Die Drei Fragezeichen
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und die flüsternden Puppen

erzählt von André Minninger

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung: eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan.

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14733-7

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Eine Leiche im Sessel

Die Frau saß im Sessel und ihre Augen blickten ausdruckslos ins Leere. Sie war etwa siebzig Jahre alt und ihr faltiger Hals wurde von einem geblümten Seidenschal verdeckt, der stramm zugezogen und an den Enden fest verknotet war.

Justus warf die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.

»Sie ist tot, richtig?«, mutmaßte Bob und sah seinen Freund fragend an.

Justus nickte stumm.

»Aber wer kann das getan haben?«

Justus sagte noch immer nichts.

»Erwürgt zu werden stelle ich mir schrecklich vor«, fuhr Bob fort. »Aber Mrs Yellow hat es ja wirklich darauf angelegt, ihren Widersacher aus der Reserve zu locken.«

»Das ist noch lange kein Grund, einen Mord zu begehen«, brach Justus sein Schweigen und wandte seinen Blick von der Frauenleiche ab. Ihr Kopf war nach hinten gesackt. Der Mund stand halb offen. »Aber die vorrangige Frage, die sich mir stellt, ist: Woher hatte der Mörder den Schlüssel und damit überhaupt erst die Gelegenheit, die Leiche hier in diesen Sessel zu setzen?«

»Leiche! Leiche!«, krächzte der Papagei neben den beiden Jungs im Käfig und flatterte dabei aufgeregt mit den Flügeln.

»Halt den Schnabel, Blacky!« Justus warf dem Vogel einen strengen Blick zu.

Bob erschauerte bei dem Gedanken und hatte plötzlich das Gefühl, dass die Verstorbene jedes Wort, das er mit Justus wechselte, hören konnte. Er wusste natürlich, dass dieser Gedanke völlig absurd war …

»Wieso glaubst du denn, dass der Mörder sie nicht hier direkt in diesem Sessel stranguliert hat?«

»Weil der Körper der Leiche bereits erkaltet ist und wir beide eben nur kurz bei Mr Hope waren, um anhand seines Alibis zu überprüfen, ob er als Dieb von Mrs Yellows Halskette infrage käme.«

»Richtig«, musste Bob eingestehen. »In dieser kurzen Zeit hätte ihr Körper nicht so schnell erkalten können. Wer, glaubst du denn, ist es gewesen, Just?«

Der Erste Detektiv zupfte nachdenklich an seiner Oberlippe. »Es kann nur Mr Hope junior gewesen sein.«

»Ihr einziger Enkel, Just? Wie kommst du ausgerechnet auf ihn? Aber bevor du mir diese Frage beantwortest: Sollten wir nicht besser als Allererstes die Polizei verständigen?«

»Auf keinen Fall, Bob!« Justus machte eine abwehrende Handbewegung. »Nicht bevor wir wissen, wie der Mörder mit der Leiche hier reingekommen ist. Wenn erst die Spurensicherung anrückt, haben wir hier nichts mehr zu melden und werden letztendlich nur noch als Zeugen befragt. Aber gib mir noch zwei Minuten, dann habe ich den Trick durchschaut und wir können den Fall als geklärt zu den Akten legen.«

»Na, dann leg dich mal ins Zeug, Erster. Denn lange will ich mir die Tote nicht mehr ansehen müssen. Und wenn Peter hier gleich antanzt, wird ihm das auch nicht besonders gefallen. Er steht zwar auf Zombie-Filme, aber diese Oma hier im Sessel –« Plötzlich zuckte Bob unwillkürlich zusammen. »Just!«

»Was hast du, Bob?«

»Die … die Augen der Frau …«

»Was ist damit?«

»Die … die haben eben einmal kurz geblinzelt. Ich bin mir ganz sicher!«

Justus reagierte sofort und blickte der Toten in ihre starren Augenhöhlen. Nach einigen Sekunden war er sich jedoch sicher, dass sein Freund sich getäuscht haben musste. »Da regt sich nichts mehr, Bob. Aber vielleicht sollten wir jetzt doch besser die Polizei verständigen und –«

»Just! Sie sieht uns an!«

In dieser Sekunde fuhr eine Bewegung durch den Körper der alten Frau und ihr zahnloser Mund begann sich langsam zu öffnen. »Ja, ich sehe euch an …« Speichelfäden wurden sichtbar, die sich zwischen ihren Lippen langsam in die Länge zogen. Und dann erhob sich die Untote ächzend aus dem Sessel. »Ihr habt wirklich gedacht, meinem Mörder auf die Schliche gekommen zu sein, wie?« Ein unheimliches Kichern entwich ihrer Kehle. »Wenn ihr euch da mal nicht getäuscht habt … Denn jetzt beschwöre ich Nadine Cross, die Herrin der Untoten, euch zu vernichten!« Mit großer Geste hob die Untote ihre Arme in die Höhe und nuschelte eine unverständliche Beschwörungsformel vor sich hin, woraufhin sich um ihre knöcherige Gestalt eine dichte Nebelwand bildete.

Plötzlich vernahmen die beiden Jungen hinter sich eine Bewegung und eine Hand legte sich auf Bobs Schulter. Zu Tode erschrocken fuhren sie herum.

Justus brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln, doch dann atmete er erleichtert auf. »Peter! Wir haben dich gar nicht kommen hören!«

Verstört warf der Zweite Detektiv einen Blick auf den Computermonitor, auf dem in Großaufnahme gerade das Gesicht einer Teufelsfratze erschienen war, dessen verbrannte Haut an die zerlaufene Oberfläche einer Käsepizza erinnerte.

»Seid ihr mit eurem Krimispiel noch immer nicht durch?«, fragte er belustigt und pfefferte seine Sporttasche mit Schwung auf den leeren Sessel der Zentrale.

Die Zentrale der drei Detektive befand sich in einem alten Campingwagen, der versteckt unter einem riesigen Haufen Gerümpel auf dem Schrottplatz des Gebrauchtwarencenters T. Jonas den Jungen als Unterschlupf diente. In diesem Wohnwagen befand sich alles, was für die Ermittlungen des erfolgreichen Trios von Nutzen war: vom Telefon und einem Rechner mit Internetanschluss über ein Fotolabor mit Dunkelkammer bis hin zu dem kompletten Aktenarchiv all ihrer bisher gelösten Fälle.

Mit einem schnellen Handgriff schaltete Justus das ›Mörderspiel‹ auf Pause. »Wir dachten gerade, dem Würger mit Logik auf die Spur gekommen zu sein, Zweiter. Doch dann musste ich zu meiner Enttäuschung feststellen, dass es sich die Programmierer des Spiels mal wieder einfach gemacht haben und statt einer realen Erklärung einen billigen Dämon aus dem Hut zaubern, der die ganze vorangegangene Geschichte ad absurdum führt. In den zahlreichen Rezensionen, aufgrund derer ich dieses Spiel aus dem Netz heruntergeladen hatte, war davon nicht das Geringste zu lesen. Logik ade – und schade um die sinnlos vertane Zeit.«

»Dito, Erster«, entgegnete Peter. »Meinen Vormittag hätte ich auch klüger nutzen können. War ebenso die totale Zeitverschwendung!«

»Häh?« Bob stutzte. »Wie meinst du das?«

»Unser werter Zweiter hat doch heute das Angebot wahrgenommen, das kostenlose Probetraining in dem Fitnessstudio zu absolvieren, das in Hollywood letzte Woche neu eröffnet hat«, rief Justus seinem Freund ins Gedächtnis zurück. »Hast du das etwa schon wieder vergessen?«

Bob rümpfte verächtlich die Nase. »Ach, diese Einladung von dem Schickimickiclub, die gestern per Wurfsendung in unserem Briefkasten steckte? Da bist du tatsächlich hingegangen?«

Peter deutete verächtlich auf den Computerbildschirm.

»Wer bestimmt eigentlich, was im Leben sinnvoll ist und was nicht?«

Justus grinste breit. »Also, wenn du deine kostbare Zeit mit Hanteltraining im Fitnessclub verbringst, dürfen Bob und ich doch wohl auch mal etwas Nutzloses tun, was der Entspannung dienlich ist, oder?«

»Auch mal etwas Nutzloses tun?« Der Zweite Detektiv streifte empört seine Jacke ab. »Sportliche Ertüchtigung ist ja wohl etwas anderes, als auf seinem Hintern vor dem Monitor zu sitzen und virtuelle Pseudofälle zu lösen! Aber in diesem Fall war das auch eher Pseudosport. Der Trainer in dem Fitnessstudio war eine totale Schnarchnase und konnte mir keine einzige Übung zeigen, die ich nicht ohnehin schon kannte.«

»Dann hast du also keinen Mitgliedsvertrag unterzeichnet«, versuchte Bob, das Gespräch wieder in unverfängliche Bahnen zu lenken. »Just und ich hatten schon die Vermutung, du hättest ein neues Ertüchtigungszentrum gefunden und würdest der Detektivarbeit in Zukunft noch weniger Zeit widmen können.«

Peter winkte grinsend ab. »Wo denkt ihr hin? Die Mitarbeiter waren natürlich sehr erpicht darauf, mich als neues Mitglied zu gewinnen, aber die Konditionen in dem Club sind alles andere als günstig. Aber apropos gefunden: Als ich aus dem Fitnesscenter kam, hab ich auf dem Parkplatz, wo ich mein Fahrrad angeschlossen hatte, etwas entdeckt, was offenbar jemand verloren hat.«

»Und das wäre?«

»Abwarten, Bob!« Mit großer Geste fasste Peter in seine Hosentasche und zog daraus zwei Gegenstände hervor, die er neben die Tastatur des Rechners legte.

Justus’ Aufmerksamkeit war geweckt. »Ein alter Walkman mit Kopfhörern? So etwas begegnet einem heutzutage doch ausgesprochen selten.«

»Cool, oder? Eigentlich hätte ich die beiden Teile gleich beim Empfang des Sportstudios wieder abgegeben, denn mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hat sie ja jemand verloren, der auch in dem Club trainiert.«

»Ach!? Und was hat dich davon abgehalten?«, fragte Bob.

»Die Tatsache, dass mich die Neugier überkam, welcher Inhalt in dieser Antiquität steckt, und ich nur mal ganz kurz reingehört habe, was auf der Kassette drauf ist!«

Justus stutzte. »Und was ist darauf zu hören?«

»Der absolute Knaller!« Der Zweite Detektiv strahlte über das ganze Gesicht. »Sozusagen die Erhörung meiner Gebete!«

Während Bob und Justus ihren Freund entgeistert ansahen, begann Peter den Kassettenrekorder mithilfe eines Kabels an die Musikanlage anzuschließen, schaltete die Anlage an und drückte dann die Play-Taste des Walkmans. Gleich darauf erklangen aus den Aktivboxen die hämmernden Beats eines Musikstückes, das Justus und Bob noch nie gehört hatten. Irritiert blickten sie sich an.

»Ist das nicht der Hammer?« Peters linkes Knie begann im Takt der Musik mitzuwippen.

»Und was hat es mit diesem Stück auf sich?«, fragte Justus höflich interessiert.

Peter strahlte über beide Mundwinkel. »Diese Nummer habe ich letzte Woche beim Joggen im Radio gehört! Aber ich habe weder herauskriegen können, wie das Stück heißt, noch, von wem es stammt. Jetzt habe ich zumindest die Möglichkeit, es mir zu kopieren, bevor ich den Walkman und die Kopfhörer beim Sportstudio abgebe.« Begeistert summte er die Melodie mit. »Auf alle Fälle hat die- oder derjenige, der das Ding verloren hat, einen hervorragenden Musikgeschmack! Und bevor ich den Walkman zurückbringe, will ich auch noch hören, was sonst auf der Kassette drauf ist!«

Peter drückte auf Forward und dann wieder auf Play. »Dieses Stück kennen wir ja alle! In the Middle of the Night

Bob verzog verständnislos das Gesicht. Ganz offensichtlich traf die Musik nicht ganz seinen Geschmack. Er streckte die Hand nach dem Lautstärkeregler aus, um sie etwas leiser zu drehen. »Dieses Stück ist entsetzlich! Mal ganz davon abgesehen, dass es sich dabei um das Lieblingsstück unseres Erzfeindes handelt.«

Doch Peter hielt ihn zurück und drehte stattdessen den Lautstärkeregler höher. »Dass Skinny Norris auch auf diese Nummer steht, ist leider nicht zu ändern, Bob. Aber du würdest Tante Mathildas Kirschkuchen ja auch nicht plötzlich von der Speisekarte streichen, wenn sich zufällig herausstellte, dass es sich dabei auch um Skinnys Leibspeise handelt!«

»Kirschkuchen ist nicht gleich Kirschkuchen«, ergriff der Erste Detektiv sofort Partei für seine Tante. »Und mir würde keine Situation einfallen, in der Skinny an das Rezept herankommen sollte und –«

In diesem Moment brach die Musik schlagartig ab. Stattdessen war aus den Lautsprechern ein leises Scheppern zu hören. Dann ertönte der entsetzte Aufschrei eines offenbar jungen Mädchens.

»Nein! Lassen Sie mich! Ich …« Die übrigen Worte wurden erstickt, so als hätte sich ihr eine Hand auf den Mund gepresst.

»Maul halten! Keine Wort!«, ertönte stattdessen die krächzende Stimme eines Mannes mit spanischem Akzent. »Sonst du meine Messer spüren!«

Dann hörte man, wie ein Auto heranfuhr. Mit quietschenden Reifen kam es zum Stehen. Eine Wagentür klappte. Das leise Wimmern des Mädchens entfernte sich. Wieder klappten Wagentüren. Sekunden später preschte das Auto davon.

Die drei Detektive sahen sich fassungslos an und lauschten gespannt den Geräuschen aus den Lautsprechern. Doch außer dem leisen Rauschen des Windes und dem entfernten Straßenverkehr war nichts mehr zu hören …

Bianca

Bob war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Was … was war das denn? Was hatte das zu bedeuten? Kann mir das mal einer erklären?«

»Spul noch mal zurück, Zweiter«, bat Justus und zupfte dabei aufgeregt an seiner Unterlippe.

Peter folgte der Aufforderung und einige Sekunden später erklang wieder In the Middle of the Night. Dann brach die Musik erneut abrupt ab und die rätselhafte Szene ertönte.

Als sie zu der Stelle kamen, an der das Auto weggefahren und nur noch der Verkehr und das Rauschen des Windes zu hören waren, gab Justus Peter ein Zeichen, die Aufnahme zu stoppen.

»Sagt mal, Freunde, ist da wirklich das vorgefallen, wonach es sich angehört hat?« Verstört blickte Bob abwechselnd zu Justus und Peter.

»Da gibt es wohl keinen Zweifel«, erwiderte Justus nachdenklich.

Peter schauderte. »Wollt ihr etwa damit sagen, dass dieses Mädchen – oder die junge Frau – von den beiden Männern entführt wurde?«

»Zu fünfzig Prozent würde ich deiner Schlussfolgerung zustimmen, Zweiter. Doch warne ich vor der vorschnellen Vermutung, dass es sich bei dem Fahrer des Wagens ebenfalls um einen Mann gehandelt haben könnte. Außerdem müssen wir noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass vielleicht ein dritter Entführer beteiligt ist.«

Bob griff nach den Kopfhörern, die Peter ebenfalls am Tatort gefunden hatte, und setzte sich auf die Lehne des Ohrensessels. »Nun lass doch die Wortklauberei, Justus. Da wurde eine junge Frau entführt! Was spielt es da denn momentan für eine Rolle, wie viele Personen sich in dem Fahrzeug befunden haben?«

»Das sehe ich genauso!«, stimmte Peter zu. »Meines Erachtens sollten wir sofort Inspektor Cotta verständigen und ihm umgehend die Aufnahme zukommen lassen! Wer weiß, was diese Männer mit dem Mädchen vorhaben oder ihr sogar schon angetan haben!?«

Der Erste Detektiv blieb auffallend gelassen. »Nun mach mal nicht gleich wieder die Pferde scheu, Zweiter. Selbstverständlich werden wir uns augenblicklich der Sache annehmen. Aber solange nicht geklärt ist, ob es sich bei der Aufnahme auf dem Walkman tatsächlich um eine echte Entführung handelt, sollten wir uns keinesfalls auch nur im Ansatz eine Blöße geben. Wir laufen hier durchaus Gefahr, uns vor dem Inspektor womöglich gehörig zu blamieren.«

»Bitte?!« Peter glaubte, sich verhört zu haben, und blickte Justus verwundert an. »Was meinst du denn damit?«

»Das wüsste ich jetzt aber auch gern, Erster. Wie kommst du denn auf den Gedanken, dass diese Entführung nicht echt sein könnte?«

»Nun, echt war vielleicht nicht ganz der treffende Ausdruck, Kollegen. Aber kam euch denn nicht zumindest mal kurz in den Sinn, dass es sich bei der Aufnahme vielleicht nur um den Ausschnitt aus einem ganz banalen Hörspiel handeln könnte?«

»Ein Hörspiel?« Bob sah seinen Freund verstört an. »Wie um alles in der Welt kommst du denn darauf, Just?«

Der Erste Detektiv ließ sich wieder in den Sessel sinken und deutete mit der Hand zu der Musikanlage hinüber. »Ich gebe ja zu, dass diese Theorie etwas abwegig ist, aber noch abwegiger erscheint mir, wie ausgerechnet auf diesem Walkman die Liveaufnahme einer leibhaftigen Entführung zustande gekommen sein soll.«

»Also, jetzt muss ich mich aber über deine mangelnde Kombinationsgabe wundern, Justus«, gab Peter in fast patzigem Tonfall von sich. »Liegt das nicht auf der Hand?«

»Für mich nicht, Zweiter«, entgegnete Justus. »Aber es würde mich natürlich brennend interessieren, welche Theorie du für diesen doch recht sonderbaren Vorfall parat hast.«

»Dazu braucht man sich doch nur in die Besitzerin dieses Walkmans hineinzuversetzen.« Peter nahm Bob die Kopfhörer aus der Hand und steckte sie sich zur Demonstration in die Ohren. »Nehmen wir einmal an, das Mädchen kommt gerade aus dem Studio und will zu ihrem Fahrrad. Sie hat die Kopfhörer auf, aus denen dieses Musikstück erklingt, das wir eben gehört haben. Die beiden Entführer warten unbemerkt in ihrem Wagen auf dem Parkplatz, und bis auf ihre Zielperson ist der gerade menschenleer. Also der ideale Zeitpunkt, zuzuschlagen. Der Beifahrer steigt aus und nähert sich dem Mädchen. Sie, noch immer im Bann der Musik, wird von hinten gepackt und herumgerissen. Vor ihr steht ein Kerl, wer weiß, vielleicht sogar maskiert, und ihr wird schlagartig klar, was der Fremde mit ihr vorhat.« Peter sah seine beiden Freunde fragend an. »Na, klingelt es jetzt bei euch?«

»Moment … Moment mal! – Aber ja doch!« Bobs Augen begannen aufgeregt zu funkeln. »Ihr kommt instinktiv die rettende Eingebung! Sie drückt geistesgegenwärtig auf die Aufnahmetaste ihres Walkmans und lässt ihn dann im Handgemenge zu Boden fallen …«

»… sodass derjenige, der früher oder später das Gerät auf dem Parkplatz findet, anhand der Aufnahme wissen wird, was geschehen ist«, führte Justus Bobs Gedankengang zu Ende.

»Und ich fresse einen Besen, wenn es nicht so gewesen ist!« Peter nahm die Kopfhörer wieder aus den Ohren und wandte sich an Justus. »Wie sieht’s aus, Leute? Ich schlage vor, wir machen uns sofort auf den Weg zum Fitnesscenter.«

»Genau. Mit Walkman und Kopfhörern«, warf Bob ein. »Mit etwas Glück treffen wir dort beim Empfang auf jemanden, der uns sagen kann, wer diese beiden Teile heute bei sich hatte. Schließlich ist gerade dieser alte Walkman ja alles andere als unauffällig!«

»Das hört sich vernünftig an«, sagte Justus. »Wenn du dich bitte vorher noch wie abgemacht um den Kühlschrank kümmerst, Peter! Wir haben ihn abgetaut und du räumst ihn wieder ein! Das wolltest du eigentlich schon heute Vormittag erledigt haben … Ich möchte nachher meinen Durst mit einem eisgekühlten Schluck löschen!«

Peter grinste verlegen. »Schade, das hätte ich jetzt glatt vergessen … Aber klar, versprochen ist versprochen!«

Mit diesen Worten machte er sich daran, die Limonade wieder in den Kühlschrank zu stellen.

Justus nahm währenddessen nachdenklich den Walkman in die Hand, spulte die Kassette zurück und ließ die Aufnahme der vermeintlichen Entführung noch einmal ablaufen. Wieder ertönte der gellende Schrei des Mädchens aus den Lautsprechern.

Beklommen zog Peter den Ärmel seines Sweatshirts hoch und deutete auf seinen nackten Arm. »Seht euch das an: Ich kriege Gänsehaut, Freunde … Und ehrlich gesagt wünsche ich mir nichts mehr, als dass es sich bei dieser Aufnahme doch nur um ein Hörspiel handelt …«

Die neu eröffnete Filiale der Fitnesskette Body Talk befand sich mitten am Sunset Boulevard, Hollywoods berühmter Haupt- und Vergnügungsstraße. Hier reihte sich eine Edelboutique an die andere, hin und wieder unterbrochen von schicken Restaurants. Jetzt, am späten Nachmittag, herrschte reger Betrieb. Menschenmassen drängten sich in den Geschäften und auf den Bürgersteigen, als gäbe es dort etwas umsonst. Doch selbst für ein Foto, für das man auf der berühmten Straße mit einem Darth-Vader-, Batman- oder Marylin-Monroe-Double posieren konnte, musste man tief in die Tasche greifen.

Eine angenehme Ausnahme bildete der Parkplatz des Fitnesscenters, der sich auf einem Hinterhof befand, den man durch eine schmale Einfahrt erreichte. Denn abgesehen von ein paar Autos und Fahrrädern, die hier abgestellt waren, war der Parkplatz leer.

Als die drei Detektive aus Peters MG gestiegen waren, blickte sich Bob prüfend um und machte ein ernstes Gesicht.

»Es ist schon unheimlich, Freunde. Hier auf dem Parkplatz ist es einsam wie auf einem Friedhof, während sich nur fünfzig Meter von uns entfernt dichte Menschenmassen auf den Straßen drängen. Also wenn ich planen würde, einen Menschen zu entführen, würde ich auch diesen Ort wählen. Nicht ein einziges Fenster, nur Betonwände mit Reklametafeln. Und selbst eine Kamera scheint es nicht zu geben.«

Peter deutete zu den Fahrradständern und lief einige Meter voran. »Dort hatte ich mein Mountainbike angeschlossen. Und hier an dieser Stelle lag der Walkman mit den Kopfhörern auf dem Boden.«

Justus trat näher und blickte zur Toreinfahrt hinüber. »Also jetzt, da wir uns am Ort des Geschehens befinden, setzt sich die Szene wie ein Puzzlespiel in meinem Kopf zusammen, Kollegen. Der Wagen der Entführer muss dort rechts neben der Einfahrt geparkt haben, während das Mädchen gerade auf dem Hin- oder Rückweg vom Sportcenter war.«

»Wenn, Justus …«, gab Bob zu bedenken. »Noch ist ja nicht geklärt, ob sie auch tatsächlich dort trainiert hat.«

»Aber das werden wir schon gleich in Erfahrung bringen.«

»Dann lasst uns jetzt zur Rezeption gehen«, forderte Peter seine Freunde beklommen auf. »Denn solange wir keine Klarheit darüber haben, was es mit dieser gruseligen Tonaufnahme auf sich hat, werde ich nachts bestimmt kein Auge mehr zukriegen.«

»Einverstanden«, sagte Bob und ließ noch einmal seine Blicke durch den gesamten Hinterhof gleiten. »Zu dumm auch, dass sich der Eingang zu diesem Fitnessclub vorne an der Straße befindet. Die Chance, dass vielleicht noch ein Mitarbeiter oder Gast Augenzeuge dieser … na ja … ›vermeintlichen‹ Entführung sein könnte, steht somit quasi bei null.«

»Jetzt kommt!« Peter wandte sich zum Gehen und eilte zielstrebig durch die Hofeinfahrt. Justus und Bob folgten ihm und kurze Zeit später betraten sie durch die Drehtür das Sportstudio, an dessen Außenfassade in blauen Neonbuchstaben der Schriftzug Body Talk leuchtete.