VISION & WAHN „SCHINDLUDER UND MORALAPOSTEL“

Lesebühnen-Anthologie Vol. 2
1. Auflage, September 2013, Periplaneta Berlin, Edition Mundwerk

© 2013 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung
des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektleitung: Caroline Dietz, Evelyn Marunde
Cover, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943876-63-5
epub ISBN: 978-3-943876-27-7
E-Book-Version 1.3


Mit Texten von: Robert Rescue, Marion Alexa Müller, Thomas Manegold, Clint Lukas, Frank Klötgen, Dirk Bernemann, Michael-André Werner, Arno Wilhelm, Mena Koller, Heiko Heller, Theresa Rath, CKLKH Fischer, Mareike Barmeyer, Matthias Stohr-Niklas, Paul Waidelich und Konrad Endler.

Vision & Wahn

Schindluder

und

Moralapostel

Lesebühnen Anthologie Vol.2

Periplaneta

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Thomas Manegold
„Lesungsprotokoll“

Sonntag, 17.30 Uhr. Das MacBook Pro bricht das DVD Rendering aus einem unerklärbaren Grund ab. Die DVD wird für eine Lesung benötigt. Diese beginnt in zwei Stunden und dreißig Minuten. Während ich der Frau vor dem Laptop entnervt die Maus aus der Hand reiße, beginnt zwischen uns eine emotionsgeladene Grundsatzdiskussion über Zeit-Management und über das englische Wort Deadline.

Der Computer hat plötzlich ein Einsehen und macht seine Arbeit beim zehnten Anlauf zu Ende. In der Zwischenzeit transportiere ich diverse Bücherkisten vom fünften Stock ins Auto, kopiere letzte Infos über die Gäste unserer Lesung aus dem Internet zusammen und springe unter die Dusche. Gleichzeitig.

Die Frau, der ich die Maus entrissen hatte, nimmt die Diskussion über Deadlines und Zeit-Management wieder auf. Ich schaue böse und erkläre ihr, was Deadline auf Deutsch heißt.

Schweigen.

18.30 Uhr. Die Crew ist pünktlich am Auto. Wir haben nichts vergessen. Sind betont nett zueinander. Fahren pünktlich los. Kommen pünktlich an. Betreten um 19 Uhr die Location.

19.05 Uhr kommt der DJ und beginnt mit dem Aufbau seines Equipments.

19.45 Uhr gibt er auf.

Ich habe 15 Minuten. Ich verdrahte zwei Mikros, ein Headset, zwei Mischpulte, zwei Laptops, eine Soundkarte für den Mitschnitt, den Beamer für die DVD-Präsentation, einen Sender für das Headset. Fahre den Regler hoch, check, alles geht, super.

Es ist 19.59 Uhr. „Ich hätte gern ein Wasser ohne ... danke.“ Ich frage meine Mitstreiterinnen, wer alles da ist und sortiere die Slots, während die Open-Mic-Kandidaten mit ihren Sonderwünschen aufwarten: Der eine fragt, ob er die Tanzgruppe, die draußen wartet, integrieren darf, der andere würde gern noch ein paar Lieder zwischen seine Gedichte streuen und der nächste möchte gern ein Seil durch den Raum spannen, auf dem er balanciert, und braucht noch einen, der ihm das Buch vor die Nase hält, aus dem er dabei vorlesen möchte.

Wir einigen uns darauf, die Mädels draußen tanzen zu lassen, auf den Drahtseilakt zu verzichten und darauf, dass Kandidat zwei zwischen seinen Texten nicht singt.

20.22 Uhr. Ich beginne meinen ersten Text. Plötzlich geht die Tür auf und der Hauptact betritt schnaufend und abgehetzt den Raum. Ich freue mich innerlich, dass wir nun vollzählig sind und versuche, das Schnaufen in meinen Text zu integrieren, in dem ich eine erotische Szene aus dem Stegreif einflechte.

Kurz vor dem Lacher bestellt der Hauptact einen Caipi auf meine Rechnung. Die Pointe versinkt unerhört im Lärm des Eiscrushers. Prost.

20.44 Uhr. Der rechte Kanal der Tonanlage fällt aus. Ich rede lauter, mit dem Klirren der Flaschen um die Wette. Kündige das erste Highlight an.

Die Veranstalterin bestellt sich einen Kaffee Latte. Während unser Gast sich produziert, schäumt die Milch und ich vor Wut. Das macht Eindruck. Nach einem Pfefferminztee, einem Milchshake und drei ausgiebig geschüttelten Mai Tais ist Ruhe. Für einen Moment spricht nur derjenige, der auch das Wort hat, als sich mit dem Geräusch eines Enthaarungspflasters unsere Lesungsreklame von der Wand löst. Ich muss mir das Lachen verkneifen. Der Typ, der gerade liest auch. Allerdings wegen seines Textes, wobei keiner der Anwesenden den Gag begreifen kann.

 

Es ist Pause, ich rufe den DJ. Ein netter Kerl, der leider nur ein altkatalanisch angehauchtes Spanisch mit leichtem deutschen Akzent spricht. Ich versuche, ihn daher mit Zeichensprache und Klopfzeichen zu einem möglichst weichen musikalischen Übergang in die Pause zu bewegen. Zehn Minuten nachdem der letzte Poet fertig vorgetragen hat, beginnt der Musikant den Rest seines Equipments aufzubauen und Geräusch zu machen.

 

21.16 Uhr. Ich baue nun das Mikrofon ab und stelle es im Nebenraum wieder auf. Verkable es im Zickzack um die Anwesenden. In Rekordzeit gelingt es mir, die Gäste mit dem Umzug der Party vertraut zu machen. Ich benutze dazu einen Papiertrichter, den ich mir aus dem Straßenfeger gebastelt habe, den ich einem Penner während meiner Gedichtrezitation abgekauft hatte. Denn inzwischen herrschte in der Kneipe ein Geräuschpegel als würde man den Boden abschleifen. Die tanzenden Mädels waren mit ihrer Performance fertig und aus der Kälte in die Kneipe gekommen und alle zehn bekamen nun einen Kaffee mit aufgeschäumter Milch und frisch gemahlenen Bohnen. Ein Kenianer versucht vergeblich, Rosen an das lyrikinteressierte Publikum zu verkaufen und beschimpft jeden, der keine Zweieurofunfzisch lockermacht, als Rassisten. Als unser Hauptact seinen zweiten Text liest, betritt unser katalanisch sprechender Spanier den Nebenraum und nimmt ein Telefongespräch entgegen. Es ist seine Freundin. Sie ist Deutsche, sie unterhalten sich auf Englisch. Das merkt man an den Worten bitch und fuck. Das Publikum biegt sich vor Lachen, der Hauptact freut sich über die überschwängliche Reaktion, verbeugt sich mehrfach und nimmt dann, völlig gerührt, dem Kenianer alle Rosen ab.

 

22.15 Uhr. Die Lesung ist vorbei. Der DJ weint, weil die Bitch Schluss gemacht hat. Der Kenianer stellt mir eine Rechnung über 67 EUR plus Mehrwertsteuer aus. Ich bestelle vom Rest meiner Künstlersozialhilfe einen Mai Tai. Der Barkeeper sagt freundlich: „Geht grad nicht, wir müssen jetzt still sein, denn gleich beginnt die Fußballübertragung.“

Robert Rescue
„Aldi Store“

Da habe ich ja geglotzt, als ich den Aldi in der Müllerstraße betrat und den Zettel gelesen habe: „Wegen Umbauarbeiten bleibt diese Filiale ab dem 30. September bis zum 09. Dezember geschlossen.“ Da ist mir gleich die Tüte mit den Pfandflaschen aus der Hand gefallen, so erschrocken bin ich gewesen. Der Filialleiter, Herr Kallies, kam gerade aus seinem Büro, also bin ich gleich hin zu ihm und habe aufgeregt auf den Zettel gezeigt: „Was soll das?“

„Na, das was draufsteht, Herr Kasulke“, hat der Kallies gesagt. „Wir machen zu und räumen mal auf. Neue Glühbirnen, damit es hier nicht mehr so dunkel ist, der Boden wird mal geschrubbt und so was halt. Wenn wir dann wieder aufmachen, glänzt hier alles wie neu. Die Filiale heißt dann auch anders, nämlich Aldi Store …“

„Store wat?“, sagte die Frau Meyerbeck neben mir, die war auch gerade reingekommen und hat den Zettel gelesen und guckte jetzt genauso blöd aus der Wäsche wie ich. „Na, das ist wie mit dem Apple Store, nur halt ohne Apple, dafür mit Aldi“, erklärte der Herr Kallies. „Das ist dann das Zeichen für was Neues, also eine neue Filiale, die besser auf die Bedürfnisse der Kunden eingehen kann.“

„Nee, nee“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Und was soll aus uns werden in der Zeit?“

„Na, Sie gehen zur Filiale in der Oudenarder Straße, da hinten an der Seestraße.“

„Seestraße?“, rief Frau Meyerbeck. „Da bei den Osram Werken? Da bin ich ja ne Stunde unterwegs.“

„Na, dann gehen Sie halt zu Lidl oder Penny hier im Kiez“, riet Herr Kallies und fügte hinzu: „Das habe ich aber nicht offiziell gesagt, sondern privat, so unter uns. Sonst gibt’s Ärger.

„Aber das geht nicht“, warf ich ein. „Die Pfandflaschenautomaten bei Lidl und Penny sind der absolute Mist. Die nehmen nur große Wasserflaschen und keine kleinen Bierflaschen.“ Ich hielt meine Tüte hoch. „Wenn ich die da rein stecke, dann gehen sofort die Automaten kaputt, weil die Flaschen in den Ritzen neben dem Förderband landen und dann geht da nichts mehr. Die Leute hinter mir sind dann sofort sauer. Ich habe das schon mal ausprobiert, deswegen komme ich ja zum Aldi, wenn ich Pfand hab.“

Herr Kallies zuckte die Schultern. „Na, dann müssen Sie in die Oudenarder Straße. Anders geht es nicht. Wir machen ab übermorgen zu, basta!“

„Und was wird aus Ihnen, Frau Breitenbach, Frau Gerhardt und Frau Möllenkampf?“, fragte der Herr Burkhard, der sich zu unserer Gruppe gesellt hatte.

Der war bis zu seiner Rente im Betriebsrat gewesen, deshalb stellte der die Frage. „Na, die Frau Gerhardt kommt in einen Markt nach Reinickendorf, Frau Breitenbach nach Steglitz und Frau Möllenkampf kommt in die Oudenarder Straße, weil sie in der Groninger Straße wohnt. Das ist dann an der Kasse wie hier, also fast keine Veränderung. Ich bleibe hier und helfe den Bauarbeitern, wo ich kann.“

„Kann die Frau Gerhardt nicht in die Oudenarder Straße kommen?“, fragte Frau Meyerbeck. „Die Frau Möllenkampf ist so langsam an der Kasse. Das nervt unglaublich, vor allem, wenn ihre Freundin sie besucht und die dann quatschen.“

Herr Kallies zuckte wieder mit den Schultern. „Na, da kann ich nichts machen. Das hat die Regionalleitung in Absprache mit den Damen so entschieden.“

Wir standen da und mussten das Eingetretene akzeptieren. Uns dreien, wie auch allen anderen Aldi-Kunden aus dem Kiez, musste klar werden, dass in den nächsten Wochen Veränderungen auf uns zukamen. Bislang hatten wir gedacht, ein Aldi macht auf und dann nie wieder zu.

 

Zwei Tage später bin ich nochmal hin, weil ich dachte, der Herr Kallies hat einen Witz gemacht, aber der Laden war tatsächlich geschlossen. Die ganzen Regale waren abgebaut und der Laden war komplett leer. Ein paar Bauarbeiter waren zu sehen. Ich habe dann kurz überlegt, zum Lidl auf die andere Straßenseite zu gehen, aber ich hatte Pfand dabei und das hätte nur Stress gegeben. Also bin ich dann zur Oudenarder Straße gelaufen und da war dann alles so anders. Habe mich gefühlt, als wäre ich in einem anderen Bezirk oder irgendwo außerhalb von Berlin. Die nächsten Wochen bin ich dann auch mal zu anderen Discounter gegangen, aber da hatte ich dasselbe Gefühl, mich fremd zu fühlen. Ich kannte die Kassierer nicht und vor allem standen die Waren anders. Die ersten Male bin ich ne Weile rumgelaufen, um die üblichen Sachen zu finden. Die Verkäufer fragen wollte ich nicht, damit die nicht denken, das ist einer von der Aldi-Filiale, die umgebaut wird. Das Bier habe ich schnell gefunden und wurde mit einem weiteren Ärgernis konfrontiert. Die Plastikverpackung bei den anderen Discountern klebt manchmal an den Flaschen, und wenn ich die aufreiße, um die Flaschen in den Kühlschrank zu legen, dann reißt ein Stück von dem Barcode ab. Bei dem Bier vom Aldi ist das nie passiert und in der nächsten Zeit habe ich bestimmt 7 Euro an Pfandgeld verloren. Irgendwann habe ich dann angefangen, das Pfand zu horten und habe es zweimal die Woche zum Aldi in die Oudenarder gebracht.

Da habe ich dann auch Leute wiedergetroffen, also die Frau Meyerbeck, die sich beklagt hatte, dass sie eine Stunde braucht, den Markt zu erreichen. Ich habe ihr geraten, doch die Straßenbahn ab der Seestraße zu nehmen, aber das hat sie abgelehnt. Der tägliche Gang zu Aldi, das wäre ihr Spaziergang und den lasse sie sich nicht nehmen. Außerdem müsse sie ja dann auch zwei Fahrscheine kaufen, weil sie mit dem einen nicht zurückfahren darf, und das gebe ihre Rente nicht her. Ich wollte dann schon tschüss sagen, da meinte sie noch, dass es woanders auch nicht die Schokokekse gebe, die sie so gerne esse. Dann wollte sie sich noch über Frau Möllenkampf beschweren, aber ich habe abgewunken und meinen Wagen weitergeschoben. Den Herrn Burkhard habe ich nie getroffen, entweder hat der sich andere Zeiten angewöhnt oder er geht jetzt zum Lidl, wobei ich mich frage, wie der da seine Bierflaschen loswerden will.

Getroffen habe ich auch noch andere, die ich kannte, aber das war mir dann nicht so recht. Meine Schwiegermutter etwa, die ich im ersten Moment nicht erkannt habe, die mich aber gleich an der Schulter festhielt.

„Sag mal Klaus, hast du mal was von Dagmar gehört?“, hat sie mich gefragt. „Nö,“, habe ich geantwortet, „mit der habe ich seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Mit der bin ich durch.“

Dann habe ich sie halt auch gefragt, ob sie was von Dagmar gehört hat, so aus Höflichkeit vielleicht, weil ich kann ja nicht einfach „Hallo“ und „Tschüss“ sagen, wenn ich sie schon mal treffe und sie hat dann gleich geantwortet: „Nö. Mit der habe ich seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Mit der bin ich durch.“ Dann haben wir uns noch einen schönen Tag gewünscht und sie ist weiter zur Kühltheke und ich habe meine Suche nach dem Salz fortgesetzt.

Später habe ich noch meinen Onkel Eckart getroffen, den habe ich gleich erkannt, der hat sich all die Jahre nicht verändert. Habe ihm im Vorbeigehen einen „Tach“ gewünscht und er mir auch. Das reichte dann wieder für die nächsten Jahre. Dass Frau Möllenkampf aus der Müllerstraße jetzt in der Oudenarder beschäftigt ist, hat mir überhaupt nicht geholfen. Als ich sie im Gang getroffen und nach dem Salz gefragt habe, hat sie mich doch glatt in die falsche Ecke geschickt. Vielleicht kannte sie sich in dem Markt auch nicht aus oder aber sie war sauer. Gut möglich, dass der Herr Kallies ihr erzählt hat, dass sich Frau Meyerbeck über ihre Arbeit beschwert hat und weil Frau Meyerbeck, Herr Burkhard und ich sonst ja gemeinsam in der Müllerstraße einkaufen waren, übte sie jetzt Rache. Das Salz habe ich dann nicht gefunden und am nächsten Tag bei Penny geholt.

Da habe ich das gleich gefunden. Zwischenzeitlich bin ich mal zum Markt in der Müllerstraße gegangen, so am Sonntag, und habe gesehen, dass die die Eingangstür umgebaut haben. Die ist jetzt auf der linken Seite und nicht mehr auf der rechten. Warum das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass der künftig nicht mehr „Markt“, sondern „Store“ heißt.

 

Am 09. Dezember bin ich extra früh aufgestanden, obwohl ich sonst um 14 Uhr einkaufen gehe. Ich war richtig aufgeregt und konnte die Wiedereröffnung gar nicht abwarten. Als Erstes musste ich die Augen abschirmen, weil das so grell war im neuen Markt. Die Schiebetüren gingen auf und ich war gleich geblendet. Ich bin dann getorkelt, hab die Tüte mit dem Pfand fallengelassen und dachte, dass ich gleich umfalle, aber der Herr Kallies hat mich aufgefangen. „Na, das erlebe ich schon den ganzen Morgen, da müssen sich unsere Kunden erst mal dran gewöhnen. Neue Lampen, neues Licht. War doch früher total dunkel hier drin. Sind jetzt auch so Energiespardinger, wegen Energiesparen und so.“

„Aber das Dunkle früher war besser“, behauptete ich. „Da hat man nicht gesehen, wer hier alles so einkaufen geht. Gibt doch ne Menge Flitzpiepen hier im Kiez.“

„Na, jetzt ist doch alles besser und für uns ist jeder Kunde ein willkommener Kunde“, wehrte Herr Kallies ab. „Bis auf das Drehkreuz und die Einkaufswagen-Box ist alles umgebaut. Wir haben jetzt sogar frische Backwaren.“

„Aber warum denn umgebaut?“, begehrte ich auf. „Da findet man doch nichts wieder.“

„Na, das wird schon. Außerdem erhöht das die Freude am Einkauf. Es gibt Abwechslung und Spannung, da macht das Einkaufen im neuen Aldi Store gleich doppelt so viel Spaß.“ Herr Kallies wirkte mächtig stolz. „Dann gleich mal die Frage“, warf ich ein, „wo sind denn die Taschentücher jetzt? Früher waren die im dritten Gang neben dem Klopapier, aber ich nehme mal an, da finde ich die jetzt nicht mehr.“

„Na, das ist richtig, das weiß ich auf jeden Fall. Aber wo die jetzt sind, weiß ich nicht.“

Hat ne Weile gedauert, bis ich die Taschentücher gefunden habe. Danach habe ich den Pfandflaschenautomaten gesucht, der stand selbstverständlich auch nicht mehr da, wo er vorher gestanden hat. Da habe ich dann die Frau Breitenbach gefragt. „Da sind Sie schon längst dran vorbei, Herr Kasulke. Der steht jetzt direkt nach dem Drehkreuz und ist in der Wand drinne.“ Als ich dann meine Flaschen eingeworfen habe, bekam ich plötzlich eine Fehlermeldung. „Fehler 300: Bonrolle ist aufgebraucht.“

Das hat dann eine Weile gedauert, den Fehler zu beheben. Die Frau Gerhardt hat die Ersatzrollen nicht gefunden und auch gemeint, den Fehler hätte sie auch noch nie gehabt und der Herr Kallies meinte, wenn die Ersatzrollen nicht in den Schränken unterhalb der Kassen wären, dann wüsste er auch nicht weiter. Ich habe, glaube ich, schon alle Fehler gehabt, die der Automat so haben kann, aber Fehler 300 hatte ich noch nie. Es hat sich wirklich eine Menge geändert im Markt, äh … Store auf der Müllerstraße und es wird wohl eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Aber wenigstens muss ich nicht mehr woanders hin und bestimmt gehe ich bald wieder mit Frau Meyerbeck und Herrn Burkhard einkaufen.

 

 

Marion Alexa Müller
„Idylle“

Die Grillen zirpten leise und anhaltend wie kleine Aufziehfiguren, deren Federn sich langsam entspannen. Das Luftholen der Einzelnen ging in dem großflächig verteilten, selbstverliebten Chor unter.

Das „Bohhk Bohhhk BokBohhhk“ der Hühner klang erst skeptisch, dann gackerten sie hektischer, und aufgeregtes Flügelschlagen ließ Staubwölkchen aufstieben.

Ein Ferkel quiekte vor Vergnügen, als es mit Anlauf in die Schlammgrube sprang. Eine Grille wurde von einem Schlammspritzer getroffen und der Chor hatte einen Sänger weniger. Aber das störte niemanden, denn auf dem Land ist das Sterben eine ganz natürliche Angelegenheit und man macht kein großes Gewese darum. Also zumindest, wenn man nicht selbst davon betroffen ist.

 

Mit einem dumpfen Schlag traf die Axt auf den Holzblock. Kurz darauf sah Hofkater Felix einen Hühnerkopf auf sich zusegeln. „Sieh mal einer an“, dachte er, „Hühner können also doch fliegen.“ Bauer Thiel wischte mit einem grauen Lappen das Blut vom Beil und wartete darauf, dass das kopflose Huhn endlich mit dem Laufen aufhören würde. Flügelschlagend drehte es noch eine letzte Ehrenrunde über den Hof, zertrat dabei eine überraschte Grille und „schaute“ noch ein letztes Mal am Zaun vom Hühnergarten vorbei.

Zehn schreckensstarre Hühneraugen glotzten durch den Maschendrahtzaun. Gerda, eine dicke weiße Henne, gluckste entsetzt „Heide?!“, doch Heide rannte schon weiter, panisch. Soweit man überhaupt von Panik sprechen kann, denn schließlich entsteht Panik im Kopf und auf Heides Kopf kaute gerade Kater Felix.

Heide rannte und hüpfte und aus dem Hals pulsierten merlotrote Fontänen. Wie ein mobiler Tisch-Konfettivulkan auf Speed sauste sie über den Hof. Nach einer letzten dramatischen Pirouette fiel Heide um. Unter ihrem Halsstumpf bildete sich eine Pfütze. Eine kleine Grille ertrank darin.

Ja, Gevatter Tod hat nicht immer Lust auf sterbenstraurige Pathetik. Er erlaubt sich manchmal auch einen Spaß, einen Mordsspaß.

 

Bauer Thiel bückte sich und hob Heide halsüber an ihren Kratzfüßen nach oben. „So meine Liebe, hast eh nicht mehr ordentlich gelegt, und bevor dich der Falke holt, nimmst du lieber ein heißes Bad in der Suppe.“

Bauer Thiel hatte ein bisschen Angst um seine Hennen. Denn seit einer Woche krähte keiner mehr lautstark Alarm, wenn sich die schwarze Silhouette eines Falken gegen den blauen Himmel abzeichnete. Der Hahn war tot. Offiziell ist er an plötzlichem Herzversagen gestorben. Ist einfach beim Krähen umgekippt. Es machte nur „Kikirik-Pffft“ und dann war Schluss. Inoffiziell lagen die Dinge etwas anders. Bauer Thiel glaubte nicht an eine natürliche Todesursache. Denn als er sich lautstark über den plötzlichen Tod gewundert hatte, hatte sein Sohn nur eine Unschuldsmiene gemacht, mit dem Köpfchen gewackelt und die Zwistel in seiner Hosentasche umklammert.

Ein braunes und vier weiße Hühner starrten, immer noch geschockt, abwechselnd auf Bauer Thiel und ihre ehemalige Kameradin. Doch keine normale Henne kann lange den Schnabel halten. Und Gerda, Jule, Thea und Uschi waren gerade in dieser Beziehung äußerst normal.

„Oh mein Gott. Warum Heide? Warum nicht die olle Nele? Um Nele wäre es wenigstens nicht schade!“

Die vier ruckten mit ihren weißen Köpfchen, dass die Kämme wackelten, und warfen der etwas abseits stehenden, stillen Nele hasserfüllte Blicke zu.

Nele schossen Tränchen in die Augen. Sie war das unbeliebteste Huhn, das jemals auf dem Hof gelebt hatte. Ausschließlich alle fanden sie doof. In der Hackordnung war sie die Letzte und musste auch auf der Hühnerleiter immer ganz unten schlafen. Eine echte Scheiß-Position. Nele hatte zwar keine Ahnung vom Fallgesetz, vermutete aber, dass es kein Zufall war, dass ihr so oft auf den Kopf gekackt wurde.

Nele war ein ungewöhnlich schweigsames Huhn und machte nur den Schnabel auf, wenn sie etwas Relevantes zu sagen hatte. Das machte sie sehr unsympathisch. Dabei war Nele fast genauso dumm wie alle anderen Hühner. Aber weil sie sich nie an dem Gegacker beteiligte, hielten sie die anderen für einen intellektuellen Überflieger.