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Roland Ballwieser & Petra Rinkes

SchneeWehen

Simpels und Zieglers dritter Fall

 

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage November 2014)

© 2014 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Johanna Cattus-Reif

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von plainpicture/Caterina Sansone

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-480-2

 

 

»Pressen, du musst pressen! Verstehst du? Ja, gut so, gleich ist es da, dann hast du es geschafft.«

Hoffentlich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es dauerte einfach zu lange. Die beiden hatten gesagt, das Mädchen wäre nie beim Arzt gewesen. Nicht ein einziges Mal, die ganzen neun Monate. Aber jetzt galt es, Ruhe zu bewahren. Bei dem Schneesturm kamen sie sowieso nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus. Die Straßen waren schon seit dem frühen Morgen nahezu unpassierbar.

»Ja, gut so. Kannst dich kurz erholen und dann noch mal fest pressen. Verstehst?«

Ein mattes Nicken war die einzige Antwort.

Es klopfte ungeduldig an der Tür. Eine dumpfe Stimme fragte: »Und? Is scho da, des Kind? Warum dauert denn des so lang?«

Was wollten die denn? Sie tat ja, was ihr möglich war.

»Bleibt draußn, euch könn mer edz ned brauchn. Ihr werdet scho wartn müssn. Wer is denn eigentlich der Vater von euch zwei?«

»Des geht dich nix an, mach dei Arbeit, so wie mer’s ausgmacht ham.«

»Seid froh, dass ich euch helf, ihr …« Der Rest ging in einem lauten Aufstöhnen der werdenden Mutter unter.

Es war so weit.

»Gut, und jetzt fest pressen. Ich seh schon den Kopf. Noch einmal, gut so, gleich – oh Gott!«

Sie hatte ja gewusst, dass da etwas nicht stimmte. Der kleine Junge war tot, das sah sie sofort. Er war ganz blau im Gesicht.

Sie traf keine Schuld, da hätte ein Arzt auch nichts machen können, bestimmt nicht. Oder doch?

Wieder die zwei mit ihrer Klopferei.

»Ja, gleich, edz wartets halt mal.«

Sie wickelte das tote Baby in ein Handtuch. Das Mädchen auf dem Bett stöhnte laut auf. Ja, natürlich, die Nachgeburt. Sie ließ das Kind erst einmal liegen, dem konnte man sowieso nicht mehr helfen. Aber der Mutter. Da durfte jetzt nichts schiefgehen. Und dann musste das Mädchen in ein Krankenhaus! Darauf würde sie bestehen. Egal, was die beiden sagten, oder womit sie ihr drohten. Eigentlich hatte sie die zwei immer ganz nett gefunden. Aber das hier war ja wohl das Allerletzte.

Ach du meine Güte. Von wegen Nachgeburt. Da kam noch ein Köpfchen.

»So, jetzt presst du noch mal, ganz fest. Hast mich verstanden?« Das Mädchen war so fertig, sie konnte nicht einmal mehr nicken.

»Noch ein bisschen, ja!«

Herrgott, bitte mach, dass dieses Kind lebt, bitte!

Jetzt war es da … und es lebte. Wieder ein Junge. Schwach, aber er schrie. Nicht sehr laut, aber er schrie. Danke, lieber Gott, danke. Sie arbeitete jetzt ganz schnell, versorgte das Baby und die Mutter, wie sie es gelernt hatte.

Da flog die Tür auf. Einer der beiden stürmte ins Zimmer.

»Was is jetzt? Is edz endlich vorbei?«

»Ja, es is vorbei. Schau her, der Kleine muss ganz schnell in eine Klinik, der is total schwach, hast ghört?«

Und dann leiser, damit es die Mutter nicht hören konnte. »Der andere is tot. Ich kann nichts dafür. Er war schon tot, als er rauskam.«

Der Mann starrte auf das tote Baby, dann auf die Mutter. »Freilich, ich kümmer mich drum«, sagte er. »Ich bring die beidn ins Krankenhaus, mit dem Traktor komm ich scho irgendwie durch.«

In dem Moment kam der andere ins Zimmer, drückte ihr einen Umschlag in die Hand und schob sie zur Tür hinaus. Aber sie war doch noch nicht fertig. Sie wollte doch mit in die Klinik.

»Geh, wir machen des scho. Los, verschwind endlich!« Sie konnte gerade noch sehen, wie er mit beiden Babys auf dem Arm aus dem Zimmer lief. Mit dem toten Baby und dem lebenden.

Dieses Bild sah sie immer wieder in ihren Albträumen. Und jedes Mal wachte sie schweißgebadet auf, seit nunmehr dreißig Jahren.

 

***

 

 

»Wenn’s so weiterschneit, dann muss ich heut noch Schnee schippn, a schöner Mist. Und des bei meiner Erkältung.«

Prompt bekam Hauptkommissar Horst Vogel einen Hustenanfall, der gar nicht mehr enden wollte.

Stefan Simpel sah von seinen Papieren auf. »Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, wenn es weiter so schneit, muss ich heute noch Schnee schippen«, sagte Horst Vogel, langsam und auf Hochdeutsch, nachdem sein Hustenanfall endlich vorüber war. Dabei zeigte er aus dem Fenster, wo der Wind die Schneeflocken durcheinanderwirbelte.

Simpel sah hinaus und dachte an seine Winterreifen. An die Winterreifen, die immer noch in der Garage an der Wand hingen. Irgendwie war er noch nicht dazu gekommen, sie zu montieren.

»Ach, die paar Flocken«, winkte er ab. Er loggte sich schnell ins Internet ein. »Das hört am Wochenende auf, und ab Montag soll es wieder wärmer werden.«

»Scho, aber mir ham erst Oktober, vor a paar Jahr bin ich da noch im Rothsee schwimmen gwesn.«

Simpel klickte weiter.

»Ist aber nicht allzu ungewöhnlich, Schnee im Oktober. Der Wetterochs sagt, laut Statistik …«

»Ach, hör auf! Die Statistik is mir wurscht. Ich hab fünfundsiebzig Meter Gehsteig zu schippn. Da kommt ka Wetterochs zum Helfn. Wie wär’s, wenn du a weng vorbeikommst, a zweite Schneeschaufel hätt ich scho.«

Tina Kaczmarek, die Sekretärin, steckte ihren Kopf durch die Tür.

»Schönen Gruß vom Chef! Meeting in einer halben Stunde im großen Konferenzraum.«

Simpel und Vogel blickten sie fragend an.

»Ich weiß nichts, wirklich nicht, ich schwöre!«, sagte sie und hob zwei Finger.

Manuel Küppers, der jüngste Kommissar der Schwabacher Mordkommission, kam aus dem Nebenraum.

»Vielleicht bekommen wir endlich den neuen stellvertretenden Dienststellenleiter. Der Jochen ist ja schon fast ein halbes Jahr weg.« Er hielt Tina eine Tüte Mokkatrüffel hin. »Magst du? Die hat mir meine Mutter geschickt. Selbstgemacht. Die sind echt lecker.«

Tina lächelte ihn an und griff in die Tüte.

»Stellvertretender Dienststellenleiter? Bloß ned«, sagte Vogel. »Ich bin froh, dass wir hier nur einen Chef ham. Der Hans-Georg red uns so wenig wie möglich in unsre Arbeit nei. Der weiß, wie er den Ladn am Laufn hält. Des Letzte, was wir in Schwabach brauchn, is so a karrieregeiler Jungspund mit lauter spinnerte Ideen. In meinem letztn halbn Jahr will ich in Ruh mei Arbeit machn.«

Er schielte zu der Tüte mit Süßigkeiten in Küppers’ Hand, aber der hielt sie noch immer Tina hin und machte keine Anstalten, den anderen auch etwas anzubieten.

»Vielleicht geht es aber auch um etwas ganz anderes«, vermutete Simpel. »Um den Feuerteufel zum Beispiel. Kann sein, dass die Mayr vom Branddezernat Hilfe braucht.«

»Die Sabine schafft des scho allein. Des Madla hat schließlich alles von mir glernt, was sie weiß. Und a paar fähige Leut hat s’ ja auch noch«, sagte Vogel und wandte sich dann an Küppers. »Sag mal, Manuel, wir kriegn wohl nix ab vo deine Kugln? Mir sin natürlich auch ned so charmant wie die Tina, aber trotzdem.«

Küppers beeilte sich, seinen Kollegen die Tüte hinzuhalten, und verschwand dann schnell wieder im Nebenraum.

»Okay, lassen wir das Spekulieren und schauen lieber, dass wir noch den Bürokram wegschaffen. Dann können wir gleich nach dem Meeting Feierabend machen.«

Simpel wandte sich wieder seinem Bericht zu.

»Klar, Chef! Wird gemacht«, sagte Vogel und salutierte.

 

»Ihr fragt euch sicher, warum ich euch zu dieser späten Stunde zusammengerufen habe. Für die Weihnachtsansprache ist es schließlich noch ein wenig zu früh.«

Hauptkommissar Hertle, Dienststellenleiter der Kripo Schwabach, lachte. Die Polizisten lachten halbherzig mit. Wenn Hertle schlechte Witze machte, dann war die Lage wirklich ernst.

»Na ja, um es kurz zu machen. Es hat mich ziemlich böse erwischt. Ich habe einen Bandscheibenvorfall und muss nächste Woche ins Krankenhaus.«

Sofort erhob sich ein aufgeregtes Stimmengemurmel.

»Das heißt«, fuhr Hertle fort, »dass ich für einige Zeit ausfallen werde. Und dass ihr in der Zeit einen neuen Chef bekommt. Mein bisheriger Stellvertreter, der Jochen, ist ja nach Rosenheim versetzt worden. Es wird vermutlich bis nächstes Jahr dauern, bis die Stelle neu besetzt wird. Eigentlich wäre dann der Horst dran. Als Dienstältester müsste er die Inspektion übernehmen.«

Horst Vogel erbleichte. Er hatte schon die Leitung der Dienstgruppe Simpel überlassen, weil er sein letztes halbes Jahr nicht mit Verwaltungskram verbringen wollte. Er öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, sprach Hertle weiter.

»Keine Angst, Horst, das tu ich dir nicht an. Das Präsidium schickt jemanden. Einen mit Erfahrung, hat man mir versichert, einen, der sich mit Personalführung auskennt. Schließlich stehen ab Januar die dienstlichen Beurteilungen an. Aber ich habe nicht vor, so lange wegzubleiben. Wenn alles gut geht, bin ich Weihnachten wieder da. Das war’s eigentlich schon. Die Dienstgruppenleiter kommen noch kurz in mein Büro, und an alle anderen: Einen schönen Feierabend!«

 

Es wurde dann doch fast sieben, bis Simpel seinen PC ausschaltete. Er packte seine Sachen zusammen und dachte über Hertles Neuigkeit nach. Mike Ziegler war der letzte Neue, den er in der Inspektion erlebt hatte. Und mit dem war es nicht immer einfach gewesen.

Vielleicht würde der … Aber nein, der war ja noch mitten in der Wiedereingliederung. Hoffentlich kam nicht …

Schluss damit. Warum beschäftigte er sich mit Dingen, die er nicht beeinflussen konnte? Er musste einkaufen gehen, das war jetzt viel wichtiger. Astrid übernachtete heute bei ihm. Endlich mal wieder. Sie sahen sich viel zu selten. Immer hatte einer von ihnen Dienst. Es war wirklich nicht leicht, in ihrem Beruf eine Beziehung zu führen.

Sie wollten heute ein Safranrisotto machen, und er hatte sich gestern Abend die Einkaufsliste auf seinem Blackberry gespeichert. Simpel griff nach seiner Jacke und war schon auf dem Weg zum Treppenhaus, als er seine Kollegin Sabine Mayr von der Brandermittlung traf.

»Schönen Feiertag, Sabine.«

Seine Kollegin winkte ab.

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt einen Feiertag haben werde. Wir kommen bei dieser Brandserie einfach nicht weiter. Ich hoffe bloß, dass unser Zündler heute an Halloween nicht auf die Idee kommt, mal wieder ein Feuerchen zu schüren. Aber dir wünsche ich einen schönen Feierabend. Wir sehen uns dann am Freitag wieder.« Damit verschwand sie in ihrem Büro.

Simpels Abteilung hatte es momentan nur mit langweiligem Routinekram zu tun, und er war fast ein bisschen neidisch auf seine Kollegin. Doch dafür hatte er einen freien Abend, den er mit Astrid verbringen durfte.

Sein Fall für diesen Abend hieß Risotto, und den würde er hoffentlich erfolgreich lösen.

 

***

 

 

Die haarige Hand des Zombies näherte sich langsam dem Hals des Mädchens. »Ich will dein Gehirn!«, stöhnte er.

Das Mädchen machte einen Satz nach hinten. »Ey Alter, spinnst du? Willst du mich zu Tode erschrecken? Aber das Kostüm ist echt cool. Los, gehen wir endlich, die anderen warten.«

Vor dem verlassenen Gasthaus trafen sie die restliche Clique. Sie wollten ein bisschen die Dorfbewohner erschrecken, vielleicht einen kurzen Abstecher zum Kanal machen und dann zu Richi auf ein paar Wodka-Redbull. Nicht gerade das große Programm für einen Halloweenabend, aber mehr war halt nicht möglich, hier draußen am Land.

Es wehte ein eisiger Wind. Die drei Mädchen hüpften von einem Bein auf das andere und hielten dabei ihre ­Hexenhüte fest. Der Schnee hatte mittlerweile nachgelassen, nur noch ein paar einzelne Flocken tanzten durch die Luft.

»Also, bei wem klingeln wir?«

 

Die Frau zog die Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht. Auch sie hatte mit dem Wind zu kämpfen. Sie drückte sich eng an die Hecke und wartete, bis die jungen Leute verschwunden waren. Dann schlüpfte sie durch das offen stehende Gartentor des Gasthofes und ging mit schnellen Schritten zu dem alten Walnussbaum. Dort verharrte sie eine Weile, zog dann etwas aus der Manteltasche und legte es auf den Boden. Sie bekreuzigte sich und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann drehte sie sich um und ging langsam zurück. Am Gartentor blieb sie stehen. Die Straße war leer. Sie zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. In dem Augenblick löste sich ein Schatten von der Hauswand und packte sie am Arm. Eine große Hand legte sich ihr über den Mund und erstickte ihren Schrei.

 

»Gehen wir zur alten Gruber, die regt sich immer so schön auf. Dann gibt’s endlich was zum Lachen«, schlug Paul vor.

Also zogen sie los zum anderen Ende des Dorfes. Sie klingelten Sturm und schoben sich schnell die Masken übers Gesicht.

Eine dicke Frau, weit über siebzig, öffnete die Tür.

»Naa, is scho widder so weit. Ihr mit euerm bleeden amerikanischn Gschmarri. Schaut bloß, dass ihr weiterkommt. Und dass euch ned eifällt, irgendwas kaputtzumachn.« Die alte Gruber fuchtelte mit den Armen. Franzi grapschte mit ihrer Teleskop-Skeletthand an den dicken Busen der Frau. Die packte die Hand und schmiss sie ins Gebüsch. »Geht lieber amoll in die Kirch, do sicht ma euch ned, aber Leit erschreckn mit dem Heidenzeich, des könnt ihr.«

Die Tür flog zu.

Franzi holte ihre Skeletthand aus dem Gebüsch, und die Gruppe trabte weiter. Nächstes Jahr mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen. Die Gruber zu ärgern wurde langsam langweilig. Aber vielleicht hatte Paul nächstes Jahr schon seine eigene Bude in Nürnberg. Dann konnten sie alle auf eine geile Party und mussten nicht mehr bei Eiseskälte in diesem stinklangweiligen Dorf abhängen.

Sie machten sich auf den Weg zum Kanal. Da oben war es um die Zeit immer schaurig neblig. Auf dem Weg dorthin klingelten sie noch an ein paar anderen Häusern, aber entweder war keiner da, oder niemand machte auf. Nicht einmal der Waldmüller, der sonst keine Gelegenheit ausließ, wenn es darum ging, zukünftige Wähler für die Landratswahl zu ködern.

Zum Glück hatte Richi eine Flasche Schnaps dabei, die half gegen die Kälte.

»Wartet mal«, sagte Franzi, kurz nachdem sie zum zweiten Mal am alten Gasthaus vorbeigekommen waren. »Ich glaube, ich habe vorhin meine Handschuhe auf der Eingangstreppe vergessen. Ich schau mal schnell, ich bin gleich wieder da.«

Die anderen hatten es sich kaum am Buswartehäuschen bequem gemacht, da kam Franzi schon wieder angerannt.

»Was ist los, hat dich ein Geist erschreckt, oder warum rennst du so?« Der Junge mit der haarigen Zombiemonsterhand wedelte damit in Franzis Gesicht herum.

»Lass das. Ich weiß nicht, aber da war wirklich etwas. Im Gasthaus war jemand, ich habe so komische Geräusche gehört.«

Die anderen lachten sie aus.

»Ach komm, da trinkst du einen Schnaps und schon hörst du Gespenster. Gehen wir weiter. Wenn wir Glück haben, findet die Franzi am Kanal noch eine Wasserleiche.«

»Ihr seid echt blöd«, sagte Franzi und reihte sich hinter Paul ein. Im Gänsemarsch liefen sie den Trampelpfad entlang die Böschung zum Kanal hoch.

Richi erreichte die Dammkrone als Erster und drehte sich zu den anderen um, die hinter ihm heraufkeuchten. Da sah er hinten im Dorf …

»Feuer! Der Gasthof brennt!«

 

***

 

 

Simpel stellte die Tüten mit den Einkäufen auf den Küchentisch. Draußen schneite es immer noch. Nicht mehr so stark wie nachmittags, aber Vogel würde wohl ums Schnee schippen nicht herumkommen. Während er die Tüten ausleerte, dachte Simpel wieder an seine Winterreifen. Die musste er morgen unbedingt aufziehen. Es klingelte. Das war sicher Astrid. Sie hatte zwar einen eigenen Schlüssel, benutzte ihn aber selten. Simpel drückte den Türöffner, ließ die Wohnungstür angelehnt und ging wieder in die Küche. Kurze Zeit später hörte er ein seltsames Geräusch aus dem Hausflur. Es klang wie ein Minitiger, der vergeblich versucht, gefährlich zu brüllen. Simpel schlug sich an die Stirn. Halloween! Das war gar nicht Astrid. Simpel schnappte sich die Tüte Gummibärchen, an die er im Supermarkt gerade noch gedacht hatte.

Vor seiner Wohnungstür standen drei seltsame Gestalten, der Größte ging ihm gerade mal bis zum Bauch, der Kleinste hatte einen Totenkopfschnuller im Mund. »Schüsches oder Schaures«, tönte der Große. Wegen des Vampirgebisses konnte er nicht deutlicher sprechen.

»Oh je, jetzt habe ich aber schreckliche Angst, was mache ich denn jetzt?«, sagte Simpel und versuchte dabei, möglichst ängstlich zu schauen.

»Ich glaube, du musst diesen schrecklichen Vampiren etwas geben«, sagte Astrid, die gerade die Treppe hochkam.

»Ja, das glaube ich auch. Vor allem der Kleine«, Simpel deutete mit gespielter Zittrigkeit auf den Schnullerträger, »macht mir echt Angst.«

Die Vampire hielten ihm Plastikeimerchen hin, die aussahen wie ausgehöhlte Kürbisse, und Simpel schüttete Gummibärchen hinein. Astrid legte noch ein paar Schokoriegel dazu, und dann hüpften die drei Gruselgestalten die Treppe hinunter, jeder mit einem Mund voller Gummibärchen.

»Danke und schönen Abend«, hörten sie eine Erwachsenenstimme aus dem Erdgeschoss.

Astrid lachte.

»Hey, ich wusste gar nicht, dass du so gut mit Kindern umgehen kannst, das ist ja süß«, sagte sie und gab Simpel einen Kuss.

Der wurde ein bisschen rot. Eine Eigenschaft, die er an sich hasste, aber einfach nicht unter Kontrolle bekam. Ahnte Astrid, dass er wirklich schon ein paar Mal an ein gemeinsames Kind gedacht hatte? Nicht jetzt gleich, aber in ein paar Jahren.

»Also … jetzt sollten wir mal mit dem Risotto anfangen, das dauert ja eine Weile«, sagte er und ging in die Küche. Er schaltete sein iPad ein, holte die Küchenwaage aus dem Schrank und zeigte Astrid das Rezept.

»Ich habe schon mal ein Risotto gekocht«, sagte sie, nachdem sie das Rezept durchgelesen hatte. »So genau müssen wir das gar nicht machen, da nehmen wir einfach …«

Doch Simpel hatte schon begonnen, den genau abgewogenen Reis, die gehackten Schalotten und die anderen Zutaten in kleinen Schälchen vor sich aufzubauen. Astrid sah ihm schmunzelnd dabei zu.

»Ich glaube, es ist besser, du machst das Risotto alleine. Ich wasche inzwischen den Salat und decke den Tisch. Unsere Art zu kochen ist doch sehr unterschiedlich.« Sie warf demonstrativ zwei Körner Reis in das bereits abgewogene Schälchen. Simpel drohte ihr mit dem Kochlöffel. »Polizeimeisterin Leninger, ich verweise Sie meiner Küche, wenn Sie meine Vorbereitungen weiter sabotieren.«

»Super, dann kann ich gemütlich fernsehen, während du die Reiskörner polierst. Ziel erreicht.«

Sie fing das Geschirrtuch auf, das Simpel ihr an den Kopf warf, schlang es ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss.

»So, ab jetzt lass ich dich in Ruhe, sonst bekommen wir heute nichts mehr zu essen. Multitasking ist ja nichts für euch Männer.«

Simpel tat entrüstet, konzentrierte sich dann aber tatsächlich auf das Kochen, schließlich wollte er Astrid beeindrucken. Er genoss diese seltenen gemeinsamen Abende. In letzter Zeit dachte er häufig daran, dass es besser wäre, sie würden zusammenziehen. Sie hatten so wenig gemeinsame Freizeit. In einer gemeinsamen Wohnung würden sie sich wenigstens täglich sehen. Und außerdem musste Astrid dann nicht immer nach Lauf fahren, wo sie doch sowieso in Nürnberg arbeitete.

Am Ende war Simpel recht zufrieden mit seinem ersten selbst zubereiteten Risotto. Es hatte zwar ziemlich lange gedauert, und er hatte so oft probiert, dass er davon schon fast satt war, aber am Ende kratzte Astrid sogar die Reste aus dem Topf, das war wohl eindeutig ein Lob.

Als sie nach dem Essen satt und zufrieden auf dem Sofa kuschelten, fragte Astrid:

»Sag mal, du Meisterkoch, es ist zwar noch einige Wochen hin, aber hast du dir schon überlegt, wie wir das an Weihnachten machen wollen? Weil, meine Eltern haben gefragt, ob du mitkommst an Heiligabend?«

Simpel wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und schwieg. Astrid nahm die Zeitung und tat so, als würde sie lesen. Aber sie wartete auf eine Antwort, das wusste er. Eigentlich war er Heiligabend immer in Regensburg bei seinen Eltern gewesen. Andererseits wäre er diesmal gerne mit Astrid zusammen. Aber mit ihr alleine, nicht mit ihrer ganzen Familie. Sie hatte einen älteren Bruder, den hatte er nur einmal kurz gesehen, der würde sicher auch da sein. Und vielleicht wollte Astrid ganz traditionell feiern. Mit allem Drum und Dran, und nicht alleine mit ihm hier, ohne Weihnachtsbaum und das ganze Zeug. Legte sie eigentlich auf so etwas Wert?

Astrid kuschelte sich an ihn, und er legte den Arm um sie.

»Stefan? Wenn du lieber alleine bist an Weihnachten, oder bei deinen Eltern, das ist kein Problem für mich, weißt du? Du musst es nur sagen.«

»Nein … ja … ich weiß nicht. Es ist doch wirklich noch lange hin. Müssen wir das jetzt gleich entscheiden?«

Herrgott, was druckste er denn wieder so blöd herum. Astrid musste ja denken, dass er sie nicht sehen wollte an Weihnachten. Und wirklich, sie löste sich aus seinem Arm und stand auf. »Schon gut, ich sag meinen Eltern einfach, dass du Dienst hast.« Dann verschwand sie im Bad.

War sie jetzt sauer auf ihn? Wundern würde es ihn nicht. Warum konnte er nicht einfach sagen, dass er gerne mit ihr alleine sein wollte?

»Stefan, du bist mal wieder ein absoluter Idiot«, sagte Simpel laut zu sich selbst und ging in die Küche, das Geschirr abwaschen.

 

***

 

 

Simpel gähnte, als er am nächsten Morgen das Tor zu seiner Garage aufschloss. Astrid war schon weg, sie hatte Dienst, und er musste den freien Vormittag unbedingt nutzen, um seine Winterreifen aufzuziehen. Dazu legte er sich erst einmal alle Werkzeuge zurecht: Wagenheber, Radkreuz, Drehmomentschlüssel, Reifenmarkierungsstift und eine Dose für die Radmuttern. Gute Vorbereitung ist Gold wert, sagte sein Vater immer. Keine Frage, den Ordnungsfimmel hatte er von ihm geerbt. Simpel zog sich einen gebrauchten Spurensicherungsoverall über und bekam gleich ein schlechtes Gewissen. Eigentlich dürfte er den gar nicht benutzen. Doch seine geliebte Arbeitshose, die er schon seit seiner Zeit bei der Bereitschaftspolizei besaß, hatte er wegschmeißen müssen, nachdem Astrid das gute Stück aus Versehen für einen alten Lappen gehalten und eine Benzinlache damit aufgewischt hatte. Und er war noch nicht dazu gekommen, sich eine neue zu kaufen.

Simpel gähnte noch einmal. Astrid und er hatten gestern Abend noch lange geredet und noch länger Versöhnung gefeiert. Zum Glück hatte er sich doch noch einen Ruck gegeben und ihr erklärt, warum er sich so komisch verhalten hatte. Astrid war dann auch nicht mehr sauer gewesen, und sie hatten schließlich beschlossen, erst kurz vor dem Fest zu entscheiden, wie und wo sie feiern würden. Simpel gähnte noch einmal. Er wäre am liebsten zurück ins Bett gekrochen. Arme Astrid, sie war sicher genauso müde wie er, und sie musste heute eine ganze Schicht durchstehen.

Simpel setzte gerade den Wagenheber an, als es am Garagentor klopfte. Manuel Küppers musste den Kopf einziehen, als er hereinkam. Simpels Garage war nicht für einen Zweimetermann gebaut.

»Hallo, Stefan, entschuldige, dass ich dich stören muss.«

Simpel wischte sich die Hände ab.

»Kommst du zum Helfen, oder hat es in der Inspektion gebrannt?«

»In der Inspektion nicht, aber gebrannt hat es schon.«

»Aha«, sagte Simpel. »Und Sabine Mayr braucht jetzt doch Unterstützung. Aber ich habe heute frei, und meine Winterreifen haben oberste Priorität. Da müssen halt du und der Horst ran, ihr habt doch Bereitschaft. Also, wenn du keine Leiche zu bieten hast …«

Simpel stockte, als er Küppers’ Gesicht sah. Der nickte.

»Es hat einen Toten gegeben, in Eckerslohe, in der Nähe von Roth. Bei einem Brand. Sabine und ihre Leute sind schon unterwegs. Es tut mir leid wegen deinem freien Tag, aber Horst liegt krank im Bett.«

»So wie sich sein Husten gestern angehört hat, wundert mich das nicht. Na, da kann man nichts machen. Ich geh mich schnell umziehen. Hast du ein Auto da?«

»Nein, die Dienstwagen sind alle unterwegs, und mein eigener ist in der Werkstatt.«

»Dann müssen wir wohl meinen nehmen. Auch ohne Winterreifen.«

Simpel warf einen kritischen Blick auf die Straße. Der Schnee war schon fast wieder weggetaut, aber wer weiß, wie es draußen hinter Roth aussah.

 

***

 

 

»Verdammter …«

»Frau Doktor Pfeiffer – hoppla!«

Simpel hatte der Gerichtsmedizinerin gerade noch die Hand reichen können, sonst wäre sie ohne Zweifel auf ihrem Hosenboden gelandet. Die gefrorenen Löschwasserpfützen waren tückisch. Wie erwartet, war es hier draußen auf dem Land deutlich kälter als in Schwabach.

»Danke. Sieh an, der Kommissar mit dem empfindlichen Magen. Wo ist denn Ihr charmanter Kollege?«

Simpel erinnerte sich nur ungern an die Szene in der Rechtsmedizin, als ihm während der Obduktion der Goldschläger-Leiche speiübel geworden war. Und das ausgerechnet unter den spöttischen Augen von Mike Ziegler.

»Hauptkommissar Ziegler ist nach Nürnberg versetzt worden. Aber vielleicht haben Sie bald die Gelegenheit ihn wiederzusehen, er ist dort ebenfalls bei der Mordkommission.«

»Grüßen Sie ihn bitte recht herzlich von mir. Doch genug geplaudert. Was haben Sie für mich?«

»Eine unbekannte Leiche, völlig verbrannt. Den Kleidungsresten nach zu urteilen eine Frau. Die Feuerwehr hat sie erst heute Morgen bei den Aufräumarbeiten gefunden. Sie war unter dem Schutt begraben.«

Dr. Pfeiffer sah sich um. Beißender Brandgeruch lag in der Luft. Überall verkohlte Balken, zerbrochene Dachziegel und kaputte Fenster. Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen. »Die Decke ist eingestürzt, ich sehe schon. Weitere Opfer?«

»Keine. Das Gebäude ist ein alter Gasthof, der schon länger leer steht. Die Tote, falls unsere Vermutung stimmt, dass es sich um eine Frau handelt, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus dem Dorf. Es wird jedenfalls niemand vermisst. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Na, jetzt bin ja ich da. Wäre doch gelacht, wenn wir unserer Unbekannten ihre Geheimnisse nicht entlocken könnten.«

Sie zog sich den Einwegoverall über und machte sich an die Arbeit. Simpel schaute ihr eine Weile zu. Dr. Pfeiffer blickte zu ihm auf.

»Haben Sie nichts zu tun? Zeugen befragen oder so?«

Simpel wurde rot. Er hätte der forschen Rechtsmedizinerin gerne eine passende Bemerkung zurückgegeben, aber ihm fiel natürlich nichts Entsprechendes ein. Also ging er zur Absperrung. Dort stand Küppers und kritzelte etwas in sein Notizheft.

»Was Interessantes bisher?«, fragte Simpel.

»Eigentlich nicht. Niemand hat irgendwas gesehen, außer dem Feuer natürlich. Ein paar Jugendliche haben am Kanal Halloween gefeiert und den Brand entdeckt. Danach war das ganze Dorf auf den Beinen und hat bei den Löscharbeiten zugesehen. Wie der Brand entstanden ist, dazu konnte bisher keiner etwas sagen. Zumindest diejenigen nicht, die wir angetroffen haben. Die anderen befragen wir später.«

Sabine Mayr von der Brandermittlung schlüpfte unter der Absperrung hindurch. Sie hatte ein junges Mädchen dabei.

»Das ist Franziska Eberlinger. Ihr ist gestern Nacht etwas aufgefallen. Das wird euch sicher interessieren«, sagte sie.

»Ich weiß nicht … Wahrscheinlich war da gar nichts … Ich habe nur gedacht …« Das Mädchen sprach sehr leise.

»Was haben Sie gedacht?« Simpel lächelte die junge Frau an. »Jede Beobachtung kann uns weiterhelfen, auch wenn sie Ihnen noch so unbedeutend erscheinen mag.«

»Na ja«, fuhr das Mädchen etwas lauter fort, »wir haben Halloween gefeiert, also die anderen und ich, und wir haben uns beim Krug getroffen.«

»Dorfkrug, so hieß das alte Gasthaus«, erklärte Mayr.

»Und da hab ich meine Handschuhe liegen lassen«, fuhr das Mädchen fort. »Und als ich sie später geholt habe, da …«, sie zögerte, »… da habe ich was gehört.«

»Was haben Sie gehört?«, fragte Simpel.

»Ich weiß nicht, aber da waren so Geräusche, ein Poltern, und dann klang es, als wenn etwas über den Boden geschleift wird, aber nur ganz leise, und vielleicht war es auch nur der Wind. Es war Halloween, und ich habe gedacht, ich bilde mir das ein, wegen dem ganzen Gruseln und so. Und die anderen haben nur darüber gelacht. Aber jetzt ist jemand tot, und ich …«

Das Mädchen stockte und ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Vielleicht, wenn wir nachgesehen hätten …«

Die Brandermittlerin gab ihr ein Taschentuch.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie konnten ja nicht ahnen, was dort los war«, sagte Simpel.

»Erinnern Sie sich noch, wie spät es gewesen ist, als Sie die Geräusche hörten?«

»Ich weiß nicht genau, aber so halb zehn ungefähr.«

Simpel schrieb sich die Adresse des Mädchens auf.

»Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.«

Das Mädchen nickte und ging zurück hinter die Absperrung zu ihren Freunden, die das Treiben der Spurensicherung gebannt beobachteten.

»Der Brand wurde kurz vor zehn entdeckt. Könnte also schon etwas miteinander zu tun haben«, sagte Simpel.

»Oder sie hat sich das wirklich nur eingebildet«, meinte Mayr. »Bestimmt war Alkohol im Spiel. Wenn junge Leute feiern, gehört das ja dazu.«

»Wer ist eigentlich der Eigentümer des Gebäudes?«, fragte Simpel.

Mayr zog ihren Notizblock heraus und blätterte. »Michaela Sterz, wohnt in Roth. Die ist aber nicht zu Hause. Die Nachbarn meinten, sie sei im Urlaub. Die Kollegen versuchen, sie ausfindig zu machen.«

»Hoffentlich ist sie wirklich im Urlaub«, sagte Simpel.

Mayr deutete mit dem Kopf zu Dr. Pfeiffer, die neben der Toten kniete. »Denkst du, Frau Sterz ist unsere Leiche?«

»Könnte schon sein. Aber was hatte die mitten in der Nacht in ihrem verlassenen Gasthof zu tun?«

»Vielleicht ein warmer Abriss«, sagte Mayr. »Wäre nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt. Und dabei ist dann irgendwas schiefgegangen.«

Ein Mann, etwa Ende vierzig, mit sauber gestutztem Bart und Brille, kam auf sie zu und streckte Simpel seine Hand hin. »Entschuldigung, sind Sie der leitende Kommissar?«

Der Mann trug einen eleganten Mantel. Seine Lederschuhe waren schlammbespritzt.

»Martin Waldmüller«, sagte der Mann. »Ich bin der Zweite Bürgermeister und voraussichtlich der neue Landrat. Sie haben ja sicher vom tragischen Unfall des bisherigen Amtsinhabers gehört.«

Simpel schüttelte ihm die Hand. »Nein, davon weiß ich nichts.«

»Ein Unfall mit dem Ultraleichtflugzeug. Schlimme Sache. Ich kenne die Familie sehr gut. Ja, und deswegen gibt es in drei Monaten Neuwahlen. Ich wurde von der Partei gebeten zu kandidieren, und so wie es aussieht, habe ich durchaus große Erfolgsaussichten.«

»Das freut mich für Sie, Herr Waldmüller, aber was kann ich eigentlich für Sie tun?«

»Wissen Sie …«, Waldmüller schob sich ein Stück näher an Simpel heran und senkte seine Stimme, »wir leben hier in einer ländlich geprägten Gegend, in einer heilen Welt sozusagen, da wirbelt so ein Vorfall ziemlich Staub auf. Erst die Brandserie im Landkreis Roth, und jetzt sogar eine Tote hier bei uns im Dorf. Ich als Bürgermeister fühle mich irgendwie verantwortlich. Noch dazu liegt unser Erster Bürgermeister wegen eines Herzinfarktes im Krankenhaus. Es hängt also alles an mir. Da wäre es schön, wenn Sie mich über Ihre Erkenntnisse informieren könnten. Dann fällt es mir leichter, die besorgten Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen.«

Daher weht also der Wind, dachte Simpel. Der Herr Bürgermeister hat Angst um seine Wählerstimmen.

»Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen als jedem anderen auch. Über laufende Ermittlungen gebe ich grundsätzlich keine Auskünfte. Wenden Sie sich bitte an unsere Pressestelle, dort wird man Ihnen weiterhelfen, sobald die Informationen freigegeben sind.«

Der Bürgermeister setzte ein verschwörerisches Lächeln auf.

»Wissen Sie, wenn ich mich ein bisschen umhöre, erfahre ich bestimmt mehr als Sie von der Polizei. Die Leute hier sind Fremden gegenüber ziemlich misstrauisch.«

Simpel lächelte jetzt ebenfalls. »Das hört sich ja an, als wären wir in einem süditalienischen Bergdorf und nicht in Mittelfranken.« Er wurde ernst. »Jeder, der uns Informationen vorenthält, macht sich strafbar. Das müssten Sie als Bürgermeister eigentlich wissen. Und ich denke, jedem hier im Dorf muss daran gelegen sein, dass dieser Todesfall so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Fragen Sie einfach mal herum, ob jemand vermisst wird. Hat jemand Besuch erwartet, der nicht eingetroffen ist? Steht irgendwo ein herrenloses Fahrzeug herum? Bei der Beantwortung dieser Fragen können Sie uns gerne behilflich sein, Herr Bürgermeister. Und jetzt muss ich wieder an meine Arbeit. Entschuldigen Sie mich bitte!«

Simpel nickte dem Mann knapp zu und ging wieder hinter die Absperrung, wo Sabine Mayr ein paar Proben in Plastiktütchen verpackte.

»Na, hat der Herr Bürgermeister jetzt versucht, dich auszufragen? Bei mir hat er es auch schon probiert, den habe ich aber eiskalt abblitzen lassen.«

»Was ist denn das für einer? Weißt du irgendwas über ihn?«, fragte Simpel.

»Nur, was halt so in der Zeitung steht. Ich komme ja aus Roth. Hier in der Gemeinde ist er nur der Zweite Bürgermeister, aber soweit ich weiß, ist er im Bauernverband irgendwas Größeres. Bezirksobmann, oder wie das bei denen heißt. Und jetzt will er Landrat werden. Da passt es ihm natürlich nicht, dass in seinem schönen Landkreis ein Feuerteufel umgeht. Schließlich steht seine Partei für Recht und Ordnung.«

»Für Recht und Ordnung sind immer noch wir zuständig!«, sagte Simpel. »Der soll sich schön raushalten aus unserem Fall, der Herr Möchtegernlandrat. Wenn er uns dazwischenfunkt, wird er sein blaues Wunder erleben.«

 

***

 

 

Pater José von den Philippinen blickte erfreut von der Kanzel herab. So viele seiner Schäfchen hatte er zur Abendmesse an Allerheiligen nicht erwartet. Er schrieb es der Qualität seiner Predigten zu, die er seit zwei Monaten in den Gemeinden rund um Roth und alle zwei Wochen auch in Eckerslohe hielt. Die Nachricht von dem Brand und dem Leichenfund war noch nicht bis in seine Studierstube gedrungen. Denn das war der eigentliche Grund dafür, dass fast alle hundertzwanzig Einwohner des Dorfes in der Kirche versammelt waren. Während des Gottesdienstes herrschte eine gewisse Unruhe, das bemerkte auch Pater José, doch er schob es auf das Thema seiner heutigen Predigt: Der Tod ist nicht das Ende.

Als der Gottesdienst vorbei war, versammelten sich die Gemeindemitglieder auf dem Kirchenvorplatz. In Grüppchen diskutierten sie. Leider nicht die Botschaft der Predigt, wie Pater José hoffte, sondern die Ereignisse des Tages.

»Wenn du mich fragst, da wird halt ein Landstreicher im Dorfkrug übernachtet haben, und den hat es dann erwischt, als der Brandstifter den Brand gelegt hat.«

»Aber ich hab heut ghört, als die Polizei da war, dass die gsacht ham, der Tote war eine Frau.«

»Na und, es gibt doch auch Landstreicherinnen.«

»Und wer denkt ihr, hat die Brände gelegt?«

»Ich hab ja keine Vorurteile, bestimmt nicht, aber es fällt schon auf, dass es bei uns nimmer so is, wie es mal war, seit die Arche hier ist.«

»Leut, was habts denn immer mit der Arche. Egal, was los ist, immer sollen es die von der Arche gewesen sein. Die Jugendlichen dort sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ja. Aber die haben alle ihre Strafe abgesessen, und sie leben auf dem Hof, weil sie wieder in unsere Gesellschaft eingegliedert werden sollen. Die sind bestimmt genug mit sich selber beschäftigt. Außerdem sind da dauernd Betreuer um die rum.«

»Betreuer nennst du diese Typen? Die Männer langhaarig und tätowiert, und die Frauen alle mit bunten Haaren. Vielleicht stecken die ja unter einer Decke mit den Brandstiftern.«

»Na, jetzt geht’s aber los. Das sind studierte Sozialpädagogen vom Jugendamt. Meint ihr, die haben einen Nebenjob als Brandstifter?«

»Da sieht man mal, wie unsere Steuergelder ausgegeben werden. Solche Gestalten sollen straffällige Jugendliche wieder auf den rechten Weg bringen? Dass ich nicht lache. Einsperren und richtig hart arbeiten lassen, das wäre viel vernünftiger. Man darf des bei uns ja nicht sagen, aber beim Hitler …«

»Ich glaub, ich geh jetzt. Die Richtung, die dieses Gespräch nimmt, passt mir nicht. Bei uns im Dorf ist jemand ermordet worden. Darüber sollten wir nachdenken, statt braunes Gedankengut auszugraben.«

»Braunes Gedankengut? Damit hab ich nichts zu tun. Aber man wird doch wohl noch die Wahrheit sagen dürfen.«

»Wenn wir ehrlich sind, ist es doch gut für uns, dass der Gasthof abgebrannt ist, jetzt kann die Sterz keine Asylbewerber mehr dort unterbringen.«

»Es ist ein Mensch gestorben, und du denkst, dass des gut ist?«

»Jetzt dreh mir nicht das Wort im Mund rum. Ich habe nur gesagt, dass ich froh bin, dass kein Asylbewerberheim hier zu uns kommt. Reicht doch schon die Arche. Was denkst du, wie dein Haus an Wert verliert, wenn da lauter Afrikaner daneben wohnen.«

»Da könnt man ja meinen, einer aus dem Dorf hat den Krug angezündet, damit die Sterz endlich zur Vernunft kommt und das mit dem Asylbewerberheim fallen lässt.«

»Einer aus unserem Dorf? Nie und nimmer. Aber schau, da kommt der Waldmüller. Vielleicht weiß der was, der hat doch durch seine Partei gute Kontakte.«

Martin Waldmüller trat zu der Gruppe. »Leute, beruhigt euch. Ihr könnt sicher sein, dass ich alles dafür tun werde, dass wieder Ruhe in unser schönes Dorf einkehrt. Ich habe schon mit der Polizei gesprochen und stehe in engem Kontakt mit dem ermittelnden Kommissar von der Kripo in Schwabach.«

»Was denkst denn du, wer des gmacht hat?«

Alle sahen Martin Waldmüller erwartungsvoll an.

»Auf keinen Fall ist es jemand von den Alteingesessenen aus dem Dorf gewesen, da bin ich mir ganz sicher. Für die neu Zugezogenen kann ich natürlich nicht bürgen, die kenne ich nicht so gut. Aber wie gesagt, ich stehe in enger Verbindung zu den ermittelnden Behörden. Ich informiere euch, sobald ich etwas erfahre.«

Damit ging der Landratskandidat zur nächsten Gruppe, um denen das Gleiche zu sagen.

 

***

 

 

Am Montagmorgen traf Simpel kurz vor neun in der In­spektion ein. Als Tina ihn hereinkommen sah, verdrehte sie demonstrativ die Augen und deutete in Richtung Hertles Büro. Simpel wollte gerade fragen, was los sei, da öffnete sich die Bürotür mit einem energischen Ruck.

»Guten Morgen, Sie sind sicher Oberkommissar Simpel. Mein Name ist Sven Blume, ich leite jetzt diese In­spektion.«

Sven Blume war mindestens einen Kopf kleiner als Simpel. Er war schlank, drahtig und trug einen Bürstenhaarschnitt.

Simpel trat einen Schritt zurück, denn Herr Blume sprach sehr laut und sehr schneidig.

»Guten Morgen«, sagte er betont ruhig.

»Herr Oberkommissar, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, kommen Sie doch gleich mal mit in mein Büro.«

In Hertles Büro, verbesserte Simpel in Gedanken und folgte Sven Blume. Er drehte sich an der Tür noch mal um und sah, dass Tina wieder die Augen verdrehte.

Sven Blume setzte sich mit Schwung auf Hertles Sessel.

»Nehmen Sie Platz, Oberkommissar. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, das ist nicht meine Art. Sie haben einen heiklen Fall mit dieser unbekannten Brandleiche da draußen. Schätzen Sie Ihr Team so ein, dass die das stemmen können, oder wollen wir lieber gleich kompetente Leute aus Nürnberg dazuholen? Nur keine Scheu, sprechen Sie frei von der Leber weg. Wir sind ja unter uns.«

Simpel schluckte einmal kurz, dann sagte er: »Ich bin sicher, dass wir das schaffen. Wir haben sehr erfahrene Kollegen hier in Schwabach.«

»Damit meinen Sie doch nicht etwa Hauptkommissar Vogel, oder?«, erwiderte Blume und lachte kurz und trocken. »Der steht kurz vor seiner Pensionierung, und er hat es innerhalb von vierzig Jahren noch nicht einmal zum stellvertretenden Dienststellenleiter gebracht. Zusammen mit dem Anfänger Küppers nicht gerade ein Dreamteam, Herr Oberkommissar, was? Ihre eigene Kompetenz stelle ich ­natürlich nicht infrage, sonst würden Sie nicht hier sitzen, das ist ja wohl klar.«

Stefan Simpel wusste nicht, was er Hertles Vertretung antworten sollte. Wie kam der denn zu solchen Aussagen? Er kannte doch keinen der Kollegen persönlich. Simpel kochte innerlich, blieb aber nach außen hin ruhig.

»Unser Dienststellenleiter, Hauptkommissar Hertle, hat großes Vertrauen in alle seine Leute, auch und vor allem in Horst Vogel. Wir haben gemeinsam den Fall mit der Goldleiche gelöst, letzten Sommer. Und …«

»Nun ja, Dienststellenleiter bin nun ich, und jetzt zählt nur noch, wer mein Vertrauen genießt. Aber wenn Sie meinen. Wir können es ja mal versuchen mit Ihrem Team. Ein Scheitern müssten Sie dann aber auf Ihre Kappe nehmen, das ist wohl klar. Die Leute warten übrigens schon im Konferenzraum. Gehen wir!«

 

Nach der Besprechung, die eigentlich keine Besprechung war, denn gesprochen hatte nur Sven Blume, trafen sich Manuel Küppers, Horst Vogel, Tina Kaczmarek und Stefan Simpel im hinteren Pausenraum. Ganz zufällig, ohne dass sie das verabredet hätten.

»Was ist denn das für ein Idiot?« Tina sprach als Erste aus, was alle dachten.

»Fatzke«, sagte Manuel.

»Was hat der eigentlich von dir gwollt, vorhin im Büro, Stefan?«, fragte Vogel.

Simpel wollte auf keinen Fall auch nur einen Schimmer von Misstrauen bei seinen Kollegen aufkommen lassen. Deshalb wiederholte er im Wortlaut, was Sven Blume zu ihm gesagt hatte. Die anderen sagten erst einmal gar nichts.

Dann stand Horst Vogel auf.

»Wir haben einen Fall zu lösen, Leute. Manuel und ich fahren so bald wie möglich zusammen zum Tatort. Ich muss mir den unbedingt persönlich ansehen. Lassen wir uns nicht beirren, sondern sorgen wir dafür, dass dieses Blümchen bei uns nicht zum Blühen kommt. Auf geht’s!«

»Schön hast du das gesagt, Horst«, meinte Tina.

»Und noch dazu auf Hochdeutsch!«, ergänzte Manuel.

 

***

 

 

Während Simpel auf die Besitzerin des Gasthofes wartete, machten sich Vogel und Küppers auf den Weg nach Eckerslohe.

Den ganzen Vormittag hatte es Schneeschauer gegeben, doch jetzt schien die Sonne und eine dünne Schneedecke lag über dem Land.

»Sieht eigentlich ganz nett aus«, sagte Küppers. »Wenn man nicht wüsste, dass jetzt sechs Monate Winter vor uns liegen.«

»Da hast recht.« Vogel schnäuzte sich. »Nächstes Jahr, wenn ich in Pension bin und mei Frau auch, dann fahrn wir im Winter für a paar Monate in den Südn, Italien oder Spanien oder so. Des ham wir scho beschlossn.«

»Das machst du, Horst. Ich komm dann nach, so in vierzig oder fünfzig Jahren, wenn ich in Pension gehe. Wenn es bis dahin überhaupt noch so etwas gibt. Vielleicht muss ich noch mit dem Gehwagen an Tatorten rumrutschen, das wird lustig. Und vielleicht ist dann immer noch dieses giftige Blümchen mein Chef. Wenn ihn bis dahin nicht schon längst jemand mit der Dienstpistole erschossen hat.«

»Naa, des wünsch ich dir ned, dass der dein Chef bleibt«, sagte Vogel. »Also mir is ja eigentlich wurscht, wer unter mir Chef is, aber ich hoff scho, dass der Hans-Georg bald wieder da is. Solche überkandideltn Schnösl, die meinen, sie ham scho von Haus aus die Weisheit mit Löffeln gfressn, die brauch ich wirklich ned mehr. So gsehn bin ich edz doch froh, dass ich bald mei Ruh hab.«

Küppers parkte das Auto vor dem abgebrannten Gasthof. Das Durcheinander von Balken und Steinen war kaum noch als Haus zu erkennen. Alles war mit einer dünnen Schneeschicht überzogen. Küppers zeigte Vogel die Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte.

»Spuren find mer edz natürlich keine mehr, nach dem Neuschnee«, sagte Vogel.

»Ich habe jede Menge Fotos gemacht«, sagte Küppers. »Die kannst du dir nachher anschauen. Die Feuerwehr hat natürlich alles zertrampelt beim Löschen, die wussten ja nicht, dass das hier ein Tatort ist.«

Vogel prägte sich alles ein, damit er die genaue Lage im Kopf hatte, wenn er sich später die Fotos ansah. Dann meinte er. »Schaun wir uns mal im Dorf um. Treffn werden wir um die Zeit wahrscheinlich niemand. Die sin bestimmt alle zum Arbeitn in der Stadt.«

Küppers nickte, dann klingelte sein Handy.

Vogel ging schon mal los.