GESPRÄCHE MIT GOTH ist ein Episodenroman, die Handlung und sämtliche darin vorkommenden Charaktere sind frei erfunden. Das Nightmare und die dort stattfindende Veranstaltung ist von meinen Aufenthalten in der Kreuzmühle inspiriert worden.

Dieses Buch fand in der Kreuzmühle seinen Ursprung und ist diesem Ort und all den Menschen gewidmet, die dort leben und arbeiten.

www.kreuzmuehle.com

Thomas Manegold

Gespräche 
mit
Goth


Edition Subkultur Berlin
(a division of periplaneta)


Thomas Manegold
„Gespräche mit Goth“

1. Auflage, Oktober 2013, Edition Subkultur Berlin

© 2013 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Korrektorat: Sarah Strehle
Cover: Marion Alexa Müller
Produktion, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943412-06-2
epub ISBN: 978-3-943412-56-7
E-Book-Version 1.2


www.subkultur.de

 

 Thomas Manegold


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Thomas Manegold ist Autor, DJ, Veranstalter und Produzent. Er ist Mitglied der Berliner Lesebühnen „Vision und Wahn“ und „OWUL”.

Er war unter anderem über 15 Jahre Resident-DJ der Gothic-Hochburg Top Act Zapfendorf und blickt als DJ und Veranstalter auf eine bewegte Vergangenheit zurück, die ihn auf Bühnen jeder Größe führte und ihn zu einem der einflussreichsten DJs der Gothic-Szene machte.

Seit 2007 ist er Produktionsleiter und Kreativer bei Periplaneta Berlin und hat das einstige Internetmagazin Subkultur in ein Independent-Label für Literatur und Musik umgewandelt.

Bisher sind von Thomas Manegold bei Periplaneta erschienen: das Pamphlet „Ich war ein Grufti“, die Kurzgeschichtenbände „Morbus Dei“ & „Morbus Animus“, der Lyrikband „Himmelsthor“, das Hörbuch „Rattenfänger“ sowie Beiträge in diversen Anthologien.


Mehr Infos im Netz unter www.manegold.de


Gegen die Quäker und Demonstranten,

Flaggenerträger und Spekulanten,

Liebesdienstleister und Liebesdienstnehmer,

Knechte und Meister, Bequemte, Bequemer.

 

Gegen Diebe und Diener, Belehrte, Belehrer,

Lyoner und Wiener, Verehrte, Bekehrer,

Vandalen, Vampire, Paraphrasiten,

Papierkrieger, Tierquäler, Jackpots und Nieten,

Gläubiger, Glaubende, Täter und Opfer,

Verfaulte, Verstaubte, Verräter, Verstopfer,

Feeder und Fresser, Verformte, Proleten,

Sieger, Vermesser, Genormte, Asketen

1



Sleeper in

Metropolis

 

Vita

Mein Sein ist eine Wunde.

Sie spritzt im Takt der Trommelfeuer saures Blut auf weiße Kacheln. Mein Lebenslauf ist ein ewiges Aufbäumen gegen die Druckverbände. Gegen Menschen, die mich einwickeln wollen, anstatt es einfach fließen zu lassen. Gegen Menschen, die eines gemeinsam haben: In ihren Leben ist gar nichts gelaufen.

Manipulation durch massiven Druck von außen lernt man nur am eigenen Leib. Man kommt nicht als Mumie in einem Sarg auf die Welt. Aber nur so kann man sein Dasein fristen.

Entwicklung setzt Bindung voraus. Entwicklung ist Entbindung, das Verkrümmen des malträtierten Rückgrats, um die Nabelschnur zu zerbeißen, durch die man sediert wird.

Das Trauma ereilt uns, damit wir es bewältigen. Wer nicht traumatisiert wird, atmet nicht. Wer sich nicht davon befreit, wird hyperventilieren.

Der Mensch kann sich nicht verpuppen. Das ist seines jeweiligen Gottes Fluch. Die Vertreibung der Schmetterlinge aus dem Paradies. Im Hades scheißen wir Maden und machen sie zu Mumien.

Ich lebe in einem Glashaus, vor dem anonyme Primaten mit Plastiktüten über den Köpfen hektisch auf- und ablaufen. Über den verzerrten Gesichtern spannt sich das auf dem Kopf stehende Logo ihres Dealers.

Ich werfe mit Steinen auf das Panzerglas um mich herum, ich will hinaus in diese Welt, um unter all den anonymen Kranken meine Geschwister zu finden, bevor sie an ihrer CO2-Bilanz krepieren.

Mein Sein ist ein Kampf.

Mit den Dämonen. Gegen die Heilsverkünder und Gutmenschen. Gegen das Leiden, das wir immer wieder hinunterschlucken, wenn es mal hochkommt, und an dem wir uns weiden müssen, wenn es uns fremd ist. Gegen die Zombies auf der Straße, in den U-Bahnen, in den Büros und in meinem Kopf.

Mein Schwert ist das Wort.

Mit ihm fälle ich eisern die Köpfe der Hydra, damit ihr immer neue Köpfe sprießen. Ich will ihren Hass schüren, auf dass sie sich selbst die Köpfe abbeißt, bis sie genug Zähne hat, um der Welt Frieden zu bringen. Ich füttere ihre Wut auf die Machtgeilen und Unterdrücker. Ich will, dass sie an der Dummheit der Masse verzweifelt und dann unkontrolliert um sich beißt wie ein angeschossenes Tier. Ich werfe ihr die Helden meiner Ahnen zum Fraß vor. Hercules war auch nur ein blinder Knecht der Götter. Und Chiron ein pädophiler Klugscheißer.

Mein Leben ist Rebellion.

Der Aufstand als Daseinsform. Eine nicht enden wollende To-Kill-List erbricht sich seit Jahren aus meinem Hals. Ich hasse aufrichtig und aufrecht mit jeder Faser meines Körpers, denn wie alle anderen Menschen, so bin auch ich all das, was ich verabscheue, einmal selbst gewesen. Ich bin ein Monster. Gnadenlos wüte ich gegen mich selbst. Und mit jedem abgeschlagenen Kopf wachsen zwei neue in den schwarz verhangenen Himmel, aus dem das Leiden der Welt sich ergießt.

Und ich sauge es auf wie ein Schwamm.

 

 

 

 

 

 

 

Gern stehe ich auch für ein persönliches Gespräch zur Verfügung.

 

Mit freundlichen Grüßen.

 

Sehr geehrte(r) Herr/Frau ________________,

 

vielen Dank für die Einreichung Ihrer Bewerbungsunterlagen auf die von uns ausgeschriebene Stelle.

Bei der Vielzahl von eingegangenen Bewerbungen ist uns die Auswahl nicht leicht gefallen. Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns für einen anderen Bewerber entscheiden werden.

Wir danken Ihnen für das unserem Unternehmen entgegengebrachte Interesse und wünschen Ihnen für Ihre berufliche Zukunft alles Gute.

 

 

Meds

„DAS haben Sie denen geschrieben?“

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das tat gut. Ich vergaß sogar, dass ich kurz davor war, loszuheulen.

„Das ist sicherlich einer Festanstellung nicht dienlich.“

Ich schwieg.

„Na dann erzählen Sie mal …“

„Was wollen Sie hören?“

„Was wollen Sie mir erzählen?“

„Alles und … ach eigentlich auch nichts.“ Plötzlich kam mir meine Idee furchtbar dämlich vor. Mich durchchecken lassen. Im Kopf. Als ob das so einfach wäre wie ein Blutbild. Aber man legte mir ja auch nahe, mich freiwillig, von Zeit zu Zeit … und die resolute Frau auf der anderen Seite des Tisches war offensichtlich auch nicht bereit, mich ohne Geschichte wieder gehenzulassen.

„Hmm, wo soll ich anfangen …“

„Dann beginnen wir mit den Fragen, die ich habe. In Ordnung?“

„Okay.“

„Haben Sie sich in den letzten zwei Wochen niedergeschlagen oder grundlos traurig gefühlt?“

„Soll das ein Witz sein?“

„Nein.“

„Natürlich, ich bin chronisch niedergeschlagen und traurig. Aber bestimmt nicht grundlos.“

„Was ist denn der Anlass für Ihre Traurigkeit?“

„Das weiß ich nicht. Es gibt Dinge, die mir egal sein sollten, es aber nicht sind.“

„Zum Beispiel?“

„Die Dummheit, die Gier, die Gehässigkeit …“

„Von wem?“

„Von allen. Von den Menschen allgemein.“

„Aha.“

„Müssen Sie mich nicht fragen, ob ich mich umbringen wollte?“

„Wollten Sie?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Bitte?“

Schweigen.

„Wegen der Anderen“, antwortete ich. „Sie würden dann ebenso traurig sein, wie ich es jetzt bin. Und außerdem will ich lieber in einer Euphorie draufgehen, als …“

„In einer Euphorie? Ich denke, Sie sind chronisch traurig?“

„Das ist die Basis, gewissermaßen. Die Mauer, hinter der sich Wut und Energie aufstauen. Und die kommen meistens unverhofft eruptiv zum Vorschein.“

„Eruptiv, hmm … Wie meinen Sie das?“

Ihre Distanziertheit ging mir auf den Wecker.

„Na, wenn ich beispielsweise ein tolles Lied höre, triggert mich das manchmal in eine Euphorie. Ich will mir dann nicht nur das Album kaufen, sondern auch die ganze Welt umarmen. Ich könnte lachen und heulen gleichzeitig. Oder, wenn ich etwas Kreatives mache, dann kann das besser sein als … Sex. Und kurze Zeit später kehrt sich das Gefühl wieder um. Dann sitze ich wieder in einer übergroßen, gläsernen Käseglocke und lausche meinem Blut.“

„Seit wann haben Sie solche euphorischen und traurigen Episoden?“

„Seit ich mich erinnern kann. Schon als Kind hatte ich häufig zu nichts Lust. Und wurde von meinen Eltern in diverse Freizeitaktivitäten regelrecht gedrängt. Später …“

Wollte ich wirklich vor dieser fremden, voyeuristischen Frau mein Leben ausbreiten?

„Ja, was war denn später?“

„Ach nichts.“

„Tun Sie manchmal Dinge, ohne über deren Konsequenzen nachzudenken?“

„Klar, ständig! No Risk, no Fun. Aber ich will nicht Fallschirmspringen oder Freeclimben, wenn Sie das meinen. Ich bin nicht lebensmüder als die meisten anderen, da bin ich fast schon ein Feigling.“

„Gehen Sie in manchen Lebenssituationen mehr Risiken ein als notwendig?“

„Das ist aber doch immer Ansichtssache!“

„Gehen Sie beispielsweise immer auf den letzten Drücker los, so dass Sie sich beeilen müssen, um die Bahn nicht zu verpassen?“

„Ich benutze keine öffentlichen Verkehrsmittel!“

„Warum nicht?“

„Ich bin doch nicht lebensmüde!“ Ich musste kichern.

„Wie meinen Sie das?“ Sie blieb kühl.

„Ehrlich? Ich ertrage den Dünnschiss nicht, der dort abgesondert wird. Außerdem verlängert das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel das Leiden in der Welt, weniger Abgase verzögern den Klimawandel.“

Jetzt musste sie lachen. „Zyniker fahren Auto, nicht?“

Ihre Miene fror wieder ein, Frau Doktor wollte beim Thema bleiben: „Überholen Sie mitunter riskant?!“

„Meine Reisegeschwindigkeit mit dem Auto ist 170 plus x, wobei x sehr stark von meiner emotionalen Verfassung abhängt.“

„Das ist aber gar nicht gut.“

„Weiß ich.“

„So, wissen Sie? Warum tun Sie es dann?“

„Ich tue das nicht, es passiert einfach.“

„Aha. Und streiten Sie sich oft mit Ihren Mitmenschen?“

„Machen Sie Witze? Natürlich, ständig. Und sehr laut. Wobei ich immer recht habe!“

„Wirklich immer?“

„Ja.“

„Werden Sie gewalttätig?“

„Nur gegen Dinge und mich selbst.“

„Folgen?“

„Bänderrisse, Verstauchungen, kaputte Spiegel, aufgeräumte Schreibtische …“

„Aber Letzteres ist doch etwas Positives, meinen Sie nicht?“

„Nicht, wenn es nur fünf Sekunden dauert und es dann um den Schreibtisch herum etwas durcheinander aussieht.“

„Ach so …“ Frau Doktor schrieb etwas in meine Akte, blätterte. „Wie lange befinden Sie sich in Ihrem derzeitigen Arbeitsverhältnis?“

„Ungefähr 20 Jahre.“

„Das ist aber schon sehr lange. Eine Beständigkeit in Ihrem Leben. Wie stehen Sie zu Ihrem Vorgesetzten?“

„Ich kann ihn nicht ausstehen.“

„Und da haben Sie es so lange mit ihm … Es ist doch ein Er?“ Ich nickte. „… also, mit ihm ausgehalten?“

„Man kann sich so etwas doch nicht aussuchen. Ich kam mit ihm eine lange Zeit ganz gut klar. Aber er irgendwann nicht mehr mit mir. Das ist ja gewissermaßen der Grund, weshalb ich hier bin.“

„Ihr Chef hat Ihnen zu einer Therapie geraten?“

„Kann man so sehen.“ Ich grinste. Sie nicht, blätterte in der Akte herum, fand den Eintrag und verzog das Gesicht. „Ach, hier steht ja ‚freiberuflich‘. Ihr eigener Chef also. Wollten Sie mir eine multiple Persönlichkeit vorspielen?“

Mein Gott, war die humorlos. „War nur ein Spaß, sorry.“

„Was machen Sie denn so als … Künstler?“

„Ich organisiere Kulturveranstaltungen, schreibe und lese vor und helfe anderen beim Schreiben und Vorlesen.“

„Kann man davon leben?“

„Davon nicht, wohl eher damit … Sagen Sie mal, was steht denn da noch alles?“

Sie lächelte kurz.

„Würden Sie mir Ihre sexuelle Orientierung verraten?“

Mir wurde warm. „Ist das jetzt ein Antrag?“

„Nein.“

„Schauen Sie doch bei Facebook nach, verdammt!“

„Und sind Sie besonders … aktiv.“

„Weiß nicht, ich verliebe mich immer gleich. Und wenn ich mich nicht verliebe, vergesse ich den Namen und das Gesicht. Also, ich kann mir Namen und Gesichter generell schlecht merken, von daher wäre das mit den Affären extrem schwierig.“

„Wenn man Gesichter vergisst, kann das auch vieles einfacher machen, meinen Sie nicht?“

„Nee, wissen Sie, ich überlege die ganze Zeit, wo ich Sie schon mal gesehen habe. Und oftmals geht es mir umgekehrt genauso: Da sagt jemand ‚Guten Tag‘ zu mir und ich weiß partout nicht, woher ich den kennen soll.“

„Sind Sie als Kind missbraucht worden?“

„Sie nicht?“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Doch, habe ich.“

„Nein, haben Sie nicht.“

Ich atmete tief durch. „Ich bin der Meinung, dass die meisten Kinder missbraucht werden. Zwar nicht immer sexuell, aber das unterscheidet ein Kind nicht.“

„Und wie werden Ihrer Meinung nach Kinder noch missbraucht?“

„Als Kuscheltier, als Druckmittel, als Hoffnungs- oder Erbsubstanzträger, als Großeltern-Tamagotchi, als Family-Crash-Test-Dummy, als Scheidungsverfahren-Wiederaufnahme-Hemmer, … Je schlimmer diese Erfahrungen sind, desto verkorkster wird der Mensch. Und dafür hasse ich die Verkorkser. Weil ich das Leiden ihrer Opfer sehen kann. Dabei ist es mir egal, ob die Verkorkser früher auch mal Opfer waren.“

„Die Täter-Opfer-Spirale meinen Sie. Sie reden immer gleich von Liebe oder Hass. Gibt es für Sie nichts dazwischen?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Logik. Ein Dazwischen setzt mindestens zwei Dinge voraus.“

„Aber Liebe …“, sie streckte mir den Daumen entgegen, „… und Hass!“ Ihr Zeigefinger streckte sich ebenfalls.

„Das ist doch ein und dasselbe!“

„Wie viele emotionale Zustände generell können Sie bei sich beobachten?“

„Na zwei. Oben und unten. Eins und Null, alles andere ist wie Tiefschlaf.“

„Also ein gutes und ein negatives Gefühl.“

„Das sehe ich anders. Es sind zwei Ventile und es ist derselbe Kessel, Überdruck, Unterdruck, einatmen, ausatmen, dazwischen ist nichts.“

„Um bei Ihrem Bild zu bleiben: Glauben Sie, dass Sie emotional zu viel Druck aufbauen und häufiger Dampf ablassen müssen als andere Menschen?“

„Ja.“

„Meinen Sie, dass man den Druck auf dem Kessel generell verringern könnte?“

„Mit Pillen meinen Sie? Das können Sie vergessen.“

„Ich könnte Ihnen relativ einfach Stimmungsaufheller verschreiben. So etwas würde helfen.“

„Nein, würde es nicht.“

„Gut, frage ich anders herum: Würden Sie gern weniger Druck auf diesem Gefühlskessel haben wollen, damit Sie weniger Dampf ablassen müssten und somit in einer harmonischeren Beziehung zu Ihrer Umwelt stünden?“

„Nein. Das geht nicht. Dann wäre ich tot.“

„Aha, Sie meinen …“

„Ich brauche den Druck und den Schmerz, sonst fühle ich ja überhaupt nichts.“

„Und warum sind Sie dann hier?“

„Weil ich merke, dass ich dabei draufgehe und die Menschen um mich herum sich abwenden.“

„Sie beschreiben extrem narzistisch-soziopathische Züge an sich selbst und finden es schlimm, wenn die Menschen aus Ihrem Umfeld verschwinden? Seien Sie doch froh!“

Erwischt. Ich hasste es, wenn sie recht hatte. „Bin ich auch. Nur scheint ein Teil von mir auf die da draußen angewiesen zu sein. Ich habe das Gefühl, durchsichtig zu werden, wenn die Welt mich nicht wahrnimmt. Ich muss mir und anderen ständig beweisen, dass ich es draufhabe. Mir wird extrem schnell langweilig. Und dann werde ich depressiv.“

„Sie geben also unumwunden zu, dass Sie Reaktionen auf Ihre Person provozieren müssen, um sich selbst wahrnehmen zu können?“

„So drastisch würde ich das jetzt nicht …“

„Sie sind also erfolgsabhängig und krankhaft auf Anerkennung aus?“

„Also mir ist das eigentlich …“ Ich fühlte mich wie ein Tier, das man in einer Treibjagd in die Enge getrieben hatte. Da blieb nur noch die Flucht nach vorn: „Wollen Sie nicht auch liebgehabt werden?“

„Ich bin hier nicht das Thema. Aber generell: Wenn Sie geliebt werden wollen, dann sollten Sie Ihre Umwelt nicht mit apokalyptischen Weltbildern drangsalieren. Kaufen Sie sich doch einfach einen Hund und alles ist gut!“

„Einen Hund?“

„Ja, der liebt Sie, auch wenn Sie keinen Zirkus veranstalten.“

„Wissen Sie, verscheißern kann ich mich allein!“ Jetzt war ich wirklich wütend und verstand zu spät, dass Sie genau das wollte.

„Sie tun doch die ganzen wundervollen Dinge, also das Schreiben, das Musikmachen, nicht nur, um sich zu spüren, oder?“

„Nnnein … da ist schon noch was anderes. Ich liebe, was ich tue. Und eigentlich will ich die Welt retten.“

„Na dann retten Sie doch erst mal sich selbst.“ Sie sah auf die Uhr und erhob sich. Zeit abgelaufen. „Eigentlich müsste ich Ihnen zu einer stationären Therapie raten. Zur Beobachtung. Ich sehe an Ihren Armen Spuren von selbstverletzendem Verhalten.“

„Das ist aber schon länger vorbei.“

„Ob das laute Vorlesen eines nihilistischen Textes in einem öffentlichen Gebäude, bei gleichzeitigem Treten gegen zwei Wände, von denen Sie ja nicht wissen konnten, dass sie nur aus Gips bestanden … ob dies eine Gefährdung ist, muss ich hier und heute nicht entscheiden. Wissen Sie, wenn Sie wenigstens betrunken gewesen wären, dann könnte man es mit einem emotionalen Affekt begründen, den der Alkohol verursacht hat, aber Sie waren nüchtern und wussten wohl sehr genau, was Sie da taten.“

Ich konnte mich zwar an gar nichts erinnern, aber das sagte ich jetzt wohl besser nicht. Zumindest riet mir das meine innere Stimme.

Also versuchte ich, möglichst niedlich zu schauen und schwieg.

„Sie können gehen“, sagte sie, „aber es würde mich freuen, wenn wir für drei weitere Sitzungen Termine machen würden.“

„Okay, Sie sperren mich nicht ein?“, fragte ich theatralisch belustigt.

„Nein, kommen Sie in vier Tagen freiwillig wieder. Bis dahin können Sie ja mal aufschreiben, was Sie so umtreibt … Das wäre sehr hilfreich.“

„Ich bekomme Hausaufgaben auf?“

„Wenn Sie es so nennen wollen.“

„Das wollen Sie doch gar nicht wissen, was da drin vorgeht!“ Ich tippte mir an die Stirn.

„Oh doch, das ist mein Beruf.“

Damit erhob sie sich und gab mir zum Abschied die Hand.

Ich war verwirrt. Und irgendwie auch glücklich.

‚Alles noch mal gutgegangen‘, dachte ich.

Auf der Straße erinnerte ich mich plötzlich. Das Gefühl, sie zu kennen, hatte mich nicht getäuscht. Nur trug sie in ihrer Freizeit andere Kleidung, vor allem weniger Kleidung – und eine Perücke. Ich hatte sie entweder bei irgendeiner Party schon Mal gesehen oder meine Phantasie ging gerade mit mir durch. Aber was spielte das schon für eine Rolle. Patienten verlieben sich nun mal in Psychotanten. Nur trug die Psychotante in meinem Kopf eben eine Lederkorsage und High Heels – und sonst nichts. Mit diesem Bild im Kopf fand ich es plötzlich gar nicht mehr so abwegig, mal wieder Hausaufgaben zu machen.

 

Zombie Nation

Ein Passant rempelt mich an.

Reißt mich aus dem Gedankenstrom.

„He, pass doch auf!“

Kopfschütteln.

Stinkefinger.

Sein Blick fällt zu Boden, die Schritte werden schneller.

Ich schaue über die Straße. Menschen kaufen ein, schieben Buggys, schlagen trotzigen Kindern auf Hinterköpfe, schreien, rauchen, trinken Kaffee vor dem Dönerladen. Ein Bus zerschneidet meine Sicht auf die Szenerien des Alltags, die sich auf der anderen Seite abspielen. Mein Blick folgt dem Viehtransporter und bleibt an der nächsten Kreuzung hängen.

Der leichte Schmerz an der Schulter verblasst. Sein Verursacher steht an der Fußgängerampel am Ende der Straße und schaut zurück, offenbar hat er Angst, dass ich ihm folge. Ich will ihm seine Angst nicht nehmen und renne los.

Sein Blick wandert hektisch zwischen Ampel und mir hin und her. Der abgerissene Typ ganz in Schwarz, der gerade sehr schnell auf ihn zukommt, weckt in ihm eine Paranoia. So etwas ist ansteckend. Die Mitwartenden um ihn herum werden skeptisch und entfernen sich zentimeterweise von diesem sich widernatürlich verhaltenden Artgenossen. Noch fünf Meter.

Der Mann in Grau rennt plötzlich los. Reifen quietschen. Blech küsst Bein. Kopf fällt auf Asphalt. Die Ampel springt auf Grün. Ich bleibe stehen. Die anderen Zweibeiner laufen weisungsgemäß los, um den Aufgeschlagenen herum, auf die andere Straßenseite. Die Ampel wird wieder rot, der Taxifahrer steigt aus und begutachtet den Schaden an seinem Auto. Hinter ihm beginnen die Ahnungslosen zu hupen. Ich zücke mein Handy und tippe drei Zahlen ein, da höre ich auch schon die immer lauter werdenden Sirenen.

Das schneidende Geräusch, das Autofahrer in Straßengräben und Fußgänger in den Wahnsinn treibt, legt einige Gesichter in Falten und lässt ein paar Ohren unter Händen verschwinden. Bei den meisten Statisten dieser Szenerie passiert jedoch gar nichts. Unbeeindruckt vom Kriegsgeheul des Altruistenpanzers tragen sie ihre ganz persönliche Kapitulation zur Schau.

Die Armee der Toten geht weiter ihren Weg. Ich gehe mit. Wenn es so etwas wie Leidenschaft in ihnen gegeben hatte, ist sie aufgebraucht. Wenn jemals ein Feuer in ihnen gebrannt hatte, ist es erloschen. Das ist er, der kollektive Burn-out. Feuer aus. Und nichts mehr da, was man anzünden könnte.

Wobei … Burn-out setzt voraus, dass da irgendwann mal irgendwas gebrannt haben muss. Hat es aber nicht! Und Armee der Toten trifft es irgendwie auch nicht, denn von denen ist keiner jemals für irgendwas gestorben!

Ein Mensch, der behauptet, er habe Burn-out, ist noch nicht ausgebrannt. Wenn das Feuer erloschen ist, existiert der Mensch nicht mehr. Er ist dann Bestandteil einer undefinierbaren, kalten, grauen Masse, muss sich neu erschaffen, nur fehlt ihm meistens die Kraft dazu. Phönix aus der Asche? Fünf Euro ins Phrasenschwein!

Eine alte Frau glotzt mich an und schüttelt den Kopf.

Der Grund, weshalb ich in eine Großstadt geflohen bin, offenbarte sich mir erst nach zwei Jahren. Die City ist mein Exil, denn hier fällt nicht auf, wenn ich ständig mit mir selbst rede. Anfangs steckte ich mir noch die Freisprechstrippe meines Handys ins Ohr, aber mir wurde schnell klar, dass die meisten der anderen Dauertelefonierer auf der Straße das Gleiche taten. Auch sie reden nur vor sich hin. Es ist unerheblich, ob jemand zuhört oder nicht.

Manchmal glotzt einer blöd, wenn er sieht, dass da kein Bluetoothheadset in meinem Ohr klemmt, aber das ist dann immer ein Tourist.

„Bist du ein Zombie?“, fragt plötzlich eine dünne Stimme neben meinem linken Knie. Die Stimme hat einen Luftballon in der rechten Hand. Darauf prangt das Logo einer Fastfoodkette.

Ich schaue mich um. Inzwischen bin ich in den Arkaden angekommen. Hier offenbart sich für mich die Hölle auf Erden: ein Giger-Panoramabild in 3D, das außer mir keiner sehen kann. Es stinkt nach ranzigem Dönerfleisch, Fisch und Parfüm.

„Ich? Ein Zombie?“, frage ich leise zurück.

Die Stimme nickt erwartungsvoll. Sie ist vielleicht fünf und soll mal eine Zombine werden, jedenfalls ist sie so angezogen: Rosa und Rüschen. Ein bisschen wie Barbie und ein bisschen wie ein Popsternchen, dem man noch keine Brüste angeklebt hat.

„Nein, Kleine, ich bin der einzige Mensch hier. Schau dich mal um, diese Welt ist ein einziger Drogenstrich. Huren beiderlei Geschlechts stehen in Glaskästen herum und bieten anderen Huren für deren sauer erficktes Geld Waren an. Sie haben alle eine ganz, ganz gefährliche Krankheit, die total ansteckend ist.“

„Wie heißt denn diese Krankheit?“

„Sie heißt Konsum.“

„Und wie geht die Krankheit? Tut das weh, wenn man Konsum hat?“

„Nein, es tut nicht weh, es ist ein ständiges Bedürfnis nach Einkaufen, ein unstillbares Sehnen und Brauchen. Man ist drauf. Abhängig.“

„So wie Papa?“

„Was macht denn dein Papa?“

„Na der zittert und hat immer schlechte Laune, wenn kein Bier mehr da ist.“

„Ja, so ähnlich. Man muss einkaufen, was genau, das sagt dir irgendein Clip auf irgendeinem Monitor.“

„Du meinst Fernsehen?“

„Ja, auch das, Kleine. Fernsehen ist der Gott der Zombies.“

„Ist dann meine Mama ein Zombie?“

„Ich kenne deine Mama nicht. Ein Zombie, der Konsum hat, muss ständig fernsehen und einkaufen, weil nichts anderes, außer das Erarbeiten, Erstehlen oder Erbetteln von Geld und dessen Eintauschen in Güter und Dienstleistungen, seine Existenz rechtfertigt.“

„Oh“, sagt die dünne Stimme und schaut mich mit ganz großen wasserblauen Augen an, „meine Mama hat das.“

„Oh, das tut mir aber leid. Hmm, merkst du schon was?“

„Ich weiß nicht. Werde ich jetzt sterben?“

„Nein, wenn du nicht das machst, was deine Mama den ganzen Tag macht, wirst du sie nicht bekommen, diese Krankheit.“

„Warum nicht?“

„Na … äh, weil … Menschen bestimmen selbst, was sie tun und was sie anziehen. Zombies sind ferngesteuert.“ Ich bewege mich kurz wie ein Roboter.

Ja, das gefällt ihr. „Und was machst DU dann hier?“

Erwischt. Ja, was mache ich hier eigentlich? „Du, Kleine, ich hab keine Ahnung … Ich hab mich einfach treibenlassen und bin irgendwie hier gelandet.“

„Du hast doch gesagt, Menschen bestimmen selbst. Du bist DOCH ein Zombie!“ Sie strahlt triumphierend.

„Weißt du, manchmal ist das schwierig und man vergisst kurz das mit dem Selbstbestimmen …“

„Und wie kann man dann die Zombies von den Menschen unterscheiden?“

Scheiße, die will es aber genau wissen. Kinder konnte man früher viel einfacher um den Finger wickeln.

„Das muss man selbst rausfinden. Ich schau den Menschen immer in die Augen und dann sehe ich, ob da ein Zombie drin ist oder nicht.“

„Und dann bringst du sie um, nicht?“ Die Kleine stellt sich in eine Kung-Fu-Pose und fuchtelt mit den Armen.

„Nee“, sage ich und beuge mich verschwörerisch zu meiner neuen Freundin herunter. „Das nützt nichts, weil die doch schon tot sind …“

Ein Schrei: „Abby!“

Die kleine Abby schaut erschrocken in die Richtung, aus der ihr Name erschallte, lässt den blöden Luftballon los und guckt ihm dann mitleidlos hinterher.

„Abby! Abby!“

Der Schrei will gar nicht mehr aufhören, kommt mit zwei Tüten im Anschlag auf uns zu.

Ich sage noch schnell: „Also Abby, solange wir nicht sinnlos Dinge in uns reinstopfen, nicht auf Zombiemamas hören, der blöden Zombiekindergärtnerin in den Arsch treten, wenn sie wieder rumzickt – und wenn wir dem Zombiegott nichts glauben, bleiben wir Menschen.“

Der Schrei ist inzwischen bei Abby angekommen und guckt mich böse an. Dann zieht die neurotische, alte Frau um die 30 einmal kurz an einem der schwarzen Pippi-Langstrumpf-Zöpfe.