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Für George Clooney

Cliffhanger [’klɪfhæŋə(r)]: englisch; zu Deutsch »Klippenhänger«; ein beliebtes Stilmittel in Fernsehserien oder Seifenopern. Es bedeutet, dass eine Episode genau auf ihrem Höhepunkt endet und der Leser oder Zuschauer erst beim nächsten Mal erfährt, wie die Geschichte weitergeht. Seinen Ursprung hat der Cliffhanger in Fortsetzungsromanen des 19. Jahrhunderts.

Besonders in Fernsehserien benutzen die Drehbuchautoren häufig Cliffhanger, sodass die Fans angehalten sind, bei der nächsten Folge wieder einzuschalten. Um dies zu erreichen, lassen die Autoren oft völlig unerwartete Wendungen oder extrem gefährliche Situationen eintreten, bevor die Handlung unterbrochen wird. Aber auch Buchautoren bedienen sich dieses bei Lesern meist sehr unbeliebten Stilmittels ausgesprochen gern.

Neulich bei Ashworth Park

Ein mysteriöses Mädchen namens Abby taucht im Park des Herrenhauses der Familie Ashworth auf der britischen Isle of Roses auf. Abby scheint verwirrt zu sein und hat keinerlei Erinnerungen, wie sie nach Ashworth Park gekommen ist. Prompt wird sie für das neue Dienstmädchen gehalten, bis Tante Gladys plötzlich vorgibt, sie als ihre Nichte Abigale Barrington-Whitley aus New York wiederzuerkennen.

Einquartiert bei Tante Gladys im Nordflügel, geht das Chaos für die vierzehnjährige Abby erst richtig los. Teegesellschaften und Bälle stehen ab nun auf Abbys Tagesplan, die mit alldem nicht so recht etwas anfangen kann. Doch am schlimmsten findet Abby die affektierte Hausherrin Lady Ashworth und den aufmüpfigen jüngsten Sohn der Familie, Jasper, die alles andere als begeistert von Tante Gladys’ Besuch sind. Während Jasper Abby von Anfang an misstraut, mokiert sich Lady Ashworth über Abbys unerträglichen amerikanischen Akzent! Und dann noch ihre Manieren!

Anders denkt bloß der ältere Sohn, Julian. Er entwickelt sogar amouröse Gefühle für das unkonventionelle Mädchen. Doch merkwürdigerweise zeigt Abby überhaupt kein Interesse an dem Schönling, würde ihn viel lieber an der Seite des biederen Dienstmädchens Clarissa sehen und startet eine aufwendige Verkupplungsaktion.

Damit macht sich Abby allerdings beim zwielichtigen Nachbarn DeWitt, dessen eitler Tochter Lydia und seinem Assistenten Blackwood unbeliebt. Will das Mädchen ihre geheimen Pläne sabotieren? Zudem scheint Abby in den unpassendsten Momenten plötzlich Reißaus zu nehmen. Hat sie ein Geheimnis? Und wo kommt sie wirklich her?

Ashworth Park.

Täglich um 19:00 auf Channel Island TV.

1

Manche Dinge ergaben einfach keinen Sinn, egal wie lange ich mir darüber den Kopf zerbrach. Das lag entweder daran, dass ich erst vierzehn war und mir die nötige Lebenserfahrung fehlte. Oder daran, dass mein IQ eher so im Durchschnittsbereich lag (auf jeden Fall nicht an der Grenze zu XXL-Superhirn wie bei meiner Schwester Deborah). Vielleicht aber auch daran, dass es Sachen gab, die tatsächlich jeder Logik entbehrten, so klug oder so lebenserfahren man auch war.

Zum Beispiel, dass Benny’s Donuts ums Eck keinen Lieferservice anbot, obwohl es sogar Mr Lee aus der zweiundzwanzigsten Straße schaffte, Essen mit dem Fahrrad bis zu uns nach Brooklyn auszufahren. Oder dass sich die wahren Freaks in New York erst nach Sonnenuntergang nach draußen trauten, wie etwa der Kerl, der jeden Abend in Unterhosen am Times Square das Ende der Welt voraussagte. Oder die Tatsache, dass es in der Schulkantine bei leckeren Gerichten nie Nachschlag gab, man bei Haferbrei aber eine gigantische Schöpfkelle bekam, die sogar noch glutheiß wie Lava über den Rand tropfte.

Tja, und natürlich das hier.

Ein Junge in unserer Wohnung.

Okay, das klingt nicht besonders seltsam, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, wann Deborah oder ich zuletzt ein männliches Wesen zu Gast gehabt hatten. Abgesehen von Mr Lee aus der zweiundzwanzigsten Straße, aber der brachte ja nur die Nudeln.

Es war auch nicht der Junge an sich, sondern eher das Drumherum, das mir Sorgen bereitete. Denn der Junge lag bewusstlos und durchnässt auf Mums Wohnzimmerteppich. So wie er da lag, hätte er auch ein ganz normaler Typ aus unserer Schule sein können, der beim Abschlussball zu viel von der Bowle gehabt hatte. War er aber leider nicht.

Er war eine Serienfigur.

Um ganz genau zu sein, es handelte sich um Jasper Ashworth, einen Jungen, nein, eine Rolle aus einer britischen Adelssoap, die seit geraumer Zeit an meinen Nerven zerrte. Bloß dass er sich nun nicht mehr nur auf der Mattscheibe bewegte und man ihn einfach wegzappen konnte, wenn er nervte. Nein, er lag direkt vor mir – in unserem New Yorker Appartement.

Und, ja, mir ist bewusst, wie das klingt. Ich zweifelte an meinem Verstand und war damit zumindest nicht alleine. Meiner Freundin Morgan schien es ähnlich zu gehen. Weiß wie eine Wand hockte sie auf unserem zerknautschten Sofa und starrte abwechselnd Jasper und mich an. Als Japanerin war sie zwar von Natur aus blass, aber jetzt sah sie aus, als müsste sie sich gleich übergeben.

»Abby, passiert das gerade wirklich?«, murmelte sie. Sie griff nach meinem Arm, als müsste sie sich ganz dringend festhalten. »Jasper … hat dich bei deinem Rücksprung aus Ashworth Park begleitet? Aber das … das ist unmöglich!«

Ich stieß einen gequälten Seufzer aus. Vor wenigen Tagen hatte ich auch noch geglaubt, als normaler Mensch in eine erfundene Daily Soap zu geraten, wäre unmöglich. Aber ich musste nur an mir heruntersehen, um zu wissen, dass es stimmte. Ich steckte nach wie vor in dem Kleid mit Rosenprint, das Tante Gladys mir für den Ball hatte anfertigen lassen. Im echten Leben hätte ich so was bestimmt nicht freiwillig angezogen.

Mein Blick glitt zum Fernsehbildschirm, wo nun nicht mehr Ashworth Park lief – die Soap, in die ich aufgrund irgendeines kosmischen Fluchs Tag für Tag pünktlich zum Intro hineingebeamt wurde und bis zum Ende der jeweiligen Folge unfreiwillig ein Teil der Handlung war.

Inzwischen liefen die Nachrichten. Es kam ein Bericht über den Staatsbesuch des Premierministers von Papua-Neuguinea, dazu wurden Bilder von Obama gezeigt, wie er ihm die Hand schüttelte. Mir schoss durch den Kopf, dass das in unserem Wohnzimmer die weitaus größere Story war. Auch wenn die diplomatischen Beziehungen zu Papua-Neuguinea ein äußerst gewichtiger Teil des Weltpolitikgeschehens waren. Zumindest in Deborahs Welt.

Wie war das hier passiert? Warum war ich nach der Sendezeit wie immer planmäßig aus der Serie katapultiert worden, hatte jedoch Jasper mitgenommen? Ganz offensichtlich hatten wir es hier mit einen Riss im Universum oder so etwas Ähnlichem zu tun. Denn wie sonst hätte etwas in unser Wohnzimmer gelangen können, das da keinesfalls hingehörte und uns, sobald Mum eintraf, mächtig in Erklärungsnot bringen würde? Und damit meinte ich nicht den üblen Banana-Brownie-Split-Fleck auf dem Teppich, den immer noch niemand rausgewaschen hatte.

»Wie ist er hierhergekommen?«, gab Morgan schließlich von sich und erhob sich vom Sofa, um Jasper genauer zu betrachten. »Das … ist so ähnlich wie in The Ring, wo dieses totenbleiche Mädchen aus dem Brunnen durch den Fernseher schlüpft und dann alle abmurkst.«

Ich schluckte. Gruselig, ja, aber ich wollte jetzt nicht an Horrorfilme denken. Ich musste meine Energie darauf verwenden, das zu tun, was jetzt wichtiger war. Ich beschloss, den ganzen Parallelweltkram auszublenden und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Verletzung. Bewusstlos. Notfall.

Ohne zu zögern, kniete ich mich auf den Boden, packte Jasper an der Schulter und drehte ihn in Seitenlage, bis ich die Wunde an seiner Schläfe begutachten konnte. Seine Augen waren noch immer geschlossen und sein Gesicht kreidebleich. Beim Anblick des verschmierten Blutes ging mein Atem schneller und ich überlegte fieberhaft, was ich als Nächstes tun sollte. Im Fernsehen sah das immer so einfach aus, aber in Wirklichkeit hatte ich noch nie einen Verletzten versorgen müssen.

»Jasper?« Ich versuchte es mit einem unbeholfenen Klaps auf die Wange. Seine Haut fühlte sich trotz der Regentropfen warm an. »Kannst du mich hören? Bitte, bitte sag irgendwas.«

Jasper sog Luft ein, blinzelte kurz und murmelte etwas Unverständliches, bevor ihm die Augen erneut zufielen. Aber, hey, ein Lebenszeichen war ein Lebenszeichen.

»Er kommt wieder zu sich. Aber wir brauchen einen Arzt, der sich die Wunde ansieht«, sagte ich und ärgerte mich, dass mir der naheliegendste Gedanke nicht schon früher gekommen war. Mal ehrlich, ich würde niemandem wünschen, mich in einem Notfall an seiner Seite zu haben. »Ruf den Notdienst an, Morgan!«

Morgan griff zum Schnurlostelefon, tippte und hielt inne. »Aber dann bringen sie ihn in die Klinik. Und wie sollen wir denen dann erklären, wer er ist? Außerdem muss er sich dort ausweisen. Sind Serienfiguren krankenversichert?«

Oh, Mist. So viel zum Ausblenden der Parallelwelt.

»Woher soll ich das wissen?«, rief ich, packte ihn unter den Schultern und stützte ihn mit meinem Oberkörper ab, um zu verhindern, dass er seine eigene Zunge verschluckte, oder was noch so alles Furchtbares passieren konnte. Meine ersten körperlichen Erfahrungen mit Jungs hatte ich mir jedenfalls komplett anders vorgestellt.

»Unwahrscheinlich. Dein Mitbringsel aus der Serie hat vermutlich noch nicht mal einen gültigen Pass«, überlegte Morgan, stand unschlüssig im Raum herum und betrachtete Jasper und seine Wunde. Er blutete noch immer ziemlich heftig.

Morgan verzog das Gesicht.

Komisch. Ich hatte gedacht, Menschen, die auf Horrorfilme standen, hätten stärkere Mägen.

»Morgan, komm schon, ich brauche deine Hilfe«, wies ich sie an, auf der Suche nach irgendetwas, um die Blutung zu stoppen und eine Art Verband anzulegen. »Geh bitte ins Bad zum Medizinschrank und such Mullbinden, etwas zum Desinfizieren und … was zum Teufel machst du denn da?«

»Abby, er ist patschnass«, gab Morgan zurück, die Jaspers Hemd schon komplett aufgeknöpft hatte. »Er muss schnellstens aus den Klamotten raus, sonst erkältet er sich noch.«

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass diese Situation noch unangenehmer werden könnte, als sie es bereits war.

»Das ist jetzt wohl sein geringstes Problem«, rief ich. »Ich brauche einen Druckverband, um die Blutung zu stillen!«

Morgan gehorchte, lief ins Bad und kam wenig später mit Mums Erste-Hilfe-Kasten zurück. Ich verteilte Desinfektionslösung, presste eine Wundauflage auf die Stelle, und wickelte danach die Mullbinde ab, aber das Band reichte kaum zweimal um den Kopf.

»Ist das etwa alles?«

»Ja. Mehr war nicht da.«

»Ich brauche aber noch Stoff, um alles zu fixieren.« Ich überlegte. »Gib mir dein T-Shirt, Morgan. Nun mach schon!«

»Aber ich trage nichts darunter, bloß Unterwäsche.«

»Los, gib mir dein T-Shirt.«

»Okay, okay.« Morgan gehorchte, schlüpfte aus dem Shirt und reichte es mir. Beinahe tat es mir leid um das Teil, das ziemlich teuer aussah, aber immerhin hatten wir hier einen Notfall.

Ich riss es in Streifen, knotete die Enden ineinander und fixierte damit den Verband. »Ich glaube, die Blutung wird weniger«, stellte ich erleichtert fest. Besonders professionell sah unsere Konstruktion zwar nicht aus, aber zumindest hielt sie fürs Erste.

In diesem Moment kam Jasper vollständig zu sich und hob sachte den Kopf. Und dann, in einem Anflug von Emotionalität, der für Jasper absolut ungewöhnlich war, warf er sich in meine Arme.

»Abby! Ist alles in Ordnung? Ich wollte vorhin nach dir sehen, und dann war da plötzlich Blackwood mit der Schaufel. Ich dachte, er hätte dich erwischt. Und ich hab dich noch für total irre gehalten, mit deinem Abraham-Lincoln-Verfolgungswahn.« Er hob die Hand und berührte mein Kinn. »Du blutest.«

»Das ist dein Blut, Jasper«, erklärte ich ihm. »Du bist ihm an meiner Stelle ins Messer gelaufen. Oder in den Spaten. Was auch nur bedingt besser ist.«

»Ach …« Langsam schien seine Erinnerung an die Geschehnisse im Schuppen zurückzukehren. Er griff sich an die Schläfe und verzog das Gesicht. »Ja, das erklärt die Kopfschmerzen. Wie lange war ich bewusstlos?«

»Ähm … Drei Minuten, schätze ich.«

»Na, zumindest weiß ich noch meinen Namen und sehe dich nicht doppelt.« Und dann, als wäre es das Normalste auf der Welt, hievte er sich auf unser Sofa, seufzte und ließ sich in die Kissen fallen. Eine Fernsehfigur wie Jasper auf unserem Sofa zu sehen, hatte etwas Schräges an sich, so als wäre mal eben Micky Maus zum Abendessen vorbeigekommen. Wobei, schräg traf es nicht mal annähernd. Es war absurd, surreal, verrückt. Das passende Wort dafür musste wohl noch erfunden werden.

Jasper betastete den Sofabezug. »Wo habt ihr mich hingebracht? Zu Dr. Kinkley?«

»Ähm …«, war die einzige Antwort, die mir einfiel.

»Als ich das letzte Mal hier war, sah es bei ihm ganz anders aus. Aber auch damals hatte seine Frau schon einen Hang zu gewöhnungsbedürftigen Gemälden«, fuhr er fort und betrachtete neugierig drei von Mums Bildern an der Wand: rot-schwarze Kleckskunstwerke, die sie 1., 2. und 3. Weltkrieg getauft hatte. Dabei schien er nach etwas Ausschau zu halten, das ihm bekannt vorkam. »Sind meine Eltern hier? Oder mein Bru–«

Er brach ab, denn in diesem Moment trat Morgan ins Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Jaspers Blick schraubte sich an ihrem pinken BH fest. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Verblüffung. »Und wer ist sie? War die etwa auch auf dem Ball?«

Morgan schnappte sich geistesgegenwärtig ein Kissen vom Sofa und hielt es sich vor die Brust.

Trotzdem starrte Jasper sie weiterhin an. Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Es geht mich ja nichts an, aber warum trägt sie denn kein Shirt?«

»Weil du es mit deinem Blut besudelt hast.« Morgan streckte ihm ihre rechte Hand entgegen, während sie mit der anderen das Kissen festhielt. »Ich bin Morgan, Abbys Freundin.«

Ich wurde immer nervöser. Jeden Moment würde Jasper feststellen, dass das hier nicht Dr. Kinkleys Haus war. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich dazu sagen sollte.

»Morgan«, wiederholte Jasper. Langsam kam er auf die Beine und wanderte ziellos im Zimmer umher, bis er vor der riesigen Glasfront stehen blieb, wegen der Mum die Wohnung eigentlich ausgesucht hatte. Den Großteil der Sicht versperrte zwar eine abgrundtief hässliche Hauswand mit einem Werbeplakat für eine neue Colasorte, aber wenn man in die rechte Ecke trat, konnte man über den Expressway bis zum East River blicken.

Jasper stützte sich an der Wand ab, als drohten ihm die Knie wegzubrechen. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.

»Alles okay?«, fragte ich und wusste im selben Moment, dass das eine reichlich dumme Frage war.

»Wartet mal. Dr. Kinkley wohnt in einem Cottage in Rosington.« Jasper sprach langsam, als wählte er jedes Wort mit Bedacht. »Und wir sind hier irgendwo im dritten Stock mitten in …«

»Im zweiten, um genau zu sein. Das Penthouse oben war uns zu teuer, außerdem ist es dort im Sommer grässlich heiß. Inzwischen wohnt da ein Inder, Mr Vishvatma Balakrishna Parkarvarkar.« Früher hatten Deborah und ich ein Spiel daraus gemacht, wer den Namen öfter fehlerfrei aufsagen konnte. Aber irgendwann waren wir dazu übergegangen, ihn einfach nur Mr Gandhi zu nennen, weil er klein war und eine riesige Brille trug. »Ich glaube, der ist Hitze gewöhnt.«

Ich hatte keine Ahnung, warum ich Jasper das alles erzählte. Leider war ich schon immer der Typ gewesen, der in unangenehmen Situationen einfach drauflosplapperte, egal ob es nun Sinn ergab oder nicht. Meine Hirnschranke versagte in solchen Momenten vollkommen.

»Ah.« Jasper dachte eine Weile nach. »Wir sind also im zweiten Stock in …« Er wandte sich zu Morgan und mir um. Sein Blick war unergründlich. »Wo sind wir eigentlich?«

»New York«, murmelte ich und tat, als hätte ich in diesem Moment einen Fleck auf meinem Rosenkleid entdeckt, um den ich mich ganz dringend kümmern musste.

»Um genauer zu sein, Brooklyn«, merkte Morgan mit erhobenem Finger an. »New York ist nicht gleich New York.«

»Ah«, machte Jasper erneut, drehte sich zum Fenster und schwieg.

Ich warf Morgan einen unschlüssigen Blick zu. Das war nicht unbedingt die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte. Ich hatte eher befürchtet, er würde losschreien oder mir an die Gurgel springen. Immerhin legte er in Ashworth Park des Öfteren psychopathische Züge an den Tag.

Nachdem Jasper einige Sekunden verdattert aus dem Fenster gestarrt hatte, schien ihm etwas einzufallen. »Und wieso kann ich mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen bin?« Er drehte sich wieder zu uns um und musterte mich. »Zum Beispiel daran, wie ich die Insel verlassen habe und in ein Flugzeug gestiegen bin? Wie viel Zeit ist inzwischen vergangen?«

Verzweifelt wog ich ab, ob ich es lieber mit einer Lüge, der Wahrheit oder irgendeiner kreativen Halbwahrheit versuchen sollte.

Ich beschloss, auf Zeit zu spielen. »Das sind aber ganz schön viele Fragen«, antwortete ich. Mein Puls raste und ich hatte keine Ahnung, wie ich aus dieser Sache wieder rauskommen sollte.

»Es ist nur eine einzige Frage. Ich will wissen, was hier los ist. Sofort«, knurrte er. Er fuhr sich durch sein struppiges braunes Haar und bedachte mich wieder mit diesem Blick, den ich mittlerweile nur zu gut kannte. Als hielte er es für sinnlos, mit geistig Unterbelichteten zu diskutieren.

»Was hier los ist?«, wiederholte ich und sah mich unschuldig in der Wohnung um. »Was meinst du?«

»Noch mal langsam zum Mitschreiben, Abby«, begann er und schob seinen Unterkiefer vor, wie mein Mathelehrer Mr Clifford, wenn er an mir verzweifelte. »Ich bin hier. In New York. In den Vereinigten Staaten. Dabei wurden wir beide erst vor fünfzehn, oder meinetwegen zwanzig Minuten in der Scheune von Ashworth Park von Mr Blackwood attackiert. In England, wohlgemerkt. Weißt du das denn nicht mehr? Bitte sag mir, dass du dich daran erinnerst.«

Ich blickte angestrengt an die Decke, als hätte ich wirklich Probleme, mich zu erinnern.

Jasper schien drauf und dran, zu verzweifeln. »Ich dachte, wir sind Freunde, Abby. Na ja, zumindest haben wir uns zuletzt ganz gut verstanden. Und dann reise ich wie durch Zauberhand von England nach New York. In Minuten. Nein, in Sekunden. Und weder du noch deine Freundin in Unterwäsche hier findet es der Mühe wert, mir zu erklären, was geschehen ist.« Er blickte mich eindringlich an.

Ich schwieg, während ich mir wünschte, der Boden unter mir würde sich auftun. Ich war an meinem Tiefpunkt angelangt. Ich hatte absolut keinen Plan, was ich Jasper erzählen sollte. Er durfte auf keinen Fall die Wahrheit erfahren. Denn meine Schwester Deborah hatte mir ausdrücklich verboten, irgendeiner Serienfigur zu verraten, dass ihre Serienwelt nichts anderes als ein abgedrehtes Paralleluniversum war.

Vor lauter Verzweiflung fasste ich einen Entschluss. Es war die irrste Idee, die ich jemals gehabt hatte, aber ich musste es zumindest versuchen. Mir blieb nichts anderes übrig.

»Sekunden?« Ich gab ein verächtliches Kichern von mir. »Man kann unmöglich einen ganzen Ozean in so kurzer Zeit überqueren. Das funktioniert nur bei Daten. Übers Internet. Bilder oder Musik kann man in digitale Pakete zerlegen.«

»Weiß ich doch«, knurrte er genervt und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. »Mit Materie ist das unmöglich. Man müsste einen Mensch in seine Atome zerlegen und an anderer Stelle exakt wiederaufbauen.«

»Demnach spricht alles dafür, dass dir dein Unterbewusstsein einen Streich spielt und du physisch eigentlich gar nicht hier bist. Kann es sein, dass du immer schon nach New York wolltest? Dass das hier nichts weiter als eine Art Wunschprojektion ist?«

Morgan starrte mich verwirrt an. Vermutlich fragte sie sich, was in aller Welt ich da faselte. Ich betete, dass mein Plan aufgehen würde. Jasper hatte mir anvertraut, dass er von der Insel fortwollte, und nun versuchte ich, diesen Joker auszuspielen.

Jasper runzelte die Stirn. »Du meinst, ein Traum? Quatsch. Ich weiß, wie es sich anfühlt zu träumen, und das hier ist real.« Er kniff sich in den Arm. »Aua! Siehst du? Echte Schmerzen. Ich will die Wahrheit hören.«

»Aber das ist die Wahrheit.« Morgan nahm mitfühlend Jaspers Arm. Sie hatte verstanden und spielte das Spiel mit. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«

»Abby und ich haben zusammen auf dem Ball getanzt, zu diesem furchtbar schmalzigen Song, den ich nicht ausstehen kann. Unchained Melody. Und dann ist sie plötzlich verschwunden. Ich bin ihr hinterhergelaufen, über die Freitreppe, durch den Park bis nach draußen in den Schuppen. Es hat wie aus Eimern geregnet.« Jasper kaute angestrengt auf seiner Unterlippe. »Und dann war da nicht nur Abby, sondern plötzlich auch Lydia. Und DeWitts Assistent Blackwood. Er hat Abby und mich attackiert und mich mit einer Schaufel am Kopf getroffen.«

»Soso, eine Kopfverletzung«, stellte ich fest und spitzte die Lippen. »Das erklärt einiges.«

»Ach ja?«

»Somit käme eine komatöse Fantasie in Folge eines Schädel-Hirn-Traumas infrage«, sagte ich und hob wissend eine Braue. Ich hatte keine Ahnung, ob so etwas medizinisch überhaupt möglich war, dieser Quatsch war mir bloß von irgendeiner Arztserie im Gedächtnis geblieben. »Wusstest du, dass im Koma das Bewusstsein uneingeschränkt aktiv ist?«

»Koma?« Er kniff die Augen zusammen. »Du willst mir also sagen, dass ich gar nicht wirklich hier sitze, sondern immer noch blutend und bewusstlos in der Scheune liege? Tolle Vorstellung.«

»Na ja, nicht in der Scheune. Vielleicht eher am Tropf und künstlich beatmet auf der Intensivstation.«

»Das macht es gleich viel besser, danke.« Er ließ den Kopf hängen und fuhr sich durchs Haar. »Das ist also die einzige Erklärung, die ihr auf Lager habt? Eine Komafantasie?«

Ich nickte vorsichtig.

»Nun ja, Komapatienten hat es auf Ashworth Park in der Tat schon eine ganze Menge gegeben«, räumte er schließlich ein.

Da hatte er allerdings recht. Komapatienten waren in einer Serie wie Ashworth Park keine Seltenheit. Der Pförtner der Ashworths beispielsweise war einmal unabsichtlich über die Klippen gestürzt, nachdem er erfahren hatte, dass Lady Ashworth ihren Busen hatte machen lassen. Er hatte vorgehabt, diese Information an die Klatschpresse zu verkaufen, doch als er aus dem Koma aufgewacht war, hatte sich herausgestellt, dass er sein Gedächtnis verloren hatte, und Lady Ashworth war gerade noch mal ungeschoren davongekommen.

»Na also«, sagte ich und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Klingt doch alles höchst plausibel, nicht wahr?«

»Plausibel?« Skeptisch sah Jasper zu mir auf. »In deinen Augen ist das alles hier also nichts weiter als ein Hirngespinst? Eine Komafantasie, die sich merkwürdig real anfühlt?«

Sein Blick ging mir durch und durch. Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, hatte ich das Gefühl, dass mich Jasper nicht länger für eine minderbemittelte Erbschleicherin hielt, sondern für ihn zählte, was ich tat, dachte und sagte. Hier war ich seine einzige Bezugsperson. Er vertraute mir.

Und ich musste ihn belügen.

»Da du noch nie im Koma gelegen hast, kannst du nicht wissen, wie real es sich anfühlen kann«, murmelte ich.

»Hm … kann schon sein.« Jasper bedachte mich erneut mit einem langen Blick, als wir draußen ein Bellen hörten. Pebbles!

»Abby, deine Mum und Deborah sind zurück!«, rief Morgan aufgeregt. »Sie werden jeden Moment hier oben sein. Was machen wir jetzt mit ihm?«

Auch das noch. Die Erleichterung darüber, dass Jasper meine Lüge offenbar geschluckt hatte, wich jetzt nackter Panik. Ich konnte schon das Brummen des Aufzugs hören.

»Deine Mum?«, echote Jasper.

»Ja, verdammt, meine Mum!« Hilflos packte ich ihn an der Hand und zerrte ihn in mein Zimmer. Ich musste ihn irgendwo verstecken. Und zwar schnell! Mein Blick fiel auf die Tür zu meinem begehbaren Kleiderschrank. Da würden Mum und Deborah bestimmt nicht hineinschauen, weil darin unermessliches Chaos herrschte. »Dachtest du etwa, ich wohne hier alleine?«

»Du wohnst hier«, murmelte Jasper, während ich ihn mit sanfter Gewalt in den Schrank bugsierte. Perplex sah er sich darin um. Morgans Gästematratze lag zwischen den Regalreihen. Eingeklemmt zwischen zwei T-Shirts ragte ein BH hervor.

»Na ja, nicht hier im Schrank, sondern im angrenzenden Zimmer. Jasper, bitte hör mir einen Moment lang zu.« Ich sah ihn direkt an. Sein wuscheliges Haar war inzwischen trocken, die Schatten unter seinen blauen Augen hatten gigantische Ausmaße angenommen, außerdem hatte er rote Flecken um den Hals, vermutlich vor Aufregung. Trotzdem sah er immer noch gut aus. »Bitte, vertrau mir nur dieses eine Mal! Meine Mum darf auf keinen Fall wissen, dass du hier bist. Okay? Verhalte dich ruhig, oder noch besser: versuch zu schlafen oder so …«

Jasper hob eine Augenbraue. »Ich schlafe doch schon.«

»Wie bitte?«

»Na, ich liege doch im Koma.« An dem Sarkasmus in seiner Stimme erkannte ich, dass er mir die Story doch nicht ganz abkaufte. »Ein Komatraum, sagtest du doch. Nicht wahr?«

»Auch in Träumen kann man schlafen«, versicherte ich ihm rasch und warf einen schnellen Blick in den Flur. Morgan rotierte, immer noch halb nackt, durch die Wohnung und pfefferte das Desinfektionsmittel ins Eisfach des Kühlschranks. Hoffentlich hatte Mum nicht vor, heute Tiefkühlmakkaroni zu kochen.

»Also sozusagen … ein Traum im Traum?« Jasper kratzte sich am Kopf.

»Jasper, können wir das vielleicht später klären?«, flehte ich. Ich hörte, wie sich der Wohnungsschlüssel umdrehte.

»Na fein.« Jasper sah sich um. »Ich nehme nicht an, dass ich hier trockenes Zeug finde, in das ich passen könnte?«

Mir fiel ein, dass im Abstellraum noch eine Plastiktüte mit Uraltklamotten von Dad lagerte, die er sich nach der Scheidung nie von Mum abgeholt hatte. Das Zeug stammte aus den Achtzigern, aber es war besser als gar nichts. »Ich kümmere mich um passende Klamotten.«

Ich war schon halb aus der Tür, als mich Jasper zurückhielt. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Das ist alles total verrückt, Abby.«

Ich hielt inne. Verrückt? Er wusste doch nur die Hälfte. Ihm war zum Beispiel noch nicht klar, dass ein kosmischer Fluch auf mir lastete, der mich jeden Tag in eine Daily Soap zog. Und dass er selbst nichts als eine Serienfigur darin war, die ich irrtümlich mitgebracht hatte.

»Verrückt, ja!« Das Glucksen, das ich von mir gab, ließ mich klingen wie eine Irre aus der geschlossenen Abteilung. »Verrückt, verrückt, verrückt. Gute Nacht, Jasper.«

2

Vor lauter Verrücktheit hätte ich um ein Haar vergessen, dass ich immer noch Tante Gladys’ Rosenkleid trug. Schnell schlüpfte ich in den nächstbesten Jogginganzug, bevor ich zu Mum und Deborah in die Küche ging, wo sie gerade ihre Einkaufstüten auspackten. Morgan hatte aus Mangel eines Oberteils ihre Jacke angezogen, begrüßte die beiden noch kurz und rauschte gleich darauf ab.

Beim Abendessen gab ich mir größte Mühe, mir nichts anmerken zu lassen, obwohl ich kaum einen Bissen von meinem Hühnchen herunterbrachte. Während ich innerlich tausend Tode starb, schienen Mum und Deborah keinen Verdacht zu schöpfen, dass noch jemand außer uns in der Wohnung war. Hoffentlich schlief Jasper wirklich und kam nicht auf die Idee, sich ein bisschen in unserem Appartement umzusehen.

Als Mum die Küche aufräumte (die – wie immer, wenn sie gekocht hatte – einem Schlachtfeld glich), nahm Deborah mich beiseite, um mich nach den Geschehnissen der letzten Folge auszuquetschen. Meine Schwester war eine der wenigen Mitwisserinnen, was mich und den Serienfluch um Ashworth Park betraf. Leider hatte sie es trotz ihres hohen IQs noch nicht geschafft, mich davon zu befreien.

»Also, wie ist Operation ›Happy End‹ verlaufen?«, wollte sie wissen. »Ist aus Julian und Clarissa was geworden?«

»Das weiß ich nicht so genau.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab mein Bestes gegeben, und sie haben sogar miteinander getanzt. Aber ob der Fluch jetzt für immer gebannt ist … keine Ahnung. Das erfahren wir wohl erst morgen um sieben, wenn die Serie startet. Oder eben nicht startet.«

Deborah schien unzufrieden und für einen Moment hätte ich mich am liebsten heulend in ihre Arme geworfen und ihr von dem Schlamassel mit Jasper erzählt. Doch dann fiel mir wieder ein, wie Deborah über die Überschneidung der Welten dachte.

Eine solche Überschneidung hatte ja mit Jaspers Reise hierher eindeutig stattgefunden. Als Hobby-Physikerin, Stephen-Hawking-Fan und Nerd par excellence war Deb nämlich der Ansicht, dass es sich bei unserer Welt und der von Ashworth Park um sogenannte »koexistierende Parallelwelten« (wirklich schräg!) handelte.

Aber alles von Anfang an: Deborah hatte mir eröffnet, dass sich beim Urknall mehrere Universen aus einzelnen Blasen eines Multiversums (noch schräger!) gebildet hatten, die nun koexistierten. Und dass diese Hypothese schon in der Antike von Philosophen wie Platon oder Aristoteles erörtert worden war. (Mal ehrlich: Hätten sich die nicht über etwas Nützlicheres Gedanken machen können, wie zum Beispiel die Abschaffung der Sklaverei oder die Entwicklung der Demokratie?) Danach hatte sie mir einen Artikel auf Wikipedia zum Thema Parallelwelten gezeigt, von dem ich nur die Hälfte verstanden hatte.

Um es kurz zu machen: Labormäuse hatten ihr verraten, dass man diese einzelnen Parallelwelten nicht vermischen durfte. Was dann geschah, wusste Deborah eigentlich selbst nicht so genau (ihre Szenarien reichten von »gar nichts« bis hin zur Apokalypse), und ein leises Gefühl hatte mir geraten, nicht weiter zu bohren, denn Deborah konnte sehr ungehalten werden, wenn sie an die Grenzen ihres eigenen Wissens stieß.

Dasselbe leise Gefühl riet mir jetzt, mich ebenso in Schweigen zu hüllen, was die Serienfigur in meinem Wandschrank betraf.

Schleife

Das Geräusch einer zufallenden Tür ließ mich hochschrecken. Zunächst brauchte ich einen Moment, um mich zu orientieren. Es war halb zwei Uhr morgens und ich befand mich in meinem Bett in New York, nicht in Ashworth Park. Einen klitzekleinen Augenblick überlegte ich, ob ich die Sache mit Jasper vielleicht doch bloß geträumt hatte – dann fiel mein Blick auf den Wandschrank. Die Tür stand offen.

Mist! Ich war sofort hellwach, sprang in Windeseile aus dem Bett und stürmte ins Wohnzimmer. Hektisch blickte ich mich in der dunklen Wohnung um. Wo war er?

Hatte er sich etwa nach draußen geschlichen? Panik kroch in mir hoch. Was, wenn Jasper tatsächlich abgehauen war und durchs nächtliche New York wanderte? Im Geiste sah ich mich bereits im Schlafanzug den Central Park durchsuchen, alle Telefonzellen checken und im Polizeirevier eine Vermisstenanzeige aufgeben (»Irgendwelche besonderen Merkmale?« – »Sie meinen, außer der Tatsache, dass er eine Serienfigur ist?«), aber dann hörte ich von der anderen Seite der Wohnung, wo Deborahs Zimmer lag, einen Schrei, gefolgt von einem lauten Poltern. Dann war alles ruhig.

Oh, verdammt! Ich machte kehrt und lief in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Auf dem Boden vor Deborahs Tür entdeckte ich ein Häufchen Fell, das sich bei näherem Hinsehen als Deborah in ihrem neuen flauschigen Plüschpyjama herausstellte, ein hässlicher Einteiler, der an ein Halloweenkostüm erinnerte. Ihr gegenüber rieb sich Jasper mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter. Sogar Pebbles war aufgewacht und knurrte.

»Was … was ist hier los?«, flüsterte ich.

»Ein Einbrecher. Die werden immer jünger«, japste Deborah, drückte mir eine Blumenvase in die Hand und ließ Jasper nicht aus den Augen. »Da, zieh sie ihm über, Abby. Ich habe ihn mit dem Spock-Griff erst mal geschwächt.«

»Du hast was?« Ich starrte meine Schwester an. Deborah und ich hatten den vulkanischen Nervengriff früher an uns selbst trainiert, um zu sehen, ob wir den Gegner bewusstlos umfallen lassen konnten. Leider funktionierte das wohl nur bei Mr Spock in der Serie, in echt tat es bloß höllisch weh. Zumindest, wenn Deborah zwickte.

»Ich kann nichts dafür!«, presste Jasper hervor. »Ich wollte mir bloß ein Glas Wasser holen, und dann stand sie plötzlich vor mir. Sie hat sich in diesem … diesem Bisamrattenkostüm angeschlichen und mich attackiert.«

»Das ist ein Biber!« Deborah nahm die Fellkapuze mit den Schnurrbarthaaren ab und präsentierte den platten Schwanz. »Sieht das etwa aus wie der Schwanz einer Bisamratte? Und jetzt ruf die Polizei, Abby!«

»Beruhige dich, Deborah. Und sei gefälligst leise«, zischte ich. »Das ist kein Einbrecher, sondern mein Gast, okay?« Ich seufzte. »Das hysterische Fellknäuel da ist übrigens meine Schwester Deborah.«

Jasper streckte ihr unwirsch die Hand entgegen. »Ich bin Jasper. Du hast mich in den Nacken gezwickt, Bisamratten-Schwester.«

»Es ist ein Biber! Wie oft denn noch?«, murmelte sie und rappelte sich so würdevoll auf, wie es in einem Bisamratten-, pardon, Biberkostüm möglich war. Sie schien Jaspers Hand schütteln zu wollen, doch etwas hielt sie zurück. Ihre Biberaugen wurden plötzlich riesig. »Jasper, wie Jasper Ashworth aus Ashworth Park?«

»Du hast ihr von mir erzählt?« Jasper klang geschmeichelt.

Deborah wurde käseweiß. »Was hast du getan?«, hauchte sie und betonte dabei jedes Wort, als hätte ich mich der dunklen Seite der Macht zugewandt.

»Lange Geschichte«, winkte ich ab. Ich musste sie einweihen, das war leider klar. Aber nicht jetzt. »Lass uns morgen darüber reden. Jasper tut niemandem was, schläft in meinem Zimmer und morgen ist er wieder –«

»Er schläft in deinem Zimmer?«, rief der Biber eine Oktave höher. Ich konnte von Glück sagen, dass unsere Mum ganz am anderen Ende der Wohnung mit Ohrenstöpseln schlief.

»Im Wandschrank«, verbesserte Jasper.

Deborah stöhnte. Einen Moment lang starrte sie erst Jasper und dann mich an, dann tippte sie mir mit dem Finger an die Brust. »Wie ist das möglich? Sag schon!«

»Woher soll ich das wissen? Frag doch die Blasen des Multiversums. Oder Platon und Aristoteles.«

»Wie das möglich ist?« Jasper lachte laut auf. »Das habe ich mich heute auch schon mehrmals gefragt. Und zwar wie um aller Welt ich binnen Sekunden von Ashworth Park nach New York gelangt bin.«

Deborah warf mir einen erschrockenen Blick zu. Für einen Moment schien jegliches Selbstbewusstsein aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. Nervös kratzte sie ihr Biberkostüm, als würden Flöhe darin hausen.

Ich kannte diesen Blick. Sie suchte händeringend nach einer Erklärung, die sie Jasper auftischen konnte.

»Aber dann hat Abby mir erklärt, dass mich Blackwoods Schlag in eine Art komatösen Zustand versetzt hat«, fuhr Jasper fort und sah sich in der nächtlichen Wohnung um. Vorsichtig betastete er eins von Mums Bildern an der Wand. »All das ist nicht real, auch wenn es mir noch schwerfällt, das zu glauben. Es fühlt sich einfach zu echt an.«

Deborah hob eine Augenbraue und nickte mir anerkennend zu. Offenbar zollte sie mir tatsächlich Respekt für meine gelungene Ausrede. Normalerweise war sie diejenige mit den Geistesblitzen.

»Klingt absolut logisch«, stellte sie fest.

»Du gibst ihr also auch recht«, brummte er. »Und woran machst du das fest, Miss Biber?«

»Gäbe es einen so rattenscharfen Schlafanzug in echt?«, antwortete Deborah.

Jasper quittierte es mit einem pflichtschuldigen Schmunzeln und mich überkam das dringende Bedürfnis, ihn aufzumuntern. »Wart’s ab. Vielleicht ist der Spuk morgen früh zu Ende und du wachst zu Hause in Ashworth Park auf.«

Ich hoffte, ich würde recht behalten. Aber damit lag ich leider falsch.

3

Als ich erneut wach wurde, war es bereits sieben Uhr morgens. Mein erster Blick galt dem Schrankraum. Ich war sofort alarmiert, als ich dort nur ein zerwühltes Bett vorfand. War Jasper wieder abgehauen? Oder war er vielleicht sogar zurückgesprungen?

In der Küche klärte sich die Lage. Deborah, Jasper und Morgan hockten am Küchentisch, löffelten Cornflakes und waren dabei in eine hitzige Diskussion vertieft. Von Mum fehlte jede Spur und mir fiel auf, dass das Bett in ihrer Atelier-Ecke ordentlich zusammengeklappt war. Komisch, üblicherweise schlief sie um diese Uhrzeit noch.

»Es geht mir gut!«, rief Jasper gerade, erhob sich vom Stuhl und klopfte sich mit den Fingerknöcheln auf die Stirn. »Alles intakt. Alles, was ich will, ist, mir ein bisschen die Stadt anzusehen. Ich bin doch nicht euer gottverdammter Gefangener!«

In diesem Moment entdeckte mich Deborah. »Abby, na endlich!«, rief sie und nickte in Jaspers Richtung. »Kannst du Jasper bitte verklickern, dass es für jemanden wie ihn gar keine gute Idee ist, in der Stadt herumzulaufen?«

»Für jemanden wie mich?«, regte sich Jasper auf. »Bloß weil ich auf einer Insel lebe, heißt das nicht, dass ich in einer Großstadt verloren gehe. Ich bin fast sechzehn und längst alt genug.«

Deborah rollte mit den Augen. »Ich meinte, für jemanden mit einer ernsthaften Kopfverletzung, Blödmann.«

Auweia, ich hätte ahnen müssen, dass Jasper auf die Idee kommen würde, sich die Stadt anzusehen. Aber was, wenn ihn jemand entdeckte? Wir gingen zwar davon aus, dass nur wir Ashworth Park empfangen konnten, aber sicher sein konnten wir uns nicht. Ich stellte mir vor, wie sich eine Horde kreischender Fans auf den vermeintlichen Schauspieler stürzte. Was, wenn er wildfremden Menschen von seinem Sekundensprung und seinem Komatraum erzählte und womöglich in der Klapse landete? Oder wenn er sich mitten am Times Square in Luft auflöste, sobald die Serie wieder anfing? Ich wusste nicht, welches dieser Szenarien das schlimmste war.

Jasper musste hierbleiben, so viel stand fest.

»Jasper, Deborah hat leider recht«, sagte ich, auch wenn er mir zugegebenermaßen etwas leidtat. Da schaffte er es endlich aus seinem Serienkosmos bis nach New York, und jetzt sperrten wir ihn ein. »Denk daran, dass du gestern bewusstlos warst.«

»Nicht mal ein Foto von der Freiheitsstatue?«, versuchte es Jasper.

»Nein!«, fauchte Deborah.

»Dann eins vom Empire State Building?«

»Nein!«

Wütend stand Jasper auf und pfefferte sein Glas in die Spüle. »Und warum dürfen die beiden heute Abend auf eine Party und ich muss in dieser langweiligen Wohnung sitzen?«, rief er und deutete auf Morgan, die die Eintrittskarten zu Trevors Party in den Händen hielt.

»Wir gehen auf keine Party«, zischte ich. Ich hatte Trevors Kostümparty beinahe vergessen, dabei hatte ich mich noch bis vor wenigen Tagen wahnsinnig darauf gefreut. Aber angesichts dessen, was hier gerade los war, konnten wir doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, auszugehen! Die Parallelwelten waren aufeinandergeprallt und wir gingen auf eine Party? Ich hatte doch nicht mal ein Kostüm!

»Gehen wir nicht?« Morgan sah verdutzt aus.

»Nein, gehen wir nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Na, seinetwegen natürlich.« Ich deutete auf Jasper.

»Mir geht es gut, wirklich«, versicherte uns Jasper, lehnte sich gegen den Küchentresen und verschränkte die Arme.

Morgan nickte zufrieden. »Siehst du?«

»Du musst trotzdem alleine gehen«, erklärte ich.

»Aber das geht nicht«, jammerte Morgan. »Wir müssen gemeinsam dorthin. Wenn ich alleine komme, denkt Jake bestimmt, ich stehe total auf ihn und bin seinetwegen da.«

»Aber das stimmt doch.«

»Und wennschon. Er soll es nicht wissen.« Morgan spielte mit einer pinken Haarsträhne. »Und außerdem dachte ich, du stehst auf Trevor.«

»Wer ist Trevor?«, fragte Jasper dazwischen und hob eine Augenbraue.

Ich beachtete ihn gar nicht. Wenn ich über eine Sache nicht mit Jasper sprechen wollte, dann war das Trevor. »Morgan, in New York gibt es ständig Dachterrassenpartys. Wir verschieben es einfach, okay?«

»Eine Dachterrassenparty?«, wiederholte Jasper und sah Deborah an. Seine blauen Augen blitzten. »Wir könnten doch alle dorthin gehen. Da könnte ich bestimmt tolle Fotos schießen. Und Morgan bekommt auch, was sie –«

»Jetzt reicht es aber!« Deborah baute sich vor uns auf. »Habt ihr nicht gehört, was ich gesagt habe? Niemand hier macht auch nur einen verdammten Schritt aus der Wohnung! Alle bleiben hier. Außer Morgan, die kann gehen. Wieso bist du eigentlich schon wieder hier? Hast du kein eigenes Zuhause?«

»Entschuldige mal bitte, du Freak! Abby hat mir gestern Abend eine SMS geschrieben und mich zum Frühstück eingeladen«, beschwerte sich Morgan lautstark. »Ich wusste nicht, dass wir dich erst um Erlaubnis fragen müssen.«

»Könnt ihr nicht mal ruhig sein?«, rief ich.

In diesem Moment hörten wir, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Augenblicklich verstummten wir alle.

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Das ist Mum«, flüsterte ich. Deborah, Morgan und ich tauschten panische Blicke. Mum kannte die Serie und würde Jasper erkennen.

Die Tür ging auf und Pebbles stürmte in die Wohnung. Kurz darauf tauchte Mums Lockenschopf im Türrahmen auf. Es war zu spät. Jeden Moment würde sie die Serienfigur entdecken, die in Dads altem Boy-George-T-Shirt am Küchentresen lehnte.

In meiner Verzweiflung bemühte ich mich, ein möglichst unschuldiges Grinsen aufzusetzen.

»Guten Morgen, meine Lieben!«, flötete Mum und winkte uns allen fröhlich zu. »Ich war mit Pebbles Gassi und hab euch frische Donuts mitgebracht!« Als sie die Pappschachtel auf dem Küchentisch abstellte, verharrte ihr Blick einen Moment lang auf Jasper. »Oh, hallo!« Sie schenkte ihm ein Lächeln, dann lief sie pfeifend weiter zur Garderobe, wechselte in Windeseile die Schuhe und schnappte sich ihre Handtasche. »Ich habe gleich einen Termin in der Stadt, danach fängt meine Schicht im Deli an. Könnte heute spät werden. Essen steht im Kühlschrank.«

Dann fiel die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss.

Schleife

»Ich habe noch eine Theorie, was mit Mum los sein könnte. Die vierte inzwischen«, sagte Deborah und setzte sich auf den Barhocker am Küchentresen. »Die Aliens, die neulich Crazy Fred entführt haben, haben sich jetzt auch Mum geschnappt und ihr das Gehirn herausgesaugt. Ha!«