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SEBASTIAN CHRIST
ICH BIN PRIVAT HIER
Eine Ukraine-Reportage
ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

ePub-Erstellung/Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: Sebastian Christ

Alle Fotos im Text: Sebastian Christ

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.deinfo@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-19-2

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2015, Berlin

Sebastian Christ

Ich bin privat hier
Eine Ukraine-Reportage

Prolog

Der Schalterangestellte im Berliner Hauptbahnhof schaute mich irritiert an.

„Wat? Wo wollnse hin?“

„Nach Lwiw. Vielleicht finden Sie es im Computer auch unter ‚Lemberg’ oder ‚Lvov’.“

„Ja was denn nun? Wir sind hier nicht bei ‚Wünsch Dir was‘.“

„Geben Sie mal ‚Lemberg‘ ein.“

„Ist das Belarus oder schon Russland?“

Ich murmelte etwas von „Ukraine“.

„Ach ja, stimmt. Und ich nehm’ mal an, dass die Menschen dort etwas dagegen haben, dass sich das in nächster Zeit ändert, wa?“

Er lachte stoßweise.

FRÜHLING

Verlustmeldung

Der Frühling war grün und voller Geräusche. Ich verstand die Welt nicht mehr. So fing alles an.

Ich rede von Schüssen, die aus dem Lautsprecher meines Fernsehers in mein Wohnzimmer drangen. Dem Ächzen von Schutzschilden aus Blech, gestanzt von Kalaschnikow-Projektilen, Kaliber 7,62 Millimeter, den Hilferufen von Verwundeten und dem Schweigen der Toten. Dem Klang der ukrainischen Nationalhymne auf dem Kiewer Maidan, der wie Lagerfeuer prasselte.

Ich denke an das Klackern von Absätzen auf dem Marmorboden in der Residenz des geflüchteten Präsidenten Janukowitsch, die Stimmen von pro-russischen Milizmitgliedern, die in waldgrün gefleckten Bundeswehr-Regenjacken auf dem Flughafen von Simferopol standen und nach ihrem lautlosen Auftauchen Interviews gaben.

Das Rasseln von Panzerketten auf dunklem ukrainischem Lehmboden, das Schleifen von Stacheldraht auf Asphalt und die Reden von Politikern, die den Anschluss der Krim an Russland forderten. Ich erinnere mich an das Pochen von Händen auf transparenten Wahlurnen und das Seufzen von ukrainischen Militärangehörigen, die Tage nach dem Krim-Referendum ihre Militärstützpunkte besetzt hielten und nicht aufgeben wollten.

All das drang wie in Watte gepackt nach Deutschland. Gut gepolstert von sicherer Distanz und der Gewissheit, dass kein einziger deutscher Fernsehzuschauer in diesen Klangwelten leben musste.

Ich führte in dieser Zeit ein kleines Heft mit Wörtern, die ich für wichtig hielt.

„Russland-Versteher“ „Totalitarismus“ „Revolutionäre“

„Faschismus“ „Euromaidan“

„Russische Soldaten (?)“

Nichts von dem, was ich in diesen Tagen aufschrieb, war für die Öffentlichkeit bestimmt. Ich versuchte mit träger Kulitinte den Augenblick festzuschreiben. Kleine Nachrichten an mich selbst. Und doch erwachten meine Notizen auf unerklärliche Weise zum Leben, je öfter ich die Wörter in der Öffentlichkeit hörte. Sie wurden benutzt und abgegriffen, verheizt und ins Gegenteil verkehrt. Ich konnte einen Begriff aufschreiben und schon Tage später war er nur noch ein entfernter Verwandter des Wortes, das für den Moment gesprochene Realität war.

Auf diese Weise kam der Krieg schließlich nach Deutschland. Er fand in meinem Heft statt, in den Internetforen und den Kommentarspalten der großen Online-Seiten.

Der Zug nach Warschau war pünktlich.

Und mit jedem Gedanken rollte ein weiteres Stück der Osteuropäischen Ebene ratternd an meinem Fenster vorbei.

Ich habe einmal die Zukunft erlebt

Es war eine Zeit, in der ich keinen Wecker besaß. Ich wachte meist erst dann auf, wenn die Bewohner des rußgrauen Hauses in der Ulica Dąbròwki schon zur Arbeit gegangen waren. Nur ein altes Mütterchen schaute dann noch neugierig aus ihrer Wohnungstür. Sie lebte einen Stock über mir und durfte nicht wissen, dass ich mich für einige Monate eingemietet hatte. Der Hauseigentümer. Die Behörden. Ich hatte weder einen Mietvertrag noch eine Arbeitserlaubnis, und meine Freunde fürchteten, ich könnte Probleme mit der Justiz bekommen. Daran erinnere ich mich sofort, wenn ich an meine Warschauer Zeit zurückdenke.

Ich sprach nur gebrochen Polnisch. Und natürlich wusste die Frau schon sehr bald, dass ein junger Deutscher hinter dem eisenbewehrten Fenster im Erdgeschoss wohnte. Sie sagte zu niemandem ein Wort.

Warschau war für mich damals der beste Ort, um glücklich zu sein.

Einige Wochen lang hatte ich keine Arbeit. Und so zog ich jeden Morgen meinen schwarzen Wollmantel über und erlief mir die Stadt. Zuerst die Ulica Francuska entlang, ein etwas in die Jahre gekommener Boulevard, der sich gegen seine eigene Schönheit zu wehren schien. Schlanke Bauhaus-Balkone schwebten hier über zerbrochenen Gehwegplatten. Der Duft von frisch gefallenen Kastanien mischte sich an sonnigen Tagen mit dem Duft der Bäckereien und revoltierte gegen den Abgasgestank der großmotorigen Diplomatenfahrzeuge. Künstler wohnten hier, immer noch, und auch einige Politiker. Es war ein Ort, an dem Gedanken fliegen lernen konnten.

Ich bog am Rondo Waszyngtona auf die Poniatowski-Brücke, die einen Kilometer lang war und schnurgerade in die Innenstadt führte. Meist lag am Morgen noch Nebel über der Weichsel. Im Stadtzentrum konnte man noch an fast jeder Straßenecke alte Frauen sehen, die mit felsenernsten Gesichtern auf ihren Klappstühlen saßen und selbst angebautes Obst verkauften.

Es waren jene Jahre, in denen ich wie ein Archäologe durch die Straßen gehen und die Spuren des Gewesenen freilegen konnte, während gerade links und rechts der Bürgersteige etwas Neues begann.

Die Freunde lächelten über mein Hobby: Ich zog im Herbstlicht durch die Stadt und nahm Fotos von den Dingen auf, die in aller Öffentlichkeit in Vergessenheit gerieten. Die Reliefs entlang des im stalinistischen Stil erbauten Plac Konstytucji etwa. Alte Ampelbrücken, die windschief über den Straßen hingen. Die quietschend vorwärtskrabbelnden Trambahnen aus volkseigener Produktion. Heldenmale mit kraftstrotzenden Sozialistenmenschen. Treppen ins Nirgendwo. Die vergilbten Gardinen in den Gewerkschaftsbüros.

Ich sammelte und sicherte. Mich interessierte die Neuigkeit, die im Verfall steckte. Das war für mich der beste Beweis dafür, dass sich gerade etwas veränderte.

Mit einigen hundert Euro konnte man damals, im Jahr 2004, viele Wochen lang sorgenfrei in Warschau leben. An der Marszałkowska gab es eine „Milchbar“, in der man ein Mittagessen mit Nachtisch schon für etwas mehr als einen Euro bekam. Die Nachmittage verbrachte ich meistens in einem kleinen Literaturcafé nahe der Universität, das von Studenten betrieben wurde.

An den Wochenenden fanden Partys in den Wohnungen meiner Freunde statt. Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Detail unserer Diskussionen, weiß aber noch, dass wir viel über Politik sprachen und dass meine Freunde es mochten, sich mit mir zu streiten und danach ein Versöhnungsbier zu spendieren.

Einmal erzählte ich einer guten Freundin von einer Beobachtung aus dem Berlin-Warschau-Express: Wann immer ich junge Studentinnen in den Zugsesseln sitzen sah, hatten sie ihre Lernunterlagen vor sich liegen, machten Notizen, markierten Textpassagen. Junge Männer dagegen spielten Karten, machten Witze oder schauten einfach zum Zugfenster hinaus.

Die Freundin, sie war Historikerin, antwortete trocken: „Frauen haben schon immer die Geschicke Polens gelenkt. Entweder waren unsere besten jungen Männer in Kriegsgefangenschaft. Oder sie haben sich immer neue Dummheiten ausgedacht. Das ist die polnische Geschichte in Kurzfassung, wenn du’s wissen willst.“

Damals hatte kaum jemand einen Blick für die Zukunft. Die Gegenwart beschäftigte die meisten viel zu sehr.

Als wir ein anderes Mal über das Auswandern sprachen, sagte sie: „Sei fleißig, lerne weiter Polnisch. Dann sprichst du bald eine Weltsprache.“

Ich antwortete: „Wo sonst als in Polen könnte ich mich schon in dieser Sprache verständigen?“

Sie sagte: „Du wirst sehen, überall auf der Welt findest du früher oder später jemanden, der dich versteht. In Großbritannien, Skandinavien und sogar in den entlegensten Ecken Amerikas. Auch das ist polnische Geschichte.“

Meine Abende waren meist lang in Warschau. Nicht selten habe ich einen der Nachtbusse nehmen müssen, die jeweils zur vollen Stunde vom Zentralbahnhof wie Glühwürmchen in die Stadt hinauskreiselten. Ich erinnere mich an das Fauchen der Druckluftventile, wenn die Türen aufgingen. Und an das schwelende Licht unter den orangerot glühenden Gaslaternen.