„Listen to the silence, let it ring on

Eyes, dark grey lenses, frightened of the Sun

We would have a fine time living in the night

Left to blind destruction, waiting for our sight

Sight



We would go on as though nothing was wrong

Hide from these days, we remain all alone

Staying in the same place, just staying out the time

Touching from a distance, further all the time“


(Joy Division)




www.edition.subkultur.de

Michael Schweßinger

Michael Schweßinger wurde 1977 geboren, lebte in Tansania, Irland und vielen anderen Orten, aber meistens in seinem Kopf. Manchmal kommt er raus und schaut sich die Welt an, schreibt Geschichten darüber und liest diese dann vor. Daneben studierte er Afrikanistik und Ethnologie, buk als Bäcker unzählige Brote, verlegte Bücher und machte tausend andere Dinge, die man teilweise in seinen Büchern nachlesen kann.

Er ist Gründungsmitglied der Leipziger Lesebühne Schkeuditzer Kreuz, die sich monatlich im Kulturcafe Plan B trifft und er ist seit Sommer 2013 Autor bei Subkultur/ Periplaneta. Bisher sind hier von ihm folgende Kurzgeschichtensammlungen erschienen:

„Gedanken an die Dämmerung“,

„In Darkest Leipzig“,

„Von Seemännern und anderen Gestrandeten“,

„Vaterland ist abgebrannt“.

Michael Schweßinger





IN DARKEST LEIPZIG



Über die seltsamen Sitten
und Gebräuche der Lindenauer




inkl. Stadtapokalypsen




edition.subkultur

MICHAEL SCHWESSINGER: „In Darkest Leipzig“

Über die seltsamen Sitten und Gebräuche der Lindenauer
inkl. Parklandschaften und Stadtapokalypsen

Redigierte & überarbeitete Auflage, März 2014, Edition Subkultur Berlin

© 2014 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin, www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Projektassistenz: Sarah Strehle

Cover: Corwin von Kuhwede (www.vonkuhwede.de)
Autorenbild: Christian Haubold (www.christianhaubold.com)

Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-943412-12-3
epub ISBN: 978-3-943412-61-1
E-Book-Version 1.3



Einflussgebende Literatur:

Anonymes Komitee: Der kommende Aufstand

Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte

Jünger, Ernst: Der Waldgang

Pessoa, Fernando: Das Buch der Unruhe

Reuter, Jerome: Die Ästhetik der Herrschaftsfreiheit

Rilke, Rainer Maria: Duiniser Elegien

Thoreau, Henry David: Walden

Novalis: Hymnen an die Nacht

Lindenau überrollen!

Gestern las ich in einem Buch,

dass 36-jährige Männer,

wenn sie von ihren Frauen verlassen werden,

gerne mal aus dem Fenster springen.

Dass Frauen gleichen Alters

sich gerne einen anderen Mann nehmen

und dass es Orte auf dieser Welt gibt,

wo es still ist.

Wo der Herzschlag wie eine staubige Basssaite

zur Umkehr ruft – zur Innensicht,

zur Begegnung mit sich selbst.

Lindenau ist ganz bestimmt kein solcher Ort.

Lindenau ist laut und fies

und böse – in Lindenau tragen

die jungen Versager keine T-Shirts,

dafür Sixpacks und Tribal-Tattoos.

Sie sind ferngesteuert und ficken sich gegenseitig

für ein paar Gramm Heroin in den Arsch.

Die Wände schreien Talkshowszenen auf die Straßen.

Die Fenster haben dieses grauweiße, schlierige Schimmern,

das trotz wöchentlicher Reinigung

von familiären Katastrophen erzählt.

Hier schlägt man sich

und hier vögelt man sich die Langeweile in die Nächte.

Wer hier lebt, trägt Trauer,

erfährt sehr früh, was es heißt,

zur vergessenen Generation zu gehören.

Lindenau ist ein moosgrüner Haufen Kotze

kurz neben dem Herzen der Stadt.

Eine 24-stündige TV-Beschallung

aus der Discounterecke: Friss, was du bekommst

und halt die Schnauze – schau weg.

Wenn die Bierflaschen fliegen

und der NPD-Wähler seine Kamera

für die Josephstraße neu justiert.

Hier hat keiner mehr ein eigenes Leben,

aber jeder einen Hund zu Hause.

Gestern hörte ich im Radio,

dass Bomben auf Kinder geworfen werden

weil sie das verfickte Pech hatten,

im falschen Land geboren zu sein.

Ich schaue aus meinem Fenster

und warte auf die Flugzeuge!

Volly Tanner

Vorwort

Die folgenden Aufzeichnungen beruhen auf einer zwölfmonatigen Feldforschung in Leipzig-Lindenau. Ermöglicht wurde diese Arbeit größtenteils durch die finanziellen Zuwendungen des BAföG-Amtes der Universität Leipzig, an der ich zu dieser Zeit als Student der Afrikanistik und Ethnologie eingeschrieben war. Der geneigte Leser wird sich vielleicht fragen, was denn diese Studiengänge mit einem Leipziger Stadtteil zu tun haben und ich darf vorwegnehmen: jede Menge.

Zumindest trifft dies auf die Ethnologie zu, die es sich ja zur Aufgabe gemacht hat, das Fremde und Exotische unter die Lupe zu nehmen, um es in die eigene Kultur zu transkribieren.

Als ich im Herbst 2004 von einem längeren Afrikaaufenthalt aus Tansania zurückkehrte, beschlossen meine Freundin und ich – aus Gründen, die uns später in vielerlei Hinsicht schleierhaft erschienen – unsere damalige Wohnung im Leipziger Süden aufzugeben und nach Lindenau zu ziehen. Als wir dieses Vorhaben wenig später in die Tat umsetzten, ahnte ich noch nicht, dass hinter den Pforten dieses Viertels eine ethnologische Goldgrube auf mich wartete, die sich mir schon bald wie Ali Babas Sesam öffnen und in ihren schillernden Farben und Formen entgegenfunkeln sollte. Hatte ich lange Zeit geglaubt, dass die kulturelle Ferne auch etwas mit geographischer Entfernung zu tun haben müsse und sich erst nach tausenden Flugkilometern an meine Seite gesellen würde, so musste ich nach meiner Rückkehr erstaunt feststellen, dass ich in Afrika nur das Präludium erlebt hatte, denn die Lindenauer erschienen mir schon bei meinen ersten, zaghaften Vorstößen noch viel exotischer als die vermuteten Fremden im tiefsten Afrika.

Heute, nachdem ich schon über ein Jahr hier wohne, erscheint es mir sogar, als wären die Wilden, für die Afrikaner von Außenstehenden gerne mal gehalten werden, eher in den Straßen Lindenaus anzutreffen als in der Weite des schwarzen Kontinents. Erstaunt und überrascht von der Tatsache, dass die Fremde im wahrsten Sinne des Wortes vor meiner Haustür begann, machte ich mich daran, diese verschiedenen Spezies näher zu beobachten und ihre fremden Bräuche und Sitten niederzuschreiben. Unsere neue Dachgeschosswohnung in Altlindenau erwies sich als idealer Ausgangspunkt für die Expeditionen ins Herz der Leipziger Finsternis.

Lange Zeit war ich mir nicht im Klaren darüber, wie ich die einzelnen Beobachtungen, bedingt durch ihre und meine Heterogenität, literarisch wiedergeben sollte. Ich habe mich letztlich dafür entschieden, nach einigen allgemeinen Betrachtungen, im zweiten Teil die markantesten Begebenheiten anekdotenhaft niederzuschreiben und erhebe dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Des Weiteren bitte ich zu entschuldigen, dass ich auf kleinere Splittergruppen wie Studenten, Intellektuelle, Antialkoholiker oder Besserverdiener nicht einzeln eingehen werde. Diejenigen, die darüber enttäuscht sind und sich diesen Gruppierungen verpflichtet fühlen, können sich dennoch auf eine andere Weise geehrt fühlen, denn sie bilden hier eine mutige Minderheit.

Bevor ich aber zu den merkwürdigen Sitten mancher Bewohner komme, seien mir zunächst einige allgemeine Bemerkungen erlaubt, um demjenigen Leser, der sich noch nie in der Lindenauer Wildnis verirrt hat, eine Vorstellung davon zu geben, was ihn erwartet.