Impressum

Dietmar Beetz

Attentat in Rutoma

Roman

ISBN 978-3-95655-169-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Zum Gedenken an Paulo Vaz

PROLOG

Die Ankündigung war geschickt platziert worden. Radio Sao Pedro strahlte sie, wie später ermittelt wurde, zum ersten Mal am Nachmittag des 26. Dezember aus. Im Kurzwellenprogramm, das auch die Nachbarländer erreichte.

26. Dezember 1972 - zweiter Weihnachtstag, träger, schläfriger Ausklang der Feiertage. Da war es in Sao Pedro, dem Verwaltungszentrum von Portugiesisch-Balamaland, wie meist im Dezember, schweißtreibend schwül, und da hielten wohl auch die Guerilleros im Busch, die Bauern in den befreiten Gebieten und wahrscheinlich sogar die Mitglieder des Kriegsrates jenseits der Grenze, wo es keine Kolonialherren mehr gab, Siesta - in Hörweite vielleicht ein dudelndes Radio.

Sao Pedro sendete nach bewährtem Rezept hauptsächlich Musik. Beat, westafrikanische Folklore, die neuesten Hits ... Nachrichten nur eingestreut, zu vollen Stunden und zwischendurch, dann oftmals im Tonfall von Werbespots.

Auch jene Ankündigung war so eine locker servierte Reklame. Es sangen die Beatles, und mitten in ihrem Titel, der zurücktrat und unterlegt blieb, hieß es, morgen werde Ino Gali über den Sender sprechen, «der berüchtigte Inocencio Flombo Gali, der seinen ehemaligen Kumpanen was zu sagen hat. Also, morgen Abend um sechs - Ino Gali!»

Und wieder voll der Song der vier Burschen aus Liverpool, die damals - mit mehrjähriger Verspätung - in Balamaland und anderen Ländern Westafrikas gerade «in» waren; wer über ein Radio mit halbwegs frischen Batterien verfügte oder bloß als Zaungast in den Genuss eines solchen Gerätes kam, der kannte diese Gruppe aus Übersee, auch wenn ihre Musik nicht unbedingt seinem Geschmack entsprach.

Zudem richtete sich die Ankündigung gezielt an bestimmte Hörer. Sie meinte ausdrücklich die einstigen «Kumpane» des Inocencio Flombo Gali und vertraute offenbar darauf, dass einer von denen draußen im Busch oder jenseits der Grenze aufhorchen würde. Obwohl oder weil die Nachricht vom Feind kam, vom Sender der «Tugas», der verdammten Portugiesen.

Die Kolonialmacht, seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich bekämpft, mittlerweile aus reichlich zwei Dritteln des Landes vertrieben und gewärtig, vielleicht schon im nächsten Jahr hier und anderswo endgültig das Feld räumen zu müssen - diese Herrschaften kündigten die Rede eines ihrer prominentesten Gefangenen an.

Erstmalig am Nachmittag des 26. Dezember, fünf Tage vor Silvester also - sozusagen fünf vor zwölf.

Von da an beinah stündlich, auch nachts und tags darauf noch.

«Atencao - aufgemerkt! Heute Abend um sechs spricht Ino Gali, der berüchtigte Bandit, der seinen ehemaligen Kumpanen etwas zu sagen hat. Also, nicht vergessen: heute Abend um sechs auf dieser Welle - Ino Gali!»

«Habt ihr das gehört? Ino soll sprechen! Ino Gali - über ihren Sender!»

In den Bairros, den Blech- und Brettervierteln am Rand von Sao Pedro, in den Grashütten der Guerilleros im Busch, in den Baracken ihrer Führung in Kindia, dem befreundeten Nachbarland - überall, wo die Ankündigung ihr Ziel erreichte, schlug sie ein wie ein Blitz.

Stille danach; nur das Gedudel des Radios. Und nach einer Weile vielleicht ein erster Streit.

«Mach den Kasten aus! Überhaupt, solchen Quatsch anzuhören!»

«Nein, lass nur! Man muss ihre Methoden kennen, muss wissen, was sie im Schilde führen, und Ino ...»

«Sprich diesen Namen nicht aus] Der berühmte Mobilisator, der Freund, die rechte Hand von Bubacar - ein Verräter, der über ihren Sender zum Verrat aufruft!»

«Schweig! Schweig, und wart wenigstens erst mal ab!»

«Wozu abwarten, wozu? Was kann es schon anderes sein als Verrat? Ein Aufruf, die Waffen zu strecken, heimzukehren, ihre Amnestie anzunehmen ...»

Wieder wurde es still in der Baracke, der Grashütte, still bis auf den wehmütig-sehnsuchtsvollen Song der Beatles oder einer anderen Band. Heimkehren, Weihnachten mit einer Frau verbringen, nicht in so einem Loch in Gesellschaft schwitzender, stinkender Kerle! Und Ino Gali war weit schlimmer dran; kein Vergleich - wir und er - dort auf der Insel, im Campo de concentracao.

«Sechs Jahre Konzentrationslager», sagte jemand, «sechs Jahre ohne Verrat, ohne das geringste Anzeichen dafür, und im siebten Jahr, wo ihr Ende schon in Sicht ist ...»

«Ich glaub’s nicht», fuhr ein anderer auf. «Ich kann’s nicht glauben. Nicht von Ino Gali!»

«Wer weiß», erwiderte ein dritter, «vielleicht hat er die Folterungen nicht länger ertragen, ist weich geworden und schwach, anfällig für ihre Verlockungen - ein Job, ein Auto, ein Bündel Escudos. Oder steckt eine Frau dahinter?»

«Eine Frau? Da käm nur Nandenga infrage, und die kenn ich. Nein, Nandenga würde ihn nie zum Verrat überreden, im Gegenteil!»

«Dann weiß der Teufel, was das alles bedeutet.»

ERSTES KAPITEL

1

Dr. Francisco Yokpo Sevé hörte die Ankündigung zum ersten Mal in Bamako. Genauer: Er bekam dort ein paar portugiesische Wortfetzen mit, deren Sinn er mehr erahnte als verstand; denn das Radio, das sie von sich gab, war überdreht und litt zudem an Batterienschwäche.

Der Name Ino Gali befand sich nicht unter den rekonstruierten Wörtern. Den meinte Chico Sevé erst später aufgeschnappt zu haben, übrigens aus demselben Kofferradio, doch wurde dabei der Empfang zu allem auch noch vom Lärm dröhnender Triebwerke gestört.

Bei der dritten Konfrontation schließlich, der ersten halbwegs verständlichen, hatte Chico den Kopf voll und war derart beschäftigt, dass ihm nicht gleich bewusst wurde, worum es ging. Nur allmählich begriff er, und plötzlich erschienen ihm die Ereignisse, die ihn eben noch kaum tangiert hatten, in durchaus bedrohlichem Licht.

Ino Gali über Radio Sao Pedro und diese Widrigkeiten - gab’s da eine Beziehung? Braute sich etwas zusammen, oder sah er schon Gespenster?

Bis zwei Stunden vorher war alles glattgegangen. Glatt - der Aufbruch, die Ausreise, glatt der Flug über Mittelmeer und Sahara, glatt die Zwischenlandungen in Belgrad, Algier und Bamako. Störungen stellten sich sozusagen erst in letzter Minute ein, bei der Ankunft über dem Aeroport von Rutoma, der Hauptstadt von Kindia.

Die Maschine war kurz vor Mitternacht, pünktlich dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig, in Schönefeld gestartet, und etwa dreizehn Stunden später, gegen ein Uhr mittags, nach einer Reise aus mitteleuropäischem Winter in westafrikanische Trockenzeit, näherte sie sich planmäßig dem Schlusspunkt ihres Linienflugs. Gleich musste es im Lautsprecher über dem Durchgang zum Cockpit knacken - Auftakt zur üblichen Ansage vor der Landung.

Man schrieb Mittwoch, den 27. Dezember 1972 - ein Datum, das insofern von Bedeutung war, als es an der Schwelle einschneidender Ereignisse lag.

Einschneidend auch für Chico Sevé, seine Ehefrau Veronika, geb. Lindner, und beider Sohn Marco Pamli.

Im Moment schienen die drei noch unberührt von allem, was bald auf sie einstürzen würde. Sie saßen im Hauptraum der Maschine, rechts vorn in der ersten Reihe an einem Tisch, unter dem sie bequem die Beine ausstrecken konnten; eine der Stewardessen hatte Marco Pamli beim Einsteigen über das Kraushaar gestrichen und die Familie auf diese Plätze dirigiert.

Es waren Vorzugsplätze, eine Art Separee in dem tunnelförmigen Flugzeugrumpf, für Chico, Vrena und den Kleinen vielleicht bis auf Weiteres der letzte gemeinsame Winkel. Hier hatten sie die halbe Nacht und den Vormittag, abgesehen von den Transitpausen, gesessen und gespeist, geredet und gelacht, gedöst und geträumt - die Spanne zwischen zwei Abschnitten ihres Lebens.

Diese Frist ging nun zur Neige. Keine Viertelstunde mehr, und die Maschine würde über die Landebahn bei Rutoma rollen - vorausgesetzt, ihr Flug verlief bis zum Schluss so planmäßig wie bisher.

Chico sah auf die Uhr. - Fünf nach eins. Da müsste eigentlich bereits die Küste zu sehen sein, der Atlantische Ozean - das heißt, falls man in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht die Anflugtrasse geändert hatte.

Unten zog, soweit Chico es ausmachen konnte, noch immer gelbbraune Savanne vorbei. Die Regenzeit war, wie er gehört und gelesen hatte, dieses Jahr wieder weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurückgeblieben, und nun hielt die Dürre, das Gespenst der Sahelzone, auch Teile von Kindia und das benachbarte Balamaland im Würgegriff.

Wie würde es dort jetzt aussehen? Das Mangrovendickicht seiner Heimat, der Busch von Terra Balama, der Unterschlupf der Guerilleros - welk und gelichtet? Die Natur im Bunde mit den Tugas, den Portugiesen?

Chico konnte und wollte es sich nicht vorstellen, wollte möglichst überhaupt nicht daran denken. Hoffentlich fand der Befreiungskampf, dieser schreckliche, unvermeidliche Krieg, bald ein gutes Ende, und hoffentlich ...

Eine Berührung riss Chico aus seinen Gedanken. Vrena hatte nach seinem Arm gefasst. «Du, Chico, der Ozean, der Atlantik!»

Auch andere Passagiere waren aufmerksam geworden. Einige standen im Zwischengang und reckten den Hals, um rechts unten etwas zu erspähen, und einer der Reisenden von gegenüber, ein kindianischer Geschäftsmann, mit dem Chico unterwegs ein paar Worte gewechselt hatte, holte bereits seinen Diplomatenkoffer aus dem Gepäckfach.

Der Lautsprecher schwieg noch immer.

Gleich viertel zwei.

Chico beugte sich über Marco Pamli, der nach Bamako endlich eingenickt war, hinweg zu Vrena. Sie hatte die Nase an die Fensterscheibe gepresst, und ihr Haar wirkte im Licht, das hereinfiel, noch heller, noch blonder als sonst. Weiches, duftendes Haar, das Chico berauschte, jetzt wie vor sechseinhalb Jahren, als er Veronika, damals Schwesternschülerin im Praktikum, zum ersten Mal begegnet war.

Vrena erging es ihrerseits wohl genauso. Sie griff nach der Hand, mit der Chico sich aufstützte, drückte sie und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Draußen flimmerte es und gleißte - auf den ersten Blick ein Eindruck ähnlich dem gestern zur gleichen Zeit in Ostfeld bei Leipzig; dort hatten vor dem Reihenhaus von Vrenas Eltern Schneekristalle in der kühlen Wintersonne geglitzert.

Hier blitzte in der Ferne manchmal ein Tümpel auf, ein Stück der Lagune oder ein Flusslauf. Wasser gab’s also nach wie vor, auch Grün, zumindest an der Küste von Kindia, und im Übrigen schien die Maschine nicht allzu unpünktlich zu sein. Sie flog bereits ziemlich tief, und unten waren schon Behausungen sichtbar, graugelbe Tupfen inmitten der olivgrünen Flecken von Baumgruppen oder einzelnen Palmwipfeln - die Dächer von Rundhütten, Vorposten der Hauptstadt.

«Ist das Rutoma?», erkundigte sich Vrena.

Chico nickte. «Bist du enttäuscht?» j

«Ich?», begehrte sie auf. «Im Gegenteil! Jetzt, wo wir endlich da sind, wir drei!»

«Noch dauert’s ein wenig», erwiderte er.

«Ach was! Die paar Minuten!»

Wie zur Bestätigung knackte es über ihnen, und aus dem Bordlautsprecher drang, von einem Räuspern unterbrochen, die etwas belegte Stimme einer Stewardess. Sie bat die Passagiere, das Rauchen einzustellen und die Gurte anzulegen.

Eine winzige Pause entstand.

Chico hatte sich zurück auf seinen Platz gesetzt. Lächelnd sah er zu, wie Vrena Marco Pamli weckte. Der Junge blinzelte, den Kopf noch auf den Rücken seines Teddybären gebettet und über die Störung offenbar nicht sonderlich erbaut.

Dondo, mein Kleiner, dachte Chico, und du, meine blonde Neni ...

Da erstarrte die Hand von Vrena an der kastanienbraunen Stirn des Kindes. Eben hatte die Stewardess gebeten, Ruhe und Disziplin zu bewahren. Die Landung verzögere sich aus «sicherheitstechnischen Gründen».

Sicherheitstechnische Gründe - was soll das heißen? Wessen Sicherheit ist gefährdet? Gefährdet - weshalb?

Chico spürte den Blick von Vrena, wich ihm aus, schaute über die Schulter. Die Stewardess wiederholte gerade die Durchsage auf französisch, aber einige Passagiere schienen den Sinn bereits erfasst zu haben. Jener Geschäftsmann, dem Akzent nach ein Kinde, Angehöriger des reichsten und mächtigsten Stammes von Kindia, starrte her, als sei Chico, der Balama, schuld an der Verzögerung und ihrer Ursache, was die auch immer sein mochte - ein Loch in der Landebahn, ein Putsch gegen den Präsidenten oder die Invasion einer ausländischen Macht.

Dondo und du, meine Neni, in was - verdammt! - geraten wir da?

2

Während die Maschine abdrehte und wieder stieg, während Vrena Marco Pamli an sich drückte und Chico von der Schubkraft der Triebwerke auf seinen Sitz gepresst wurde - währenddessen stand ihm ein Bild vor Augen, eine Vision: ein Gelände im Nordwesten der Stadt, Kilometer hinter dem Flughafen, der jetzt zurückblieb, ein Areal, das die Regierung von Kindia der Befreiungsbewegung von Portugiesisch-Balamaland überlassen hatte - im Feuer einer Marineeinheit der Portugiesen, von ihren Maschinenpistolen beharkt, ihren Kanonen zerhackt und bedeckt mit den Leichen von Guerilleros.

Es war keine Vision aus blauem Himmel, kein Hirngespinst. Auf jenem Gelände wollte Chico mit Vrena und Marco Pamli leben, und vor Jahren hatte es in Rutoma tatsächlich eine Invasion portugiesischer Söldner gegeben.

Chico verscheuchte die Gedanken daran. - Jetzt, am grellen Mittag, ein Überfall? Und wäre es eine Aktion, die schon länger läuft, hätten da die Passagiere nicht unterwegs, spätestens in Bamako, davon gehört?

Die Stimme aus dem Kofferradio ... Jemand sollte eine Rede halten. Eine Rede - worüber?

«Du, Chico!» Vrena hatte Marco Pamli, der noch immer schläfrig war, angeschnallt und beugte sich, den Arm um den Jungen, herüber. «Was, meinst du, hat das zu bedeuten?»

Chico runzelte die Stirn, stellte sich dumm. «Was - zu bedeuten?»

«Na, das Landeverbot! Steckt da ein Krieg dahinter, ein Putsch oder so was? Überall, wo was losgeht, sperrt man doch mit als erstes die Flughäfen!»

Sie hatte das ziemlich gefasst gesagt, ohne Zeichen von Panik, und Chico verspürte plötzlich Stolz, auch Zuversicht. - Seine Neni würde schon durchhalten und sich eingewöhnen. Und wie gescheit sie war!

Er dachte an die Schwesternschülerin, die Siebzehnjährige, die Balamaland nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte, und sagte zu der Frau an seiner Seite, seiner Frau: «Möglich schon, Vrena, dass so was passiert ist. Vielleicht kann man unten was sehn?»

Sie presste sofort wieder ihre Nase an das Fenster und reckte den Hals. Das Flugzeug, das noch immer stieg, lag schräg in einer Linkskurve. Von seinem Platz am Mittelgang aus konnte Chico rechts, wo Vrena hinabspähte, nur blauen, dunstgestreiften Himmel erkennen.

Anders links gegenüber. Dort hatte er einen Ausblick wie durch ein Guckloch, einen Blick auf Rutoma, das wie beim Schwenk einer Kamera langsam vorbeizog; am rechten Rand verschwand gerade die Landzunge im Süden der Stadt, ein gischtgesäumtes Bollwerk, ein Gehege voll Grün und rot-weiß - der Präsidentenpalast, einst Sitz des Präfekten, inmitten schattiger Parkanlagen mit weiten Rasenflächen.

Stieg dort etwa Rauch auf? Qualmte ein Brand wie vor Jahren bei jener Invasion, als Exilkindianer im Solde der Portugiesen an dieser Halbinsel gelandet waren, oder stand bloß eine grauweiße Wolke in der zitternden Luft?

Vorbei, verschwunden, weggeglitten. Der kreisrunde Ausblick schwenkte weiter landeinwärts, wanderte über ein Villenviertel aus der Kolonialzeit, dann über die Anwesen neureicher Kinde; der Geschäftsmann von gegenüber beugte sich vor, wobei er Chico die Sicht versperrte, und schaute hinab.

Was sah er dort unten? Doch nicht etwa Aufruhr in den sonst so stillen Straßen, den Ansturm zerlumpter Balama, Kpemme, Sull aus den Slums, Panzerwagen und Polizei, seinesgleichen und ihren Reichtum zu schützen?

Nein, sagte sich Chico, mit einer Revolution, einer echten, ist zuallerletzt zu rechnen.

Hinter ihm begann es zu knattern, zu pfeifen - das Kofferradio, auf das sich sein Eigentümer, ein Halbwüchsiger, der in Bamako zugestiegen war, offenbar besonnen hatte und an dem er nun, anders als vorhin im Transitraum, mit Billigung, ja auch im Interesse seiner Mitreisenden drehte.

Ein teures Gerät - dieses Radio, überlegte Chico, sicher japanischer Export. Ob man aber damit was empfangen kann, hier drin und ohne Antenne?

Er beobachtete über die Schulter, wie der Halbwüchsige, den Kopf schräg, bei der Suche nach einem Sender lauschte, hörte das Dröhnen der Triebwerke, die Geräusche aus dem Radio und ein paar verschliffene portugiesische Worte - dabei ein Name, der ihn aufhorchen ließ, der Name Ino Gali ...

Ino? Sein Name in einer Sendung der Tugas? - Unsinn!

Chico sah die Hände jenes Halbwüchsigen, bemerkte die gespannten Gesichter ringsum und hatte plötzlich eine Begebenheit vor Augen, eine ähnliche, für ihn selber entscheidende Situation.

 

Damals war er nicht viel älter als jener Bursche, und er hatte gleichfalls ein Radio bei sich, kein so kostspieliges Gerät und keines, das vermutlich von einem wohlhabenden Vater oder von reichen Verwandten geschenkt worden war. Das Geld für seinen NACIONAL PANASONIC, einen Apparat ohne UKW-Teil, der ihn seither begleitete, hatte er selbst verdient, und zudem trug er neue Jeans und ein T-Shirt mit dem Bildnis von Miriam Makeba.

Ein T-Shirt mit dem Konterfei der berühmten afrikanischen Sängerin, Jeans und ein Kofferradio waren damals, Anfang der sechziger Jahre, in Sao Pedro, dem Verwaltungszentrum von Portugiesisch-Balamaland, absolute Hits; keiner der Gleichaltrigen, die Chico umringten, verfügte über diese Insignien moderner Macht und Würde. Jeans für sich oder im Verein mit einem T-Shirt, auch eins von beiden und dazu vielleicht ein Radio - das wohl, aber in solcher funkelnden, farbenprächtigen Dreieinigkeit ...

Die Kostbarkeiten stammten zudem direkt aus Rutoma; Chico hatte sie persönlich von dort mit heimgebracht. Allein, «drüben in Kindia» gewesen zu sein, in Rutoma, das nicht mehr Sitz eines Präfekten war, nicht mehr Verwaltungszentrum eines Teils von Französisch-Westafrika, sondern Hauptstadt der freien und unabhängigen République de Kindée!

Chico Sevé gehörte in jenem Kreis achtzehnjähriger Gymnasiasten, sozial gesehen, eigentlich zu den Randfiguren. Yokpo Pamli Sevé, sein Vater, ein hochbetagter Händler, hatte ihm, dem Nachkömmling, als einzigem seiner Söhne den Besuch einer Schule ermöglicht. Und ihn vorher taufen lassen.

«Mann, wozu braucht unser Kleiner einen christlichen Namen?»

«Damit er lernen darf, was in den Büchern der Padres steht.»

«Und wofür soll das gut sein?»

«Damit er’s mal besser hat als wir, Frau, und besser als unsere anderen Kinder.»

Für die Töchter kam solcher Luxus, traditioneller Auffassung nach, ohnehin nicht infrage, aber auch die älteren Söhne, Straßenhändler wie der Vater, unterstützten neidlos mit manchem Escudo die Ausbildung des jüngsten Bruders; später, sobald er Angestellter war, vielleicht Prokurist eines Großhändlers, würde er’s ihnen vergelten.

Diese von allen ersehnte Zeit schien damals greifbar nah. Ein knappes Jahr noch, und Chico hätte das Liceu der Padres vom Heiligen Herzen absolviert gehabt - der erste in der Familie mit dem Exame final, dem Abitur.

An jenem Abend im Kreise seiner Mitschüler aber wurde von ihm eine Weiche gestellt, unbewusst, zunächst sogar unbemerkt; erst im Nachhinein begriff er, was da geschehen war.

Er hatte Jeans, T-Shirt und Radio, die Prunkstücke aus Rutoma, Frucht harter Nachtarbeit auf dem Markt und bei der Müllabfuhr, präsentiert und sonnte sich noch in neidischem Staunen; da fragte Ino, einer aus Chicos Klasse, leise, doch laut genug für alle unter dem Baumwollbaum, wo sie standen: «He, Sevé, hast du auch Neuigkeiten von den <Bandidos> mitgebracht?»

Ino, mit vollem Namen Inocencio Flombo Gali, war gleichfalls Sohn eines Händlers, zudem Balama, also ein Stammesbruder von Chico. Trotzdem hatte der in all den Schuljahren kaum näheren Kontakt mit ihm gehabt. Vielleicht lag das an der Zurückhaltung von Ino Gali, an seiner Schweigsamkeit, vielleicht an der düsteren Miene, die er meist zur Schau trug.

So auch damals, nach jener Frage, wobei Chico nicht entging, dass in der Tiefe der Augen etwas Hellwaches lauerte.

War Ino neidisch, neidischer als alle? Gönnte er Chico den Triumph nicht? Wollte er ihn provozieren?

«He, Sevé, hast du auch Neuigkeiten von den <Bandidos> mitgebracht?»

Die «Bandidos» - das war kein Thema für so einen Kreis. Durfte man denn jedem, der dabeistand, trauen? Musste man nach allem, was passiert war, nicht sogar das Flüstern der Blätter an den Zweigen fürchten?

Vor reichlich fünf Jahren, als anderswo in Afrika der Ruf nach Unabhängigkeit unüberhörbar wurde, hatten sich in Sao Pedro, im Büro einer Faktorei, drei Balama, zwei Sull und ein Kinde getroffen, Lehrer und andere Angestellte der Portugiesen, um die Frente de Libertacao da Terra Balama, die Befreiungsfront von Balamaland, zu gründen; damit fing’s an.

Im Jahr darauf schon gehörten dieser FRELITBA auch Hafenarbeiter, Matrosen, einheimische Rekruten der portugiesischen Armee, ja sogar einige Bauern an, und im August neunzehnhundertneunundfünfzig, ziemlich genau zwei Jahre vor jenem Abend unter dem Baumwollbaum, kam es zur ersten größeren Kraftprobe mit der Kolonialmacht, zur ersten nach Jahrzehnten Friedhofsruhe: Im Hafen von Sao Pedro wurde gestreikt.

Ein Streik um zwei Centavos - etwa einen halben Pfennig - mehr Lohn.

Ein friedlicher Streik.

Die Antwort der Tugas - Salven aus Maschinenpistolen.

Am Kai und auf den Schiffen im Hafen von Sao Pedro blieben dreiundfünfzig Schauerleute, Matrosen und Docker tot oder sterbend zurück, und in das Weinen der Waisen, das Wehklagen der Witwen mischten sich Flüche und drohendes Flüstern.

«Tod den Tugas, diesen Mördern!»

«Freiheit für Balamaland - nun erst recht!»

«Was sie uns nicht gewähren, werden wir erkämpfen.»

Und in der Tat: Im Jahr darauf, kurz vor der Regenzeit, wurde im Landesinnern, unweit der Grenze zu Kindia, ein Militärposten der Portugiesen überfallen und aufgerieben. Die Guerilleros, hieß es, waren nur mit Buschmessern und einem Armeerevolver bewaffnet; den Revolver habe ein Sergeant, der nach dem Massaker an den Hafenarbeitern desertiert sei, bei seiner Flucht aus der Kaserne zu den Kämpfern der FRELITBA mitgenommen.

«Nur einfache Buschmesser und ein einziger Revolver?»

«Na, jedenfalls verfügen sie nun auch über die Maschinenpistolen und die Munition dieses Armeepostens.»

«Und wo leben sie? Dort im Busch? Jetzt in der Regenzeit?»

«Drüben in Kindia haben sie Aufnahme gefunden, die Gastfreundschaft von Ahmed Sasu Nalú, dem Präsidenten, am Rand von Rutoma ein Stück Land, sich Hütten zu bauen, Maniok zu pflanzen, sich im Schießen zu üben ...»

«Hm ... Sasu Nalú, der Oberhäuptling der Kinde, sagst du, unterstützt die Kämpfer. Weshalb aber, frage ich dich, lässt er, wenn er unser Freund ist, unsere Brüder, die Balama, in seinem Land verfolgen?»

«Nun, verfolgen - ganz so schlimm steht's nicht; vor dem Gesetz sind alle gleich. Allerdings stimmt es, dass unsere Brüder im Land der Kinde nur eine Minderheit bilden, nicht anders als die Kpemme, die Sull und die Afrikaner der übrigen Stämme, deren Brüder und Schwestern ja auch bei uns im Balamaland leben. Wenn wir erst frei sind, unabhängig von den Tugas, werden wir alle zusammen eine Nation sein, eine große Familie.»

So wurde damals, nach dem ersten Gefecht, an Marktständen, an Viehhürden, auf Rastplätzen geredet, geraunt. Männer in der Kleidung von Händlern oder Hirten brachten, wie von jeher üblich, außer ihren Waren, ihren Herden, Neuigkeiten aus der Ferne mit. Diese Männer waren oftmals Emissäre der FRELITBA, Mobilisatoren im Befreiungskrieg.

Die Portugiesen nannten die Mobilisatoren und die Guerrilleros, die Partisanen der Befreiungsfront, «Bandidos» - Banditen. Sie verfolgten sie und ihre Sympathisanten, ließen sie foltern und deportieren; mitunter genügte bereits ein verbotenes Wort, von einem Spitzel der Geheimpolizei hinterbracht, um in ein Campo de concentracao, ein Konzentrationslager, verschleppt zu werden.

«He, Sevé, hast du auch Neuigkeiten von den <Bandidos> mitgebracht?»

Was darauf erwidern? Etwa erzählen vom Camp der FRELITBA im Nordwesten Rutomas, am Point Frontiere, wo Chico hin und wieder rumgestrolcht war? Oder von Pereira, dem ehemaligen Bankangestellten aus Sao Pedro, jetzt Einkäufer für das Camp, dem er einmal geholfen hatte, auf dem Markt einen alten, rostigen Toyota mit Reis und Kürbissen zu beladen?

Gewiss war es dabei - wie vorher schon mit den Wachposten vom Camp - zu einem Gespräch gekommen, einem Palaver wie überall, zumal in der Fremde, wo ein Balama einem anderen begegnet, und selbstverständlich hatte man dabei auch einiges erfahren; aber solche Neuigkeiten daheim vor einem vielköpfigen Kreis zum Besten geben ...

Chico erzählte einen Witz und überging so die Frage, tat, als habe er sie nicht gehört; doch offenbar bestätigte gerade das seine Vertrauenswürdigkeit.

«Gut reagiert, Sevé», sagte Ino Gali wenig später unter vier Augen. «Wer mitmachen will, muss vor allem schweigen können. - Übrigens soll ich dich grüßen: von Pereira!»

So begann Chicos Kontakt zu FRELITBA - eine Beziehung, die ihn bald darauf vom Liceu der Padres Hals über Kopf in den Busch, vom Busch verwundet in ein Hospital jenseits der Grenze und dann nach Europa führen sollte, in ein Land, das die FRELITBA unterstützte, und dort in eine Stadt namens Leipzig.

Acht Jahre fern vom Balamaland, fern der sumpfigen Buschpfade, und nur manchmal im Traum, in einem Albtraum unterwegs, Minen zu legen oder in einem Hinterhalt zu lauern, oder auf dem Rückzug mit einem Steckschuss ...

 

Eine Mitteilung fällt Chico ein, ein Bericht der Universitätszeitung, eine Notiz in ihrer vorletzten Nummer. Dort stand unter der Rubrik NEUES AUS DEN FAKULTÄTEN:

Dr. med. Francisco Yokpo Sevé (29), bewährter Guerillero, vor acht Jahren von der FRELITBA, der Befreiungsfront von Balamaland, zum Studium der Humanmedizin in die DDR delegiert, kehrt Ende des Jahres als vollapprobierter, promovierter Arzt zurück nach Afrika, um an der endgültigen Befreiung seines Landes vom portugiesischen Kolonialjoch weiter mitzuwirken.

Der Extrakt aus neunundzwanzig Menschenjahren in einem einzigen Satz.

Als Chico die paar Zeilen zum ersten Mal gelesen hatte, bei der Abschiedsfete im Bereitschaftsraum der Universitätsklinik, wo er zuletzt in Ausbildung gewesen war - da spottete er über den Schreiber. Und steckte dann heimlich die Zeitung ein, schnitt die Meldung aus, klebte sie auf und verwahrte das Blatt bei seinen wasserdicht verpackten Zeugnissen und Dokumenten.

Die Mappe mit diesen Kostbarkeiten befindet sich jetzt in einer Campingtasche, ihm zu Füßen unter dem Tisch rechts vorn im Rumpf der Maschine. Das Flugzeug hat nach seiner Wendung über dem Aeroport mittlerweile auch den Marktplatz, das Monument zum Gedenken an die Opfer der Invasion, den Volkspalast, einst Stadthalle, und andere Bauten im Zentrum Rutomas überquert und zieht gerade über die «Miseres», die Randsiedlungen der Landflüchtigen, die Slums im Nordwesten.

«Wir fliegen zurück nach Bamako», sagt Vrena - eine Aussicht, die ihr Spaß zu machen scheint.

Chico schüttelt den Kopf.

Erst jetzt erfasst er, dass jener Halbwüchsige die Suche nach einem Nachrichtensender inzwischen aufgegeben, dass er sie vielleicht gar nicht im Sinn gehabt hat; aus dem wertvollen japanischen Radio dringt ein einziges Heulen, Fauchen und Knattern - ein Stück für Hyäne, Panther und Maschinengewehr.

Chico schaut auf die Uhr. - Fünf nach halb zwei.

Im selben Moment neigt sich die Maschine, setzt zu einer Kurve an.

«Wir kehren um!», ruft Vrena. «Es geht zurück!»

Hinter ihnen spottet jemand, spricht vom «Aeroport Peut-etre», vom «Flughafen Vielleicht».

In das Gelächter mischt sich die Lautsprecherstimme der Stewardess.

Sie bittet nochmals, das Rauchen einzustellen und die Gurte anzulegen. In wenigen Minuten lande die Maschine auf dem Flughafen «Ali Alfa Nalú», Rutoma.

3

Ali Alfa Nalú, der Bruder des Präsidenten Ahmed Sasu Nalú, war Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre einer der Wortführer im Streben westafrikanischer Völker nach Unabhängigkeit vom französischen Kolonialismus. In Lesebüchern der République de Kindée stehen Geschichten von seinem mutigen Kampf als Gewerkschaftsführer, von seiner Standhaftigkeit in französischen Kerkern, von seinem tragischen Tod. Ali Alfa Nalú gilt als einer der «Heros et Martyrs de Kindée», als einer der Heroen und Märtyrer von Kindia.

Ahmed Sasu, der jüngere Bruder, trat das Erbe des Helden an. Er wurde Generalsekretär der Unabhängigkeitspartei, die ihren programmatischen Namen beibehielt, als ihr Hauptziel formell erreicht war. Noch galt es, die Unabhängigkeit, die Frankreich gewährt hatte, auch wirtschaftlich zu erringen und gegen Anschläge von außen wie von innen zu verteidigen.

«Wir werden erst dann wahrhaft unabhängig sein, wenn der portugiesische Kolonialismus vom Boden unseres Nachbarlandes hinweggefegt ist.» Das hat Ahmed Sasu Nalú, Präsident der République de Kindée seit ihrer Proklamation, wieder und wieder erklärt - eine Erkenntnis, die schon des Öfteren nachdrücklich bestätigt wurde.

Als Chico vor dreieinhalb Jahren in Rutoma zu seinen ersten und einzigen Semesterferien in Afrika ankam, war gerade der fünfte Putschversuch gegen Sasu Nalú gescheitert, und die Invasion lag knapp ein Jahr zurück. Die Nervosität damals bei den Behörden, das Aufgebot an Militär und Polizei bereits auf dem Flugplatz - daran muss Chico denken, als jetzt die Maschine aufsetzt und er einen Blick zu den Verteidigungsanlagen, den Gräben und Wällen jenseits der Piste, wirft.

«Wir sind gelandet!», verkündet Vrena. «Chico, Marco Pamli, wir sind da!»

Sie löst ihren Gurt und langt nach dem Handgepäck, um sich und den Jungen, der noch immer beunruhigend teilnahmslos dreinschaut, für die Begrüßung, den Empfang in der neuen Heimat zurechtzumachen.

Die Stimme der Stewardess, die plötzlich wieder zu hören ist, scheint sich an Vrena persönlich zu wenden, an sie vor allen anderen. «Die Passagiere werden gebeten, auch nach dem Stillstand der Maschine auf ihren Plätzen zu bleiben. Die Abfertigung verzögert sich leider.»

Es ist eine sachliche Durchsage, die sich kaum von den üblichen Bekanntgaben bei solcher Gelegenheit unterscheidet. Ungewöhnlich allerdings - der Ausdruck «leider», ein Bedauern, das nun auf französisch und portugiesisch, den Verkehrssprachen in dieser Region babylonischen Wirrwarrs, wiederholt wird.

«Chico, was soll das? Weshalb auf den Plätzen bleiben? Was hat das zu bedeuten?»

Die Maschine rollt noch, holpert über welligen Asphalt und enthebt Chico vorerst einer Antwort. Außerdem hat sich Vrena wieder zum Fenster gewandt. Chico beugt sich zu ihr, um gleichfalls hinauszusehen.

Drüben beim Empfangsgebäude - Militär und Polizei wie damals, im Sommer neunzehnhundertneunundsechzig, nach dem Putschversuch Nummer fünf.

«Die vielen Uniformierten!», sagt Vrena.

Chico nickt. «Vielleicht haben wieder ein paar Offiziere nach der Macht gegriffen.»

«Meinst du wirklich?»

«Warum nicht?» Er lacht. «Immerhin hat’s in Kindia seit dreieinhalb Jahren keinen Staatsstreich mehr gegeben.»

Der Scherz misslingt; das Lachen klingt unecht. Chico verstummt, sich voll bewusst, was auf dem Spiel steht.

Mag Sasu Nalú sein, wie er will, immerhin unterstützt er die FRELITBA. Was, wenn er gestürzt worden ist und in Kindia neokolonialistische Kräfte am Ruder sind - ein Regime wie in Cote de Lion, dem anderen Nachbarland von Terra Balama?

Kindia und Löwenküste, einst Bestandteile der Kolonie Französisch-Westafrika, befehden einander, und das seit Erlangung ihrer Unabhängigkeit. Hauptgrund dafür sind Unterschiede im politischen Kurs, den beide Staaten steuern, wobei auch eine Rivalität zwischen ihren Präsidenten, die bis in deren Pariser Studentenzeit zurückreicht, eine Rolle spielt.

Chico erinnert sich an die Rededuelle, die sich Sasu Nalú und Abouke, der Präsident von Cote de Lion, Anfang der sechziger Jahre im Radio geliefert haben. Schon damals nannte Sasu Nalú Abouke einen Statthalter der Franzosen, einen schwarzen Präfekten, und Minuten später tönte es von der Löwenküste herüber - Gebrüll wider den Kommunisten Nalú, der bolschewistische Terroristen heranzüchte und selber im Solde Moskaus stehe.

Chico und seine Kameraden, auf ihrer Basis im Busch, schüttelten den Kopf. Ahmed Sasu Nalú einen Kommunisten zu nennen - dazu gehörte schon allerhand an Dummheit oder Demagogie. Und sollten sie, die sie Schriften von Marx und Lenin lasen und diskutierten, etwa die Hilfe der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten zurückweisen?

Eigentlich waren die Bezichtigungen Aboukes infam und lächerlich. Bedenklicher, dass sich unter seiner Schirmherrschaft in Port Kounkoun, der Hauptstadt von Cote de Lion, eine Uniao Nacional da Independencia da Terra Balama formierte, eine Nationale Unabhängigkeitsunion von Balamaland. Das und die Gelder dieser UNITBA, ihre Anschläge auf Sympathisanten der FRELITBA, ihre Beteiligung an der Invasion in Rutoma ...

Chico schreckt aus seinen Gedanken.

Eben muss irgendwas passiert sein.

Die Maschine rollt nicht mehr, hält am Nordwestende des Flughafens und wartet.

Kurz darauf werden die Triebwerke abgestellt. Im Rumpf der Maschine breitet sich jäh betäubende Stille aus, eine Lautlosigkeit, die auf die Ohren, den Kopf, den ganzen Körper zu drücken scheint. Chico spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht.

Vrena fasst Marco Pamli an die Stirn. «Du bist ja ganz heiß! Tut dir was weh?»

Als habe er darauf gewartet, fängt der Junge zu weinen an. Eigentlich ist es eher ein Quengeln, ein lust- und kraftloses Greinen, etwas, das Chico und Vrena bei Marco Pamli nicht kennen, das sie - Arzt hin, Schwester her - im ersten Moment entsetzt.

Eine Weile haben beide nur für ihren Kleinen Augen und Ohren, geben ihm zu trinken, tupfen ihm die Stirn ab, legen ihre Hände - ein dunkles und ein helles Paar - auf seine zuckenden Schultern, auf seinen Schopf.

«Der Junge ist total übermüdet», meint Chico.

«Hoffentlich hat er unterwegs nichts aufgelesen!», sagt Vrena.

«Aufgelesen?», erwidert Chico. «Hier drin? Bei diesem Komfort?»

Das stimmt nur zum Teil noch. Mittlerweile ist der Rumpf des Flugzeugs in der brütenden Sonne und ohne Belüftung zur Sauna geworden.

Einstimmung auf Kindia, denkt Chico, auf Afrika. Ein heißer Empfang.

Es ist um zwei - Punkt zwei Uhr nachmittags.

Kurz vor drei, als Marco Pamli döst, als Stewardessen schweratmig, hochrot im Gesicht, Getränke verteilen, als jener Halbwüchsige schläfrig an seinem Radio dreht und Chico mit einer Injektion, einem Medikament aus seinem Handgepäck, gerade eine ältere Frau aus einer Ohnmacht geweckt hat - kurz vor drei kommen die Passagiere, die aus Entrüstung in Ratlosigkeit, in Apathie gefallen sind, wieder in Bewegung.

«Was gibt’s?», erkundigt sich Chico bei Vrena, die - erstaunlich munter nach allem - aus dem Fenster schaut.

«Ein Auflauf oder so was», antwortet sie, «drüben beim Empfangsgebäude.»

Es sieht tatsächlich wie ein Tumult aus, zumindest auf den ersten Blick. Militär und Polizei rennen durcheinander, beziehen wohl Posten, und aus einer der Türen quillt eine Art Pulk. Es sind Zivilisten, flankiert und gefolgt von Uniformierten; allen voran - eine kräftige Gestalt in weißem, knöchellangem, wallendem Bubu, die zielstrebig zu einem Flugzeug mit dem Emblem der Kindianischen Luftfahrtgesellschaft schreitet.

«Sasu Nalú», sagt jemand.

«Eh, wirklich?», fragt Vrena.

«Er könnte es sein», meint Chico.

«Und was hat er vor?», will Vrena wissen. «Macht er einen Staatsbesuch? Müssen wir deshalb warten?»

Chico antwortet nicht, starrt vor sich hin - fahl im Gesicht.

«He, was ist?» Vrena schüttelt ihn. «Chico, was hast du?»

«Nichts», behauptet er. «Nichts ist.»

Eben hat er die Ankündigung von Radio Sao Pedro begriffen.

ZWEITES KAPITEL

1

Die Ankündigung hört auch Inocencio Flombo Gali.

Er kennt diesen Text; er kannte ihn schon, bevor er das erste Mal gesendet wurde.

Das jetzt, weiß er, ist die letzte Wiederholung.

Übrigens erreichen die Worte Ino Gali aus einem Gerät, das sich in einem Cockpit befindet, und er sitzt gleichfalls im Passagierraum eines Flugzeugs; die Stimme des Ansagers übertönt den Lärm, den die zweimotorige Maschine macht.

«Tres horas ... - Drei Stunden, nur drei Stunden noch, dann spricht Inocencio Flombo Gali, der berüchtigte Bandit, der seinen ehemaligen Kumpanen etwas mitzuteilen hat. In drei Stunden also, Punkt sechs - Ino Gali!»

Der Name klingt wie ein Kriegsruf - ein Eindruck, der von der Begleitmusik, einem portugiesischen Militärmarsch, unterstrichen wird.

Triumph der Tugas, denkt Inocencio.

Er spürt, wie seine Hände - Hände in Handschellen - zucken.

«Na, Gali», brüllt Luis Gomes, «wie fühlt man sich so als Berühmtheit?» Er rammt dabei dem Gefangenen einen Ellenbogen in die Seite.

Inocencio verzieht das Gesicht. «Nicht berühmt - <berüchtigt>!», erwidert er in gleicher Lautstärke.

Nun grinst auch der andere Bewacher, von dem Inocencio nur weiß, dass er Abdulai heißt.

Es ist ein einfältiges, beinah treuherziges Grinsen, und Inocencio empfindet so etwas wie Mitleid mit diesem Abdulai. Ein toter Mann, denkt er, und er ist sich im Klaren, dass man dasselbe auch ihm prophezeien kann - vorausgesetzt, sein Plan geht schief und das Komplott der Tugas gelingt.

Inocencio streift die Maschinenpistolen, die seine Wächter zwischen den Knien halten, mit einem Blick. Bloß nicht nervös werden! sagt er sich. Es wird schon, es muss einfach klappen. Hauptsache, Nandenga ist da.

Etwas schiebt sich wie eine Glaswand vor seine Gedanken. Dahinter - Nandenga, die Frau, der er verdankt, dass er noch lebt, dass er nicht Hand an sich gelegt hat, und die trotzdem unerreichbar bleibt, abgeschirmt und im Visier wie damals, bei ihrem gespenstischen Wiedersehen.

Das Flugzeug dröhnt und vibriert. Manchmal sackt es weg und wird kurz darauf wie ein Boot von einer Welle gehoben. Vor Inocencio und seinen Bewachern, den einzigen Passagieren, zittert ein Sonnenstrahl, der schräg hereinfällt.

Die Maschine fliegt seit ihrem Start vor gut einer halben Stunde südostwärts. Ihr Ziel ist Sao Pedro, der Militärflugplatz am Rand der Kolonialzentrale. Von dort sollen der Gefangene und seine Wächter - so der offizielle Befehl - zum Sendegebäude am anderen Ende der Stadt gebracht werden.

Vielleicht versammeln sich jetzt schon vor dem Rundfunkgeländejournalisten, und wahrscheinlich haben sich an den Straßen, die von der Einmündung der Chaussee durch die Stadt führen, längst Neugierige postiert, darunter mit Sicherheit Kundschafter der FRELITBA.

Sie alle werden vergebens warten.

Ino Gali wird nie bei Radio Sao Pedro ankommen.

Unterwegs zum Sender soll die Aktion, die bereits läuft, in ihre zweite, höchst brisante Phase treten.

Bis dahin bleibt noch ein wenig Zeit - eine Frist, von der Inocencio weiß, dass er sie zur Sammlung, zur Konzentration nutzen müsste. Er fliegt nach Sao Pedro, fliegt einer Entscheidung entgegen, einer Gelegenheit, auf die er Jahre gehofft, an die er sich geklammert hat, und fühlt sich nun, so kurz vor dem Ziel, unschlüssig, zerrissen.

Wird der Plan gelingen? - Sein Plan, nicht das Komplott dieser Folterknechte und Bestien! Die glauben, ihn gekauft zu haben, geködert, gebrochen, dressiert ...

Die Brust wird ihm eng, und er holt tief Luft; zwischen den Schulterblättern, wo sie glühende Zigaretten auf die nackte Haut gedrückt haben, schmerzen die Brandnarben.

Beim Ausatmen - noch immer diese verdammte Beklemmung!

«Hast du Schiss, Gali?», fragt Luis Gomes brüllend.

Abdulai fällt in das Gelächter ein.

«Nicht mehr Schiss als ihr», stößt Inocencio hervor, und plötzlich hat er den irren Wunsch, die Maschine, die gerade wieder in ein Luftloch rutscht, müsste abstürzen, mit ihm, dem Piloten und diesen zwei Wachhunden auf das Wasser klatschen, bersten und in die Tiefe sinken, in Dämmer und Dunkel, das alle und alles verschluckt.

Dann hat sich das Flugzeug gefangen, und zum rechten Fenster scheint wieder blendend die Sonne herein. Unten, nur ein paar Hundert Meter tiefer, gleißt der Atlantik - gleißt wie manchmal vom Appellplatz aus, wenn in der Ferne, hinter Wachtürmen, Elektrozaun und verkarsteten Klippen Licht auf den Fluten lag wie eine Goldspur in die Freiheit.

Inocencio schaut weg. Kein Gold, denkt er, aber die Freiheit! Die Freiheit und ein neuer Anfang - irgendwo - mit Nandenga ...

Wieder ist die Glaswand da, die Unsicherheit, Unschlüssigkeit, und zugleich taucht Nandenga auf, sieht Inocencio sie vor sich, wie er sie zuletzt gesehen hat, vor Wochen erst - für ihn die qualvollste aller Torturen.

 

Als schon feststand, dass sie kommen würde, als auch dieser Teil des Komplotts ausgeheckt worden war, hatte Ino Gali ein Gespräch mit Coronel Onório dos Santos.

Coronel dos Santos - Oberst der Sicherheitspolizei, der portugiesischen Gestapo, die seit geraumer Zeit einen neuen Namen trug, im Volk jedoch nach ihren alten, blutigen Initialien weiterhin PIDE hieß.

Coronel dos Santos - rechte Hand des Gouverneurs von Balamaland, des obersten Beamten der Kolonie, offiziell im Rahmen einer Routinekontrolle, in Wahrheit aber wohl extra für dieses Gespräch auf die KZ-Insel im Atlantik geflogen.

Coronel dos Santos - am Donnerstag, dem 30. November 1972, 10 Uhr 15 zu einer Unterredung mit Ino Gali, Häftling Nr. 1705, im Raum 3 der sogenannten Besucherbaracke bereit.

Wozu das noch? hatte sich Inocencio, seit er instruiert worden war, wieder und wieder gefragt. Genügt ihnen nicht, dass ich’s machen will? Ahnen sie was von meinem Plan?

Diese Befürchtung hatte sich bereits geregt, als der Major, von dem er bisher «geführt» worden war, auf seinen Wunsch, vor dem Einsatz Nandenga zu sehen, bereitwillig eingegangen war. «Klar, Gali. Schließlich ist die Sache bei aller Absicherung nicht ganz ohne, und außerdem» - der Major hatte die nikotinbraunen Zähne entblößt - «brauchst du eine todsichere Person, der du den Tresorschlüssel um den Hals hängen kannst.»

«Also darf ich Nandenga bei Sao Pedro treffen?»

«Klar doch! Bei Sao Pedro, wenn die Sache läuft, und vorher schon mal hier auf unserer schönen Insel. Damit sie nicht durchdreht und Mist macht, wenn der Name Ino Gali Tag und Nacht aus dem Radio kommt!»

«Und wie soll ich das verhindern? Ihr reinen Wein einschenken? Die Wahrheit sagen?»

«Bist du verrückt, Gali? Die <Wahrheit>! Du hast sie zu vergattern, ihr einzutrichtern, dass du der alte geblieben bist, was immer man auch über dich hören wird. Andeutungen von einer großen Sache, aber ja nichts Konkretes! Du flehst sie an, dir zu vertrauen, nicht den Glauben an dich zu verlieren, und flüsterst ihr zu, am siebenundzwanzigsten Dezember halb vier an der alten Wasserstelle zu sein, heimlich, versteht sich. Weiter kein Wort!»

Wo ist der Haken daran? hatte sich Inocencio gefragt. Die arrangieren doch nicht eine Begegnung, damit ich sie leichter an der Nase herumführen kann! Was haben sie vor?

Aus Major Cavalo, dem ranghöchsten PIDE-Offizier der Insel, war nichts herauszukriegen gewesen, nichts, was jene Befürchtung zerstreut oder bestätigt hätte, und so hoffte Inocencio, sich im Gespräch mit dem Coronel Klarheit zu verschaffen. - Was hatten sie mit Nandenga vor? Ging es ihnen wirklich vor allem darum, dass sie sich bei der Ankündigung richtig verhielt, oder dämmerte ihnen, dass der goldschwere Tresorschlüssel im erstbesten Sumpf landen sollte?

Die Wachposten vor der Besucherbaracke blieben zurück; unter den Plastsohlen knirschte der steinharte, frisch gefegte Estrich, und dann schloss sich hinter Inocencio die gepolsterte Tür zu Raum drei.

Vor ihm - ein rundlicher, jovial wirkender Mann in Zivil, dem Aussehen nach so ziemlich das Gegenteil von Major Cavalo, ganz zu schweigen von dessen Folterknechten.

«Senhor Gali?»

«Pronto!» Inocencio nahm die Hacken zusammen und setzte, wie er’s gelernt hatte, zu einer Meldung an.

Coronel dos Santos winkte ab. «Das können wir uns schenken; schließlich bist du ja, seit du Vernunft angenommen hast und mit uns zusammenarbeiten willst, nicht mehr ein Häftling im eigentlichen Sinn.»

Er griff in eine Tasche seines maßgeschneiderten Anzugs, holte ein Päckchen Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer heraus, riss das Päckchen an und fuhr währenddessen fort: «Übrigens soll ich dir einen Gruß vom Gouverneur übermitteln. Seine Exzellenz lässt dir sagen, wie froh er ist, dass du bereit bist, dich in den Dienst von Ordnung und Rechtsstaatlichkeit zu stellen. Die Freiheit - so der Gouverneur - ist unser aller höchstes Gut, und mehr denn je gilt es, sie vor bolschewistischem Terror zu verteidigen. — Zigarette?»

Inocencio hatte jede Bewegung des Coronels verfolgt. Nun starrte er auf die Hand, die das Päckchen hielt.

«Nimm schon», bat dos Santos, «und stoß dich nicht an den großen Worten! Nicht, dass nicht stimmen würde, was der Gouverneur gesagt hat ...»

Gali rührte sich nicht. Spätestens jetzt wurde ihm klar, dass er dem Coronel, der damals noch Major gewesen war, schon einmal gegenübergestanden hatte, dass er ihm nach seiner Festnahme und nach den ersten Folterungen in Sao Pedro vorgeführt worden war - eine Begegnung, an die er sich verschwommen erinnerte; verschwommen vielleicht, weil bei jener Vorführung seine Lider von Schlägen geschwollen waren und er alles wie durch Schleier sah, verschwommen wohl auch, weil die Elektroschocks, mit denen man ihn gefoltert hatte, nach wie vor sein Gedächtnis trübten.

Trotzdem entsann er sich deutlich genug. So erinnerte er sich, dass dos Santos, der Oberst, ihn auf dieselbe Weise wie seinerzeit der Major dos Santos begrüßte: indem er ihm Zigaretten anbot. Überhaupt war dies wahrscheinlich das, was sich dem Gefangenen von einst eingeprägt, eingebrannt hatte: eine Hand, gepflegt und sehnig, eine Pianistenhand, die ihm ein Päckchen Pall Mall hinhielt.

«Nimm schon ...!»

Kein Händedruck, das selbstverständlich nicht, und doch, damals wie jetzt, dieselbe Geste für den namhaften schwarzen «Banditen» - nunmehr ein Streiter für «Ordnung und Rechtsstaatlichkeit».

Sogar die Zigarettenmarke war gleich geblieben - übrigens keine portugiesische Marke.

Dagegen die Hand, die schon zugreifen wollte, die stockte - eine Hand, die nie ein Klavier und auch keine Marimba je wieder virtuos zum Klingen bringen würde - Knochen, die gebrochen worden waren, und Fingernägel, die verkrüppelt nachwuchsen, seit man angespitzte Pflöcke daruntergetrieben hatte.