Edgar Forster
Barbara Rendtorff


Einleitung: Jungenpädagogik im Widerstreit

Die derzeitige Debatte über Jungen und ihre Probleme ist gekennzeichnet von einer dramatisierenden, alarmierenden Tonlage und vor allem von starken Vereinfachungen, die die Komplexität der Problematik eher verdecken als sie aufzuklären helfen.

Die Vermischung von berechtigten Sachargumenten und misogynen Affekten schiebt zudem die These der „Umkehr“ geschlechtlicher Machtverhältnisse in den Vordergrund. Sie lässt die (relativ) gewachsene Stärke von Frauen und Mädchen als Bedrohung für Männer und Männlichkeit erscheinen, sodass die Separation der Geschlechter und die Entwicklung von Sonder-Pädagogiken für Jungen als zeitgemäße logische Konsequenz erscheinen müssen – der populärpädagogische Markt reagiert darauf bereits mit einer Fülle von spezifischen Angeboten.

Die in diesem Band vorgelegten Aufsätze wollen sich dieser Tendenz der Vereinfachung, Dramatisierung und Ideologisierung nicht anschließen, sondern einen Schritt zurücktreten und die Sachlage differenziert in den Blick nehmen. An dieser Stelle seien einleitend einige Überlegungen skizziert, die in den nachfolgenden Aufsätzen auf die eine oder andere Weise aufgegriffen und diskutiert werden.

1 Kurze Bestandsaufnahme: Fakten und Mythen

Es sind vor allem zwei Aspekte, die die Interpretation aktueller Daten erschweren – einmal die Konzentration der Betrachtung auf den Leistungsaspekt, den Output, und zweitens wird jetzt offensichtlich, wie wenig die Pädagogik über Jungen und Männer weiß. Der erste Aspekt führt vor allem dazu, dass die Fakten wegen der Verkürzung des Blicks unterkomplex interpretiert werden, weil durch die Konzentration auf messbaren Erfolg die Komplexität der Probleme auf dem Weg dorthin übersehen wird. Der zweite Aspekt trägt ebenfalls zur Unterkomplexität der Debatte bei, weil unbegriffene und unhinterfragte Denkgewöhnungen und -begrenzungen die Sicht auf die Thematik einfärben. Beide Aspekte führen dazu, dass Fakten und Daten in einer „Gender-only“-Perspektive vereindeutigend unter dem Blickwinkel des Vergleichs mit „den“ Mädchen interpretiert werden, wobei aufschlussreiche Differenzierungen innerhalb der Geschlechtergruppen außer Acht gelassen werden. Hierzu einige Beispiele:

Ein wichtiger Anlass für die These der Benachteiligung von Jungen ist ihre geringere Partizipation an gymnasialer Bildung. Diese ist jedoch nicht (nur) ein Effekt von Dropout, sondern tritt im deutschen Schulwesen schon mit der fünften Klasse auf, obgleich Schulvergleichsuntersuchungen für die Grundschule keine dramatischen Leistungsunterschiede feststellen. Für die Schulübergangsempfehlung nach der Grundschule werden vor allem die Deutsch- und Mathematiknoten herangezogen – doch über 40 % der Kinder bewegen sich mit ihren Noten in einem Mittelfeld, in dem Empfehlungen für alle Schulformen möglich sind und auch ausgesprochen werden. Ganz offensichtlich gehen also (vermutlich weitgehend unbewusst) schulfremde Faktoren in die Einschätzung der Lehrkräfte mit ein, für welche Schulform ein Kind „geeignet“ sei. Das „den“ Mädchen attestierte schuladäquatere Verhalten wird hier sicherlich eine Rolle spielen, während den Jungen nur eine geringere Anpassungs- und Anstrengungsbereitschaft zugeschrieben wird. „Bereitschaft“ ist nun aber, psychologisch wie pädagogisch besehen, keineswegs dasselbe wie „Fähigkeit“ oder „Potenzial“, verweist also weder auf Leistungsfähigkeit noch auf mangelnde schulische Förderung, sondern auf die Frage, warum sich viele Jungen die Angebote der Schule und ihre Forderungen nicht zu eigen machen können. Die Vorstellung, dass es „uncool“ sei, etwas für die Schule zu tun, ist kein reines Jungenphänomen, ist aber bei männlichen Jugendlichen besonders verbreitet, und diese Distanz zur Schule hindert sie nicht zuletzt daran, ihre Neugier zu erhalten sowie ihre Anstrengungsbereitschaft und Lust an intellektueller Betätigung zu entwickeln.

Allerdings ist der leistungsbezogene Gender Gap nach allem, was wir wissen, eigentlich ein schichtspezifischer Effekt, der gehäuft bei Jungen aus bildungsfernen Elternhäusern auftritt. Die erwähnte „Gender-only“-Perspektive verzerrt auch hier das Bild und lässt den Eindruck entstehen, dass sich alle Jungen und alle Mädchen nach demselben Muster entwickeln und verhalten würden. Dazu kommt, dass die englische Schulforschung mit ihren Vergleichsdaten zeigen kann, dass die Mädchen in ihren Leistungen kontinuierlich besser werden, die Jungen jedoch das gleiche Niveau beibehalten, sodass der Eindruck entsteht, sie würden schlechter werden (vgl. dazu den Beitrag von Michael Kimmel in diesem Band). Es finden sich folglich auch mehr Mädchen in der Gruppe der „Overachiever“, deren Leistungen die Erwartung der Lehrkräfte übertreffen, während mehr Jungen als „Underachiever“ auffallen – sie bleiben also hinter den in sie gesetzten Erwartungen und vermutlich auch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Auch dieser Effekt ist wenig aufgeklärt.

Der Befund „Weniger Jungen bekommen eine Gymnasialempfehlung“ führt uns also bei differenzierter Betrachtung schnell weg von der Frage nach der Leistungsfähigkeit zu der Frage, wie das männliche Selbstbild der Jugendlichen beschaffen ist und welche Faktoren darauf Einfluss nehmen (vgl. dazu auch die Beiträge von Rolf Pohl und Michael May in diesem Band).

Entsprechend müssen auch andere Daten betrachtet werden. Aus dem Heilmittelbericht 2010 der AOK geht beispielsweise hervor, dass fast jeder vierte bei der AOK versicherte sechsjährige Junge logopädische Leistungen verordnet bekommt, jedoch nur 16 % der Mädchen. Das naheliegende Fazit „Jungen brauchen mehr Unterstützung als Mädchen“ kann jedoch auch hier vereindeutigend sein. So wissen wir beispielsweise, dass Eltern und Erzieher/innen es bei Mädchen eher tolerieren (oder es als Teil des Normalitätsspektrums ansehen), wenn sie still, zaghaft oder ängstlich sind – hier spielt die Auswirkung traditioneller Weiblichkeitsbilder eine Rolle sowie die lange Gewöhnung daran, die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Mädchen tendenziell zu unterschätzen. In diesem Fall würde die Differenz zwischen Jungen und Mädchen möglicherweise größer erscheinen als sie faktisch ist. Andererseits könnte der Befund ein Hinweis darauf sein, dass Eltern (oder Erzieher/innen) unterschiedliche Arten der Gesprächsführung praktizieren, die Beziehungsdimensionen von Sprache und Sprechen unterschiedlich nutzen oder betonen, verschiedene Arten von Sprachanlässen aufsuchen usw. – auf diesen Zusammenhang deutet auch die Tatsache hin, dass die bei PISA getesteten 15-jährigen Jungen mehr Probleme bei der Sinnentnahme aus narrativen Texten hatten als beim Verständnis von Sachtexten und Anweisungen. In diesem Fall könnten die im Heilmittelbericht aufgezeigten Unterschiede also auf unterschiedliche Praxen von Eltern und betreuenden Erwachsenen hinweisen und auf die Tendenz, Normalitätserwartungen geschlechtstypisch zu färben. Die routinemäßig auf Leistungsaspekte und Benachteiligung verkürzende Interpretation greift also auf jeden Fall zu kurz, wenn nicht auch Interpretationen auf anderer Ebene in die Analyse der Sachlage eingehen.

Zur Normalitätserwartung an Männer gehören an prominenter Stelle die Überlegenheit und die Gewöhnung an kompetitive Wahrnehmungsstrukturen und konkurrenzbetontes Handeln. In der Shell-Jugendstudie 2006 wird gezeigt, dass Wettbewerb keine selbstverständliche Grundlage für Lebensentwürfe darstellt, sondern ein geschlechtsspezifisch bedeutsames Modell ist, nach der vor allem Männer ihr Leben organisieren. Das Gefälle zwischen Werthaltungen von Mädchen und Jungen nimmt gegenüber der Untersuchung von 2002 noch zu. Hier liegt sicher auch ein Grund dafür, warum die Jungen-Debatte zu diesem Zeitpunkt auftritt – in einem historischen Moment also, an dem Frauen und Mädchen aufgeholt haben und der Vorsprung der Männer in Fragen der Intellektualität, der Verdienstmöglichkeiten oder der politischen Einflussnahme ein wenig geschrumpft und nicht mehr ganz so fraglos ist wie früher. Das eigentlich die Öffentlichkeit Beunruhigende ist doch, dass die Jungen nicht besser als die Mädchen sind (was zu erwarten wäre), und die Reaktionen fallen vermutlich deshalb so heftig aus, weil diese selbstverständliche Erwartung durchkreuzt und damit das gewohnte Bild der Geschlechterverhältnisse erschüttert wurde. Und hier rächt es sich nun, dass die Wissenschaften so wenig über Männer und Männlichkeiten wissen. Weil über so lange Jahrhunderte das Männliche mit dem Allgemeinen (und mit Normalität) gleichgesetzt wurde, ist Männlichkeit als strukturierende Kategorie und sind Männer als Geschlechtswesen erst sehr spät und nur am Rande in den Blick der Wissenschaften geraten. Das hat viele wissenschaftliche Probleme verursacht (wie routinemäßige Kategorienfehler; vgl. dazu auch den Beitrag von Sigrid Schmitz in diesem Band) und zu einer Verarmung der Vorstellung von Männlichkeiten geführt, die insbesondere für Jungen und heranwachsende männliche Jugendliche fatal ist. Die scharfe Trennung zwischen „richtigen Männern“ und solchen, die als „abweichende“, marginalisierte Individuen eben keine „richtigen Männer“ sind, hat es dann obsolet erscheinen lassen, diese Normalitätsvorstellungen und Normativitätsforderungen genauer zu analysieren.

2 Unterscheidungswünsche und Unterschiedsbehauptungen

Woher kommt die aktuelle Tendenz, Unterschiede zwischen den Geschlechtern stärker als in den letzten dreißig Jahren zu betonen, herauszustellen und sogar herzustellen, und dies zugleich als moderne zeitgemäße Errungenschaft darzustellen? Wir werden diese Frage nicht beantworten können, aber einige Hinweise lassen sich vorab geben, die in den nachfolgenden Texten in unterschiedlichen Facetten noch an Klarheit gewinnen werden.

Grundsätzlich sind Unterschiedsbehauptungen in der Regel nicht unschuldig oder neutral, sondern dienen einer hierarchisierenden Kategorisierung; und wo diese im Vordergrund steht, sind das Passend-Machen und die dafür dienlichen Vereindeutigungen notwendige strategische Hilfsmittel, denn kategorisieren lässt sich schließlich nur das, was auch erkennbar und eindeutig in eine Kategorie „passt“ und sich vom Nicht-Passenden deutlich unterscheiden lässt. Eine mögliche These wäre folglich, dass es vor allem darum geht, Überlegenheitspositionen zurückzugewinnen. Das könnte die Überlegenheit von Männern über Frauen betreffen oder auch die bestimmter Gruppen von Männern (oder: eines Typs von Männlichkeit) gegenüber anderen.

Überlegenheitsbehauptungen sind ein zentrales Element von Männlichkeitskonzepten – das Vorbild des „Bestimmers und Gewinners“ ist zumal für kleine Jungen Verlockung und Druck erzeugendes, weil schier unerreichbares Ziel. Die Frage, wer der Chef ist, kann ganze Kindergruppen paralysieren und in Atem halten, und die Peergroups der Älteren erben diese oft leidvoll erfahrene Orientierung. Glücklich jene, die sich nicht in ständiges Rivalisieren verwickeln müssen, aber je unsicherer die Jungen sind, desto dringlicher wird sich die Verbindung von Männlichkeit und Überlegenheit für sie stellen. Aus dieser Perspektive wären Überlegenheitsbehauptungen eine Möglichkeit, mithilfe der Abgrenzung von anderen doch noch einen Platz in der Gruppe der Sieger und „richtigen Männer“ zu erreichen. Dies würde dann im Unterschied zur Konstellation in der ersten These darauf hindeuten, dass diese Männlichkeit von innen her bedroht ist – durch andere Männer/Männlichkeiten oder indem sie obsolet oder unproduktiv wird angesichts gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen. Sie würde also eher wie ein Luftballon eingehen oder sich auflösen, als dass sie von außen bedroht würde.

Dennoch bleibt unklar, warum in Bezug auf Ethnizität oder Behinderung die Tendenz in der öffentlichen Rede eindeutig dahin geht, Unterschiede nicht zu betonen und auf Inklusion, Integration und gegenseitige Annäherung zu setzen, in Bezug auf Geschlecht jedoch das Gegenteil passiert. Wo es auf der einen Seite modern und zeitgemäß erscheint, Unterschiede zu entdramatisieren, ist es auf der anderen umgekehrt. Die populärpädagogische Literatur ist hieran durchaus aktiv beteiligt, wenn etwa ein Verlag für Schulmaterialien (PONS) spezielle, getrennte Bücher herausbringt, für Mädchen auf rosa Papier mit zwei als Engeln verkleideten süßen blonden Mädchen auf dem Cover, für die Jungen sind innen Blau- und Grüntöne vorhanden und außen ein Pirat; für Mädchen gibt es Geschichten und Aufgaben mit Blumen, Pferden und Ballett, für Jungen mit Räubern, Fußball und Computer – wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, würde es für eine Parodie halten. Diese Produktlinie wirbt damit, dass Jungen bzw. Mädchen „anders lernen“ und „unterschiedliche Lernbedürfnisse“ hätten – so müssen Eltern nachgerade zu dem Schluss kommen, dass sie ihren Kindern schaden würden, wenn sie sie nicht in ihren vermeintlichen „besonderen“ geschlechtsspezifischen Interessenlagen unterstützen. Interessen jedoch können gar nicht „geschlechtsspezifisch“ sein – sofern der Ausdruck streng genommen aussagt, dass etwas nur bei einem Geschlecht auftritt (wie Menses oder Bartwuchs). Alle anderen Phänomene, die gehäuft, aber nicht zwingend nur bei einem Geschlecht auftreten, sind geschlechts typisch und insofern kontingent. Interesse ist zudem eine „Gerichtetheit“ der Aufmerksamkeit und insofern nicht naturgegeben.

Auch Lego wirbt mit getrennten Produktlinien für Mädchen und Jungen. Hervorgehoben werden die Unterschiede: Jungen und Mädchen spielen „anders“, sie haben unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Betrachten wir die Bauanleitungen von zwei Sets, die hinsichtlich der Altersempfehlung und des Preises vergleichbar sind. Nicht nur die Aufmachung – blau für Jungen und pastellfarbenes Rosa für Mädchen – sticht sofort ins Auge, sondern auch die Größe und Anzahl der Steine und die damit verbundene unterschiedliche Funktionalität der Sets: Das Zusammenbauen der kleinen Einzelteile ist das Ziel für Jungen; deshalb bleibt die Figur klein, abstrakt – anstelle der Hand befindet sich nur eine „Klaue“, während die Hand der Mädchenpuppe im Detail ausgeformt ist – und im Vergleich zur Figur im „Mädchenbaukasten“ unbeweglich. Die Bauanleitung, aber auch die Assessoires im Set für Mädchen lassen erkennen, dass das Ziel nicht im Zusammenbauen der wenigen großen Teile besteht, sondern im Spielen damit.

Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht von 2005 wird die Vorstellung entwickelt, dass der natürlichen Geschlechterdifferenz durch ein geschlechtsdifferenzierendes Erziehungsverhalten Rechnung getragen werde müsse, um eine gelingende Entwicklung zu ermöglichen. Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, auf die Natur des Geschlechterunterschieds zu pochen und im gleichen Zug die Forderung zu erheben, die Natur durch soziale Aktivitäten zu unterstützen, weil sie selbst zu schwach sei, sich im Sozialen auszudrücken. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man die Natur als ein Potenzial betrachtet, das es zu kapitalisieren gilt, weil sie eine wertvolle Ressource darstellt.

Warum also hier der Aufwand, uns glauben zu machen, dass Jungen sich von Natur aus für Piraten, Autos und das Zusammenbauen interessieren und Mädchen für süße blonde Engelchen, für Püppchen und Rollenspiele? Warum diese Betonung von Verschiedenheiten, von Trennendem und Unvereinbarkeiten zwischen den Geschlechtern, die doch in Bezug auf andere Differenzen zurückgewiesen wird? Woher der – manchmal leicht verschämte, aber extrem verbreitete – Glaube an Pease & Pease und daran, dass sich Männer und Frauen in grundverschiedenen, getrennten Gefühlsuniversen bewegen? Drückt sich hier nur ein Wunsch aus, dass die Welt einfacher sein möge, als sie ist, zumal doch hierarchische Ordnung und Unfreiheit auch in Bezug auf Geschlecht letztlich immer bequemer sind als Selbstverantwortung und Gestaltungsfreiheit? Oder ist die Sorge um die Männlichkeit eine Sorge um ihre Souveränität und Dominanz?

3 Der Boy Turn und die Krise der Männlichkeit in der medialen Öffentlichkeit

Medien und Sachbücher produzieren und transportieren seit etwa zehn Jahren eine moralische Panikmache über die Krise von Männlichkeit und die Benachteiligung von Jungen. Dazu haben auch eine Serie von Amokläufen und die Zunahme von Gewalt unter Jungen beigetragen und die Frage nach der destruktiven Sozialisation junger Männer aufgeworfen. Der Begriff „Boy Turn“ beschreibt diese Hinwendung zur Problemlage von Jungen. Neu ist die Aufmerksamkeit für Jungen als Jungen. Ihr männliches Geschlecht scheint zum Problem geworden zu sein. Die Rede ist von einem „kulturellen Passungsproblem“, und Michael Kimmel (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) spricht von einem Anachronismus der Männlichkeitsideologie. Die , Schuldigen‘ dieser Misere sind schnell ausgemacht: Mütter, die Ablöseprozesse von Söhnen nicht zulassen (vgl. den Beitrag von Rolf Pohl in diesem Band), Erzieherinnen und Lehrerinnen, die jungenfeindliche Lern- und Leistungskulturen an Schulen etabliert haben, eine zu einseitige Konzentration auf Mädchenförderung zulasten von Jungen und schließlich der Feminismus mit einer einseitigen Deutungshoheit über Geschlechterfragen. Der Boy Turn ist damit ein sichtbares Zeichen einer grundlegenden Krise der Männlichkeit, wie auflagenstarke Magazine beschwören.

Die Aufmerksamkeit auf Problemlagen von Jungen zu richten, ist positiv einzuschätzen, weil Männlichkeit als gesellschaftlich relevante Identitätskategorie thematisiert wird und auf diese Weise Anerkennung in bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskursen findet, die genützt werden kann, um Geschlechterdemokratie voranzubringen. Hierzu ist allerdings eine reflexive Analyse der Kategorien Geschlecht, Männlichkeit und Krise unabdingbar. Die Vereinfachungen „die“ Jungen und „die“ Mädchen treffen die komplexen Problemlagen ebenso wenig wie die Konzeption der Relationalität der Geschlechter in Begriffen der Opposition. Dieses Denken behandelt alle Geschlechterfragen als eine Gewinn- und Verlustrechnung: Jungen verlieren auf Kosten von Mädchen. Auch der Begriff Krise muss, wie Felix Krämer und Olaf Stieglitz in ihrem Beitrag darlegen, mit der nötigen Reflexion verwendet werden, um problematische Naturalisierungen von Geschlecht zu vermeiden. „Krise“ suggeriert, es gäbe Männlichkeit als eine es sentielle Persönlichkeitseigenschaft, die in ihrem Bestand geschützt werden müsse. Unklar bleibt oft auch, ob sich der Begriff „Krise“ auf gesellschaftliche Problemlagen oder psychodynamische Dimensionen von Männern bezieht. Ebenso wenig deutlich sind das Ausmaß und die Intensität der Krise. Empirische Studien stellen keine Krise „der“ Männer fest, sondern eher die zunehmende Akzeptanz von pluralen Männlichkeitsentwürfen. Ausgeblendet werden zudem Widersprüche zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung von Männern ebenso wie gesellschaftliche Widersprüche, die mit Männlichkeitsbildern verknüpft sind; z.B. Widersprüche zwischen Berufszentrierung und aktiver Vaterschaft oder zwischen konkurrenzorientiertem Lebenskonzept und Teamorientierung. Anstatt diese Widersprüche zu bearbeiten, werden sie in einen Geschlechterkampf verwandelt.

Wenn man also von einem Boy Turn spricht, hat man es mit einem komplexen theoretischen und politischen Prozess zu tun, in dem unterschiedliche Interessen und Dimensionen von Geschlechtertheorie und -politik verknüpft werden.

Die folgende Übersicht folgt der Dreiteilung des Buches: Wir beginnen mit zentralen theoretischen Fluchtlinien des Widerstreits, geben dann eine Vorausschau auf aktuelle Brennpunkte der Jungendebatte und schließen mit Beiträgen zu einer kritischen Pädagogik der Geschlechter.

4 Theoretische Fluchtlinien des Widerstreits

Obgleich sich die Presse derzeit intensiv mit der Thematik der „Jungenkrise“ befasst, sind selbst die allgemeinsten Grundlagen der zur Debatte stehenden Sachlage und des Streits um deren Einschätzung umstritten. Ziel des ersten Abschnitts Theoretische Fluchtlinien des Widerstreits ist es deshalb, die theoretischen Grundlagen der Kontroverse zu thematisieren und zu fragen, wie auf Jungenpädagogik geblickt wird und mit welchen Konsequenzen dies verbunden ist.

In weiten Teilen der Welt könne man beobachten, so Michael Kimmel in seinem Beitrag Jungen und Schule: Ein Hintergrundbericht über dieJungenkrise“, dass Bildungsmöglichkeiten und Zugangschancen zu Schulen und Universitäten für Mädchen nach wie vor eingeschränkt sind und bei Alphabetisierungsraten ein großer Gender Gap herrscht. Anders ist die Situation in Europa, Australien und in den USA, wo trotz anhaltender Diskriminierungen von Frauen im Bereich von Karrieren und Verdienstmöglichkeiten eine Jungenkrise die pädagogische Debatte bestimmt. Dafür sind drei Indikatoren verantwortlich: Deutlich mehr junge Frauen besuchen höhere Schulen und Universitäten als junge Männer; die Leistung von Studentinnen sind besser als die ihrer männlichen Kollegen; junge Männer fallen in Bildungseinrichtungen, in der Öffentlichkeit und im Privaten zunehmend durch gewalttätiges Verhalten auf. Michael Kimmel zeichnet in seinem Beitrag erstens ein differenziertes Bild von den empirischen Grundlagen, die in der Debatte über die Jungenkrise verwendet werden und korrigiert falsche Eindeutigkeiten: Oft werden kleine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen überinterpretiert und größere Unterschiede innerhalb der Gruppe der Jungen und Mädchen vernachlässigt. Zweitens zeigt Michael Kimmel, dass aufgrund stereotyper Annahmen, wie Mädchen und Jungen ‚sind‘, falsche bildungspolitische Strategien abgeleitet werden: So sei es ein Irrtum anzunehmen, dass die Jungenkrise mit einer übertriebenen Mädchenförderung zu tun habe. Der aktuelle Gender Gap in der Bildung und im Verhalten könne nur im Kontext einer fehlenden Übereinstimmung zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen einerseits und der relativ unflexiblen Definition von Männlichkeit andererseits begriffen werden. Die Welt habe sich im letzten halben Jahrhundert enorm verändert, aber die Ideologie von Männlichkeit habe mit diesen Veränderungen nicht schritthalten können. Wenn man die Ideologie von Männlichkeit anspreche, die Jungen erfahren und wiedergeben, dann erhalte die Jungenkrise ein völlig anderes Gesicht und erscheine als Ausdruck einer gewalttätigen Jungenkultur, gegen die es Interventionsmaßnahmen bedürfe.

Felix Krämer und Olaf Stieglitz untersuchen in ihrem Beitrag Männlichkeitskrisen und Krisenrhetorik, oder: Ein historischer Blick auf eine besondere Pädagogik für Jungen nicht die Jungenkrise selbst und ihre Gründe, sondern die mediale Rhetorik dieser Krise. Dann zeigt sich, dass die Jungen- und Männlichkeitskrise nicht neu ist, sondern immer an neuralgischen Punkten der modernen Historie aufzuflackern scheint und als Ursache allen gesellschaftlichen Übels ausgemacht wird. Deswegen ist mit der Krisendiagnose der Appell verbunden, das Geschlechtermodell der hegemonialen Männlichkeit wieder in Stellung zu bringen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung einer essentialistisch gedachten Männlichkeit in einer nostalgisch verklärten einfachen Vergangenheit, die darüber hinwegtäuscht, dass das Krisennarrativ auf kulturelle Verteilungskämpfe, auf Macht und hegemoniale Ansprüche in der Gesellschaft verweist. Krisen führen dazu, dass Gruppen als Gruppen sichtbar und als Kollektive handlungsfähig werden können. Und dies lasse sich am aktuellen Diskurs über Jungenpädagogik zeigen, wenn für eine bestimmte Gruppe eine besondere Pädagogik entwickelt werden soll, ihr also besondere Aufmerksamkeit, wechselweise in Form kultureller oder materieller Ressourcen, zugestanden wird.

Aktuelle Debatten über eine Jungenpädagogik nehmen in zwei verschiedenen Formen Bezug auf Genetik und Neurowissenschaften. Zum einen wird versucht, Unterschiede biologisch zu erklären und damit Verhalten zu legitimieren oder Forderungen nach einer anderen Umwelt – nach anderen Lernwelten und Pädagogiken – aufzustellen, zum anderen lässt sich eine gegenläufige Tendenz erkennen, und mit Bezug auf konstruktivistische Paradigmen in der Hirnforschung werden biologistische Positionen infrage gestellt. Sigrid Schmitz nimmt in ihrem Beitrag Back to the Brain? Geschlecht und Gehirn zwischen Determination und Konstruktion den alten Streit zwischen nature und nurture wieder auf, um am Beispiel der Hirnforschung Fragen der Determination und Konstruktion von Geschlecht genauer zu bestimmen. Hierzu müssen zunächst die Möglichkeiten und Grenzen der Hirnforschung für die Beschreibung von Geschlechterunterschieden beschrieben werden, um die widersprüchlichen Forschungsbefunde interpretieren zu können. Schmitz plädiert für eine stärkere Berücksichtigung von Embodying-Ansätzen, in denen der Gegensatz zwischen Natur und Kultur, zwischen Körper und Geist zugunsten vielfältiger dynamischer Prozesse der Wechselwirkung und des Austausches überschritten wird. Körperliche Materialität werde einerseits von sozialen Erfahrungen und Lernprozessen geformt, gleichzeitig beeinflussen körperliche Aspekte kognitive Prozesse. Daraus folgt, dass Geschlechterfragen nicht durch den Verweis auf die Natur legitimiert werden können, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.

Aus verschiedenen disziplinären Perspektiven und mit unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ansätzen kommen die Autor/innen zu ähnlichen Ergebnissen: Erstens sind die Befunde aus sozial- und naturwissenschaftlichen empirischen Studien widersprüchlich und dies hat unter anderem damit zu tun, dass in die Studien stereotype Auffassungen über Geschlechter einfließen. Michael Kimmel zeigt, dass die Kategorien Gender und Männlichkeitsideologie als zentrale Faktoren der Jungenkrise ausgeblendet werden. Zweitens lässt sich die Jungenkrise nicht unabhängig von ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen begreifen. Sie ist Ausdruck von Kämpfen um gesellschaftliche Hegemonie. Krisensymptome klären deswegen auch nicht darüber auf, wie Jungen und Männer wirklich sind und welche Pädagogik daraus ableitbar ist.

5 Brennpunkte der Jungendebatte

Im Anschluss an Michael Kimmels Erkenntnis, bei der Erklärung der Jungenkrise den Fokus stärker auf Gender und Männlichkeitsideologie zu richten, haben wir drei aktuelle Brennpunkte der Jungendebatte ausgewählt: erstens Fragen der sexuellen Identität von Jungen und Männern; zweitens: Welche Bedeutung haben männliche Vorbilder für Jungen? Und drittens, mit Blick auf die Funktion von Gewalt und Aggression in der biografischen Entwicklung: Wie lässt sich das Risikoverhalten vieler Jungen erklären?

Rolf Pohl stellt in seinem Beitrag Probleme der sexuellen Identität von Jungen und Männern die Frage nach der sexuellen Identität von Jungen und Männern, denn auf diesem Feld zeigen sich bewusste und unbewusste Konflikte, die mit der Reproduktion männlicher Identität einhergehen. Männlichkeit werde nicht nur erworben, sondern müsse immer wieder unter Beweis gestellt und erneuert werden. In männerdominierten Gesellschaften greifen Jungen und Männer dazu auf Strategien einer doppelten Abgrenzung zurück: Abgrenzung gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern. In Theorien zur Geschlechtsidentität finde dieser Abgrenzungswunsch Ausdruck im Konzept der Ent- oder Gegen-Identifizierung als Voraussetzung für die Entwicklung einer stabilen Geschlechtsidentität. In der Praxis heißt das Abgrenzung von der Mutter, und die vielfältigen Formen des Motherblamings sind auch in der Pädagogik, etwa in der Debatte über die Feminisierung der Schule sichtbarer Ausdruck einer Geschlechtertheorie, der zufolge Männlichkeit nur in Absetzung vom Weiblichen gebildet werden könne. Nach Pohl neigen die unter den herrschenden Geschlechterhierarchien sozialisierten Männer dazu, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit eine „falsche Antinomie“, wie Jessica Benjamin sagt, herzustellen. Wenn diese Antinomie unterlaufen wird, führe dies zu existenziellen Ängsten und Gegenmaßnahmen zur Abwehr der assoziativ mit Weiblichkeit verknüpften Gefahren. Eine Befriedung des Geschlechterverhältnisses sei möglich, ohne dabei Differenzen des Gegengeschlechtlichen aufzugeben, dies aber erst, wenn die Frau als Genus gesellschaftlich gleichwertig sei.

Die Frage der Entwicklung von Geschlechtsidentität gewinnt in der Diskussion über eine Jungenpädagogik vor allem im Widerstreit über die Rolle männlicher Vorbilder Bedeutung. Erich Lehner stellt die Frage grundsätzlich: Brauchen Jungen männliche Vorbilder? Mit Bezug auf die Psychoanalyse und die Theorie des Modell-Lernens zeigt er auf, dass die Frage, ob Jungen Vorbilder benötigen, zunächst davon ausgehen muss, dass es bei Vorbildwirkungen um höchst komplexe Prozesse der Aneignung und Auseinandersetzung von Verhaltens- und Denkweisen geht, in der die individuelle Entwicklung und soziale Beziehungen eine große Bedeutung haben. Jungen (und auch Mädchen) orientieren sich nicht an Vorbildern, sondern höchstens an Bildern und Modellen als äußeren Anreizen, die vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Entwicklungsgeschichte und eingebunden in ein Beziehungsgeschehen bearbeitet werden. Was bedeutet dies für die in der Jungendebatte erhobene Forderung nach mehr männlichen Lehrern, die als Role Models Funktionen für vielfach abwesende Väter übernehmen sollen? Lehner weist nicht nur darauf hin, dass die Ergebnisse der Väterforschung keine einfachen Interpretationen zulassen, sondern er zeigt, dass die Idee der Role Models in der Geschlechterrollentheorie wurzelt, die der Komplexität und Dynamik von Prozessen geschlechtlicher Identitätsentwicklung nicht gerecht werde. Was Jungen und Mädchen brauchen, seien fachkompetente Lehrpersonen mit Genderkompetenz. Mehr Männer in der Schule könnten aus zwei Gründen sinnvoll sein: Erstens eröffne das durch Personen in einem Interaktionsvorgang verkörperte Geschlecht auch Erfahrungs- und Reflexionsräume und zweitens könne ein Zeichen für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit auf gesellschaftlicher Ebene gesetzt werden, wenn eine Gruppe von Männern sich verstärkt mit der empathischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen beschäftigt und somit auf das in der Gesellschaft dominante Männerbild einwirkt.

Tim Rohrmann wählt in Zur Bedeutung von männlichen Pädagogen für Jungen eine ähnliche Perspektive: Lassen sich Ergebnisse der Väterforschung auf pädagogische Settings übertragen und damit bildungspolitische Maßnahmen begründen? Wie Lehner geht auch Rohrmann davon aus, dass Väter und Männer in Erziehungsprozessen nicht aufgrund ihres biologischen Geschlechts eine zusätzliche pädagogische Qualität einbringen, sondern dass sich die Qualität und Effekte väterlichen Erziehungsverhaltens in hohem Maße dem Geschlechterarrangement beider Eltern verdanken, das heißt ihrer gemeinsamen Interpretation von Mann- und Frausein und der Qualität ihrer Paarbeziehung. Diese ‚erweiterte‘ Perspektive überträgt Rohrmann auch auf den schulischen Kontext, denn möglicherweise sei der Mangel an empirischen Belegen über den Zusammenhang zwischen männlichen Pädagogen und schulischen Problemen von Jungen auch auf eine verkürzte theoretische Perspektive zurückzuführen, und die Frage des Einflusses männlicher Pädagogen müsse im Kontext von Erziehungsvorstellungen, Männlichkeitsbildern und Peergruppen von Jungen betrachtet werden. Während Kimmel einen Widerspruch zwischen einer überkommenen Männlichkeitsideologie und dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen ortet, spricht Rohrmann im Anschluss an Budde von „kulturellen Passungsproblemen“, in die Jungen mit einem männlichen Habitus geraten, der sich nicht mit der Schulkultur verträgt. Auch für Rohrmann ändert die bloße Anwesenheit von männlichen Lehrern wenig. Im Vordergrund stehen vielmehr Männlichkeitskonstruktionen, die mit Erwartungen von Pädagog/innen in Konflikt geraten können. Nach Rohrmanns Auffassung, und hier gibt es graduelle Unterschiede zur Position von Lehner, verschärfen sich die Konflikte, wenn keine Männer zur Auseinandersetzung zur Verfügung stehen, sodass Aushandlungsprozesse „stellvertretend“ von Frauen und Jungen geführt werden. Rohrmann zieht daraus den Schluss, dass männliche Pädagogen diese konflikthafte Dynamik nur verändern können, wenn sie den Jungen, aber auch den weiblichen Kolleginnen für solche Aushandlungsprozesse zur Verfügung stehen. Und dies setzt wiederum voraus, dass sie Genderangebote für die Reflexion ihrer eigenen Identität erhalten.

Die Frage nach männlichen Vorbildern für Jungen müsste in den Kontext der Argumente zur sexuellen Entwicklung von Rolf Pohl gestellt werden, denn wenn sexuelle Entwicklung eng mit Fantasien über Autonomie und Abhängigkeit verknüpft ist, die mit der Realität in Konflikt treten, und wenn Autonomiestreben in männerdominierten Gesellschaften vor allem als Ablösung von der Mutter begriffen wird, dann stellt sich die Frage der Vorbilder im Kontext des Bestrebens einer Autonomie, die selbst Teil einer Männlichkeitsideologie darstellt. Daraus könnten zwei Erkenntnisse gewonnen werden: Erstens müssten männliche Pädagogen über Genderkompetenz verfügen, damit die Auseinandersetzungen über Männlichkeitskonstruktionen nicht zu einer Perpetuierung von Dominanzerfahrungen führt, die auf Kosten von Frauen und Jungen, die dem Bild hegemonialer Männlichkeit nicht entsprechen, geführt werden. Zweitens müssten Lehrerinnen und Lehrer ihre Geschlechterarrangements und die institutionalisierten Formen, die sie annehmen, thematisieren, denn es sind komplexe Verhältnisse, die als Bilder Vorbildwirkung haben.

Die tatsächliche Jungenkrise sei die einer gewalttätigen Jungenkultur, hatte Kimmel in seinem Beitrag geschrieben. Michael May analysiert eine Facette dieser Thematik in Riskante Praktiken von Jungen. Risikoverhalten gehöre zum Repertoire von biografischen Übergängen bei Mädchen und Jungen, aber obwohl Mädchen sich Jungen angleichen, so tendieren diese immer noch eher zu aggressivem, gewalttätigem oder abweichendem Verhalten und zu riskantem Handeln in Alltag, Sport und Straßenverkehr. Neben biologischen sowie beziehungs- und psychodynamischen Ansätzen wird Risikohandeln auch männlichkeitstheoretisch erklärt: Es gilt als „Einsozialisierung in den männlichen Habitus“. Im Risikohandeln werde Männlichkeit eingeübt und bekräftigt. Antriebskraft dafür seien zum einen die „libido dominandi“, das Bestreben, andere Männer zu dominieren, und zum anderen eine gemeinschaftsbildende Kraft, die von kollektiven Ritualen ausgeht. Ähnlichkeiten bei diesem efferveszenten Rausch gebe es zum Erlebnis des Flows, der allerdings stärker mit Aspekten von Kontrolle verbunden sei. Immer gehe es dabei um Größen- und Allmachtsfantasien, aber während es im traditionellen männlichen Habitus vor allem um eine ‚Bezwinger-Mentalität‘ ging, nehmen die in den neuen risikobetonten Bewegungskulturen ausgebildeten Habitusformationen von Männlichkeit sehr viel stärker den Kampf mit einer Realität auf, die weder eindeutig noch jemals in den Griff zu bekommen sei.

6 Beiträge zu einer kritischen Pädagogik der Geschlechter

Die Aufsätze des dritten Teils des Buches versammeln Beiträge zu einer kritischen Pädagogik der Geschlechter. Carrie Paechter eröffnet diesen Abschnitt mit Polyphonie? Ausblicke auf einen anderen Geschlechterdiskurs in der Pädagogik. Ein herausragendes Merkmal des derzeitigen Boy Turn in Großbritannien ist die Forderung der Medien, spezielle Bildungsangebote für Jungen zu schaffen, die „ihren Bedürfnissen gerecht“ würden. Die schulische Bildung sei feminisiert und diesem Problem müsse begegnet werden, um die Entstehung einer verlorenen Generation ungebildeter junger Männer zu verhindern. Carrie Paechter nennt diesen Diskurs polyphon, weil er das Nebeneinander von zwei unabhängigen Programmen vorschlägt. Der Ausdruck ist vielleicht ein wenig irreführend, wenn man von dem Wortbestandteil „poly“ auf „mehrere“ Beteiligte schließen wollte – doch Carrie Paechter will hier vor allem betonen, dass die beiden Stimmen, wie die geschlechtsbezogenen Pädagogiken, unabhängig voneinander in einem Nebeneinander geführt werden. Der polyphone Diskurs wurde zeitweilig von einem monophonen Diskurs abgelöst: Für alle Kinder und Jugendlichen galt, zumindest offiziell, das gleiche Curriculum. Dem monophonen Diskurs sind auch feministische Bestrebungen verpflichtet, die darauf abzielten, den Mädchenanteil in den Naturwissenschaften oder in Technik zu erhöhen, denn Mädchen wurden dazu ermuntert, sich der weitgehend maskulinen Lehrplangestaltung und Pädagogik anzupassen. Beide Formen, polyphone und monophone Unterrichtsgestaltung, führen zu Problemen, die einerseits sexistisches Verhalten und Geschlechterstereotype und andererseits Dualismen und die damit verbundene Hierarchisierung der Geschlechter verstärken anstatt sie abzubauen. Demgegenüber könnte der heterophone Diskurs fruchtbarer sein, denn er geht zwar von der Grundannahme aus, dass alle Kinder, also Mädchen und Jungen, einen allgemeingültigen gemeinsamen Lehrplan und eine ebensolche Pädagogik erhalten, das heterophone Verfahren lässt aber verschiedene Variationen davon zu. Diese Pädagogik unterstreicht, dass Menschen verschieden sind und auf verschiedene Weisen lernen, distanziert sich jedoch davon, dies auf stereotype Unterscheidungen nach Geschlecht und sozialer Schicht zurückzuführen. Stattdessen gehe es darum, den einzelnen Menschen und seine individuellen Fähigkeiten im Rahmen eines gemeinsamen Lehrangebots in den Blick zu nehmen. An die Stelle von Stereotypen trete ein Diskurs, der es dem Curriculum und der Pädagogik erlaube, sich zu jeder Zeit danach zu richten, wie ein Individuum leben und lernen möchte. Ein solcher Diskurs stelle Geschlechternormen infrage und ermögliche eine Fülle von Lebens- und Lernweisen für Mädchen und Jungen.

Miguel Diaz präsentiert anschließend die Initiative Neue Wege für Jungs. Diese geschlechtsbezogene Unterstützung bei der Berufs- und Lebensplanung geht von dem Befund aus, dass sich junge Männer und Frauen in ihrer Berufs- und Lebensplanung nach wie vor sehr stark von traditionellen Geschlechterbildern leiten lassen. Entscheidend für die Wahl eines Ausbildungsberufes scheinen die Geschlechtszugehörigkeit, tradierte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die geschlechtliche Konnotation vieler Berufe als ‚Männer-‘oder ‚Frauenberuf‘ und das Image von Berufen zu sein. Diese eng an Männlichkeitsideologie ausgerichteten Entscheidungen geraten zunehmend in Widerspruch zum Wandel des Arbeitsmarktes und zur Organisation von Arbeit. Während klassische Angebote der Berufswahlorientierung der traditionell männlichen Perspektive folgen und lediglich die Berufswahl thematisieren, verknüpft die staatliche Initiative Neue Wege für Jungs Berufs- und Lebensplanung. Es gälte z. B. die starke Erwerbszentriertheit vieler Jungen bei der Zukunftsplanung kritisch zu reflektieren und um Bereiche zu erweitern, die traditionell stärker von Frauen übernommen werden, wie beispielsweise die Care-Tätigkeiten. Damit seien aber Männlichkeitskonstruktionen berührt, deren Reflexion in die Beratung einbezogen werden müsse, wenn Veränderungen bei Berufswahlentscheidungen gelingen sollen. Zu den Angeboten von Neue Wege für Jungs zählen deswegen auch die Flexibilisierung von Männlichkeitsmustern und -bildern sowie die kritische Reflexion des traditionellen Männerbildes zugunsten pluralisierter Männlichkeitsformen.

Ahmet Toprak und Aladin El-Mafaalani beschreiben in ihrem Beitrag eine konfrontative Pädagogik mit muslimischen Jugendlichen, die in pädagogischen Feldern dann zur Anwendung kommt, wenn Vereinbarungen oder feste Regeln verletzt werden. Der Vorzug der konfrontativen Pädagogik besteht darin, dass das Fehlverhalten in Bezug auf Regeln, die für alle gelten, thematisiert wird, aber nicht mit Bezug auf persönliche Merkmale. Ergänzt werden sollte diese Pädagogik durch ressourcenorientierte Maßnahmen, die die Stärken des Jugendlichen hervorheben oder durch Sensibilität gegenüber den persönlichen, sozialen und migrationsspezifischen Rahmenbedingungen Einfühlsamkeit signalisieren. Deswegen ist es notwendig, dass Pädagog/innen über interkulturelle Kompetenz verfügen, um Verhaltensweisen, die oft auf widersprüchliche Anforderungen, mit denen sich Jugendliche vonseiten der Familie, der Bildungseinrichtungen und der Peergroup konfrontiert sehen, besser verstehen zu können.

Nirgendwo wurde der Boy Turn nachdrücklicher in bildungspolitische Maßnahmen umgesetzt als in Australien, dessen Regierung Richtlinien zur Jungenpädagogik formuliert und landesweit pädagogische Programme für Jungen initiiert und finanziert hat. Thomas Viola Rieske unterzieht in seinem Beitrag Jungenförderung als Politik: das Beispiel Australien die australische Jungenpädagogik einer Kritik. Zwei Charakteristika kennzeichnen ihre politische Programmatik: Australische Jungenpädagogik sei typisch für eine konservative Modernisierung der Geschlechterpolitik, die systematische und strukturelle Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen ausblende. Zweitens lasse sich daran die Rolle des starken Staates studieren, der auf Druck transnationaler Organisationen verstärkt Einfluss auf Bildung nimmt. Zugleich jedoch, so Rieske, lassen sich auch gegenteilige Effekte beobachten: Die Dramatisierung von Geschlechterverhältnissen schaffe auch Möglichkeiten zur Diskussion und Verbreitung geschlechterdemokratischer Wissensformen und Praktiken. Es gebe eine Aufmerksamkeit für Geschlechterproblematiken, die produktiv genützt werden könne. Der Boy Turn sei nicht einfach eine Fehlentwicklung, die Frage ist vielmehr, wie er progressiv gewendet werden könne. Als ein Beispiel nennt Rieske die Produktion verständlicher, praxisnaher Literatur zur pädagogischen Arbeit mit Jungen, die deren Erfahrungswelten und Deutungsmuster berücksichtigt. So ist in Australien nicht nur ein staatliches bildungspolitisches Programm für Jungen durchgesetzt worden, sondern dort sind in der kritischen Auseinandersetzung damit auch Überlegungen zu einer auf Geschlechterdemokratie basierenden Jungenpädagogik entstanden: Ansätze zu einer „Produktiven Pädagogik“.

7 Resümee: Genderkompetenz lernen

Die Zusammenschau der Beiträge zeigt, so lässt sich resümieren, dass der Weg hin zu zeitgemäßen gleichberechtigten Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit noch weit ist, dass sich aber einige klare Voraussetzungen erkennen lassen, die wir für diesen Weg benötigen. Wo auch immer man mit Erklärungsversuchen ansetzen will – und die in diesem Buch vorgelegten Beiträge zeigen hierzu etliche produktive Ansatzmöglichkeiten –, man wird nicht umhinkönnen, von der Ebene der schlichten Wahrheitsbehauptungen (Jungen/Männer sind soundso …) wegzukommen und den gesamten Komplex der Geschlechterverhältnisse zu reflektieren: die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern, die Frage der Geschlechterdimensionen von Autonomie und Abhängigkeit, von Subjektivität und Identität in einer unübersichtlich werdenden Welt. Das wird nicht ohne die selbstverantwortliche Anstrengung jedes Einzelnen gehen, im Denken und im Handeln, aber wir können auch einigermaßen sicher sein, dass die schlichte hierarchische Anordnung zwischen männlich und weiblich weder in der Realität noch in ihren Konzepten langfristig Bestand haben wird – trotz der aktuellen Versuche von Resouveränisierung von Männlichkeit. Dazu sind die Veränderungen in den gesellschaftlichen Konstellationen und im Denken der Individuen bereits zu weit fortgeschritten.

Und das ist es im Übrigen, was man als Genderkompetenz verstehen und anstreben sollte: erkennen zu können, welche Unterschiede zwischen den Geschlechtern welche Effekte machen; soziale Unterschiede in Bezug auf ihre Geschichte und ihre Bedeutung verstehen und in das eigene Handeln einbeziehen zu können; die eigenen, individuellen Vorurteile und deren Wirkung auf Wahrnehmung und Handeln zu durchschauen. Hierzu soll das vorliegende Buch einen Beitrag leisten.

Danksagung

Dieses Buch ist aus der wissenschaftlichen Tagung „Back to the Boys? Brauchen wir eine Pädagogik für Jungen?“ hervorgegangen, die im Mai 2010 als internationales Kooperationsprojekt von der Universität Paderborn, der Universität Salzburg und dem Zentrum für Geschlechterstudien/Gender Studies an der Universität Paderborn veranstaltet wurde.

Wir danken folgenden Institutionen, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Durchführung dieser Tagung und die vorliegende Veröffentlichung ermöglicht haben: Deutsche Forschungsgemeinschaft; Österreichisches Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur; Deutsches Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Universität Paderborn; Universität Salzburg.

Michael Kimmel


Jungen und Schule: Ein Hintergrundbericht über die „Jungenkrise“1

Überall auf der Welt gibt es eine Geschlechter- und Bildungs-‚Krise‘. Doch es herrscht wenig Einigkeit darüber, was diese Krise eigentlich ausmacht und um genau zu sein, nimmt diese Krise an unterschiedlichen Orten sehr verschiedene Formen an. In den Entwicklungsländern bezieht sich die Krise auf mangelhafte Bildungsmöglichkeiten für Mädchen, ihr Zugang zu Bildung wird durch kulturelle oder religiöse Traditionen eingeschränkt. In Entwicklungsländern gibt es einen signifikanten Gender Gap bei Alphabetisierungsraten, bei Schüler/innenzahlen und Abschlussraten und diese Schere klafft zwischen den Geschlechtern umso weiter auseinander, je höher man die Bildungsleiter emporklimmt. In den Industrieländern ist die Situation durchmischter: Frauen sind in höheren Berufen noch immer enorm unterrepräsentiert, ebenso in naturwissenschaftlichen und technischen Studien- und Ausbildungsgängen.

Andererseits ist in Nordamerika und Europa eine neue, entgegengesetzte ‚Geschlechterkluft‘ entstanden: In den USA und in Europa sind insbesondere an Universitäten mehr junge Frauen als junge Männer vertreten. Die Disparität bei Beurteilungen nimmt zu: Mädchen erzielen bessere Noten und weitaus mehr herausragende Schulabschlüsse. Bei Jungen hingegen ist die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten, die Fördermaßnahmen erfordern, weitaus höher. In Nordamerika und Europa kennzeichnen drei Dimensionen die derzeitige ‚Krise der Jungen‘: Schüler/innen- und Studierendenzahlen, Leistung und Verhalten.

In diesem Artikel wird vor allem gezeigt, wie über die Jungenkrise nachgedacht wird. Einige der Strategien, die uns bisher nahegelegt worden sind, schaffen keine Abhilfe für die Schwierigkeiten von Jungen in der Schule; im Gegenteil, sie verschlimmern die Situation nur noch. Anstelle dessen werde ich argumentieren, dass es zwar eine ‚Jungenkrise‘ an den Schulen gibt, dass sie sich jedoch anders gestaltet, als wir in der Regel annehmen. Ich stelle die These auf, dass wir Lösungsstrategien nur entwickeln können, wenn wir das Thema des sozialen Geschlechts (gender) und insbesondere Ideologien von Männlichkeit ansprechen.

1 Die Fehlkonzeption der Jungenkrise

In vielerlei Hinsicht lassen Diskussionen über die ‚Jungenkrise‘ Debatten wieder aufleben, die wir bereits in der Vergangenheit geführt haben. Beispielsweise fürchteten Kulturkritiker/innen um die Jahrhundertwende, dass der Zuwachs an Büroangestellten (white collar businessmen) dazu führen würde, dass Männer träger und arbeitsscheuer werden. Damals wie heute bestanden die Lösungsvorschläge darin, Bereiche zu finden, in denen Jungen einfach Jungen und Männer einfach Männer sein konnten. Damals boten Bruderschaften Männern homosoziale Zufluchtsorte, und Dude Ranches und Sportaktivitäten lieferten einen Platz, an dem diese Männer erleben konnten, was Theodore Roosevelt „the strenuous life“ nannte. Und Jungen, von weiblichen Lehrern, Müttern und Lehrerinnen der Sonntagsschulen bedroht, konnten mit den Pfadfindern, die sich als Fin-de-Siècle-‚Jungenbefreiungsbewegung‘ verstanden, davonmarschieren. Die moderne Gesellschaft, so formulierte es ihr Gründer Ernest Thompson Seton, mache aus abgehärteten, robusten Jungen „eine Masse von schmalbrüstigen Rauchern mit schwachen Nerven und fragwürdiger Vitalität“ (vgl. Kimmel 1996). In Europa drückte sich diese Krise der Männlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ähnliche Weise aus.

Es gibt jedoch trotz des strukturellen Wandels der Wirtschaft für junge Männer weiterhin Möglichkeiten, auch fernab von höherer Bildung ins Erwachsenenalter überzutreten: Erstens bleibt das Militär einer der wichtigsten Arbeitgeber für junge Männer von der High School. Allein die U.S. Army wirbt jedes Jahr 65 000 Männer mehrU. S. Departments of Justice