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Roland Ballwieser

Petra Rinkes

 

Goldschlägernacht

 

Simpel und Ziegler: der zweite Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (2. Auflage 2013)

© 2012 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Johanna Cattus-Reif

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter

Verwendung einer Fotografie von © Keny/photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-316-4

 

***

Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles.

 

Gold.

Gold überall.

Eine ganze Stadt in Gold.

 

Goldschlägernacht.

 

Gold im Prosecco.

Gold im Haar.

Gold auf der Schwarzwälder Kirschtorte.

Gold auf den künstlichen Fingernägeln.

Goldene Kugeln fürs Rosenbeet.

 

Mittendrin

ein Künstler,

ein Kunstwerk –

golden.

Ein Künstlerkunstwerk in Gold.

 

 

*

»Mama, was ist das?«

»Das ist ein Kunstwerk, mein Schatz.«

»Ein Kunstwerk? Sieht aus wie zwei Schaufensterpuppen, die jemand in Kaugummipapier eingewickelt hat, in ein goldenes Kaugummipapier.«

»Heute ist Goldschlägernacht. Da ist alles golden. Schau mal, auf dem Schild da steht etwas: Die Badende. Von Ulla Winkler.«

»Da sind aber zwei, Mama!«

»Zwei was?«

»Zwei Kaugummimännchen. Da muss es doch Die Badenden heißen, mit ›n‹ am Schluss.«

»Da hast du recht. Aber das ist bestimmt Absicht. Ist eben Kunst. Da muss man nicht alles verstehen. Komm, wir gehen ein Eis essen!«

»Mit Gold oben drauf?«

»Natürlich, heute ist ja Goldschlägernacht.«

 

Ulla Winkler hatte das Gespräch zwischen Mutter und Tochter mit angehört. Sie war genauso ratlos wie die beiden. Wo kam die zweite Badende her?

Gestern Nachmittag hatte sie ihre Installation am Ufer der Schwabach aufgebaut. Und zwar mit nur einer Badenden. Dann hatte sie ihr Werk durch einen Pavillon vor neugierigen Blicken geschützt. Die offizielle Enthüllung vor einer Stunde hatte sie verpasst. Stau auf der A6. So blieb ihr wenigstens das Gesülze der selbsternannten Kunstexperten erspart. Aber was sollte sie jetzt tun? Ihr ursprüngliches Werk wiederherstellen oder alles so lassen, wie es war? Wahrscheinlich hatte sich ein Künstlerkollege diesen schlechten Scherz erlaubt. Da war es vielleicht das Beste, gar nicht zu reagieren. Oder sollte sie …

 

»Rocko, pfui! Komm sofort zurück. Bei Fuß!«

Doch Rocko hörte nicht auf sein Herrchen. Er sprang über die kleine Ufermauer, lief durch den Bach und begann, an einer der Figuren herumzuzerren. Passanten blieben stehen.

Die Goldfolie zerriss und klaffte auseinander. Rocko blieb ein großes Stück davon im Maul hängen. Vergebens versuchte er, es wieder abzuschütteln. Die Leute lachten.

Nur Ulla Winkler lachte nicht. Sie starrte auf das, was unter der Goldfolie zum Vorschein gekommen war.

Eine Schaufensterpuppe war das ganz sicher nicht.

Die Künstlerin stieß einen Schrei aus.

 

 

*

»Buenos dias, chicas! Arriba! One, two, three!«

Der braungebrannte Typ in Schlabberhose und Muskelshirt ließ seine Hüften gekonnt im Rhythmus der Musik kreisen. Die Teilnehmerinnen des Zumba-Trainings versuchten angestrengt, es ihm nachzutun. Einigen gelang es schon recht gut. Stefan Simpel nicht. Der Kommissar der Schwabacher Kripo stand in der letzten Reihe und versuchte, möglichst nicht aufzufallen. Das war nicht einfach, wenn man der einzige Mann unter 20 Frauen war. Bis auf den Vortänzer da vorne, diesen Pseudo-Latino. Bei einer polizeilichen Überprüfung würde sich wahrscheinlich herausstellen, dass er ein waschechter Franke war und Franz Meier hieß. Aber Oberkommissar Simpel war nicht hier, um den Hintergrund eines Sportlehrers zu durchleuchten, sondern er wollte trainieren. Also machte er brav weiter.

»A derecha! One, two, three!«

Es war einfach zu peinlich, dieses Herumgehopse! Aber Simpel war selbst schuld. Warum musste er auch zu spät zu seiner Spinning-Gruppe kommen! Die Trainerin hatte ihm angeboten, es stattdessen mal mit Zumba zu probieren.

»Das ist vom Trainingseffekt her fast dasselbe. Die Bewegungen kommen zum Teil aus dem Kampfsport. Das müsste dir als Polizisten doch liegen, oder?«

Deshalb stand er jetzt hier. Linker Arm hoch, rechter Arm hoch, rhythmisch mit den Füßen stampfen. Super Kampfsport! Wenigstens die Musik war okay, lateinamerikanisch, ziemlich groovy. Doch von einem intensiven Trainingseffekt spürte er bisher nichts.

»Abajo! One, two, three!«

Der Trainer ging in die Hocke und begann, mit dem Hintern zu wackeln. Auch das noch! Simpel war sicher, dass alle ihn beobachteten. Tanzen war noch nie sein Ding gewesen. Und verglichen mit diesem muskelbepackten Gummilatino besaßen seine Bewegungen die Eleganz eines Stückes Brennholz.

Am liebsten hätte er sich schnellstens verdrückt, aber der Ausgang lag auf der anderen Seite, und er hätte an allen anderen vorbeigehen müssen. Dann lieber die Zähne zusammenbeißen.

»Brincar! Un, dos, tres!«

 

Uff! Eine halbe Stunde später hatte Simpel seine Meinung geändert, zumindest, was den Trainingseffekt betraf. Seine Pulsuhr zeigte schon seit einer Viertelstunde konstant über 130 Schläge. Eigentlich zehn Pulsschläge zu viel für ein effektives Ausdauertraining. Aber für morgen hatte er einen trainingsfreien Tag geplant, da durfte er sich heute schon mal auspowern. Die Übungsteile mit den Kampfsportbewegungen gefielen ihm sogar recht gut. Wenn nur das Hüftgewackel dazwischen nicht wäre. Die Frau neben ihm schaute herüber und lächelte. Simpel lächelte gequält zurück.

»Segundo tiempo! Arriba!«

Segundo tiempo – was? Noch mal so lange? Irgendwie musste er da jetzt raus. Leider hatte er sein Handy im Spind gelassen, sonst hätte er den coolen Polizisten geben können, der zu einem wichtigen Fall gerufen wird. Vielleicht könnte er eine Verletzung vortäuschen oder …

In diesem Moment öffnete sich die Tür und sein Freund und Kollege Jochen Bauer schaute herein. Als er Simpel entdeckte, winkte er wild mit beiden Händen. Also doch die Nummer »cooler Polizist«. Simpel bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden. Der Trainer rief ihm noch ein »Ciao, Chico!« zu, und dann war die Episode »Stefan Simpel und das Zumba-Training« beendet – ein für alle Mal.

 

»Wusste gar nicht, dass zum Triathlon auch ein Tanzwettbewerb gehört?«

Jochen Bauer grinste. Simpels Ambitionen, beim International Swiss Police Triathlon mitzumachen, waren Bauer suspekt.

»Würde dir auch mal guttun, ein bisschen Bewegung«, sagte Simpel. »Drückst dich dauernd vor dem Dienstsport. Deshalb haben sie dich auch zum Bürohengst befördert.«

Er wischte sich mit seinem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht.

»Hey! Ich muss schon bitten! Du redest mit dem zukünftigen leitenden Hauptkommissar der Polizeiinspektion Rosenheim. Von so einem Posten kannst du kleiner Oberkommissar noch Jahre träumen.«

»Schon gut. Ich gönne es dir ja.«

Simpel arbeitete seit gut einem Jahr bei der Polizeiinspektion Schwabach. Er war gebürtiger Oberpfälzer, aber als junger Beamter hatte man keine Wahl. Da schickten sie einen quer durch Bayern. Deshalb saß er erst einmal in Franken fest. Jochen Bauer war einer der wenigen Freunde, die er hier gefunden hatte – und der zog jetzt weg.

»Was machst du eigentlich hier im Fitnessstudio? Bist du gekommen, um mich vor dem Gehopse zu retten?«, fragte Simpel.

Bauer schüttelte den Kopf.

»Ich bin dienstlich hier. Ausgerechnet jetzt, wo ich weggehe, kommt ein außergewöhnlicher Fall rein, vielleicht der interessanteste meiner bisherigen Laufbahn. Du musst sofort mitkommen.«

»Ein außergewöhnlicher Fall? Hier in Schwabach?«

»Genau da! Wo in den letzten zehn Jahren außer Verkehrsunfällen, Eifersuchtsdramen und Kirchweih-Schlägereien nicht viel los war. Und du bist bestimmt wieder der Glückspilz, der den Mord bearbeiten darf. Letztes Jahr die tote Kunigunde in Lauf und jetzt der goldene Tote in Schwabach.«

Der Kunigundenmord war Simpels erster Fall in Franken gewesen. Bauer und der Rest der Dienststelle hatten damals mit einer Darminfektion flachgelegen. Deshalb hatte er, der Neuling, die Ermittlungen geleitet.

»Ein goldener Toter? Wo?«, fragte Simpel und fummelte nervös den Spindschlüssel ins Schloss.

»An der Schwabach, getarnt als Kunstobjekt. Aber geh erst mal duschen, dann kannst du ihn dir selber ansehen. Manuel und Horst sind schon dort. Wir wollten doch sowieso zusammen auf die Goldschlägernacht. Nur das Bier, das können wir jetzt vergessen.«

Simpel duschte in Rekordzeit und saß fünf Minuten später im Wagen.

 

 

*

»He, Sie da! Finger weg!«

Simpel zuckte zusammen. Er war neben der Leiche in die Hocke gegangen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sie war immer noch fast vollständig von der Goldfolie bedeckt. Keineswegs hatte er vorgehabt, irgendetwas zu berühren.

Er stand auf und drehte sich um. Eine kleine Frau mit pechschwarzem, kurzgeschnittenem Haar, vielleicht Mitte fünfzig, kletterte über die kleine Ufermauer und kam auf ihn zu. Sie trug eine verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der neongelben Aufschrift Starke Frauen weinen nicht bei jedem Kratzer.

»Entschuldigung Kollege, aber keiner fasst hier was an, außer mir! Ich bin Dr. Pfeiffer, mit drei ›f‹, wie in der Feuerzangenbowle.«

Sie gab Simpel die Hand. Der stellte sich ebenfalls vor.

»Simpel, Kripo Schwabach.«

»Simpel? Das kann ich mir merken. Ist ja … simpel.«

Sie lachte trocken. Simpel ging nicht darauf ein, die beste Reaktion, wenn sich jemand über seinen Namen lustig machte.

Dr. Pfeiffer drehte sich zum Fotografen um, der ein paar Meter entfernt an einem Geländer lehnte und rauchte.

»Schluss mit der Pause! An Ihrem verfrühten Herz-Kreislauf-Tod können Sie später weiterarbeiten. Ich habe meine zwei entzückenden Nichten zu Besuch und möchte so schnell wie möglich wieder nach Hause.«

Sie schob Simpel beiseite, zog sich Einweghandschuhe an und wickelte die Leiche langsam aus. Ein winziger Stofffetzen fiel zu Boden. Sie hob ihn mit einer Pinzette auf und steckte ihn in eine kleine Plastiktüte. Die reichte sie Simpel.

»Beweisstück 12/1. Halten Sie mal!«

Simpel stutzte, kam dann aber der Aufforderung nach. Weitere Tüten folgten. Bald hatte er beide Hände voll.

Die Ärztin zeigte auf den Koffer neben ihrer Bereitschaftstasche.

»Da rein!«

Simpel wurde rot. Gehorsam packte er die Tüten in den Koffer, sorgfältig nach Nummern geordnet.

Eine Viertelstunde später war Dr. Pfeiffer fertig.

»Gut. Das war’s. Auf Wiedersehen!«

Sie tippte mit der Hand an die Stirn, und bevor Simpel reagieren konnte, war sie schon über die Mauer geklettert. Er lief ihr hinterher.

»Moment! Können Sie mir denn schon irgendetwas sagen?«

Die Ärztin musterte ihn von oben bis unten.

»Junger Mann, ohne genaue Untersuchung läuft bei mir gar nichts.«

»Todeszeitpunkt? Todesursache? Irgendein … vorläufiges Ergebnis?«

Dr. Pfeiffer atmete tief ein. Dann legte sie los.

»Das Opfer ist männlich, etwa Anfang vierzig, 182 Zentimeter groß, wiegt so um die 80 Kilo. Eine Blinddarmoperationsnarbe, relativ neu, vielleicht drei, vier Jahre alt. Der rechte Unterschenkel war einmal gebrochen, das ist aber schon vor längerer Zeit passiert. Die Zähne sind in recht gutem Zustand, lediglich ein Implantat unten links und Amalgamfüllungen in zwei Backenzähnen, links oben im Fünfer und rechts oben in der Sechs. Todeszeitpunkt nach Leichenstarre und Lebertemperatur etwa gestern Abend 18 Uhr plus minus drei Stunden. Es gibt Hinweise auf ein stumpfes Schädeltrauma. Das heißt, er hat einen tüchtigen Schlag auf den Kopf bekommen. Außerdem hat er Schürfwunden im Gesicht. Die könnten durch einen Sturz entstanden sein. Aber alles vorläufig und ohne Gewähr.«

Simpel hatte dem Redeschwall kaum folgen können. Die Frau verstand ihr Handwerk. Trotzdem konnte er sich von ihr nicht wie ein kleiner Junge behandeln lassen. Schließlich war er hier der leitende Ermittler.

»Vielen Dank, Dr. Pfeiffer. Wann kann ich mit dem fertigen Bericht rechnen? Morgen früh?«

Die Ärztin hob die Augenbrauen. Simpel ließ sich diesmal nicht einschüchtern.

»Wenn Sie es nicht so schnell schaffen, können Sie mir auch einzelne Zwischenergebnisse schicken, zum Beispiel das Zahnschema, wegen der Identifizierung.«

Die Gerichtsmedizinerin sah ihn scharf an.

»Dienstag, frühestens«, sagte sie.

»Danke, Dr. Pfeiffer. Einen schönen Tag noch und Grüße an ihre Nichten.«

Die Ärztin würdigte ihn keines weiteren Blickes und ging mit großen Schritten davon. Als sie sich den Weg durch die Schaulustigen bahnte, stieß sie mit einem Mann in einer abgewetzten Lederjacke zusammen.

»He, passen Sie doch auf!«, fuhr Dr. Pfeiffer ihn an.

»Bitte entschuldigen Sie vielmals!«, sagte der Mann und trat zur Seite. Er schaute ihr hinterher. Dann richtete er seine ungewöhnlich hellen blauen Augen wieder auf das Geschehen am Tatort.

Simpel gab den Koffer mit den Beweisstücken bei den Kollegen der Spurensicherung ab. Dort stand Bauer, der das Zusammentreffen mit der Ärztin beobachtet hatte.

»Die hat Haare auf den Zähnen, die Frau Doktor, was? Aber sie ist die beste, die wir haben. Vor drei Jahren hatte ich mal einen Fall, bei dem der Hausarzt einen natürlichen Tod bescheinigt hatte. Die Leiche war schon freigegeben, da hat Dr. Pfeiffer …«

»Entschuldigt, wenn ich die Gschicht unterbrechn muss.« Horst Vogel, der Senior im Team der Schwabacher Mordkommission, trat zu den beiden.

»Wir wissen edz, wer der Tote is. Der Ludwig und der Ron von der Schutzpolizei ham ihn erkannt, als er ausgwickelt wordn is.«

»Also wer? Mach es nicht so spannend. Muss ja eine ziemliche Berühmtheit sein, wenn ihn gleich zwei unserer Leute kennen. Oder …« Bauer wurde ernst. »Es ist doch nicht etwa ein Polizist?«

»Naa, aber berühmt is er scho. Bald wird’s hier von Presseleut nur so wimmln, des kannst glaubn. Und vo der Stadt wern auch bald welche da sein.«

»Horst! Der Name!«

»Scho gut. Der Tote is Benedict Dombrowski.«

Bauer pfiff durch die Zähne. Simpel kam der Name irgendwie bekannt vor.

»Dombrowski?«, fragte er.

»Ein berühmter Bildhauer oder so was in der Art«, sagte Bauer. »Einer der wenigen Schwabacher, die über Franken hinaus bekannt sind. Das bedeutet eine Menge Ärger. Schau, es geht schon los.«

An der Absperrung vorne an der Straße zeigte einer der uniformierten Kollegen in ihre Richtung. Bei ihm standen zwei Männer im Anzug und eine Frau im dunklen Kostüm.

 

 

*

Sonntagmittag.

Die gesamte Dienstgruppe saß im Besprechungsraum der Polizeiinspektion Schwabach und wartete auf Hauptkommissar Hertle, den Leiter der Schwabacher Kriminalpolizei.

Ein Mordfall während der Goldschlägernacht, da war es vorbei mit dem freien Wochenende. Dabei war seit ein paar Tagen endlich richtiges Sommerwetter.

Bis spät in die Nacht waren gestern alle im Einsatz gewesen. Spuren sichern, Personalien von etwaigen Zeugen aufnehmen, Neugierige zurückweisen. Den Tatort hatten sie weiträumig abgesperrt, und so hatten die meisten der 20 000 Besucher nichts von der ganzen Aufregung mitbekommen. Mittlerweile allerdings brodelte die Gerüchteküche, und die Telefone in der Inspektion standen nicht mehr still.

 

Hauptkommissar Hertle kam herein und ließ sich am Kopf des Tisches nieder.

»So, meine Herren.«

Ein Telefon klingelte im Nachbarzimmer. Hertle stand noch mal auf, schloss die Tür und setzte sich wieder.

»Wie immer gibt es genau dann eine Leiche, wenn es gerade gar nicht passt.«

Er räusperte sich.

»Also passen tut es natürlich nie, aber jetzt halt schon dreimal nicht. Der Jochen ist nur noch bis morgen Abend da, und bisher ist mir noch niemand gemeldet worden, der ihn ersetzt.«

Jochen Bauer drehte missmutig einen Bleistift in der Hand. An seinem letzten Tag dieser spektakuläre Mordfall. Der hätte ihn gereizt. Pech.

Hertle wandte sich an Simpel.

»Stefan, am besten leitest du die Ermittlungen. Du hast da ja schon Erfahrung. Horst und Manuel sind auch dabei. Sonst aber erst mal niemand.«

»Ich hoff aber, mir sin fertig mit der Sach, wenn ich mei Feier auf der Ranch mach. Bis dahin müssn wir den Mörder eingsperrt ham.«

Horst Vogel hatte nur noch zwei Monate bis zur Pensionierung. Zu seiner Abschiedsfeier auf seinem Wochenendgrundstück in Kronach war halb Schwabach eingeladen.

Hertle lachte.

»Ihr habt es gehört. Verderbt dem Horst nicht seine Feier.« Er wurde wieder ernst.

»Also, was haben wir bis jetzt?«

Simpel schaute in seine Notizen.

»Bei dem Toten handelt es sich um Benedict Dombrowski. Freischaffender Künstler, 44 Jahre alt, verheiratet. Viel mehr wissen wir noch nicht. Manuel, das ist dein Job. Schau mal, was du im Internet alles über den herausfindest.«

Manuel Küppers, das Küken im Team, war erst seit vier Monaten fertig mit der Polizeischule.

»Wird erledigt, Chef.«

Er salutierte und hätte dabei beinahe die Wasserkaraffe umgeworfen. Zwei Meter Mensch waren nicht so einfach zu koordinieren.

Simpel stellte die Karaffe ein wenig näher zu sich und fuhr fort.

»Die Leiche wurde bei einer Kunstinstallation gefunden. Diese Installation heißt Die Badende und besteht aus einer mit Goldfolie umwickelten Schaufensterpuppe, die halb im Bach liegt. Als die Installation enthüllt wurde, waren es allerdings dann zwei mit Goldfolie umwickelte Figuren. Eine davon war unsere Leiche. Was aber erst einmal niemandem aufgefallen ist.«

Vogel gluckste.

»Hat sich halt kanner traut, was zu sagn. Sonst gilt man ja glei als Kunstbanause.«

Simpel zuckte mit den Schultern und fuhr fort.

»Erst als ein Hund sich an der Folie zu schaffen gemacht hat, kam die Wahrheit ans Licht. Die Leiche muss irgendwann zwischen Freitagabend und Samstagnachmittag abgelegt worden sein. Todesursache wahrscheinlich stumpfe Gewalteinwirkung am Kopf. Da müssen wir noch auf die Gerichtsmedizin warten. Wir befragen heute noch die Anwohner. Einen toten Körper kann man ja nicht so einfach unbemerkt durch die Gegend schleppen. Ab morgen durchleuchten wir dann das persönliche Umfeld des Opfers: Familie, Kollegen und so weiter. Ihr wisst ja selbst, was zu tun ist.«

Alle nickten. Simpel verteilte die Aufgaben und alle erhoben sich.

Jochen Bauer schob seinen Stuhl unter den Tisch.

»Denkt dran, morgen nach Dienstschluss gibt es eine kleine Abschiedsfeier. Nicht vergessen, bei dem ganzen Trubel.«

 

 

*

Keiner da?

Simpel läutete noch ein Mal.

Vier Namensschilder waren neben der Tür des dreigeschossigen Mehrfamilienhauses angebracht. H. Fel-

binger-Dombrowski, F. Meisner, Lachner/Bub, B. Dombrowski.

Die Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen können, und an vielen Stellen blätterte schon der Putz ab.

Simpel läutete ein drittes Mal.

Er war mit Hanna Felbinger-Dombrowski, der Ehefrau des Mordopfers, um 11 Uhr verabredet. Eigentlich müsste sie zu Hause sein. Am Telefon hatte sie einen gefassten Eindruck gemacht. Sie hatte bereits Samstagnacht vom Tod ihres Mannes erfahren. Eine Freundin hatte sich dann um sie gekümmert. Simpel war froh, dass ihm das Überbringen der Todesnachricht erspart geblieben war.

Er stand etwas ratlos vor der verschlossenen Tür. Da öffnete sich im ersten Stock ein Fenster.

»Hallo?«, rief eine weißhaarige Dame mit resoluter Stimme.

»Wenn’S von der Zeitung sind, dann können’S gleich wieder gehn, hörn’S!«

Simpel streckte seinen Dienstausweis so weit wie möglich nach oben.

»Kommissar Simpel, Kriminalpolizei Schwabach. Ich bin mit Frau Felbinger-Dombrowski verabredet.«

Die Frau kniff die Augen zusammen und schaute skeptisch auf Simpels Ausweis.

»Sie sind also nicht von der Zeitung?«

Noch einmal musterte sie Simpel eingehend.

»Warten’S einen Moment. Ich mach die Haustür auf. Die Hanna ist in ihrem Atelier, da hört’s des Klingeln nie.«

Das Fenster schloss sich, und kurz darauf wurde die Haustür einen Spaltbreit geöffnet. Die Frau war trotz ihres Alters sehr fix.

»Zeigen’S mir den Ausweis noch mal, bitte.«

Die Frau nahm ihn in die Hand und drehte ihn mehrmals hin und her. Dabei murmelte sie: »Kann man auch fälschen, so was. Da haben’s uns erst neulich beim AWO-Senioren-Treff gewarnt.«

Gut, dass die alte Dame so vorsichtig war. Aber jetzt könnte sie ihn doch langsam ins Haus lassen, fand Simpel.

»Sie können auch in der Inspektion anrufen, wenn Sie mir nicht trauen.«

Die Frau schaute Simpel noch einmal tief in die Augen.

»Schon gut, kommen’S rein!«

Sie gab den Ausweis zurück und hielt ihm die Tür auf.

»Die Hanna ist in ihrem Atelier, hinten im Hof. Da durch die Tür. Ich glaub nicht, dass sie was arbeitet, nach dieser Geschichte, aber sie ist immer dort, wenn’s ihre Ruhe braucht.«

Sie ließ auf Simpels »Danke« ein kurzes »Scho recht« hören. Dann drehte sie sich um und stieg die knarrende Holztreppe zu ihrer Wohnung hinauf.

Simpel überquerte den Hof, klopfte an die Ateliertür und trat ein. Der Raum war ziemlich vollgestopft. Regale mit Eisenschrott, am Boden überall Wurzelstücke und Bretter in allen Größen. Auf einer Hobelbank lag ein Schweißgerät, daneben jede Menge anderes Werkzeug. Von der Frau keine Spur.

»Frau Felbinger-Dombrowski?«

Simpel wäre fast über ein Stück Eisenbahnschwelle gestolpert.

»Hier oben. Kommen Sie rauf.«

Simpel entdeckte am Ende des Raumes eine schmale Wendeltreppe, die hinauf zum Spitzboden führte. Oben staunte er nicht schlecht. Überall bunte Teppiche und Sitzkissen. Die Wände waren mit Zeichnungen übersät. Simpel erkannte den Eiffelturm, eine Ansicht von Neapel mit dem Vesuv und andere bekannte Sehenswürdigkeiten. Auf einem der Kissen saß Hanna Felbinger-Dombrowski, eine schlanke, kleine Frau mit einem Skizzenblock auf den Knien. Den Block hatte sie umgedreht, sodass Simpel nicht sehen konnte, was sie gerade gezeichnet hatte. Ihm fielen sofort ihre sehnigen Hände auf, die nicht so recht zu der sonst zarten Erscheinung passten.

Sie deutete auf eines der Kissen.

»Setzen Sie sich doch bitte. Entschuldigen Sie, ich habe die Zeit beim Zeichnen vergessen. Bestimmt hat Sie Frau Meisner hereingelassen, die Gute.«

Die Frau sprach ruhig, fast ein bisschen zu ruhig, vielleicht hatte sie Medikamente genommen. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen.

Simpel ließ sich im Schneidersitz auf dem Kissen nieder.

Eine ziemlich unpassende Haltung für eine polizeiliche Befragung.

»Frau Felbinger-Dombrowski«, begann Simpel, »ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Das muss leider sein. Wir wollen schließlich so schnell wie möglich herausfinden, was mit Ihrem Mann passiert ist.«

»Ja, natürlich. Aber es genügt, wenn Sie mich Frau Felbinger nennen. Den Doppelnamen benutze ich so gut wie nie.«

Sie faltete die Hände auf ihrem Schoß, die Sehnen traten noch deutlicher hervor.

»Frau Felbinger, können Sie mir sagen, wann Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen haben?«

»Freitagvormittag hat er mich hier im Atelier besucht, so ungefähr um 10 Uhr.«

»Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«

»Nein, danach nicht mehr.«

»Entschuldigen Sie die Frage, aber haben Sie ihren Mann denn nicht vermisst?« Simpel kam ein wenig ins Stottern. »Ich meine, sie waren verheiratet. Kam es häufiger vor, dass er über Nacht wegblieb? Oder wollte er verreisen?«

Hanna Felbinger sah ihn mit festem Blick an.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, mein Mann war Künstler. Eine Ehe im herkömmlichen Sinne hätte ihm nicht zugesagt. Wir sahen uns oft tagelang nicht. Er war dann in seinem Atelier in Lauf oder in seinem Dachstudio hier im Haus oder auch anderswo. Er hat mir das nicht immer erzählt.«

Frau Felbinger stand auf. Ihre Bewegungen waren sehr langsam, wie ferngesteuert. Sie holte zwei Gläser und eine Flasche Wasser aus einer alten Küchenanrichte. Es war ziemlich warm hier oben. Simpel nahm einen großen Schluck.

»Haben Sie denn einen Verdacht, wer Ihren Mann getötet und so zur Schau gestellt haben könnte?«

»Nein.«

»Hatte Ihr Mann Schwierigkeiten oder Streit mit irgendjemanden?«

»Er hatte immer Streit mit jemandem. Benedict war kein einfacher Mensch und lehnte Kompromisse ab. Er war ein Künstler, wissen Sie!«

»Sie sind auch Künstlerin«, sagte Simpel und deutete auf die Zeichnungen.

»Ach die! Das sind nur Erinnerungen. Andere machen Unmengen von Fotografien, ich zeichne. Mit Kunst hat das nicht viel zu tun. Das mache ich nur für mich selbst.«

»Und die vielen Schrottteile? Haben die was mit Kunst zu tun?«

»Die schon, ja. Ich stelle Plastiken her, aus alten Werkzeugen und anderen Abfallprodukten unserer Überflussgesellschaft.«

»Plastiken wie die da?«, fragte Simpel und deutete auf einen siebenarmigen Kerzenständer, der aus rostigen Schraubenschlüsseln zusammengeschweißt war.

«Eine Menora, nicht?«, sagte er.

»Ein jüdischer Kerzenleuchter, ja. Den habe ich mal für einen Freund gemacht. Aber der ist vor einem Jahr gestorben.«

Sie starrte ins Leere. Simpel ließ ihr etwas Zeit.

»Haben Sie die Verwandten ihres Mannes verständigt, oder sollen wir das machen?«

Hanna Felbinger sah auf.

»Benedicts Vater ist schon lange tot. Seine Mutter hat Alzheimer und liegt in einem Pflegeheim. Ich habe dort angerufen, aber die Ärzte glauben nicht, dass sie etwas mitbekommt. Ist vielleicht besser so.«

»Und Sie? Haben Sie Verwandte?«

»Die sich um mich kümmern könnten, meinen Sie? Nein, meine Eltern sind vor zehn Jahren tödlich verunglückt. Ich habe nur noch eine Schwester, die ist aber zurzeit irgendwo in Afrika. Wir verstehen uns nicht besonders gut und haben seit Jahren kaum noch Kontakt. Ich weiß nur, dass sie für ein Hilfsprojekt arbeitet. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe Freunde, die sich um mich kümmern.«

»Eine letzte Frage, die leider sein muss. Können Sie mir sagen, wo Sie am Freitagabend gewesen sind?«

»Freitagabend. Da war ich unten im Atelier.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Ich war allein hier. Nur Frau Meisner war auf einen Sprung da. Die alte Dame, die Ihnen die Tür geöffnet hat.«

Simpel stand auf.

»Danke, Frau Felbinger. Fürs Erste war es das. Rufen Sie mich bitte jederzeit an, wenn Ihnen etwas einfällt, was uns weiterhelfen könnte.«

Simpel gab ihr seine Visitenkarte und wischte sich über die Stirn.

Hanna Felbinger reichte ihm ein Taschentuch.

»Benedict fand immer, dass es in diesem Brutkasten im Sommer nicht auszuhalten ist. Aber mir kann es nicht warm genug sein.«

Wieder im Hof, atmete Simpel erst einmal tief durch. Seine Wohnung war nur ein paar Straßen weiter. Er würde kurz unter die Dusche springen, bevor er zurück in die Inspektion ging.

Zuerst wollte er jedoch mit Frau Meisner sprechen. Die alte Dame öffnete im selben Moment, in dem Simpel auf die Klingel drückte. Sie hatte wohl hinter der Tür gelauert.

»Der Herr Kommissar. Ja bitte?«

»Ich hätte ein paar kurze Fragen, Frau Meisner. Darf ich reinkommen?«

»Ja, freilich, kommen’S rein.«

Die alte Dame führte Simpel ins Wohnzimmer.

»Bitte nehmen’S Platz!«

Sie deutete auf ein Sofa, auf dem eine Unmenge verschiedenster Puppen drapiert waren. Simpel musste erst einige beiseiteräumen, bevor er sich setzen konnte.

»Wie lange kennen Sie die Dombrowskis eigentlich schon, Frau Meisner?«

»Also, die Hanna Felbinger …«, sie betonte den Namen Felbinger dabei besonders, »die kenne ich schon seit ihrer Geburt. Hannas Oma hat das Haus hier gehört, und ich wohne schon seit über 40 Jahren hier. Erst mit meinem Mann zusammen und seit 17 Jahren allein.«

Sie zeigte auf eine Fotografie über dem Sofa. Darauf war das Haus zu sehen, allerdings in weit besserem Zustand als jetzt. Vor dem Haus stand das Ehepaar Meisner und ein kleines Mädchen mit einem roten Dreirad.

»Das ist die Hanna. Die war als Kind viel hier bei ihrer Oma. Vor sieben Jahren hat dann Hanna das Haus geerbt, als die Babett Felbinger, also die Oma, gestorben ist. Ihre Eltern haben’s ja da schon durch einen Autounfall verloren gehabt, die Hanna und ihre Schwester Nina. Der Nina hat die Oma das Geld hinterlassen. Eine Zeit lang hat die Nina dann g’wohnt bei der Hanna und ihrem Mann, weil sie war da nämlich erst 17. Irgendwann hat’s dann einen Riesenstreit gegeben, die haben sich ja nie gut vertragen, die Felbinger-Schwestern. Eine sturer wie die andere. Um was es ging, hat mir die Hanna nie erzählt. Jedenfalls war sie dann weg, die Nina. Und Hanna war dann viel alleine, weil der Dombrowski ist dauernd unterwegs gewesen in der Weltgschicht.«

»Kannten Sie Herrn Dombrowski gut?«

»Wissen’S, man soll über Tote ja nix Schlechtes sagen, aber ich sag’s wie’s ist. Der Herr Dombrowski war ein eingebildeter Aff’. Der war gar nicht gut für die Hanna. Aber da war nichts zu machen. Sie ist immer wieder auf den Kerl reingefallen. Wir Frauen sind manchmal furchtbar blöd. Das ist auch keinen Deut besser geworden durch die Emanzipation. Mehr sag ich aber nicht, weil er ja jetzt tot ist, der Herr Oberkünstler.«

Simpel hätte gerne noch etwas mehr über das Mordopfer erfahren, verschob das aber auf ein anderes Mal. Die alte Frau wirkte aufgewühlt. Sie zupfte nervös an den Fransen eines Sofakissens herum.

Eine Frage musste Simpel aber noch stellen.

»Am Freitagabend waren Sie bei Hanna Felbinger im Atelier. Wann war das ungefähr? Können Sie sich noch daran erinnern?«

»Freitagabend? Ja freilich. Wissen’S, ich schau immer bei ihr vorbei, wenn sie im Atelier arbeitet. Ich find’s toll, was die Hanna da macht. Ich bleib dann vielleicht so eine halbe Stunde und wir ratschen ein bisschen.«

Plötzlich sah Frau Meisner ihn böse an. Sie riss jetzt ganze Wollfäden aus dem Kissen.

»Sagen’S bloß, Sie meinen, die Hanna hat den umgebracht. Jetzt sag ich Ihnen mal was, und dann hätte ich gern, dass Sie gehen. Um den Dombrowski ist’s nicht schade, und ich bin froh, dass die Hanna den endlich los ist. Aber sie hat ihn ganz sicher nicht umgebracht. Sie hat ihn ja vergöttert, den eingebildeten Deppen. Und jetzt auf Wiedersehen, Herr Kommissar.«

Simpel verließ schleunigst die Wohnung der erzürnten alten Dame. Auf der Straße drehte er sich noch einmal um. Das offene Fenster im ersten Stock schloss sich mit einem lauten Scheppern und der Vorhang wurde ruckartig zugezogen.

 

 

*

»Sind die anderen schon da, Tina?«

Hauptkommissar Hertle legte Martina Kaczmarek einige unterschriebene Berichte auf den Schreibtisch. Sie sah auf.

»Der Stefan fehlt noch. Der ist bei der Frau von dem Ermordeten, aber eigentlich müsste er bald zurück sein.«

Hertle sah sich verstohlen um, beugte sich dann zu Tina hinunter und flüsterte:

»Hast du die Flasche für den Jochen besorgt?«

Die Sekretärin nickte, öffnete einen Rollschrank und deutete auf eine Flasche Irischen Single Malt, 21 Jahre alt.

»War gar nicht so einfach zu kriegen. Ich musste extra nach Nürnberg dafür. In Schwabach bekommt man so etwas nicht, hat mein Getränkehändler gesagt.«

Sie machte den Rollschrank schnell wieder zu, denn gerade erschien Jochen Bauer in der Tür.

»Ich will euer Tête-à-Tête nicht stören, aber wir sollten mit der Besprechung anfangen. In einer halben Stunde kommt der Metzger und bringt den Leberkäse. Wir müssen schließlich feiern, dass ihr mich endlich los seid.«

Bauer ließ seinen Blick über Tinas Schreibtisch wandern. Sicher hatte das Getuschel etwas mit seinem Abschied zu tun. Da lag ein faustgroßer, rosafarbener Stein, den hatte er hier zuvor noch nicht gesehen. Er nahm ihn in die Hand, hielt ihn gegen das Licht und legte ihn dann auf Hertles Berichte.

»Ein rosa Briefbeschwerer? Meiner kleinen Tochter würde der gefallen. Den werdet ihr mir doch wohl nicht zum Abschied schenken, oder?«

Tina nahm den Stein und legte ihn wieder an seinen alten Platz. Sie blitzte Bauer entrüstet an.

»Das ist kein Briefbeschwerer, du Ignorant. Das ist ein Rosenquarz. Der ist sehr gut gegen negative Energien. Und davon gibt es hier mehr als genug.«

Sie warf Bauer einen wütenden Blick zu und drehte sich zu ihrem Computer um. Die beiden Polizisten sahen sich an. Hertle zuckte mit den Schultern.

»Da kommt Stefan. Also los. Meine Herren.«

Er machte eine auffordernde Geste. Bauer sah zu, dass er der dicken Luft im Sekretariat entkam.

 

Simpel setzte sich.

»Was habt ihr denn mit der Tina gemacht? Die schaut so giftig.«

»Der Jochen hat sich zum Abschied a bisserla in die Nessln gsetzt«, sagte Horst Vogel und schenkte sich Kaffee ein. »Die Tina hat an neuen Freund, und seitdem hat’s so komische Sachn aufm Schreibtisch und red auch anders als sonst. Aber des wird wieder, ihr werd scho sehn.«

Vogel war Vater von drei mittlerweile erwachsenen Töchtern. Er hatte schon manche Spinnerei kommen und gehen sehen.

Simpel berichtete von seinem Gespräch mit Hanna Felbinger und von der alten Frau Meisner.

»Ich habe den Eindruck, die Ehefrau steht ziemlich unter Schock. Vermutlich nimmt sie Beruhigungsmittel. Irgendwie war sie nicht so ganz da. Viel hat sie mir nicht erzählt. Da müssen wir sicher noch einmal nachhaken. Unser Toter scheint kein einfacher Mensch gewesen zu sein. Er verstand es offenbar, sich Feinde zu machen. Manuel, was hast du denn im Internet herausgefunden?«

Als Küppers sich aufrichtete, musste Vogel mit seinem Stuhl zur Seite rutschen. Er hätte sonst nicht gesehen, was sein Kollege nun mithilfe des Beamers zeigen wollte.

»Also, wenn man ›Benedict Dombrowski‹ googelt, erhält man fast eine Million Treffer. Er war schon jemand in der Kunstwelt.«

Auf der Leinwand erschien eine Edelstahlskulptur. Dahinter war ein großes Bürogebäude zu sehen.

Küppers blickte auf seine Notizen.

»Das ist eines seiner bekanntesten Werke. Es steht in Hamburg und heißt cubos. Das Gebäude gehört einer Firma, die Schiffscontainer herstellt. Das Ding hat ziemliches Aufsehen erregt, auch weil es nicht so ganz billig war. Das hat einigen Aktionären nicht gepasst. Die Kunstfachleute allerdings waren begeistert.«

Vogel rutschte mit seinem Stuhl noch ein wenig mehr zur Seite und starrte auf das Foto.

»Cubos? Und was soll des sei? In mein Garten tät ich des fei ned stelln. Schaut aus, wie wenn mei Enkel was mit alte Schachtln baut.«

»In deinen Garten könntest du dir so was bestimmt nicht stellen. Die Skulptur kostete 280 000 Euro. Nur damit ihr eine Vorstellung habt, in welcher Liga unser Toter gespielt hat.«

Küppers fühlte sich sichtlich wohl in seiner neuen Rolle als Kunstsachverständiger.

»Dann war Dombrowski also ziemlich reich?«, fragte Simpel dazwischen. »Warum hat er dann mit seiner Frau in dem alten Haus in Schwabach gewohnt und nicht in einer Villa?«

»Na ja, so reich scheint er in letzter Zeit nicht mehr gewesen zu sein. Die cubos sind von 2003. Da hat Dombrowski in New York gewohnt und nicht in Schwabach. In den letzten fünf Jahren hat er nichts so großes mehr gemacht. Ich habe zumindest nichts mehr gefunden. Aber ich bin auch noch nicht fertig mit meinen Recherchen.«

Simpel nickte.

»Gut Manuel, mach da weiter. Vielleicht kommt noch mehr Interessantes zum Vorschein.«

Er schaute Jochen Bauer an. Der war schließlich immer noch der Ranghöhere.

»Wenn du einverstanden bist, Jochen«, fügte er hinzu.

»Hey, du hast hier das Kommando. Ich bin praktisch schon weg. Mach einfach weiter. Ich muss mich jetzt um das Essen kümmern. Der Metzger ist gerade gekommen. Schaut, dass ihr hier schnell fertig werdet.«

Bauer stand auf und verließ den Besprechungsraum. Der Duft von warmem Leberkäse schwappte in den Raum. Der Rest des Meetings verlief daher sehr zügig.

Horst Vogel berichtete von den Ergebnissen der Spurensicherung.

Die Leiche war erst nachträglich an den Fundort gebracht worden. Es gab Schleifspuren von der Straße bis zu dem Pavillon mit der Badenden. Von den Anwohnern hatte niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt. An den Tagen vor der Goldschlägernacht wurde in der ganzen Altstadt gearbeitet, auch abends. Jemand, der einen Sack oder eine Kiste herumtrug, fiel da nicht weiter auf.

Bei der Goldfolie, mit der der Tote umwickelt gewesen war, handelte es sich um Geschenkpapier, ein Allerweltsprodukt.

»Die gibt’s überall, auch in der Metro und beim Obi. In die Wochn vor der Goldschlägernacht ist die viel gekauft wordn. Überall hams was eingwickelt. Weinflaschen, Blumenkästen oder glei ganze Schaufenster«, erklärte Vogel.

»Oder eben eine Leiche«, ergänzte Simpel.

»Genau. Des war’s dann auch scho. Im Labor arbeiten’s noch an a paar andere Sachn. Des kann aber noch a weng dauern«, schloss Vogel seine Ausführungen.

Hauptkommissar Hertle erhob sich.

»Dann wollen wir den Jochen mal nicht länger warten lassen. Sonst wird der Leberkäs wirklich noch kalt.«

Er drehte sich zur Tür, da fiel ihm noch etwas ein.

»Ach Stefan, Dr. Pfeiffer hat angerufen. Sie bittet dich, am Mittwoch um 9 Uhr zur Obduktion vom Dombrowski zu kommen.«

»Na dann, Mahlzeit!«, sagte Simpel und folgte den anderen zu Jochen Bauers Abschiedsfeier.