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Intro von Steve Lake

INTRO

»Bird Lives!« verkündeten einst die Graffitis, die der Dichter Ted Joans auf den Mauern New Yorks hinterließ. Doch Anspruch auf Unsterblichkeit kann eigentlich nur der Geist John Coltranes erheben, denn bis heute ist Trane der einzige Jazzmusiker, der nicht nur im übertragenen Sinne als Heiliger verehrt wird und nach dem sogar eine Kirche benannt ist: die »Saint John Will-I-Am Coltrane African Orthodox Church« in der Fillmore Street in San Francisco, wo Erzbischof Franzo King Zeugnis ablegt von der »Klangtaufe«, die ihm als Zuhörer eines Coltrane-Konzerts widerfuhr - dieser Mann, erkannte er schlagartig, spielte nicht nur Jazz, sondern war ein Erwählter, der Menschen den Weg zurück zu Gott wies. Coltranes Familie reagierte auf die Kirchengründung mit dem Versuch einer Klage auf Verletzung des Urheberrechts. Was den europäischen Leser in beiden Fällen zu einem kopfschüttelnden »Das gibts nur in Amerika !« veranlassen dürfte.

Natürlich, Coltrane hat den Jazz transzendiert und sein musikalischer Einfluss ist überall spürbar, auch in Gefilden, für die er selbst wenig Sympathie hegte. A Love Supreme gibt es heute in einer Fassung für Streichquartett zu kaufen, obwohl John Coltrane die genreverbindende Third-Stream-Bewegung als Zwangsehe betrachtete. Ebenso wenig lässt sein Spätwerk erkennen, dass er Miles Davis und Co. in die Jazz-Rock-Fusion der Siebzigerjahre gefolgt wäre. Im Gegenteil, in seinen letzten Jahren bewegte sich Coltrane immer weiter weg von festen Rhythmen. »Ich brauche schon einen Beat, irgendwo, aber ein schnurgerader Viervierteltakt interessiert mich nicht«, sagte er einmal. Coltrane war mitunter ein Revolutionär wider Willen, dessen Beschwerden über die aus seiner Sicht exzessive Verwendung von Verstärkern in der Rockmusik einen gewissen Konservatismus ebenso erkennen lassen wie die Klage, niemand schreibe mehr Popsongs wie Richard Rodgers. Und doch ist das ColtraneQuartett mit seiner Energie, seiner Freiheit und Leidenschaft bis heute ein Orientierungspunkt für unzählige »jammende« Rockbands wie Warren Haynes' Gov't Mule und die Derek Trucks Band, die nicht selten auch »Afro Blue« im Repertoire haben.

Wann immer jedoch vom »späten Coltrane« gesprochen wird, um den musikalischen Lavastrom der Jahre 1966/67 zu benennen, sollte uns bewusst sein, dass dies nur ein Kürzel der Musikkritiker ist. »Später Coltrane« hat nichts mit der Schwelle des Todes zu tun, an der man beispielsweise den »späten Brahms« stehen sieht. Für Coltrane, der seine Musik direkt auf der Bühne schuf, gab es keine melancholischen Reflexionen über gelebtes Leben und die Sterblichkeit allen Seins. Dafür hatte er keine Zeit. Vielleicht wäre es passender, seine Entwicklung vom »werdenden Coltrane« zum »unvollendeten Coltrane« verlaufen zu lassen, denn trotz der wuchernden Diskografie und epischen Soli war alles viel zu schnell vorbei, von der Hitze verzehrt. Noch zwei Monate vor seinem Tod experimentierte der Saxophonist mit neuen musikalischen Richtungen. Eines seiner vielen posthum veröffentlichten Alben heißt Transition, ein Titel, den eigentlich so gut wie jede seiner Platten tragen könnte. Für den selbstkritischen Coltrane waren alle seine Aufnahmen »vorübergehend«. Viele von ihnen zählen heute zu den Referenzwerken des modernen Jazzkanons, doch ihr Schöpfer war nie zufrieden, sondern eilte bereits rastlos und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste der nächsten Station seiner musikalischen Entwicklung ent gegen.

Coltrane auf Tonträger ist ein unfertiges Projekt, die Suche eines neugierigen, genialen Geistes nach dem erfüllenden Kontext. Bis 1961 praktisch nur Solist, hatte er die ganz unterschiedlichen Räume in der Musik von Miles Davis und Thelonious Monk mit seinen Soundkaskaden und Stream-of-Consciousness-Soli gefüllt, hyperwach für alles, was um ihn herum geschah. Monks Ehefrau Nellie erinnerte sich, dass Coltrane sogar den Lärm von der Straße in seine Improvisationen integrierte: »Coltrane spielt die Geräusche der Straßenbahnen draußen, das Quietschen der Autoreifen und Töne, die es gar nicht gibt.«

Auf den ersten Platten unter eigener Regie, mehr oder weniger noch als Hardbop erkennbar und aufgenommen mit dem Personal, das gerade greifbar war, dokumentierte Coltrane, was Evan Parker »Etüden für Studio« genannt hat. Während Coltranes System der superimposed chords heute essenzieller Bestandteil einer ordentlichen Jazzausbildung ist - wer »Giant Steps« spielt, hat das Diplom so gut wie in der Tasche -, begann Coltrane schon vor fünfzig Jahren, den starren Blick auf Akkorde mit dem berühmt gewordenen Ausspruch infrage zu stellen, das sei »wie durch das falsche Ende des Fernglases auf die Musik zu schauen«. Auch brillante Parforceritte wie »Countdown« und »Giant Steps« können nicht verdecken, dass das Festhalten an den eigenen komplexen Akkordfolgen seinen Blick auf die ganze Weite des musikalischen Terrains ebenso beschränkte wie die Freiheit, sich darin zu bewegen. Etwas musste anders werden.

Ab 1961 hatte Coltrane dann endlich eine eigene Band, obwohl das »klassische« Quartett mit McCoy Tyner, Elvin Jones und Jimmy Garrison erst Ende des Jahres vollständig war. Unbestritten ist, dass sie die Messlatte für das, was im Jazz (ein Begriff, für den Coltrane wenig übrig hatte) möglich war, höher legten - und zwar auf die altmodische Art, mit einer Hingabe und Leidenschaft, der man heute kaum noch begegnet.

Coltrane musste lernen, sich mit dem Festival- und Konzertparcours zu arrangieren: Er betrachtete größere Räumlichkeiten als suboptimal für das Spielen und Hören kreativer Improvisation und wehrte sich gegen die leidigen Zeitvorgaben bei Festivals. (»Es erscheint mir unlogisch und unvernünftig, unsere Soli abzukürzen. Ideen müssen sich natürlich entfalten können.«) In der Regel fanden die musikalischen Forschungsarbeiten des Quartetts vor dem Hintergrund klirrender Gläser und Stimmengewirrs in den Clubs von Amerika statt -nicht nur in denen, die jeder kannte, wie das Village Vanguard und das Birdland in Manhattan, sondern auch im Jazz Temple in Cleveland, dem Pink Poodle in Indianapolis und dem Showboat in Philadelphia, wo das Quartett besonders oft gastierte. Vor Kurzem aufgetauchte Bootlegs aus dem Showboat offenbaren eine bemerkenswerte Mischung aus Lässigkeit und Intensität. Nichts und niemand kann Coltrane auf seinem Weg zum innersten Kern der Musik aufhalten. Elvin sitzt im Knast, sagst du? Wir nehmen Roy Haynes. McCoy hat sich noch nicht blicken lassen? Wir spielen als Trio. (Einmal übernimmt Coltrane auf den Showboat-Aufnahmen sogar selbst das Klavier.)

Vermutlich hat jeder Leser und jede Leserin dieses Buchs seinen oder ihren »Lieblings-Coltrane«, genug Perioden stehen ja zur Auswahl. Für mich ist er am besten, wenn er das tut, was ein Zeitgenosse - war es Freddie Hubbard? -»blowin' past the money« nannte, wenn er seine Soli derart ausdehnt, dass sie jeder kommerziellen Vernunft spotten. Seine philosophische wie musikalische Verbundenheit mit der improvisierenden Avantgarde ist beeindruckend und berührend zugleich. Anfang der Sechzigerjahre bezahlte der technisch versierteste Saxophonist seiner Generation die Musikstunden von Ornette Coleman. Mit Eric Dolphy nahm er einen Musiker in seine Band auf, von dem Miles Davis, Coltranes ehemaliger Chef, gegenüber Down Beat behauptete, er spiele, als trete er sich selbst auf den Fuß. Er förderte Albert Ayler, Archie Shepp und Pharoah Sanders und verhalf ihnen zu Plattenverträgen bei Impulse! Records. In Interviews sang er Loblieder auf John Gilmore. Zeitweilig übernahm er sogar die Miete für Marion Browns Wohnung. Auf Ascension umgab er sich mit jüngeren Saxophonisten - Shepp, Sanders, Brown, John Tchicai. Der Jazz, geprägt von cutting contests und Territorialkämpfen, kann eine kleine Welt voller Engstirnigkeit und Eifersüchteleien sein, aber zu Coltranes Lebzeiten war er es nicht. Es dürfte schwerfallen, in der Geschichte dieser Musik einen Menschen von ähnlicher Großzügigkeit gegenüber den Protagonisten seines eigenen Instruments zu finden. Die heranstürmende Phalanx der »New Thing«-Saxophonisten sah er nicht als Bedrohung oder Konkurrenz, sondern als eine Bewegung, von der er lernen konnte.

Es gibt Maler, die im Laufe ihrer Entwicklung Technik irgendwann wie überflüssigen Ballast über Bord werfen. Picasso gehörte zu ihnen, Paul Klee ebenfalls. Für beide blieb Volkskunst immer eine Inspirationsquelle. Coltranes Fall ist ähnlich gelagert. Für ihn war klar, dass es Musik gibt, bei der es auf die Perfektionierung der Technik ankommt, und Musik, die unmittelbarer in Lebenserfahrung wurzelt. Hier spricht der Kopf, dort das Herz. Bereits sterbenskrank, wollte er auf der Seite des Lebens stehen, auf der Seite einer Sprache der Klänge, nicht der Noten, für die Albert Ayler so leidenschaftlich eintrat. Für Coltrane war es keine neue Sprache, aber eine, der er sich aus der Perspektive der Erfahrung neu nähern musste. Natürlich wies die Ekstase von Ascension nach vorne, in eine der Richtungen, in die sich der Jazz entwickeln sollte, aber sie führte auch zurück zur »schwarzen« Kirche, in der seine beiden Großväter gepredigt hatten. Und der Blues, elementarer Bestandteil von Coltranes Sound seit den ersten Auftritten mit Big Maybelle in den 1940 ern, schwang selbst in der Schlussmusik von Stellar Regions noch mit, nun zur Begleitung dahinziehender Planeten.

Welch unvergänglicher Einfluss. Wenn ich an Coltrane denke, erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit dem Saxophonisten Charles Gayle vor zwanzig Jahren. Gayle, der sein Tenorsax in einen Flammenwerfer verwandeln konnte, hatte gerade die Luft in dem L-förmigen Raum der alten Münchner Unterfahrt mit einer reinigenden Stoßwelle guter alter Feuermusik zum Sieden gebracht. Wir sprachen über sein Album Touchin' on Trane, aufgenommen mit Coltranes letztem Schlagzeuger, Rashied Ali, der sich auch den Titel ausgedacht hatte. Gayle war das ein bisschen peinlich. »Ein Stück weit heranzukommen an das, was Trane ausmachte - mehr konntest du nicht erhoffen«, sagte er. »An Trane kommt keiner vorbei! Ain't no-one ever gone beyond John Coltrane.«

Karl Lippegaus' kluges Buch nähert sich auf seine eigene Art dem, was Trane ausmachte. Es untersucht die Entwicklung seines großartigen Sounds, den wechselnden kulturellen Kontext, in dem sie stattfand, und führt uns zurück zu einer Musik, von der wir immer noch viel lernen können, auf mehr als einer Ebene. ~ STEVE LAKE

Few ensembles have ever made such lasting music. ~ STANLEY CROUCH

 

You know, that sound. That soul crying out with each note! ~ FRANK MORGAN

 

I wish I could walk up to my music as if for the first time, as if I had never heard it before. ~ JOHN COLTRANE

 

Jazz is only what you are. ~ LOUIS ARMSTRONG

 

When you go looking for what is lost, everything is a sign. ~ EUDORA WELTY

 

The main thing a musician would like to do is to give a picture to the listener of the many wonderful things he knows of and senses in the universe. ~ JOHN COLTRANE

 

Coltrane. What can I say? ~ JACK BRUCE

Der Schrei

DER SCHREI

Als ich die alte verkratzte LP Live at the Village Vanguard Again! noch mal auflegte, an jenem kühlen Frühlingsmorgen in einem Dorf in Südfrankreich, und sie bei offenem Fenster laut hörte, krakeelte der stolze Hahn des Nachbarn exakt in dem Moment, als Pharoah Sanders mit seinem Solo loslegte. Und ich schwöre: Der Hahn und dieses verrückte Saxophon kreischten um die Wette, dass man kaum noch unterscheiden konnte, was Tier und was Instrument war. Es fiel mir auf, wie gut die beiden zusammen klangen, und ich ging nach draußen, um diesem Höllenspektakel zu lauschen. Dann bekam ich Besuch und das Erste, was mein Gast tat, war, wortlos zum Plattenspieler zu rennen und die Musik auf minimale Lautstärke herunterzudrehen. Ich sagte nichts, aber als die Musik schwieg, hatte auch der Hahn ausgekräht und widmete sich wieder seinen drei Hühnern. Abends, endlich allein, legte ich die verstaubte Platte erneut auf, das knisternde Kaminfeuer wärmte mir den Rücken an diesem nasskalten Aprilabend in der Provence, die eigentliche Wärme jedoch strahlte dieses Solo von Pharoah Sanders ab, für das man Coltranes Band seinerzeit so attackiert hatte. Nach Pharoah, dem Enfant terrible, kommt Trane wieder ans Mikrofon, so konzentriert und motiviert, als hätte er die ganze Zeit innerlich weitergespielt. Mit noch kraftvolleren Gesten knüpft er an Sanders' Botschaft an und verwebt alles kunstvoll miteinander. Wieder ertönt »Naima«, das er für seine erste Liebe geschrieben hatte, jetzt variiert er den Song in alle Richtungen und Johns Horn hat jenen besonderen Klang, der entsteht, wenn einfach alles stimmt - das Blatt, das Mundstück, die perfekte Symbiose von Körper und Instrument. Rudy Van Gelder saß am Mischpult und fing das Ereignis ein: John Coltrane - live at The Village Vanguard, 28. Mai 1966. (Jeder Toningenieur weiß, dass es nicht die schönen Mikrofone, sondern erst mal die Musiker selbst sind, die einen solchen Sound hervorbringen.) Ein Jahr später, am 17. Juli 1967, einem Montag, stirbt John Coltrane um vier Uhr morgens, zwei Monate vor seinem 41. Geburtstag, im Huntington Hospital in New York City.

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1. Blame It on My Youth

1. KAPITEL

BLAME IT ON MY YOUTH

John William Coltrane kam als einziges Kind von Alice Blair (1898 - 1977) und John R. Coltrane (1901 - 1939) am 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina, zur Welt. Die Vorfahren seines Vaters waren Sklaven, die wie allgemein üblich den alten schottischen Namen ihres »Besitzers« Coltrane bekommen hatten. Noch heute leben mehr Coltranes in diesem US-Staat als in allen anderen zusammen und auch die Blairs sollen noch bis zu den Großeltern von Johns Mutter Sklaven gewesen sein. Alice war eine sehr religiöse Frau, nicht sehr gesprächig, groß und von dunklem Teint. Sie hatte sieben Geschwister, war eine ausgezeichnete Sängerin, zeigte lebhaftes Interesse an Oper und begleitete den Chor am Klavier, der bei den Gottesdiensten ihres Vaters Reverend William W. Blair sang. John erzählte: »Sie wäre gerne Konzertsängerin geworden. Aber ihr Vater war dagegen, dass junge Frauen vor ihrer Heirat das Elternhaus verlassen, also musste sie diesen Plan aufgeben« (DeVi, 37).

Um 1920 machten die Blairs Bekanntschaft mit den Coltranes, der Familie eines anderen Geistlichen der AME-(African Methodist Episcopal)-Zion-Kirche. Alice schloss Freundschaft mit John R. Coltrane, dessen Vater Pastor in Sanford, North Carolina, war, und 1925 heirateten die beiden. Ein Jahr später brachte Alice ihr einziges Kind zur Welt. Niemand aus seiner direkten Umgebung wäre auf den Gedanken gekommen, dass aus dem stillen und schüchternen Jungen einmal einer der großen Künstler des 20. Jahrhunderts würde. Der Vater hatte einen kleinen Schneiderladen, spielte nach Feierabend Ukulele und Violine und beide Eltern sangen viel. In jeder freien Minute griff sich »JR«, wie später sein Sohn John, irgendein Musikinstrument. Ein paar Monate nach der Geburt des Sohnes zogen die Coltranes mit der Blair-Familie von Hamlet, wo die Bürgersteige abrupt dort endeten, wo die Schwarzen lebten, ins nahe gelegene, größere High Point, das in den Zwanzigerjahren etwa 6000 Schwarze und 24 000 Weiße zählte. Dort wuchs ihr Kind in einer Familie auf, die weder wohlhabend noch in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Die Schwarzen in High Point legten großen Wert auf Erziehung und waren sehr mit ihrem Glauben verbunden. Rassenkonflikte wie in den benachbarten Städten waren kaum bekannt. Trotzdem verlief eine deutliche Trennungslinie zwischen Schwarzen und Weißen, etwa in den öffentlichen Parks, wo die Brunnen für Afroamerikaner mit Colored (Farbige) markiert waren. Zeitweise lebten bei den Blairs acht Personen gemeinsam unter einem Dach. Alice und John liebten ihr Zuhause. Jeden Tag ging der kleine John mit seiner Mutter abends Hand in Hand in den Laden des Vaters, um ihm sein Abendessen zu bringen, und stundenlang hörten sie ihm danach zu, wenn er Countrysongs sang.

»Es fing damit an, dass ständig diese Musik um mich herum war. Wie jeder in diesem Land wächst du auf und hörst dauernd diese Musik und sie ist ein Teil von dir, vom Babyalter an, weil sie jeden Tag anders gespielt wird. Erst war es zufällig etwas, das mir gefiel. Bis mir klar wurde, dass ich etwas in mir hatte, das mich dazu befähigte, weißt du. Dann kams an den Punkt, wo ich mich fragte: ›Was bedeutet das? ‹ Sollte ich mich wirklich da hineinvertiefen und zeigen, was ich ehrlich empfinde? Es hat alles damit zu tun, wie ich Musik verstehe und was sie mir bedeutet. Sie ist meine einzige Ausdrucksform. Ich sage kaum meine Meinung zu anderen Dingen, meist stecke ich zu tief da drin. Zerbreche mir über nichts groß den Kopf, so bin ich eben, außer über Musik -und manchmal schwanke ich auch dabei. Musikalisch habe ich jedoch was zu sagen und werde es auch auf die Reihe kriegen und rauskommen und es tun. Ich weiß nicht, aber eines Tages werde ich die Antwort haben.«

Vor der Schulklasse stellte der stille, nachdenkliche Junge dem Lehrer gerne Fragen über Gott. Und sonntags in der Kirche erlebte er den Großvater vor der Gemeinde. Reverend Blair war zwar kein shouter wie die Baptistenprediger, doch sozial und politisch engagiert, »ziemlich radikal«. Vom Großvater mag John seine Passion für Bücher, vor allem über afroamerikanische Geschichte und Religion, geerbt haben. Viel Zeit verbrachte er mit seiner geliebten Cousine Mary, einem lebhaften Mädchen, das für ihn wie eine Schwester war; das berühmte Stück »Cousin Mary«, eine seiner schönsten Kompositionen, ist ihr gewidmet. Der Schüler zeigte früh eine überdurchschnittliche Begabung und als Zwölfjähriger bekam er eine Klarinette aus dem Pfandhaus geschenkt. 1939 gab es eine Band an der Schule, John wurde ihr Klarinettist und spielte auch Althorn. Schulfreunde berichteten, er habe Tag und Nacht geübt; es war ein vertrauter Klang, der vom Schulhof durch die geöffneten Fenster der Klassenzimmer drang: Aha, das ist John!

Dann wurde die relative Idylle in der Familie durch eine Serie von Todesfällen erschüttert. Eine Schwester seiner Mutter starb, wenige Monate nach ihr sein Großvater Reverend Blair und nur drei Wochen später erlag Johns Vater mit nur 38 Jahren einer Krebserkrankung. Das harmonische Band um die Großfamilie war plötzlich gerissen. John litt schwer unter den Verlusten und fiel in eine tiefe Krise. »Mein Vater starb, als ich um die zwölf Jahre alt war. Meine Mutter opferte sich sehr dafür auf, dass ich Musikunterricht bekam. Sie hat nie wieder geheiratet. Ich ging durch eine depressive Phase und hätte fast aufgegeben. Ich danke Gott, dass er mir die Kraft gab, mich da wieder herauszuziehen« (DeVi, 45 f.).

Alice sah sich gezwungen, Untermieter ins Haus zu nehmen, was der Junge nur schwer ertrug. Mit seinen schulischen Leistungen ging es rapide bergab; währenddessen vertiefte er sich mehr und mehr in die Musik. »Für eine Weile schien es so, als habe er nichts als sein Instrument«, erzählte ein Freund -eine Beobachtung, die sich geradezu leitmotivisch durch die gesamte Literatur über John Coltrane zieht. Sein intimes Verhältnis zur Musik - genauer zu einem Blasinstrument, das wie die Verlängerung der eigenen Stimme ist - blieb zeitlebens prägend.

 

Sie erinnerte sich noch, dass sie mit dem schweren John auf dem Arm die Trep pe hinaufgestiegen war und beim Eintreten von irgendwoher Musik gehört hatte, die sofort leiser wurde, als Florence die Tür hinter ihr zumachte. Auch John hatte die Musik gehört und er fing an zu zappeln, fuhr mit den Händen in der Luft herum und stieß Laute aus, die wohl ein Lied sein sollten. »Ich merk schon, du bist ein richtiger Nigger«, dachte sie amüsiert, aber auch gereizt -denn es war ein Grammophon, das in einem der unteren Stockwerke spielte, und es erfüllte das ganze Haus mit den getragenen, klagenden Tönen eines langsamen Blues.

Aus dem fernen Grammophon drang dann ein monotoner, durchdringender, kla gender, quälender Trompetenton; dieser unartikulierte, hässliche Laut füllte für einen Augenblick das ganze Zimmer. Sie sah auf John hinunter. Irgendeine Hand stieß gegen den Arm des Grammophons und die Stahlnadel setzte ihre Reise durch den Reigen der schwarzen Rillen fort, wie ein Stück schlingerndes Treibgut auf dem Meer . ~ JAMES BALDWIN (GEHE HIN UND VERKÜNDE ES VOM BERGE, 227 F./9)

 

Im Herbst 1940 tauschte John seine Klarinette gegen ein gebrauchtes Saxophon ein, ein Altsaxophon, obwohl er zu der Zeit besonders den Tenorsaxophonisten Lester Young bewunderte. Er abonnierte das Jazzmagazin Down Beat, das damals kaum über schwarze Musiker berichtete und »echten« Jazz vor allem als weiße Errungenschaft darstellte. »Weiße Bands dominierten die Leserpolls, obwohl Schwarze die Musik erschaffen hatten. Ein unbedeutendes Akkordeonduo bekam mehr Aufmerksamkeit als die wichtigen Experimente der schwarzen Bands von Kansas City«, schrieb der Coltrane-Biograf C. O. Simpkins (Simp, 12).

John gehörte zur selben Generation wie Dr. Martin Luther King, der schon als 17-Jähriger seine Stimme als Prediger erhob. Dem unzertrennlichen Kinderpaar John und Mary war die Rassentrennung ständig vor Augen, dafür brauchten sie nur auf die abgegriffenen Schulbücher und ihre Sportkleidung aus zweiter Hand zu schauen. Die Diskriminierung der Afroamerikaner zog sich wie eine tiefe Wunde durch sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens, die noch bis 1964 wirksamen Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung betrafen das Schulsystem und die Trennung nach Hautfarben nicht nur in öffentlichen Bussen, sondern auch auf Bahnhöfen, in Bars und Restaurants, in Aufzügen und Toiletten. Der Trompeter Roy Eldridge, einer der ersten Afroamerikaner, die in weißen Bands spielten, war so angewidert von der ständigen Repression, dass er die Flucht ergriff und eine Zeit lang in Europa mit Hauptwohnsitz in Paris lebte. »Europa war wie frische Luft für uns«, sagte der Schlagzeuger Max Roach. Durch eine Reform »von oben« wurde Druck auf die Südstaaten ausgeübt, die seit Rosa Parks' legendärem »Montgomery Bus Boycott« Stück für Stück aufgehobene Segregation zu beseitigen. In den Südstaaten blieb sie jedoch bis weit in die Sechzigerjahre virulent und Afroamerikaner wurden weiter wie Bürger zweiter Klasse behandelt - auch wenn den schwarzen Bewohnern von High Point die schlimmsten Repressionen erspart blieben. Noch als international gefragter Künstler spielte John höchst ungern im Süden, weil es zu viele unangenehme Erinnerungen in ihm wachrief. Und nie wieder kehrt er in seinem späteren Leben nach High Point zurück.

In seiner Kindheit hatten die Wärme und Solidarität innerhalb der Community einen lebenswichtigen Schutz geboten, der ihn die plötzliche Armut psychisch ertragen ließ, in die die Familie abgeglitten war. Seine Mutter Alice ging wie viele aus dem Süden nordwärts und fand in Philadelphia Arbeit. Als er die Highschool beendet hatte, schrieb er seiner Mutter auf einer der seltenen Postkarten an sie: »Ich wünschte, ihr würdet alle wieder nach Hause kommen. Ich vermisse euch.« Nach der Highschool, kurz vor seinem 17. Geburtstag, zog John 1943 zu Alice nach Philly, Pennsylvania, wo er in der Campbell Soup Factory jobbte. An der Granoff School of Music, wo Coltrane 1944 Saxophonunterricht erhielt, wurde man auf sein Talent aufmerksam und förderte ihn; er galt als brillant und sehr sensibel, war bei den Mitschülern beliebt und verbrachte oft zehn, zwölf Stunden täglich dort. 1958 erzählte Trane während eines Dinners in Baltimore, ohne zu wissen, dass sein Freund August Blume das Gespräch aufzeichnete: »Um diese Zeit brach ich mit vielen Dingen. Ich stellte unter anderem auch infrage, was man in der Religion findet. Ich begann zu zweifeln. Als ich 22, 23 war, kam dieses Muslimding auf. Ich geriet damit in Kontakt. Und irgendwie hat mich das erschüttert. Viele meiner Freunde wurden Muslime. Ich dachte darüber nach und es führte mich zu etwas, über das ich mir noch nie richtig bewusst geworden war - weißt du, eine andere Religion. Das beschäftigte mich. Aber ich habe nie was daraus gemacht. Ich dachte nur nach. Damals war ich zu sehr mit anderen Dingen befasst und habs erst mal wieder vergessen« (DeVi, 12).

Sein Leben lang fühlte Trane sich besonders den Leuten verbunden, die aus North Carolina und aus Philadelphia stammten: Naima (seiner ersten Frau), Thelonious Monk, Jimmy Heath, McCoy Tyner und Dizzy Gillespie. In der »Stadt der brüderlichen Liebe«, die für ihn bereits eine nördliche war, nur i50 Kilometer südwestlich von New York, bekam er das Gefühl, endlich freier atmen zu können, und immer wieder holte er Musiker von dort in seine Band.

2. Learning the Game

2. KAPITEL

LEARNING THE GAME

So much soul, yeah. A whole lotta soul. ~ COLTRANE ÜBER JOHNNY HODGES

 

Practicing is like praying. You don't just pray one day a week. ~ MILES DAVIS

 

Junge Menschen aller Hautfarben amüsierten sich in den Nightclubs, wo Louis Jordan und Lionel Hampton den altmodischen Swing in härteren Rhythm and Blues verwandelten. Erleichterung über das Ende des Zweiten Weltkriegs schwang darin mit. Bebop hieß ein anspruchsvoller neuer Jazzstil, ein seltsamer Name für die raffinierte, betont solistische Kunst der Improvisation, deren Ikonen »Bird« (Charlie Parker) und »Diz« (Dizzy Gillespie) waren. Die »heilige Dreifaltigkeit«, so der Schlagzeuger Max Roach, komplettierte der als »Hohepriester des Bop« bekannte Pianist Thelonious Monk, der Hauspianist in Min-ton's Playhouse in New York war und in Coltranes Leben eine zentrale Rolle spielen sollte. »Es lag so viel Schönheit in dieser Musik«, erinnerte sich John an die Anfänge jener musikalischen Revolution, deren Signale er von Philadelphia aus vernahm. Schon seit 1940 soll er einige der großartigsten Bigbands live erlebt haben, das Orchester von Jimmy Lunceford sowie Count Basies Band mit dem charismat ischen Saxophonisten Lester Young. Und Duke Ellington, bei dem Coltranes Idol Johnny Hodges als Starsolist am Altsaxophon agierte. Es heißt, er habe zu Hause vor dem Spiegel gestanden, auf Fotos von Hodges geschaut und versucht, seine Körperhaltung mit dem Horn derjenigen Hodges' anzupassen. John wählte wie »Rabbit« später - vielleicht um Hodges noch näher zu rücken - das Sopransaxophon als Zweitinstrument.

 

1940 veröffentlicht Richard Wright seinen Roman Native Son, eines der wichtigsten Werke der afroamerikanischen Literatur ~ Im Sommer 1941 kündigt A. Philip Randolph die Marsch-auf-Washington-Bewegung an, um Präsident Roosevelt zu einer fairen Behandlung schwarzer Bürger zu zwingen ~ Im Dezember greifen die USA in den Zweiten Weltkrieg ein ~ Im Juni 1943 brechen Rassenunruhen in Detroit aus, bei denen 9 Weiße und 25 Schwarze sterben. Kurz darauf kommt es auch in Harlem zu Protesten, bei denen 6 Afroamerikaner sterben und 185 Menschen verletzt werden ~ Im selben Jahr feiern schwarze Künstler Erfolge im all black cast von Vincente Minnellis Musical Cabin in the Sky mit einem Auftritt von Duke Ellington ~

 

1944, als Coltrane an der Granoff School Saxophon lernte, spielte der nur vier Monate ältere Trompeter Miles Davis bereits in der Band von Billy Eckstine mit Charlie Parker. Unermüdlich versuchte John, den souligen Ton von Johnny Hodges in »On the Sunny Side of the Street« zu treffen. Populäre Balladen wie »Ev'ry Time We Say Goodbye«, »I Want to Talk About You« und »Like Some-one in Love« lagen damals förmlich in der Luft. Solche »erinnerten« Melodien wurden Teil seiner »tönenden Autobiografie«. Für immer erinnerte er sich an diese Songs, die er irgendwo aufschnappte, um sie Jahre später auf berühmten Alben wie Ballads oder mit dem Sänger Johnny Hartman zu »reaktivieren«.

3. Bird

3. KAPITEL

BIRD

Vergessene Namen kamen mir in den Sinn, wie vergessene Teile eines Traumes. Ich bewegte mich mit der Menge, war wie in Schweiß gebadet, lauschte auf den mahlenden Lärm des Verkehrs, das anschwellende Plärren aus dem Lautsprecher eines Plattenladens, wo ein schwermütiger Blues gespielt wurde. Ich blieb stehen. War das alles, was Geschichte wurde? War das die einzig wahre Geschichte der Zeit, die Stimmung, die von Trompeten, Posaunen, Saxophonen und Trommeln geplärrt wurde, ein Lied mit schwülstigen, unpassenden Worten? Mein Geist arbeitete nicht mehr genau. (...) Niemand sah mich an. Ich ging einher in fieberhafter Einsamkeit. ~ RALPH ELLISON (DER UNSICHTBARE MANN)

 

Die Rassentrennung zog sich auch durch die meisten Jazzbands in Philadelphia, als John Coltrane sich dort zu etablieren versuchte. Für die Bigbands, in denen junge Spieler Erfahrungen sammeln konnten, wurde das Überleben nach dem Abflauen der Swing-Ära immer schwerer. Man traf sich zu Jamsessions in kleineren Formationen. 1945 schloss Coltrane mit dem zwei Jahre jüngeren Saxophonisten Benny Golson Freundschaft fürs Leben. Das gemeinsame Schlüsselerlebnis hatten sie am 5. Juni 1945 in der Academy of Music, als sie das Quintett von Dizzy Gillespie mit Charlie Parker erlebten. Sie waren völlig überwältigt von Yardbird und ihnen wurde bewusst, dass sie ihre theoretischen Kenntnisse drastisch erweitern und ihr Übungspensum gnadenlos hochschrauben mussten. Zwei Monate nach dieser ersten Begegnung mit dem Genie des Bebop wurde John - der Weltkrieg in Europa war vorüber, doch die USA standen noch im Krieg mit Japan - für ein Jahr zum Militärdienst bei der US-Marine eingezogen und spielte eine Zeit lang Altsaxophon in einer Navyband in Honolulu. »Ich war in Übersee, aber wir hörten immer noch Birds Platten und ich kopierte wie verrückt seine Soli, um zu sehen, was er machte« (Port, 44). Mit den Melody Masters entstanden die ersten Plattenaufnahmen des 19-Jährigen. Am 13. Juli 1946 nahmen sie in Oahu, Hawaii, acht Stücke auf, davon die Hälfte aus Parkers Repertoire, außerdem »Hot House« von Tadd Dameron. Auf verschlungenen Wegen gelangten diese Aufnahmen zu Miles Davis, der sich verblüfft zeigte über Coltranes Können. Lewis Porter schrieb über diese privaten »Testplatten«: »Er spielt in jedem Stück ein Solo, diese neue Hörerfahrung verändert unsere Sicht auf seine Entwicklung. Er war nicht, wie man hätte meinen können, ein großes Talent, das lange Zeit darauf warten musste, um endlich entdeckt zu werden. Vielmehr trat er offensichtlich nicht mit einem außergewöhnlichen Talent an und das macht seinen Fall umso interessanter: Jemand kann einer der großen Musiker aller Zeiten werden und muss dennoch nicht verheißungsvoll starten. Diese Aufnahmen enthüllen, dass der Prozess der Entwicklung und Erziehung für Leute mit besonderem Talent - Genies, wenn man so will - der gleiche ist wie für alle anderen. Auch sie tauschen sich mit Freunden und Kollegen aus und entwickeln erst allmählich ihre eigenen Ideen. Coltrane war kein isoliertes Genie mit Geistesblitzen der Inspiration wie in einem Hollywoodfilm, sondern ein normaler Mensch, der in einen inspirierten Kreis von Musikern hineinwuchs und darin groß wurde« (Port, 44).

Am 14. August 1945 endete der Zweite Weltkrieg nach dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Im August 1946 wurde John, von seinen Freunden offenbar damals schon Trane genannt, aus der Armee entlassen. Die Melody Masters, eine Band aus schwarzen und weißen Musikern, lösten sich auf. Sofort kehrte Coltrane nach Philadelphia zurück mit dem festen Vorsatz, Profimusiker zu werden. In Gedanken spielte er bereits mit gewagten neuen Ideen, wenngleich seine Finger sie noch nicht umsetzen konnten, jedenfalls nicht so rasch, wie sie ihm durch den Kopf schossen. Er nahm sein Studium wieder auf und absorbierte Musiktheorie, Harmonielehre, Gehörbildung und Tonleitern. Er übte Violinetüden auf dem Saxophon und lernte besser vom Blatt zu spielen, grübelte über eigenen Stücken, die er seinen Lehrern zur Diskussion vorlegte. Um die Nachbarn nicht zu stören, probte er nachts ohne ins Saxophon zu blasen, nur die Hände bewegend.

 

Am 7. Dezember 1947 sollte sich für Coltrane noch einmal die Gelegenheit ergeben, den legendären Bird aus nächster Nähe bei seinen Höhenflügen zu erleben. Von jenem Abend existiert ein Foto, das Coltrane zeigt, wie er direkt hinter Parker sitzend mit offenem Mund gebannt dessen Spiel verfolgt. Dabei vergisst er sogar die Zigarette, die ihm fast die Hand verbrennt. Trane ist zu der Zeit Altsaxophonist in der Bigband seines Freundes Jimmy Heath, von der leider keine Plattenaufnahmen existieren. Im Oktober 1948 soll er mit Jimmys Band nach New York gefahren sein, für ein Konzert vor dem äußerst kritischen und gefürchteten Publikum im Apollo-Theater an Harlems 125. Straße. »Ab und zu konnte ich ein Solo bringen und ich muss sagen, die Publikumsreaktion war begeistert, wenn wir sehr modern spielten« (Port, 61).

Ein Problem, das ihn schon damals und noch viele Jahre ständig begleitete, waren die starken Zahnschmerzen, unter denen er litt, vermutlich bedingt durch Kettenrauchen und einen lebenslangen Heißhunger auf Süßigkeiten. Die für einen Saxophonisten besonders fatalen Schmerzen versuchte er zuerst mit viel Alkohol und ab 1948 durch Heroin zu lindern. Zudem war er nikotinsüchtig mit einem Tageskonsum von zwei Päckchen und mehr. Drogen und Alkohol konnte er später abschwören, die Sucht nach Tabak wurde er nie mehr los. Schon auf frühen Fotos sieht man, dass er immer etwas im Mund haben musste: Wenn es nicht das Saxophon war, dann Zigaretten oder - besonders deutlich auf den Covern der Impulse/-Alben zu sehen - Zigarren, Zigarillos oder auch mal eine Meerschaumpfeife. Der destruktive Lebensstil Charlie Parkers, dessen Kerze an beiden Enden brannte, färbte auf viele ihn verehrende junge Jazzmusiker ab. Jimmy Heath vermutet, John habe beim endlosen Üben mit dem Heroin seine innere Konzentration steigern wollen, den mörderischen Trainingsrhythmus bis zur Erschöpfung ständig höherschraubend.

 

Als Trane erfuhr, dass Bird den »Feuervogel« und »Le Sacre du Printemps« sehr schätzte, vertieften er und sein Freund Jimmy sich in die Partituren Strawins-kys. Danach meinte Coltrane, in Strawinsky den universellen Musiker schlechthin gefunden zu haben. Stundenlang schlug er sich mit komplizierten musikalischen Fragen herum und quälte sich durch Transkriptionen der Soli Birds. Dafür wechselte er erst einmal nur für sich vom Altsaxophon zum Tenor. Beim Üben blies er die Melodien und sogar komplette Soli durch sämtliche Tonarten und spielte direkt gegen die Wand, um den eigenen Sound besser kontrollieren zu können. Auf engem Raum lebte er mit Alice, Mary und Tante Betty, in einer Ecke stand sein karges Bett, daneben ein Plattenspieler und an der Wand ein einziges Foto von Charlie Parker. Jimmy Heath beschrieb, wie der etwa 90 Kilo schwere Trane mitten im Sommer zu Hause in seinen Boxershorts schweißüberströmt - Klimaanlagen gab es nicht - abwechselnd Saxophon blies, rauchte und grübelte. Seine langen Finger schienen wie geschaffen für das Tenorhorn, das sie ständig umschlossen, allzeit bereit, eine eben ersonnene Idee augenblicklich umzusetzen. John vergötterte Parker, versuchte jedoch nicht seine Klischees nachzuahmen, sondern feilte an einem eigenen Stil aus vielerlei Einflüssen.

 

1947 wird Jackie Robinson der erste schwarze Sportler, der in der US-Baseball-Oberliga bei den Brooklyn Dodgers spielt ~ Der US-Präsident Harry Truman ordnet 1948 an, die Rassentrennung in der amerikanischen Armee aufzuheben ~ Im Prozess Shelly gegen Kramer erklärt das Oberste Gericht des Landes rassisch restriktive Mietabkommen für verfassungswidrig ~

4. Driftin'

4. KAPITEL

DRIFTIN'

Im Winter 1948 trat John Coltrane als Altsaxophonist der R 'n' B-Band von Eddie »Cleanhead« Vinson bei. Biografien von Jazzmusikern erwecken oft den Eindruck, als hätten diese Leute ihr ganzes Leben lang nur Jazz gespielt, doch viele mussten ihren Lebensunterhalt zunächst mit populärer Musik verdienen. Die Fünfzigerjahre in den USA waren keine glorreiche Dekade für den Jazz. Ornette Coleman erzählte, er habe das Wort Jazz erstmals gehört, als er vom Süden nach Los Angeles umgezogen sei. Vor dem Siegeszug des Rock 'n' Roll war der Rhythm 'n' Blues der populärste Stil, die Jobs in den Bands wurden relativ gut bezahlt, und der raue R 'n' B-Sound dominierte die schwarze Clubszene. Auch Musiker wie der Vibraphonist Milt Jackson und der Trompeter Clifford Brown waren in dieser Szene aktiv: R 'n' B, Blues, Jazz, Mambo und Calypso: Ein buntes Potpourri an Stilen und Genres hatten die Bands auf Lager, ständig im ganzen Land auf Tour. Das war das Umfeld, aus dem Coltrane kam. Mit Eddie »Cleanhead« Vinson legte er oft weite Strecken von einem Gig zum anderen zurück und trat im Süden vor allem auf großen Partys auf, oft in umfunktionierten Lagerhäusern. Die Band des Glatzkopfs lieferte dem tanzenden Volk, wonach es am Wochenende verlangte. Irgendwann gab es immer Zoff und Eifersuchtsdramen waren an der Tagesordnung, Klappmesser blitzten auf und Blut floss. Eddie war ein Entertainer par excellence, ein guter Sänger und passabler Saxophonist. Er sprach selbst reichlich dem billigen Fusel zu und wusste stets, wonach seine Klientel verlangte. Ab und zu ließ er einen Set mit einem Stück aus dem Repertoire Charlie Parkers ausklingen. In der Band lernte Trane auch, wie man am Saxophon Sänger begleitet. Neben ihm stand ein gewisser William »Red« Garland auf seiner Gehaltliste, ein Exprofiboxer und Klavierspieler, mit dem Coltrane später im ersten Miles-Davis-Quintett arbeitete und bei vielen Prestige-Sessions in den Jahren 1957 - 58.

In seiner Zeit bei Vinson verlegte John sich bald ganz aufs Tenorsaxophon. Bei einem ihrer Auftritte hatte Eddie nach einem enttäuschenden Solo seines Tenoristen den jungen Altisten gedrängt, sich dessen Horn zu schnappen und rasch ein Solo zu spielen: »Pick up the horn, pick up the horn, man ! « Das Resultat klang noch sehr nach anderen Tenoristen, aber das Publikum war begeistert und die Feuertaufe bestanden. »Auf dem Alt stand ich völlig unter dem Einfluss Birds«, sagte Coltrane, »aber beim Tenor gab es keinen, dessen Ideen so dominant waren wie die Charlie Parkers auf dem Alt; darum setzte ich mich in dieser Periode mit allen Tenoristen, die ich hörte, auseinander - besonders mit Lester Young und seiner melodischen Phrasierung. Erst danach stieß ich auf Coleman Hawkins und war fasziniert von seinen Arpeggios. Ich besorgte mir seine Platte ›Body and Soul‹ und befasste mich sehr intensiv damit« (Thom, 40/9).

»Vieles in diesem Spiel«, schrieb der Kritiker Robert Palmer, »wurde als neu begriffen, nachdem Coltrane es in einen neuen Kontext verlagerte: das Horn überblasend, um einen verzerrten Ton zu erzeugen, auf das Blatt beißend, um schrille Quietscher zu erzielen, lange Soli spielend, heißer und heißer, bis das Ganze an Hysterie grenzte - das kam alles direkt aus der R 'n' B-SaxophonTradition« (Kahn/Sup, 13). Durch den coole Linien malenden Lester Young und Coleman Hawkins, genannt Prez, den Übervater am Tenor, und natürlich durch Bird wurde der moderne Jazz eine Saxophonmusik. John lernte von jedem Tenorgiganten, sogar von weniger bekannten Größen wie Jimmy Oliver, der eine Platte machte und zeitlebens in Philadelphia blieb. An Hawk schätzte John dessen stilistische Offenheit und Modernität, die unbegleiteten Soli, wie etwa das epochale »Picasso«, und sein ›vertikales Denken‹, das Wissen über Harmonik, das Prez fehlte. Coltrane wurde oft vorgeworfen, er spiele zu lange Soli - aber hatten nicht bereits Coleman Hawkins, Lester Young und Roy Eldridge in den Afterhours-Clubs bis zu anderthalb Stunden über ein einziges Thema improvisiert? Als Hawkins in den Dreißigerjahren fünf Jahre in Europa gelebt hatte, war er viel in Paris aufgetreten. Django Reinhardt und sein Geiger Stephane Grappelli hatten erlebt, wie er durch ein 45-minütiges Solo über »Sweet Sue« segelte, ohne sich zu wiederholen. John hörte den sagenumwobenen Pianisten Art Tatum (»God is in the house«, raunten sich die Fans zu, wenn Tatum einen Club betrat) eines Nachts zufällig in Cleveland und erzählte danach, er habe noch nie so viel Musik auf einmal erlebt.

Nach Hawkins' Arpeggios, einer direkten Inspiration für seine berühmten sheets of sound, wurde Trane neugierig auf Dexter Gordon und Wardell Gray, die sich heftige Tenor-Battles lieferten. Irgendwann landete er bei Sonny Stitt, von vielen als bloßer Parker-Epigone abgetan. »Sonnys Spiel klang nach dem, das ich anstrebte. Er bewegte sich irgendwo zwischen Dexter und Wardell, wie aus beiden entsprungen. Die ganze Zeit hatte ich nach etwas Bestimmtem gesucht und dann hörte ich Sonny Stitt und sagte mir: ›Verdammt! Da ist es doch! Ja, das ist das Ding!‹« (Port, 72).