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SIGRUN ARENZ

 

KÜHL BIS ANS HERZ

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (1. Auflage September 2009)

 

© 2009 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Elmar Tannert

Umschlaggestaltung: Anna Ponton unter Verwendung einer Fotografie von Norbert Treuheit

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-338-6

 

Track 1: Der Fischer (Text: Johann Wolfgang von Goethe)

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,

ein Fischer saß daran,

sah nach dem Angel ruhevoll,

kühl bis ans Herz hinan.

Und wie er sitzt und wie er lauscht,

teilt sich die Flut empor;

aus dem bewegten Wasser rauscht

ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:

Was lockst du meine Brut

mit Menschenwitz und Menschenlist

hinauf in Todesglut?

Ach wüsstest du, wie’s Fischlein ist

so wohlig auf dem Grund,

du stiegst herunter, wie du bist,

und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,

der Mond sich nicht im Meer?

Kehrt wellenatmend ihr Gesicht

nicht doppelt schöner her?

Lockt dich der tiefe Himmel nicht,

das feuchtverklärte Blau?

Lockt dich dein eigen Angesicht

nicht her in ew’gen Tau?

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,

netzt’ ihm den nackten Fuß;

sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,

wie bei der Liebsten Gruß.

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;

da war’s um ihn geschehn:

Halb zog sie ihn, halb sank er hin

und ward nicht mehr gesehn.

 

 

 

 

Applaus brandete durch das hohe gotische Gewölbe der St. Andreaskirche, nachdem die letzten Töne des Pianos ver­klungen waren. Der Sänger, der in gespannter Reglosigkeit abgewartet hatte, verbeugte sich tief, lächelte gelöst ins Publikum und streckte dann dem Pianisten die Hand hin, der ebenfalls enthusiastischen Beifall erhielt.

Rainer Sailer wandte seinen Blick von den beiden Künstlern ab, die gerade Blumensträuße von den Organisatoren des Abends in Empfang nahmen, und wandte sich an seine Begleiterin. »Nun?«, meinte er. »Ich hoffe, es hat sich gelohnt.«

Sie klatschte weiter, während sie ihm antwortete: »Danke für die Einladung, das war ein wunderschöner Abend … Also, jetzt mal ehrlich, welche deiner Freundinnen hat dir einen Korb gegeben, so dass du stattdessen mich mitnehmen muss­test?«

Rainer lachte. »Ach, Mutter, so viele Leute in meinem Alter kenne ich nun wirklich nicht, die Schubert mögen … Obwohl …« Er ließ den Blick durch die Reihen der Kirchenbänke schweifen, wo viele Leute noch applaudierten, während andere schon aufgestanden waren, um nicht ins Gedränge des allgemeinen Aufbruchs zu geraten. Für ein klassisches Konzert waren erstaunlich viele junge Leute gekommen, um den Bariton Jonas Hofer zu hören. Er war ein gebürtiger Weißenburger, der gerade dabei war, als Sänger Karriere zu machen, und viele Leute hatten die Gelegenheit genutzt, ihn in seiner Heimatstadt auftreten zu sehen. »Kennst du den Hofer nicht auch, von der Schule?«, fragte seine Mutter und erhob sich mit einem Seufzer von der unbequemen Kirchenbank. Rainer schüttelte den Kopf. »Der war doch bei den Windsbachern«, erklärte er und fragte sich nebenbei, ob die vielen jungen Frauen im Publikum auch gekommen wären, wenn Jonas Hofer nicht in die Kategorie »gutaussehend und charismatisch« gefallen wäre, Schubert hin oder her. »Kann ich dich noch auf einen Orangensekt einladen?«, erkundigte er sich bei seiner Mutter, während die beiden sich dem Strom von ­Menschen anschlossen, die dem Ausgang zustrebten. »Ich glaube, draußen auf dem Kirchplatz wollten sie noch einen Umtrunk anbieten.« Frau Sailer schauderte bei dem bloßen Gedanken. »Lieber einen heißen Kaffee im Warmen«, erwiderte sie. »Bei dem Wetter draußen herumstehen …« Sie schüttelte verständnislos den Kopf, und Rainer musste ihr recht geben, als sie in die Novembernacht traten, wo kleine Gruppen herumstanden, viele mit Schals und Handschuhen, obwohl es nicht direkt frostig war. Ein besonders lebhafter Kreis aus größtenteils jungen Leuten hatte sich um Jonas Hofer, den Sänger, gebildet, der jetzt einen schwarzen Wollmantel über seinem Anzug trug. Gelegentlich bemerkte Rainer jemanden, den er kannte – in mancher Hinsicht war Weißenburg eben doch ein Dorf –, und einmal wechselte er rasch auf die andere Seite seiner Mutter hinüber, um nicht gesehen zu werden. »Wer war das?«, wollte Frau Sailer prompt wissen, die das Manöver durchschaut hatte.

»Ach, bloß der Pfarrer Römer«, antwortete er mit einem Schulterzucken. Seine Mutter blickte zurück zu dem Mann, der im Gespräch mit einem älteren Ehepaar war. »Der euch bei eurem Fall im letzten Sommer so geholfen hat?«, fragte sie aufgeregt. Ihr Sohn verdrehte die Augen und verzichtete auf eine Antwort. »Wie fandest du denn den Gesang?«, wechselte er stattdessen das Thema, während er auf ein Café zusteuerte, das noch nicht in einen Raucherclub umgewandelt worden war.

»Oh, großartig«, begeisterte sich Frau Sailer. »So eine schöne Stimme! Bei diesem traurigen Lied aus der Schönen Müllerin hätte ich beinahe angefangen zu weinen. Schade, dass die CD noch nicht zu haben ist, die hätte ich vielleicht gekauft.« Mutter und Sohn ließen sich in der kleinen Bar nieder, wo sie einen Cappuccino tranken und sich über Konzerte und Schubertinterpretationen unterhielten, wozu Rainer nicht viel beitrug, weil er von Schubert wenig Ahnung hatte. Er musste allerdings zugeben, dass auch ihm das Konzert gefallen hatte, das er nur besucht hatte, um seiner Mutter eine Freude zu machen. Als sie sich auf den Weg zu Rainers Auto machten, sprach Frau Sailer gerade über die umstrittene Aufführung von Faust II, die sie im vergangenen Jahr in Weimar gesehen hatte. Vor den beiden lief eine Gruppe von Leuten, die ebenfalls im Konzert gewesen und vielleicht zum Umtrunk im Freien geblieben waren. Rainer und seine Mutter folgten ihnen durch das prächtige Ellinger Tor hindurch und über die Straße zum Parkhaus, vor dem sich kahle Baumäste gegen den nächtlichen Himmel abzeichneten. Krähennester hingen an einigen der Äste, der Anblick kam Rainer trostlos und traurig vor – ihm ging das Krähenlied aus der Winterreise im Kopf herum, das sie im Konzert gehört hatten. Sie stiegen die Treppen zum ersten Parkdeck hinauf, und er fischte in seiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel, als auf einmal laute, aufgeregte Stimmen von weiter oben zu ihnen drangen. Mehrere Personen schienen dort durcheinanderzurufen. Ohne nachzudenken lief Rainer ins Treppenhaus zurück und hastete nach oben, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Er öffnete die Tür zum dritten, vorletzten Parkdeck, lauschte – hier war er richtig. Eine Gruppe von Leuten stand in der hintersten, am wenigsten zugänglichen Ecke. Sie redeten wild durcheinander. Von oben kamen jetzt weitere Personen hinzu, aufgeschreckt durch den Aufruhr. »Was ist hier los?«

Niemand antwortete ihm zunächst, aber ein oder zwei Leute wandten sich ihm mit Gesichtern zu, in denen sich Bestürzung malte. »Ich bin Polizist«, verkündete Rainer und drängte die ihm am nächsten Stehenden zur Seite. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er endlich freie Sicht hatte. Einen Moment lang hatte er gehofft, dass nur jemand ohnmächtig geworden war, einen Herzanfall oder etwas Ähnliches erlitten hatte, aber ein Blick verriet ihm, dass es viel schlimmer war als das. Die Gestalt lag auf dem Boden, fast schon unter dem Geländer, mit dem das sonst offene Parkdeck abgeschlossen war; es sah aus, als habe jemand versucht, sie unter der Reling ­hindurchzuschieben und zwischen die Bäume vor dem Parkhaus hinunterzuwerfen, ins Gebüsch, wo es lange dauern würde, bis man die Leiche fände. Es war eine Frau; er sah helles Haar, das an einigen Stellen mit dunklem Blut verklebt war, einen modischen roten Kurzmantel, Damenstiefel und einen Rücken, der zu einem Bogen zusammengekrümmt war. »Ich bin Polizist«, wiederholte er scharf, nachdem er den ersten Schock verwunden hatte und sich wieder bewusst machte, was jetzt von ihm erwartet wurde. »Wer von Ihnen hat sie gefunden? Hat jemand die Tote angefasst oder den Körper bewegt?« Gleichzeitig registrierte er seine Umgebung, so genau er konnte. Die Ecke mit der Leiche, der abgeschiedenste Winkel des Parkdecks, und davor ein Auto, ein blauer Ford Ka. Die Gruppe um ihn herum hatte sich nochmals vergrößert; unter den neu Hinzugekommenen entdeckte Rainer seine Mutter und Pfarrer Römer. In dem Kreis direkt um sich sah er eine Frau, die sich totenblass am Arm ihres Begleiters festklammerte, den Sänger Jonas Hofer und einige andere Gesichter, die er auch im Konzert gesehen hatte. »Hat jemand sie angefasst?«, fragte er noch einmal scharf. Zwei oder drei Leute nickten zögernd und unsicher. »Ich glaube schon«, murmelte ein älterer Mann mit brüchiger Stimme. »Ich dachte zuerst, sie lebt vielleicht noch.« Einige der Umstehenden bestätigten seine Worte mit einem Nicken. Eine junge Frau verbarg ihr Gesicht in ihren zitternden Händen.

Rainer bemühte sich, klar zu denken. Dies war ein Tatort, der entsprechend gesichert werden musste, aber es war auch der Schauplatz einer Tragödie mit erschütterten Menschen, die vielleicht Hilfe brauchten. Er atmete tief durch. »Hören Sie bitte, Sie müssen alle ein Stück weggehen. Sie können hier nichts tun, und die Polizei muss diesen Ort sichern.« Er kramte sein Handy hervor und versuchte es einzuschalten, ohne den Blick von den fahlen Gesichtern abzuwenden. »Ich fürchte, Sie müssen alle noch eine Weile warten, wir müssen Sie vielleicht noch befragen. Herr Römer«, wandte er sich an den Pfarrer von Buchfeld, der im Hintergrund stehengeblieben war. »Können Sie sich vielleicht um die Leute kümmern, falls jemand Hilfe braucht?« Herwig Römer nickte und wandte sich seinerseits an die Anwesenden: »Kommen Sie mit, wir werden auf die Polizei warten – vielleicht im Treppenhaus?«, fragte er, an Rainer gewandt. Der runzelte die Stirn. Er wollte auf keinen Fall, dass die Gruppe Spuren zerstörte, aber er wollte auch nicht, dass jemand das Parkhaus verließ, bevor er mit seiner ersten Befragung fertig war. »Gehen Sie zu der Rampe hinüber, die nach unten führt«, antwortete er. »Dann können Sie gleich alle anderen wegschicken, die hier heraufwollen. Versuchen Sie alle, möglichst nichts anzufassen«, fügte er hinzu und tippte mit Fingern, die ebenfalls ein wenig zitterten, die Nummer seiner Dienststelle ein. Je eher seine Kollegen da waren und er sicher sein konnte, dass niemand den Tatort durcheinanderbrachte und Hinweise zerstörte oder unbrauchbar machte, umso besser. Er war mit einer solchen Situation noch nie alleine konfrontiert gewesen, und er fühlte sich etwas ruhiger, als der Kollege am Telefon mit der Versicherung auflegte, sie würden »gleich da« sein. Er war froh, dass die Polizeiinspektion so nah war. Es würde wirklich nicht lange dauern. Das Handy noch immer in der Hand, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Toten zu, nahm so viele Informationen mit den Augen auf wie möglich, da er ohne Ausrüstung nichts anfassen durfte. Sein Blick fiel auf den blauen Ford mit Weißenburger Kennzeichen, der die Leiche vor den Blicken der meisten Parkhausbenutzer abschirmte. Wer nicht in unmittelbarer Nähe parkte, hatte kaum Veranlassung, in diese eine Ecke zu schauen und die Gestalt dort zu sehen. Wie lange lag sie schon hier? Das Blut, das die blonden Haare verkrustete, war jedenfalls nicht mehr frisch. Sirenengeheul mischte sich in seine Überlegungen: Die Kollegen waren ausgerückt. Gehörte der Ka der Toten? Rainer warf einen Blick durch das Seitenfenster, er wollte feststellen, ob der Wagen abgeschlossen war, musste aber erkennen, dass er keine ­Zapfenverriegelung hatte. Das Einzige, was er sehen konnte, war ein rosa Plüschherz, das am Rückspiegel befestigt war. Blaulicht durchschnitt die Dunkelheit vor dem Parkhaus. Rainer atmete auf, als die Kollegen auf der Szene erschienen. Während der Fundort der Leiche abgesperrt und die Gruppe von Leuten auf der Rampe von zwei Beamten übernommen wurde, die zuerst die Personalien aufnahmen und dann alle gehen ließen, die nicht unmittelbar an der Auffindung der Toten beteiligt gewesen waren, öffnete Rainer das Telefonbuchverzeichnis seines Handys und scrollte die Einträge beim Buchstaben S herunter. Ja, er hatte die Nummer tatsächlich noch gespeichert. Er zögerte kurz, blickte zurück zu der Toten, die gerade fotografiert wurde, und drückte dann kurz entschlossen die Wahltaste.

 

»Deine Mutter hat übrigens heute angerufen.«

Eva Schatz blickte über den Rand ihres Weinglases Irene an, die ihr gegenübersaß. »Was wollte sie?«, fragte sie in einem Ton, der nicht so normal klang, wie sie beabsichtigt hatte. Irene lächelte. »Sie hat nur gefragt, ob sie die Blumen gießen und sich um den Kater kümmern soll, wenn wir im Urlaub sind.« Eva erwiderte nichts, sondern widmete sich schweigend ihrem Fisch. Am Nachbartisch saß eine größere Gruppe von Gästen, die sich offenbar bestens – und lautstark – unterhielt, während auf der anderen Seite ein Pärchen mehr ineinander als in sein Essen vertieft war. Etwas weiter entfernt blickte eine elegant gekleidete Frau mehrfach unauffällig auf die Uhr, um sich ihrem Begleiter dann mit scheinbarem Interesse wieder zuzuwenden. Er schien nicht zu bemerken, dass er langweilte.

»Sie meint es gut«, bemerkte Irene in aufmunterndem Ton, doch Eva zuckte nur die Schultern. Der Kater war so ziemlich das einzige Element ihres Lebens, das ihre Mutter uneingeschränkt guthieß. »Hast du morgen Frühdienst?«, fragte sie stattdessen. Irene verzog das Gesicht, als sie nickte. Siebzehn Jahre Schichtdienst im Krankenhaus hatten zwar nur wenige Spuren in dem anziehenden Gesicht hinterlassen, aber die Anstrengungen zehrten an ihren Nerven. Vielleicht war es auch das Leben und das Älterwerden an sich, dachte Eva freudlos. Manchmal sah sie Irene an, und ihr kamen Zweifel an ihrem gemeinsamen Leben. Aber irgendwann musste man schließlich auch wissen, was man wollte. Sie war nicht mehr dreißig, und sie hatte sich entschieden. Sie hatte, was sie gewollt hatte, im Beruf und im Privatleben. Manchmal schien es ihr trotzdem nicht mehr genug.

»Was ist?«, fragte Irene, als ob sie die unausgesprochenen Gedanken gespürt hätte. Eva zwang sich zu einem Lächeln. »Nur so. Es wird Zeit, dass wir Urlaub haben.«

»Ach ja, die Reservierungsbestätigung ist heute auch gekommen«, erklärte Irene. »Und eine detaillierte Broschüre mit allen Wellnessangeboten des Hotels. Schlammpackungen oder Sektbad für zwei, ganz nach Geschmack.«

Der bloße Gedanke an ihren Urlaub gab Eva enormen Auftrieb. »Wie wäre es mit Sekt im Schlammbad?«, erkundigte sie sich fröhlich.

»Gibt’s bestimmt auch. Oder Schlammsekt in der Sauna. Auf unser Wohl – oder vielmehr unsere Wellness!« Sie erhoben ihre Gläser. Mitten in das leise Klirren des Anstoßens klingelte Evas Telefon. »Na dann prost«, murmelte sie verärgert.

 

Das Parkhaus am Ellinger Tor war ein Durcheinander von Menschen, Rufen und hastig verrichteten Tätigkeiten. Das Blaulicht der Polizeiwagen ließ grotesk verzerrte Schatten durch das Parkdeck gleiten. Die Ein- und Ausgänge waren gesperrt, und ein paar Leute, die in dieser Nacht noch ihr Auto abholen wollten, sahen sich von grimmigen und wenig mitteilsamen Uniformierten daran gehindert. Die kleine Gruppe, die dabei gewesen war, als die Leiche gefunden wurde, befand sich noch immer auf einer der Rampen. Die zehn Leute wirkten verloren und unsicher und schienen Halt aneinander zu suchen, eine zufällige Versammlung, die durch die Umstände zusammengekommen war und sich jetzt beinahe als eine Schicksalsgemeinschaft fühlte. »Sie haben die Tote als erster bemerkt?«, fragte Rainers Kollege Bernd Gollwitzer den älteren, bärtigen Mann, Karl Herrmann, der unsicher nickte. »Ich glaube, ja. Das heißt, ich wollte zu meinem Auto und konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo es stand. Ich bin die Reihe Autos entlanggelaufen, und als ich mich umgedreht habe, ist mir was aufgefallen, ich konnte nicht sehen, was es war, ein dunkler Haufen. Ich bin näher hin, und er« – Herrmann deutete auf den Sänger – »kam auch gerade daher und fragte: ›Was ist das?‹ Wir sind beide hin und haben die Gestalt gesehen, und – ich weiß nicht, ich glaube, wir haben uns hingekniet und gerufen, ob sie uns hört …«

»Wissen Sie, ob Sie die Tote angefasst oder bewegt haben?« Der ältere Mann dachte angestrengt nach, die Stirn in Falten gezogen. »Ich glaube, angefasst haben wir sie schon. Viel bewegt nicht, man hat schnell gemerkt, dass sie …« Er brach ab, ohne den Satz zu vollenden. Die junge Frau in der Nähe verbarg wieder ihr Gesicht in den Händen. Sie schien unter Schock zu stehen und hatte noch kaum ein Wort gesagt. Jonas Hofer, zu dem Herrmann fragend hinüberblickte, nickte bestätigend. »Ich glaube, so war es. Wir waren beide fast gleichzeitig bei ihr, und ich glaube, ich habe ihr Handgelenk angefasst und er – den Kopf, ich weiß nicht. Sie fühlte sich kalt an, da haben wir angefangen zu rufen, und dann kamen auch die anderen angerannt.« Seine Sängerstimme klang auch im Sprechen angenehm, selbst in dieser Situation hatte sie etwas Ruhiges und Warmes an sich, während die anderen alle mehr oder weniger brüchig klangen. Einer der Männer aus der Gruppe, den Arm noch immer fest um seine Frau gelegt, die sich blass an ihn schmiegte, fügte hinzu: »Mehrere Leute kamen gelaufen, die beiden hier« – er deutete auf Herrmann und Hofer – »standen auf und redeten durcheinander, und dann kam die andere Frau und kniete sich auch noch neben die Leiche, und ich glaube, sie hat sie auch berührt, und dann hat sie sich umgedreht zu uns und hat gesagt: ›Sie ist tot.‹«

Gollwitzer nickte. »Sie sind Herr Schmied, oder?« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der jungen Frau zu, die abseits der anderen stand und ins Leere starrte, die Schultern hochgezogen, das Gesicht immer wieder in den Händen verbergend. Pfarrer Herwig Römer stand neben ihr; er hatte eine Zeitlang beruhigend auf sie eingesprochen. Gollwitzer begrüßte ihn mit einem Nicken. Römer war damals in der dramatischen Regennacht am Brombachsee dabei gewesen, in der sie den Fall Kronauer abgeschlossen hatten. Der Pfarrer erwiderte das Nicken und entfernte sich ein paar Schritte zu einer der anderen Wartenden. »Hören Sie«, sagte Gollwitzer so ruhig wie möglich zu der Frau, »Sie können gleich gehen, Sie müssen mir nur ein oder zwei Dinge sagen.« Sie blickte auf, das Gesicht starr wie eine Maske. »Linda Galster?«, fragte er, obwohl sie die Personalien bereits aufgenommen hatten. Sie nickte mechanisch. »Sie waren ebenfalls am Fundort, gleich nachdem die beiden Männer die Tote entdeckt hatten, ist das richtig?« Sie nickte wieder. Ihre Hände zitterten. »Einer der Herren sagt, Sie hätten sich auch zu der Toten gekniet und sie berührt. Können Sie sich erinnern?« Ein drittes Nicken war die einzige Reaktion, die er erhielt. »Warum haben Sie das getan, hatten die anderen noch nicht gesagt, dass die Frau tot ist? Haben Sie geglaubt, Sie könnten noch etwas für sie tun?«

Linda Galster starrte hinüber in die entfernte Ecke des Parkdecks, wo sich jetzt Beamte drängten und Lichtquellen jeden Winkel ausleuchteten.

»Man konnte sehen, dass sie tot war«, antwortete sie endlich mit einer Stimme, die tonlos und gleichzeitig rau klang. »Ich war sicher, dass sie tot war, aber …« Die brüchige Stimme versagte ihr ganz, und wieder musste Gollwitzer nachhaken: »Sie waren sicher, dass sie tot war, aber trotzdem haben Sie sich neben die Leiche gekniet … « Linda Galster erschauerte merklich bei dem Wort, nickte aber. »Warum?«, wollte der Beamte wissen. »Oder war es bloß eine instinktive Reaktion?«

»Der Mantel«, flüsterte Linda Galster. »Ich konnte das Gesicht nicht sehen.«

»Ich verstehe nicht«, gestand Gollwitzer. »Was war mit dem Mantel?«

»Es ist ihrer«, erklärte sie, noch immer mehr wispernd als sprechend. »Ich habe ihn erkannt. Es ist Caroline.« Sie starrte ihn entsetzt an, als ob ihr erst jetzt die Bedeutung ihrer Worte klar geworden sei. »Es ist Caroline«, wiederholte sie tonlos. »Sie ist tot.«

 

Der blaue Ford war nicht abgesperrt, und in seinem Inneren herrschte ein ziemliches Durcheinander – CD-Hüllen lagen auf dem Boden des Beifahrersitzes herum, in den Seitenablagen, die offenbar schon länger nicht mehr ausgeräumt worden waren, hatten sich Kaugummipapierchen, Kassenzettel und ähnlicher Kleinkram angesammelt, und die Fußmatten waren voller Sand und Krümel. Rainer drückte auf den Knopf neben dem Lenkrad, der den Kofferraum öffnete, und ging um das Auto herum, um einen Blick hineinzuwerfen. Seine Finger fühlten sich unter dem Plastik der Schutzhandschuhe, die er übergestreift hatte, kalt und steif an. Er ließ den Blick über den leeren Kofferraum schweifen und schloss die Klappe wieder. Das rosa Plüschherz am Rückspiegel vibrierte ganz leicht von der Erschütterung.

»Ich bin so weit fertig«, sprach ihn jemand von hinten an. »Soweit es mich betrifft, können Sie die Leiche jetzt wegbringen.« Rainer wandte sich um und nickte dem hochgewachsenen, dünnen Mann zu, der sich zu ihm gesellt hatte. »Dr. Jöst, nicht wahr?«, fragte er. Der Pathologe nickte. Er sah ein wenig wie ein Klischeemediziner aus einem älteren Arztfilm aus – von der Sorte attraktiver Mittfünfziger mit grauen Schläfen und vernachlässigtem Privatleben. Rainer sah über das runde Heck des Ka hinüber zu der Toten. »Was meinen Sie, wann ist sie gestorben?«

»Irgendwann in den letzten 48 Stunden«, antwortete der Arzt prompt. Rainer unterdrückte eine ungeduldige Erwiderung – so viel war sogar ihm klar gewesen. »Ich nehme an, ich muss bis morgen warten, um eine genauere Antwort zu bekommen«, sagte er bloß.

Dr. Jöst nickte bedächtig : »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß. Aber Ihnen ist schon klar, dass ich den Todeszeitpunkt auch morgen bestenfalls auf sechs bis acht Stunden eingrenzen kann.«

»Genauer geht es nicht?«, fragte Rainer irritiert.

»Natürlich«, lächelte der Mediziner ein wenig herablassend. »Wenn Sie möchten, wende ich die klassische Algor-Mortis-Formel an, nach der sich die Temperatur des Toten pro Stunde um 0,8 Grad abkühlt, bis sie Raumtemperatur erreicht; dann bekommen Sie ein ziemlich konkretes Ergebnis.«

»Aber?«, wollte Rainer etwas missmutig wissen. Jöst lächelte wieder, durchaus verständnisvoll: »Es würde nicht stimmen«, sagte er milde. »Ich weiß nicht, was Ihnen die Pathologen bisher erzählt haben – es gibt immer noch etliche, die meinen, auf diese Weise könnte man den Todeszeitpunkt genau bestimmen, aber die Abkühlung des Toten verläuft längst nicht so geradlinig, wie man früher angenommen hat. Sobald der Mensch stirbt, bricht im Körper das Chaos aus, manchmal erhöht sich die Temperatur einer Leiche nach dem Tod sogar kurzzeitig.« Rainer seufzte. »Okay, okay, wie Sie meinen. Tun Sie, was geht.« Er ging zu seinen Leuten hinüber. Die Bahre war gerade ausgeladen worden, und zwei Männer gingen nun daran, die Leiche zum Transport fertig zu machen. Der Polizeibeamte sah ihnen gedankenverloren zu, als plötzlich sein Kollege Bernd Gollwitzer neben ihm erschien, begleitet von einer der Personen, die zuvor an der Rampe gewartet hatten. »Wir wissen vielleicht, wer die Tote ist«, begann er ohne Vorrede. Rainer sah die junge Frau fragend an. Ihr Gesicht wirkte, ­eingerahmt von dem dunklen, halblangen Haar, im kalten Licht des Parkdecks sehr blass. »Linda Galster«, erklärte Gollwitzer. »Sie sagt, sie kennt das Opfer.« Er nickte ihr aufmunternd zu, und sie räusperte sich, bevor sie mit bemüht beherrschter Stimme sagte: »Es ist … ich glaube, es ist eine Freundin von mir, Caroline Kröger.« Sie sah aus, als wollte sie noch mehr sagen, ohne recht zu wissen, was.

Rainer hatte das Gefühl, dass sie unter Schock stand, und beschloss, es kurz zu machen. »Sie lag direkt neben diesem Auto«, sagte er und deutete auf den Ford. »Vielleicht kennen Sie es? Ist es vielleicht ihres?

Die junge Frau nickte. »Caros Auto«, meinte sie leise. »Das ist ihr Auto.« Sie begann zu zittern, und Rainer sah sich nach den Rettungskräften um, die den Ort noch nicht alle verlassen hatten. »Kommen Sie, Sie können uns morgen mehr erzählen«, brummte Gollwitzer. »Jetzt sollten Sie versuchen, etwas Ruhe zu finden.« Er winkte einen Sanitäter heran, der gerade vorbeiging, und meinte: »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Frau Galster. Die Rotkreuzler können Sie nach Hause fahren.« Der Sanitäter nickte und führte die junge Frau am Arm weg, doch Rainer bemerkte, dass sie sich nach wenigen Schritten von ihm losmachte und alleine weiterging.

Ein Polizeibeamter kam auf die beiden zu, eine durchsichtige Tüte in den behandschuhten Händen. »Sie hatte eine Handtasche bei sich, Schlüssel, Geldbeutel, Kosmetik, das Übliche halt«, berichtete er. »Caroline Kröger, geboren am 19.11.85. Wir haben alles eingesackt, was hier sonst noch herumlag.«

Rainer nickte. »Gut. Haben Ihre Leute auch draußen gesucht, auf dem Boden vor dem Parkhaus?«

»Ja, natürlich. So wie die Tote dalag, fast unter dem Geländer, haben wir uns gedacht, dass da leicht etwas runtergefallen sein könnte.«

»Oder dass der Täter etwas hinuntergeworfen hat«, ergänzte Gollwitzer grimmig. Die drei Männer schwiegen einen Moment lang, dann wandte sich Rainer an den Kollegen. »Haben wir was über die Eltern des Opfers? Oder ist sie verheiratet? Je eher wir ihren Angehörigen die Todesnachricht überbringen, desto besser.«

»Ich schau schnell, was ich tun kann«, versprach der Beamte und lief zu einem Polizeibus hinüber.

Gollwitzer hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und starrte mit finsterem Gesichtsausdruck in die Dunkelheit. »Scheiße, dass so was passiert«, sagte er leise, aber heftig. »Und ausgerechnet hier in Weißenburg. Ich hab’ selbst eine Tochter in dem Alter …. einundzwanzig ist sie.«

»Ich hoffe, wir kriegen schnell Ergebnisse«, murmelte Rainer und scharrte mit dem Fuß über eine sandige Stelle des Bodens. Er wollte noch etwas hinzufügen, ließ es aber sein, als eine Beamtin auf ihn zukam, einen Computerausdruck in der Hand. »Sie wollten was über die Angehörigen der Toten«, sagte sie und schaute auf den Zettel. »Die Mutter heißt Tanja Kröger und wohnt hier in Weißenburg, sie ist geschieden, der Vater lebt in Erlangen.« Sie reichte ihm das Blatt.

»Danke. Dann suche ich die Mutter am besten heute noch auf.«

»Es ist ziemlich spät«, gab Gollwitzer zu bedenken. »Wenn wir um die Zeit an der Tür klingeln …«

»Dann weiß sie gleich, dass etwas passiert ist«, erwiderte Rainer, »und ist schon vorgewarnt. Außerdem spricht sich so was viel zu schnell rum, und ich will nicht, dass ihre Eltern es auf anderem Weg erfahren.«

Gollwitzer erhob keine weiteren Einwände, sondern begleitete Rainer aus dem Parkhaus hinaus. Ihr Atem dampfte in der kalten Nachtluft, und die beiden Männer fröstelten, nachdem sie so lange herumgestanden waren. Vor ihnen gähnte dunkel der Eingang zur Fußgängerunterführung, die unter der Straße hindurch zur Innenstadt führte. An der Treppe zur Straße hinauf standen zwei Personen, und Rainer machte ein finsteres Gesicht, als er sie erkannte. Seine Mutter befand sich im Gespräch mit Pfarrer Römer, und beide kamen auf die Polizisten zu, als sie sich näherten. »Tut mir leid, Mutter, dass du warten musstest«, sagte er. »Vielleicht nimmst du dir besser ein Taxi, ich habe noch etwas zu tun.«

»Oh, natürlich, das ist überhaupt kein Problem«, erwiderte sie. »Ich würde die kurze Strecke auch zu Fuß gehen, aber nicht in diesen Schuhen.« Sie hatte sich fein gemacht fürs Konzert. Rainer fror es beim Anblick ihrer Füße in den dünnen, eleganten Pumps. »Geh lieber gleich, du holst dir sonst noch eine Erkältung. Gute Nacht!« Dann wandte er sich stirnrunzelnd an den Pfarrer. »Was machen Sie denn noch hier? Hat man Sie Ihr Auto nicht holen lassen?«

»Auch das«, gab Herwig Römer zu. »Ich werde mir wohl ebenfalls ein Taxi nehmen müssen. Aber ich wollte fragen, ob ich noch irgendetwas tun kann.«

Darauf fielen Rainer eine Reihe Antworten ein, und keine davon war freundlich. Er suchte gerade nach Worten, die dem lästigen Geistlichen höflich, aber unmissverständlich deutlich machen würden, dass seine Anwesenheit im Zusammenhang mit diesem Fall völlig unerwünscht war, aber Gollwitzer fiel ihm in den Rücken. »Die Todesnachricht«, raunte er leise. »Vielleicht nehmen wir ihn besser zur Mutter der Toten mit … seelische Unterstützung und so.«

Rainer rollte die Augen. Erst seine Mutter und jetzt auch noch sein Kollege. »Also, dann kommen Sie mit«, meinte er ungnädig. »Ich muss eine Todesnachricht überbringen, und wenn Sie meinen, dass Sie da von Nutzen sein können …«

»Dann wissen Sie schon, wer die Tote ist?«, fragte Römer, während sie zu dritt auf einen Streifenwagen zuliefen, der oben an der Straße wartete. Rainer überließ es Gollwitzer, mit dem Pfarrer zu reden. Schließlich war es seine Idee gewesen, ihn mitzunehmen.

 

Die Drei-Zimmer-Wohnung, in der Tanja Kröger lebte, befand sich in einem Wohnblock am Rande Weißenburgs. Trotz der späten Stunde wurde die Tür fast unmittelbar, nachdem sie geklingelt hatten, geöffnet. Der Mann stutzte, als er sah, wer auf der Schwelle stand; sein Blick blieb an Gollwitzer hängen, der eine Uniform trug. Sein jugendliches Gesicht, gebräunt von Sonne oder Solarium, verlor ein wenig Farbe. »Was ist?«, sagte er heiser, schien nicht mehr herauszubringen in seiner Bestürzung. Rainer wechselte einen verwunderten Blick mit Gollwitzer und räusperte sich. »Entschuldigen Sie, wir wollten eigentlich mit Frau Tanja Kröger sprechen – sie wohnt doch hier, oder?«

Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch eines laufenden Radios. »Sie wird gleich zurück sein«, erklärte der Mann. »Sie sind von der Polizei?« Als Rainer nickte und seinen Dienstausweis hervorholte, öffnete der andere die Tür weiter, ohne einen Blick auf das Dokument zu werfen, und wiederholte: »Sie kommt gleich wieder. Kommen Sie herein.« Sein Blick glitt unruhig über Rainer, Gollwitzer und den Pfarrer hin, ehe er ihnen voranging. Das Wohnzimmer war recht geräumig, aber es wirkte überfüllt mit Möbeln und dicken Teppichen. Das Bügelbrett, das neben einem vollen Wäschekorb mitten im Raum stand, verstärkte diesen Eindruck noch, ebenso die Tatsache, dass das Zimmer merklich überheizt war. Offensichtlich war der Mann gerade beim Bügeln gewesen; er schaltete das Bügeleisen aus, ein Druck auf die Fernbedienung ließ das Radio verstummen, dann wandte er sich zu Rainer um. »Was ist passiert?«, fragte er leise, die Stimme tonlos vor Anspannung. »Ist ihr was zugestoßen? Ist es Tanja?« Er schien vergessen zu haben, dass sie gekommen waren, um mit Tanja Kröger zu sprechen, oder vielleicht glaubte er ihnen auch nicht. Ehe einer von ihnen noch etwas sagen konnte, klingelte es erneut, und diesmal flog der Mann förmlich zur Tür. Sie hörten ihn, undeutlich vor Erleichterung, rufen: »Tanja? Gott sei Dank, du bist gesund«, und dann Stimmen, die leise und hastig miteinander sprachen. Wahrscheinlich informierte er sie über die drei Besucher. Sie kamen ­gemeinsam in das Wohnzimmer, die Frau noch im Anorak, blass vor Schrecken.

»Sie sind von der Polizei?«, fragte sie unsicher. »Sie wollen mich sprechen? Ich bin Tanja Kröger.« Sie stützte sich leicht auf den Arm des Mannes; sie boten einen eigenartigen Kontrast, sie in ihrer Winterjacke, er in Hemdsärmeln. Frau Kröger sprach leise und hastig, als wollte sie den Männern keine Gelegenheit geben zu sagen, weshalb sie gekommen waren: »Das ist mein Mann, Arno Hertz – mein Lebensgefährte, meine ich«, verbesserte sie sich. Noch ein seltsamer Kontrast, dachte Rainer sich, er offensichtlich einige Jahre jünger als sie, aber vor allem so betont jugendlich, sie ein wenig nachlässig in Kleidung und Auftreten, als sei ihr ihre Erscheinung nicht so wichtig. Arno Hertz legte leicht seine Hand auf ihre beiden, die noch immer in Handschuhen steckten, und sie verstummte abrupt und sah Rainer mit Augen an, die weit und dunkel wirkten vor Furcht. Er räusperte sich. »Frau Kröger, wir sind wegen Ihrer Tochter gekommen, Caroline. Ich fürchte, wir bringen schlechte Nachrichten. Wir wurden heute zu einem Einsatz gerufen …«

»Ein Unfall?«, unterbrach Arno Hertz scharf, während Frau Kröger langsam die Handschuhe von den Fingern zog und nicht aufblickte dabei.

»Kein Unfall«, antwortete Rainer ernst. »Wir haben eine junge Frau tot aufgefunden, und wir haben Grund anzunehmen, dass es sich um Ihre Tochter handelt, Frau Kröger.« Sie nickte mechanisch, ohne etwas zu sagen, dann setzte sie sich auf ein Sofa, noch immer im Anorak, blass und stumm.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Hertz – es klang fast aggressiv, aber Rainer kannte diese Reaktion von Leuten, die eine Todesnachricht erhielten, und antwortete sehr ruhig: »Wir haben ihre Handtasche gefunden. Ich fürchte, es besteht wenig Zweifel daran, dass sie es ist.«

»Tot?« Es war nur ein Wispern vom Sofa her.

Pfarrer Römer setzte sich neben Frau Kröger, während Gollwitzer unbehaglich und schwitzend dastand und Rainer sich weit fort wünschte, wie immer, wenn er schlechte Nachrichten überbringen musste.

»Was meinen Sie mit ›tot aufgefunden‹?«, wollte Hertz wissen, noch immer in kämpferischem Tonfall. »Wenn es kein Unfall war … Wo? Sagen Sie mir, was geschehen ist!«

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Rainer müde. »Sie wurde in der Nähe ihres Autos gefunden, und sie war sicherlich schon einige Stunden tot.«

»Sie war kerngesund«, protestierte Hertz. »Ein gesundes junges Ding kippt doch nicht einfach um und ist tot.«

»Nein, sie ist nicht einfach umgekippt«, bestätigte Rainer ruhig, und dann wartete er, bis die logische Schlussfolgerung sich auf dem gebräunten Gesicht seines Gegenübers abzeichnete, obwohl er dagegen ankämpfte. Erst dann ergänzte er grimmig: »Wir befürchten, dass sie das Opfer eines Überfalls geworden ist.« Tanja Kröger brach in ein leises, hilfloses Weinen aus, und Rainer fand, es sei an der Zeit, das Feld Pfarrer Römer zu überlassen, doch Hertz fasste ihn am Arm und wollte mehr wissen, verlangte Informationen darüber, was mit Caroline passiert war, wie sie gestorben war und wo.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie wissen wollen«, erklärte er seufzend. »Wir wissen selbst noch zu wenig. Alles, was ich Ihnen mitteilen kann, ist, dass wir sie im Parkhaus am Ellinger Tor gefunden haben, und dass es so aussieht, als ob jemand sie angegriffen hätte.«

»Jemand«, wiederholte Hertz zischend, voller Wut, worüber, hätte man nicht sagen können. »Was meinen Sie mit ›jemand‹?«

Rainer wunderte sich jetzt doch über die Aggressivität, die der andere ausstrahlte. Er war bis zu diesem Augenblick, ohne groß darüber nachzudenken, davon ausgegangen, dass Caroline Kröger das zufällige Opfer eines Gewalttäters geworden war, der vielleicht zusätzlich unter Alkoholeinfluss stand, aber natürlich war das nicht die einzige Möglichkeit. »Was meinen Sie denn, Herr Hertz? Wir wissen bislang gar nichts über ­Caroline Kröger. Hatte sie Feinde? Jemanden, der ihr übel wollte? Einen Freund, mit dem sie in Streit geraten sein könnte? Wenn es da etwas gibt, sagen Sie es uns – es muss nicht heute sein, wir werden ohnehin wiederkommen müssen, und vielleicht ist es Ihnen beiden lieber, wenn wir jetzt gehen.«

»Es war irgendein Gewaltverbrecher«, mischte sich Frau Kröger leise ein, die Stimme dünn von den Tränen, die sie zurückhielt. »Niemand hat Caro gehasst. Niemand, der sie gekannt hat, hätte ihr etwas antun wollen.«

»Hoffentlich«, sagte Rainer sachte. »Aber solche Tragödien gibt es immer wieder. Hatte Ihre Tochter eine Beziehung?«

»Sie hat einen Freund«, antwortete sie schwach. »Die zwei sind schon ein paar Jahre zusammen.«

»Das ist ein ordentlicher Kerl.« Ihr Lebensgefährte zog die Stirn in Falten; es verlieh seinem eigentlich gutaussehenden Gesicht einen beinahe unangenehmen Ausdruck. »Der hätte ihr nie etwas getan.«

»Woher wollen wir das wissen?«, gab Frau Kröger leise zurück. »Sie wollten ja nichts mit uns zu tun haben.«

»Sie kennen ihn gar nicht?«, hakte Rainer rasch nach, doch Hertz antwortete gereizt: »Doch, natürlich. Sie waren nur nicht sehr oft hier.«

»Wann haben Sie denn das letzte Mal von Ihrer Tochter gehört, Frau Kröger?«

Sie zögerte mit der Antwort. »Ich glaube, am Wochenende hat sie angerufen. Gesehen habe ich sie … wir waren letzte Woche mal im Café zusammen.«

Rainer knöpfte unruhig seine Jacke ganz auf; ihm wurde immer wärmer in dem überheizten Raum. »Sie und Ihre Tochter, ist das richtig? Herr Hertz war nicht dabei? Und der Freund Ihrer Tochter auch nicht?«

Tanja Kröger nickte bestätigend. »Das stimmt. Wir haben uns in ihrer Arbeitspause getroffen, nur wir zwei, ohne die Männer.« Ein kurzes, verlorenes Lächeln. »Ihr Freund arbeitet die ganze Zeit. Tobias Galster heißt er, aus Buchfeld drüben.«

Pfarrer Römer zog bei der Erwähnung des Dorfes, in dem er lebte, die Stirn in nachdenkliche Falten, als ob er versuchte, sich an ein Gesicht zu dem Namen zu erinnern.

Und Rainer war nicht entgangen, dass der Name Galster heute schon zum zweiten Mal auftauchte.

 

Track 2: Im Dorfe (Text: Wilhelm Müller)

Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten;

es schlafen die Menschen in ihren Betten,

träumen sich manches, was sie nicht haben,

tun sich im Guten und Argen erlaben;

 

Und morgen früh ist alles zerflossen.

Je nun, sie haben ihr Teil genossen,

und hoffen, was sie noch übrig ließen,

doch wieder zu finden auf ihren Kissen.

 

Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde,

lasst mich nicht ruhn in der Schlummerstunde!

Ich bin zu Ende mit allen Träumen,

was will ich unter den Schläfern säumen?

 

 

 

 

Keiner der Männer und Frauen, die dabei gewesen waren, als Caroline Kröger tot aufgefunden wurde, verließ das Parkhaus in der Erwartung, in dieser Nacht bald Ruhe zu finden. Es fing schon damit an, dass sie alle ihre Autos stehen lassen muss­ten, bis sämtliche Männer der Spurensicherung mit ihrer Arbeit zu Ende waren und das Parkdeck freigaben. Und dann saß ihnen allen, dem einen mehr, dem anderen weniger, ein Grauen im Nacken bei der Erinnerung an die verkrümmt daliegende Gestalt der Toten. Karl Herrmann, der ältere, bärtige Lehrer, der sich als erster neben die Frau – er scheute selbst in Gedanken davor zurück, das Wort ›Leiche‹ zu verwenden – gekniet hatte, wandte sich die Ringstraße abwärts zu einem Lokal, das lange offen hatte, und bestellte einen Grog gegen die Kälte, doch bevor er ihn trank, ging er auf die ­Herrentoilette und wusch sich die Hände, einmal, zweimal, mit immer wärmerem Wasser und Seife, aber die Erinnerung an das Gefühl der toten, kalten Haut der Frau ließ sich nicht abwaschen. Ein paar Männer an der Bar unterhielten sich gerade über das Blaulicht und den Polizeieinsatz, den sie aus der Entfernung mitbekommen hatten. »Feuer war’s nicht«, schüttelte der eine den Kopf. »Keine Feuerwehr.«

»Terroristen vielleicht«, spekulierte der zweite mit einer gewissen morbiden Begeisterung.

»Eine Leiche«, hörte Herrmann sich zu seinem eigenen Erstaunen nüchtern sagen.

Linda Galster hatte das Parkhaus rasch verlassen, nachdem der Polizeibeamte sie hatte gehen lassen. Ihr einziger Gedanke war gewesen, der Aufmerksamkeit des Sanitäters zu entkommen, der etwas über Blutdruckmessen und Schock und Hinsetzen gesagt hatte. Sie war mit schnellen, scheinbar zielstrebigen Schritten losgegangen, aber sobald sie draußen in der kalten Winterluft stand, hatte ihre Entschlusskraft sie verlassen. Wohin? Sie versuchte, nicht an Caroline zu denken, daran, dass sie tot war, unwiderruflich, aber sie musste darüber nachdenken, was sie jetzt tun sollte. Normalerweise wäre sie in ihre Wohnung gefahren, aber ihre Wohnung würde leer sein, eine Leere, die sie heute Nacht nicht aushalten wollte. Warum war Caroline tot? Nicht nachdenken … Wohin jetzt? Nach Hause? Und morgen in der Arbeit anrufen, Bescheid geben, dass sie nicht kommen würde, das Erlebte verarbeiten im Kreis der Menschen, die ihr am nächsten standen … Sie hatte ihr Handy schon in den Fingern, Anton anrufen, Frida oder Tobi, auch wenn es so spät war, und sie musste es ihnen sowieso erzählen, von Carolines Tod … Dann fiel ihr ein, warum sie diesen Anruf nicht machen konnte, nicht jetzt jedenfalls, und ein beklemmendes Gefühl, ein Unbehagen, das nicht Angst war – noch nicht – setzte sich in ihrem Magen fest. Sie zuckte zusammen, als sie hinter sich Schritte hörte, aber natürlich waren es Leute, die wie sie aus dem Parkhaus kamen, und die Polizei war noch in der Nähe; die Wahrscheinlichkeit, gerade jetzt und hier ein ähnlich schreckliches Ende zu finden wie Caroline, war sehr gering. Linda wandte sich um und sah das Ehepaar von vorhin Arm in Arm die Treppe zur Straße hinaufsteigen, und kurz darauf verließ Jonas Hofer in seinem dunklen Wintermantel die Parkhauseinfahrt, ebenfalls zu Fuß. Er blickte auf, als er näher kam, nickte ihr zu und ging dann wortlos weiter. Linda schaute dem sich entfernenden Paar hinterher. Warum stand sie hier, allein? Sie kannte die Antwort zu gut. Sie wollte nicht darüber nachdenken.

Jonas Hofer ging mit langsamen Schritten fort, er achtete nicht darauf, wohin, er wollte nur weg von dem Parkhaus, das massiv und dunkel hinter den kahlen Zweigen der Bäume stand. Die Musik, die ihm im Kopf herumging, passte genau zu seinen Gedanken, zu der kalten Nacht und seinem Gefühl ziellosen Umherwanderns. Winterreise. Schnee und Erstarrung und Verlorenheit. Und der Tod. Er lief durch den Stadtgraben unterhalb der Mauern, die Hände in den Manteltaschen vergraben gegen die Kälte, er lief durch das Stadtinnere und blieb vor den Schaufenstern der geschlossenen Läden stehen und starrte auf die Auslagen, aber was er sah, war immer das Gleiche. Jonas Hofer sah Schuberts Wanderer, der verloren durch die Winternacht zog.

 

Auf dem Weg nach Buchfeld zerbrach sich Pfarrer Römer den Kopf darüber, welche Familie die Galsters waren. Er hatte noch eine Weile bei Tanja Kröger gesessen und mit ihr geredet. Es schien ihr gutgetan zu haben, zuzuhören und nicht alleine nachdenken zu müssen über den Tod ihrer Tochter; doch Arno Hertz hatte eine halbe Stunde, nachdem die Polizeibeamten gegangen waren, auch ihn hinauskomplimentiert. Römer hatte sich dann noch in eines der Weißenburger Lokale gesetzt, in denen man um diese Zeit noch einen Kaffee bekommen konnte, um den Abend und seine Ereignisse Revue passieren zu lassen. Glücklicherweise war seine Frau daran gewöhnt, dass er manchmal bis spät nachts in tiefer Kontemplation oder im Gespräch mit den Leuten in einer Bar herumsaß – und dort gelegentlich seine Predigten verfasste. Nun spukte ihm der Name Galster im Kopf herum, den er einfach nicht einordnen konnte. Erst als das Taxi, das er für seine Fahrt zurück nach Buchfeld gerufen hatte, auf seinem Weg durch das Nachbardorf an der alten Bäckerei Meyrink vorbeikam, wo sie früher immer ihre Brötchen gekauft hatten, fiel bei ihm der Groschen.

 

Rainer Sailer war nicht der Einzige, der einen Kaffeebecher umklammert hielt, als sich die Polizeibeamten, die mit dem Fall »Parkhaus« betraut waren, am Morgen zur Dienstbesprechung zusammensetzten. Es war ein leicht bewölkter Donnerstag, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt und der Aussicht auf Schnee, so dass der Duft heißen Kaffees besonders willkommen war. Nur seine Kollegin Sandra Schneider kam mit zwei Päckchen Taschentüchern in der einen und einer Thermoskanne mit Ingwertee in der anderen Hand an. Rainers Vorgesetzter Thomas Beyerlein hatte ebenfalls ein warmes Tuch um seinen Hals geschlungen und sprach an diesem Morgen nur mit heiserem Flüstern. Entsprechend kurz fiel sein Anteil an der Besprechung aus, bevor er Rainer das Wort überließ und sich auf die Suche nach Halstabletten machte. Rainer räusperte sich erleichtert, als Beyerlein das Zimmer verlassen hatte. Von der Verstärkung für ihr Team wollte er in diesem Moment noch nichts sagen, weil er nicht wusste, wie die Kollegen reagieren würden. Er schilderte für diejenigen, die am Abend zuvor nicht im Einsatz gewesen waren, den Fall und ging dann zu den Details über: »Also, wir warten auf den Befund aus der Pathologie und alles, was uns die Spuren­sicherung sagen kann. Das Umfeld des Opfers müssen wir uns auch anschauen, obwohl es ja eher so aussieht, als ob wir es mit einem zufälligen Gewalttäter zu tun hätten.«

»Was hat der Chef vorhin gesagt?«, erkundigte sich ­Thors­ten Holm, der erst vor ein paar Wochen zu ihnen gestoßen war. Rainer zog die Augenbrauen hoch. »Du meinst zum Budget? Stimmt, das sollte ich noch erklären, angesichts der Finanzkrise haben wir Order von oben bekommen, den täglichen Kaffeekonsum stark einzuschränken.«

»Wirklich?«, fragte Holm schockiert und blickte in seine halbleere Tasse. »Wie soll das genau aussehen?«

Rainer bemühte sich um ein ernstes Gesicht. Der alte, dicke Kollege, mit dem Holm auf einer winzigen Polizeiwache Dienst getan hatte, ehe seine lang ersehnte Versetzung durchgegangen war, musste völlig humorfrei gewesen sein. »Na ja, Thorsten«, erwiderte er mit einem Schulterzucken, »du bist eigentlich schon über dem Limit, aber ich nehme an, du kannst Sandras Anteil haben, die ist heute auf Kräutertee.«

»Rainer! Geht das immer noch so mit deinen dummen Witzen?« Die Stimme klang ungeduldig, und sie kam von der Tür her. Die Polizeibeamten im Raum sahen erstaunt auf, als Hauptkommissarin Eva Schatz das Besprechungszimmer be­trat, noch im Mantel, in einer Hand eine Aktenmappe, in der anderen ihren Autoschlüssel.

»Äh, ja, das hat Beyerlein vorhin gemeint, als er von Verstärkung sprach«, erklärte Rainer hastig. »Die Kripo Ansbach ist zu diesem Fall hinzugezogen worden, und ich hab’ gestern schon bei KHK Schatz angefragt, ob sie wieder mit uns zusammenarbeiten würde, falls es dazu kommt. Einige von euch kennen sie ja noch vom Fall Kronauer.«

Eva Schatz ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, grüßte Gollwitzer und Sandra Schneider mit einem Nicken und sagte dann kurz angebunden zu Rainer: »Ich bin zu spät, die verdammte Baustelle vor Ansbach hat mich aufgehalten. Bin gleich einsatzbereit.« Sie verschwand, mutmaßlich in Richtung Toiletten. Die anderen blieben einen Moment lang stumm sitzen, weil sich alle ein wenig überrumpelt fühlten, dann wandte sich Friedolin Becker, der jüngste Beamte im Raum, mit einem Grinsen an Rainer: »In deinem Leben herrscht wohl zur Zeit zu viel Harmonie, eh?«

Der zuckte nur etwas ratlos die Schultern, fühlte sich aber in seiner spontanen Entscheidung vom Abend zuvor bestätigt, als Gollwitzer in seiner ruhigen Art bemerkte: »Sie ist eine gute Polizistin.«