina telefoniert habe, um unser Treffen auszumachen, klang sie ziemlich verstört. Sie hatte gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht. Sie hat ihn nicht mehr geliebt, sagte sie, aber ich denke, dass ihr der ganze Stress mit Schule, Freund und Christkindverpflichtungen einfach zu viel geworden ist. Jedenfalls nahm ihr Freund die Absage wohl überhaupt nicht gut auf. Er drohte ihr und wollte sie keinesfalls ziehen lassen.«

»Du glaubst, dass der Kerl sie gekidnappt hat?«, zweifelte Paul.

»Es wäre einen Versuch wert, es herauszufinden.«

»Weißt du denn, wie er heißt und wo er wohnt?«

»Klar. Ist ja nicht mein erster Kriminalfall, an dem ich mit Ihnen zusammen dran bin. Er heißt Lorenzo und wohnt in St. Peter.«

»Das ist eine ganze Ecke zum Fahren. Wir müssen uns sputen.« Paul hatte sich entschieden, Hannahs Verdacht auf den Grund zu gehen.

 

Noch vier Stunden bis zur Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes

 

Lorenzo wollte nicht aufmachen. Oder aber er war gar nicht zuhause. Paul klopfte zum wiederholten Mal an die Tür der Etagenwohnung in einem schlichten Mietshaus, in dessen Flur es nach Brokkoli roch.

»Das war wohl nichts«, sagte er zu Hannah und wollte sich zum Gehen wenden, als die Tür unversehens doch noch geöffnet wurde. Ein hagerer Jüngling, mehr Kind als Erwachsener, trat schüchtern heraus. Er musterte die beiden Besucher aus großen, traurigen Augen.

»Lorenzo?«, fragte Hannah, und Paul konnte ihr unschwer ansehen, dass sie Tina einen weitaus attraktiveren Lover zugetraut hatte.

»Ja«, sagte dieser zurückhaltend. »Meine Eltern sind nicht da. Und ich unterschreibe nichts an der Haustür.«

»Wir sind wegen Tina hier«, beeilte sich Hannah zu sagen, denn Lorenzo schickte sich bereits an, die Tür wieder zu schließen.

Stattdessen aber blieb er nun wie erstarrt stehen. Sein schmallippiger Mund begann zu beben, seine großen Augen füllten sich mit Tränen. Ehe sich Paul und Hannah versahen, fing der Junge bitterlich an zu weinen. Er beugte sich dabei vornüber, wodurch Paul sich gezwungen sah, ihm tröstend unter die Arme zu greifen und ihn mit Bedacht zurück in die Wohnung zu schieben.

In der beengten und bescheiden eingerichteten Dreizimmerwohnung sah sich Paul nach einem Stuhl oder Sofa um und wurde in einem sehr kleinen und stickigen Wohnzimmer fündig. Er dirigierte den flennenden Lorenzo auf einen Fernsehsessel vorm Fenster und setzte sich ihm gegenüber: »Was kannst du uns über Tina sagen?«, fragte er und bemühte sich um einen einfühlsamen Tonfall.

»Dass sie Schluss gemacht hat«, heulte Lorenzo. »Einfach so, ohne Grund. Und das nach einem Jahr, neun Monaten und drei Tagen!«

»Nein«, korrigierte sich Paul. »Was wir eigentlich wissen wollen, ist: Wo ist Tina geblieben? Wo hält sie sich auf?«

Lorenzo sah ihn verständnislos an. »Warum fragen Sie das mich? Sie probt bestimmt für ihren großen Auftritt heute Abend.«

»Eben nicht«, schaltete sich Hannah ein. »Tina ist seit heute Morgen spurlos verschwunden. Wir dachten schon, dass du …«

»Ich?«, schrie Lorenzo spitz auf. »Aber nein! Ich liebe Tina. Sie glauben doch wohl nicht etwa, dass ich ihr etwas angetan habe?«

»Eigentlich … – nein«, sagte Paul nach einigem Abwägen. Denn für irgendeine Art engagierten Handelns schien Lorenzo nicht Manns genug. Das sagte Paul ihm selbstverständlich nicht, sondern fragte nur harmlos: »Hast du eine Vermutung, wo sie geblieben sein könnte?«

Lorenzo rieb sich die pickelige Stirn. »Nein, sorry, nein. Keine Ahnung.« Dann verfinsterte sich seine Miene. »Vielleicht hat Ramona etwas mit ihrem Verschwinden zu tun.«

»Wer ist denn Ramona?« Paul konnte nicht folgen.

Hannah hingegen wusste sofort Bescheid: »Das ist eines der anderen Mädels, die sich um den Job beworben haben: Ramona Hesse.«

»Job?« Paul verstand noch immer nicht.

»Ramona war eine der Bewerberinnen um das Amt des Christkinds«, erklärte Hannah. »Sie wissen doch, dass sich dafür jedes Jahr Dutzende junger Frauen bewerben. Ramona hat es bis in die Endrunde geschafft. Sie ist sehr hübsch und sehr ehrgeizig – aber am Ende hat eben doch die flotte Tina die Jury überzeugt.«

»Deswegen hat sie sie ja auch so gehasst«, sagte Lorenzo plötzlich sehr impulsiv.

»Du meinst, dass diese Ramona deiner Exfreundin die Wahl nicht gegönnt hat?«, fragte Paul und sah den dürren Knaben streng an.

Dieser wandte prompt seinen Blick ab. »Ja, ich glaube, dass Ramona ziemlich sauer auf Tina ist.«

»Gerade hast du noch gesagt, dass Ramona sie hasst«, stellte Hannah fest. »Zwischen sauer sein und hassen besteht ein Unterschied. Wie kommst du darauf, dass Ramona Hassgefühle gegenüber deiner Tina hegt?«

»Na ja«, druckste Lorenzo herum. »Sie hat ihr böse Briefe geschrieben.«

»Was für Briefe?«, fragte Paul.

»Äh … – Ramona hat ihr damit gedroht, dass sie sie irgendwann einmal auf dem Weg von der Schule abfängt und ihr hübsches Gesicht entstellt.«

Paul und Hannah tauschten einen besorgten Blick. Dann fragten sie wie aus einem Mund: »Hast du die Adresse von Ramona?«

 

Noch drei Stunden bis zur Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes

 

Ramona wohnte in der Gartenstadt. Mit Pauls Renault hatten sie es trotz des vorweihnachtlich starken Verkehrs relativ schnell dorthin geschafft. Sie hielten am Heckenweg und suchten zu Fuß nach der richtigen Hausnummer.