Jules Verne


Reise um die Erde in 80 Tagen



Abenteuerroman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-68-2


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Kapitel 37 - Beweis, daß Phileas Fogg durch seine Reise um die Erde nichts gewann, außer sein häusliches Glück



Ja! Phileas Fogg persönlich.

Wir erinnern uns, daß Passepartout um acht Uhr fünf Minuten Abends, fünfundzwanzig Stunden etwa nach Ankunft der Reisenden zu London, von seinem Herrn den Auftrag erhalten hatte, Se. Ehrwürden, den Herrn Samuel Wilson, in Betreff einer gewissen Heirat, welche den folgenden Tag geschlossen werden sollte, zu ersuchen.

Passepartout war voll Freude raschen Schrittes in die Wohnung Sr. Ehrwürden gegangen, der noch nicht nach Hause gekommen war. Natürlich wartete Passepartout, und zwar zwanzig Minuten wenigstens.

Kurz, als er aus der Wohnung des geistlichen Herrn herauskam, war es acht Uhr fünfunddreißig Minuten. Und er lief über Hals und Kopf, wie man noch nie einen Mann laufen sah, warf wie eine Trombe auf den Trottoirs die Begegnenden zu Boden, und war in drei Minuten wieder im Hause der Saville-Row, wo er atemlos in Fogg's Zimmer stürzte.

Reden konnte er nicht.

"Was gibt's?" fragte Herr Fogg.

"Mein Herr ... " stotterte Passepartout "Heirat ... unmöglich."

"Unmöglich?"

"Unmöglich ... für morgen."

"Weshalb?"

"Weil morgen ... Sonntag ist!"

"Montag," erwiderte Herr Fogg.

"Nein ... heute ... Samstag."

"Samstag? Unmöglich!"

"Ja, ja, ja!" rief Passepartout. "Sie haben sich um einen Tag geirrt! Wir sind vierundzwanzig Stunden früher angekommen, aber es ist nur noch zehn Minuten Zeit! ..."

Passepartout faßte seinen Herrn beim Kragen, und riß ihn mit unwiderstehlicher Kraft fort!

Also verließ Herr Fogg, ohne Zeit zum Besinnen zu haben, sein Zimmer, sein Haus, sprang in einen Cab, versprach dem Kutscher hundert Pfund, und langte, nachdem er zwei Hunde totgefahren und fünf Wagen aufgehalten, im Reformclub an.

Die Uhr stand auf acht Uhr fünfundvierzig Minuten, als er im großen Saal eintrat ...

Phileas Fogg hatte die Reise um die Erde in achtzig Tagen vollendet und damit seine Wette von zwanzigtausend Pfund gewonnen!

Und jetzt, wie konnte es einem so pünktlichen, so methodischen Manne begegnen, daß er sich um einen Tag irrte? Wie war es möglich, daß er meinte, es sei Samstag, der 21. Dezember, als er zu London ausstieg, da es doch erst Freitag, der 20. Dezember, war, der neunundsiebenzigste Tag seit seiner Abfahrt?

Die Ursache ist sehr einfach.

Phileas Fogg hatte "ohne es zu ahnen", einen Tag über sein Reisebüchlein hinaus gewonnen, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er die Reise um die Erde ostwärts gemacht hatte; und er würde ebenso, wäre er westwärts gereist, einen eingebüßt haben.

Die Tatsache ist, daß Phileas Fogg ostwärts der Sonne entgegen reiste, und folglich die Tage für ihn bei jedem Grad, welchen er in dieser Richtung vorwärts kam, um vier Minuten kürzer waren. Nun zählt man rings um die Erde dreihundertundsechzig Grade, welche Zahl mit vier Minuten multiplicirt gerade vierundzwanzig Stunden gibt, so daß also unbewußt dieser Tag gewonnen war. Mit andern Worten, während Phileas Fogg bei seiner östlichen Richtung die Sonne achtzigmal über den Meridian gehen sah, war dies bei seinen Kollegen, die zu London geblieben waren, nur neunundsiebenzigmal der Fall. Daher kam es, daß dieselben ihn an diesem Tage, welcher Samstag und nicht wie Herr Fogg meinte, Sonntag war, im Reformclubsaal auf ihn warteten.

Und dieses würde die famose Uhr Passepartout's, welcher sie immer bei der londoner Zeit gelassen hatte, nachgewiesen haben, wenn sie, wie die Stunden und Minuten, zugleich auch die Tage angegeben hätte.

Phileas Fogg hatte also die zwanzigtausend Pfund gewonnen. Aber da er unterwegs etwa neunzehntausend davon ausgegeben hatte, so war das Ergebniß an Geld unbeträchtlich. Doch hatte, sagte man, der exzentrische Gentleman bei dieser Wette nur den Streit im Sinne, nicht das Vermögen. Und sogar die übriggebliebenen tausend Pfund teilte er zwischen dem wackeren Passepartout und dem unglückseligen Fix, dem er nicht zu grollen fähig war. Nur, und zwar der Regelmäßigkeit wegen, zog er seinem Diener den Preis des durch seine Schuld während der neunzehnhundertundzwanzig Stunden verbrauchten Gases ab.

Diesen nämlichen Abend sagte Herr Fogg, ebenso leidenschaftslos, ebenso phlegmatisch zu Mrs. Aouda:

"Sind Sie, Madame, mit der Heirat immer noch zufrieden?"

"Herr Fogg," erwiderte Mrs. Aouda, "diese Frage habe ich an Sie zu richten. Sie waren ruiniert, jetzt sind Sie reich ..."

"Entschuldigen Sie, Madame, dieses Vermögen gehört Ihnen. Hätten Sie nicht den Gedanken dieser Heirat vorgebracht, so wäre mein Diener nicht zu dem geistlichen Herrn gelaufen, und ich wäre meinen Irrtum nicht gewahr worden, und ..."

"Lieber Herr Fogg ..." sagte die junge Frau.

"Liebe Aouda ..." erwiderte Phileas Fogg.

Es versteht sich, daß die Heirat nun achtundvierzig Stunden später stattfand, wobei Passepartout, stolz, glänzend, blendend, der jungen Frau Zeuge war. Gebührte nicht ihm, der sie auf seinen Schultern gerettet hatte, diese Ehre?

Nur klopfte am folgenden Morgen bei Tagesanbruch Passepartout laut an die Türe seines Herrn.

Die Türe öffnete sich, und der leidenschaftslose Gentleman erschien.

"Was gibt's, Passepartout?"

"Was es gibt, mein Herr! Soeben habe ich gemerkt ..."

"Was denn?"

"Daß wir die Reise um die Erde in nur achtundsiebenzig Tagen hätten fertig bringen können."

"Allerdings," erwiderte Herr Fogg, "wenn wir nicht durch Indien gefahren wären. Aber hätten wir nicht diesen Weg genommen, so hätte ich nicht Mrs. Aouda retten können, und dann wäre sie nicht meine Frau, und ..."

Und Herr Fogg schloß in aller Seelenruhe die Türe. So hatte also Phileas Fogg seine Wette gewonnen, denn er hatte die Reise um die Erde in achtzig Tagen gemacht! Zu diesem Zweck hatte er alle Arten von Transportmitteln gebraucht, Packetboote, Eisenbahnen, Wagen, Yachte, Handelsfahrzeuge, Schlitten, Elefanten. Der exzentrische Gentleman hatte dabei seine Kaltblütigkeit und Pünktlichkeit in erstaunlichem Grade aufgeboten. Dann aber, was hatte er dabei gewonnen? Was hatte ihm die Reise eingetragen?

Nichts, sagt man wohl? Nichts, ich gebe es zu, außer eine liebenswürdige, reizvolle Frau, die, so unwahrscheinlich dies vorkommen mag, ihn zum glücklichsten Menschen machte!

Wahrlich, würde man nicht die Reise um die Erde auch um ein geringere Ziel vornehmen?

 

 

Inhalt




Kapitel 1 - Phileas Fogg und Passepartout nehmen sich einander als Herr und Diener an

Kapitel 2 - Passepartout hat sein Ideal gefunden

Kapitel 3 - Eine Unterredung, welche Phileas Fogg teuer zu stehen kommen kann

Kapitel 4 - Phileas Fogg setzt seinen Diener Passepartout in Bestürzung

Kapitel 5 - Ein neues Wertpapier erscheint auf dem Platz London

Kapitel 6 - Der Agent Fix zeigt eine Ungeduld, die nicht unbegründet war

Kapitel 7 - Ein neuer Beweis, wie unnütz Pässe in Polizeisachen sind

Kapitel 8 - Passepartout spricht ein wenig mehr, als vielleicht sich gehörte

Kapitel 9 - Das Rote und das Indische Meer zeigen sich Phileas Fogg's Absichten günstig

Kapitel 10 - Passepartout kann sich glücklich schätzen, daß er mit dem Verluste seiner Fußbekleidung durchkommt

Kapitel 11 - Phileas Fogg kauft um fabelhaften Preis ein Reittier

Kapitel 12 - Phileas Fogg und seine Gefährten machen einen abenteuerlichen Ritt durch indische Waldung

Kapitel 13 - Ein abermaliger Beweis, daß das Glück dem Kühnen hold ist

Kapitel 14 - Phileas Fogg fährt das wundervolle Gangestal hinab, ohne daß er sich kümmert, es zu sehen

Kapitel 15 - Der Banknoten-Sack wird abermals um einige tausend Pfund leichter

Kapitel 16 - Fix stellt sich, als wisse er nichts davon, was ihm erzählt ward

Kapitel 17 - Von Singapore nach Hongkong

Kapitel 18 - Phileas Fogg, Passepartout und Fix bekommen alle zu tun

Kapitel 19 - Passepartout nimmt zu lebhaften Anteil an seinem Herrn

Kapitel 20 - Fix tritt zu Phileas Fogg in unmittelbare Beziehung

Kapitel 21 - Der Patron der Tankadère in Gefahr, eine Prämie von zweihundert Pfund zu verlieren

Kapitel 22 - Passepartout überzeugt sich, daß es selbst bei den Antipoden geraten ist, etwas Geld in der Tasche zu haben

Kapitel 23 - Passepartout bekommt eine über die Maßen lange Nase

Kapitel 24 - Fahrt über den Stillen Ozean

Kapitel 25 - Überblick von San Francisco - ein Meeting

Kapitel 26 - Expresszug auf der Pacific-Bahn

Kapitel 27 - Ein Stück Mormonengeschichte

Kapitel 28 - Passepartout vermochte nicht, der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen

Kapitel 29 - Einiges, was nur auf amerikanischen Eisenbahnen vorkommt

Kapitel 30 - Phileas Fogg tut nur seine Schuldigkeit

Kapitel 31 - Der Polizei-Agent Fix nimmt sich sehr ernstlich der Interessen Fogg's an

Kapitel 32 - Phileas Fogg in unmittelbarem Kämpf mit dem Mißgeschick

Kapitel 33 - Phileas Fogg auf der Höhe der Lage

Kapitel 34 - Fix wird gebührend bezahlt

Kapitel 35 - Passepartout läßt sich einen Auftrag nicht zweimal sagen

Kapitel 36 - Phileas Fogg steigt abermals auf dem Geldmarkt

Kapitel 37 - Beweis, daß Phileas Fogg durch seine Reise um die Erde nichts gewann, außer sein häusliches Glück

 

 

Kapitel 1 - Phileas Fogg und Passepartout nehmen sich einander als Herr und Diener an



Im Jahre 1872 wohnte in dem Hause Nummer 7, Saville-Row, Burlington Gardens, worin Sheridan im Jahre 1814 starb, Phileas Fogg, Sq., eines der ausgezeichnetsten und hervorragendsten Mitglieder des Reformclubs zu London, der jedoch dem Anschein nach beflissen war nichts zu tun, was Aufsehen erregen konnte.

Dieser Phileas Fogg, also Nachfolger eines der größten Redner, welche Englands Zierde sind, war ein rätselhafter Mann, von dem man nichts weiter wußte, als daß er ein recht braver Mann und einer der schönsten Gentlemen der vornehmen Gesellschaft sei.

Man sagte, er gleiche Byron, sein Kopf, denn seine Füße waren tadellos, aber ein Byron mit Schnurr- und Backenbart, ein Byron mit leidenschaftslosen Zügen, der tausend Jahre alt werden konnte, ohne zu altern.

Ein echter Engländer unstreitig, war Phileas Fogg vielleicht kein Londoner. Man sah ihn nie auf der Börse, noch auf der Bank, noch auf irgend einem Comptoir der City. Nie sah man in den Bassins und Doggs zu London ein Schiff, dessen Eigner Phileas Fogg gewesen wäre. In keinem Comité der Verwaltung hatte dieser Gentleman einen Platz; nie hörte man seinen Namen in einem Advocaten-Colleg, oder im Temple, in Lincoln's-Inn oder Grays'-Inn. Er plaidirte niemals, weder beim Obergerichtshof noch bei der Kingsbench, beim Schatzkammergericht oder einem geistlichen Hof. Er war weder ein Industrieller, noch ein Großhändler, noch Kaufmann oder Landbauer. Er gehörte weder dem Königlichen Institut, noch dem Institut von London, noch sonst irgend einer Anstalt der Kunst, Wissenschaft oder Gewerbe an; noch endlich einer der zahlreichen Gesellschaften, wovon die Hauptstadt Englands wimmelt, von der Harmonie bis zur entomologischen Gesellschaft, welche hauptsächlich den Zweck verfolgt, die schädlichen Insecten zu vertilgen.

Phileas Fogg war Mitglied des Reformclubs, nichts weiter.

Wundert man sich, daß ein so mysteriöser Gentleman unter den Gliedern dieser ehrenwerten Gesellschaft zählte, so dient zur Antwort, daß er auf Empfehlung des Hauses Gebr. Baring, wo er sein Geld angelegt hatte, Aufnahme fand. Daher ein gewisses Ansehen, welches er dem Umstand verdankte, daß von dem Soll seines Conto-Corrents seine Wechsel bei Sicht pünktlich gezahlt wurden.

War dieser Phileas Fogg reich? Unstreitig. Aber wie er sich dies Vermögen gemacht, konnten die Bestunterrichteten nicht sagen, und Herr Fogg war der Letzte, an den man sich wenden durfte, um es zu erfahren. Jedenfalls war er nicht verschwenderisch, aber auch nicht geizig; denn überall, wo es für eine edle, nützliche oder großmütige Sache an einem Betrag mangelte, schoß er ihn im Stillen bei, und selbst anonym.

Im Allgemeinen war dieser Gentleman sehr wenig mitteilsam. Er sprach so wenig wie möglich, und schien um so geheimnißvoller, als er schweigsam war. Doch lag seine Lebensweise Jedem vor Augen, aber was er tat, war so mathematisch stets eins und dasselbe, daß die unbefriedigte Einbildungskraft weiter hinaus forschte.

Hatte er Reisen gemacht? Vermutlich, denn kein Mensch war besser wie er in aller Welt auf der Karte bekannt. Auch von dem entlegensten Ort schien er genaue Kenntnis zu haben. Manchmal wußte er, doch in wenigen, kurzen und klaren Worten, die tausend Äußerungen, welche im Club über verlorene oder verirrte Reisende circulirten, zu berichtigen, und seine Worte schienen oft wie von einem zweiten Gesicht eingegeben, denn jedes Ereignis rechtfertigte sie schließlich. Es war ein Mann, der überall hin, im Geiste wenigstens, gereist sein mußte.

Zuverlässig jedoch war Phileas Fogg seit vielen Jahren nicht aus London hinaus gekommen. Wer ihn etwas näher zu kennen die Ehre hatte, bezeugte, daß kein Mensch ihn je wo anders gesehen, als auf dem geraden Wege von seinem Hause zum Club, den er tagtäglich machte. Sein einziger Zeitvertreib bestand im Lesen der Journale und im Whistspiel. Bei diesem schweigsamen Spiel, welches so sehr seiner Natur angemessen war, gewann er oft, aber seine Gewinnste flossen nie in seine eigene Börse, sondern bildeten einen erheblichen Posten auf seinem Barmherzigkeits-Conto. Übrigens ist wohl zu merken, Herr Fogg spielte offenbar um des Spieles willen, nicht um zu gewinnen. Das Spiel war ihm ein Ringen mit einer Schwierigkeit, das jedoch keine Bewegung, keine Platzveränderung, keine Ermüdung kostete, und das paßte zu seinem Charakter.

Man wußte bei Phileas Fogg nichts von Weib oder Kind, was dem honnetesten Menschen passieren kann, noch von Verwandten oder Freunden, was allerdings seltener ist. Phileas Fogg war der einzige Bewohner seines Hauses Saville-Row, und kein Mensch sonst kam in dasselbe hinein, einen einzigen Diener ausgenommen, der ihm genügte. Was im Innern desselben vorging, davon war niemals die Rede. Er frühstückte und speiste zu Mittag im Club, zu chronometrisch bestimmten Stunden, in demselben Saal, an demselben Tische, tractirte niemals einen Kollegen, lud nie einen auswärts ein, und kehrte nur zum Schlafen, Punkt zwölf Uhr Nachts, nach Hause, ohne jemals von den wohnlichen Gemächern Gebrauch zu machen, welche der Reformclub für seine Mitglieder zur Verfügung hält. Von vierundzwanzig Stunden brachte er zehn in seiner Wohnung zu, teils zum Schlafen, teils zur Beschäftigung mit seiner Toilette. Spazieren ging er unabänderlich, mit gleich gemessenem Schritt in dem mit eingelegter Arbeit parquetirten Eingangssaal oder auf dem Rundgang, über welchem ein blaues Glasgewölbe auf zwanzig jonischen Säulen von rotem Porphyr ruhte. Bei der Mahlzeit oder dem Frühstück lieferten die Küche und Speisekammer, die Conditorei, der Fischbehälter und die Milchstube ihre besten Gerichte; die Clubdiener, gesetzte Leute in schwarzer Kleidung und mit Multonschuhen, bedienten ihn auf besonderem Porzellan und Tafelweißzeug von kostbarer sächsischer Leinwand; seinen Sherry oder Porto, seinen mit feinstem Zimmt und Frauenhaar gemischten Claret trank er aus dem seltensten Krystall des Clubs; und das Eis, welches der Club mit schweren Kosten aus den Seen Amerika's bezog, erhielt seinen Trunk in erquickender Frische.

Wenn man ein Leben in solchen Verhältnissen excentrisch nennt, so muß man zugeben, daß Exzentrizität etwas Gutes enthält!

Das nicht eben prachtvolle Haus in Saville-Row empfahl sich durch größte Bequemlichkeit. Übrigens beschränkte sich, bei den unabänderlichen Gewohnheiten des Mieters, seine Bedienung auf geringe Anforderungen. Doch verlangte Phileas Fogg von seinem einzigen Diener eine außerordentliche Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit. An diesem Tage, 2. Oktober, hatte Phileas Fogg seinen Burschen James Forster entlassen, weil er ihm zum Rasiren Wasser gebracht hatte, das vierundachtzig anstatt sechsundachtzig Grad Fahrenheit heiß war, und er erwartete den Nachfolger desselben, welcher sich zwischen elf und halb zwölf Uhr ihm vorstellen sollte.

Phileas Fogg saß breit in seinem Fauteuil, beide Füße bei einander, wie ein Soldat auf der Parade, die Hände auf die Kniee gestützt, den Leib gerade, den Kopf aufrecht, und sah auf die Pendeluhr, welche Stunden, Minuten, Sekunden, Tag und Datum anzeigte. Nach seiner Gewohnheit sollte Herr Fogg Schlag halb zwölf Uhr sich aus dem Hause auf den Reformclub begeben.

In diesem Augenblicke klopfte es an die Türe des kleinen Salons, worin sich Phileas Fogg aufhielt.

Der verabschiedete Diener trat ein.

"Der neue Diener", sagte er.

Ein Bursche von etwa dreißig Jahren trat ein und grüßte.

"Sie sind Franzose und heißen John?" fragte Phileas Fogg.

"Jean, belieben mein Herr," erwiderte der neue Diener, Jean Passepartout, "ein Beiname, der mein natürliches Geschick, mich aus Verlegenheiten zu ziehen, bezeichnet. Ich glaube ein braver Bursche zu sein, mein Herr, doch, offen gesagt, ich habe schon mehrere Geschäfte getrieben. Ich war Bänkelsänger, Bereiter in einem Circus, voltigirte wie Leotard, und tanzte auf dem Seile gleich Blondin; darauf bin ich Lehrer der Gymnastik geworden, um meine Talente nützlicher zu machen, und zuletzt Sergeant bei den Pompiers zu Paris. Ich habe merkwürdige Brände auf meiner Liste. Nun aber habe ich bereits seit fünf Jahren Frankreich verlassen, und bin, um das Familienleben zu genießen, Kammerdiener in England. Da ich jetzt ohne Stelle bin, und vernommen habe, Herr Phileas Fogg sei der pünktlichste und eingezogenste Mann im Vereinigten Königreiche, so habe ich mich dem Herrn vorgestellt, in Hoffnung, bei demselben ruhig zu leben, und selbst den Namen Passepartout zu vergessen ..."

"Passepartout ist ganz passend für mich," erwiderte der Gentleman. "Sie sind mir empfohlen. Man hat mir gute Auskunft über Sie gegeben. Sie wissen meine Bedingungen?"

"Ja, mein Herr."

"Gut. Wieviel Uhr haben Sie?"

"Elf Uhr zweiundzwanzig Minuten," erwiderte Passepartout, indem er eine große silberne Uhr aus seiner Hosentasche hervorzog.

"Sie sind in der Zeit zurück," sagte Herr Fogg.

"Verzeihen Sie, mein Herr, aber es ist nicht möglich."

"Um vier Minuten sind Sie zurück. Gleichviel. Merken wir uns nur die Abweichung. Also von diesem Augenblicke an, elf Uhr neunundzwanzig Minuten Vormittags, Mittwochs, 2. Oktober 1872, sind Sie in meinem Dienst."

Hierauf stand Phileas Fogg auf, nahm seinen Hut in die Linke, setzte ihn mit einer automatischen Bewegung auf und verschwand ohne ein Wort weiter.

Passepartout hörte wie die Haustüre einmal sich schloß: sein neuer Herr ging hinaus; dann zum zweiten Mal: sein Vorgänger, James Forster, ging ebenfalls fort.

Passepartout befand sich allein im Hause der Saville-Row.

Kapitel 2 - Passepartout hat sein Ideal gefunden



"Meiner Treu," sagte sich Passepartout, der anfangs etwas verdutzt war, "ich finde, daß die Hampelmännchen bei Madame Tussaud ebenso lebendig sind, als mein neuer Herr!"

Die Hampelmännchen der Madame Tussaud sind nämlich Wachsfiguren, die in London sehr gerne gesehen wurden, und bei denen man in der Tat nur vermißte, daß sie nicht reden konnten.

Während der wenigen Augenblicke, wo er mit Phileas Fogg zusammen gewesen, hatte Passepartout seinen künftigen Herrn rasch, aber doch genau gemustert. Der Mann von edler und schöner Gestalt, hohem Wuchs, dem einige Wohlbeleibteit nicht übel stand, mochte etwa vierzig Jahre alt sein, hatte blondes Haar und Bart, eine glatte Stirn ohne auch nur einen Schein von Runzeln an den Schläfen, ein mehr bleiches als gerötetes Angesicht, prachtvolle Zähne. Er schien in hohem Grade zu besitzen, was die Physiognomisten "Ruhe in der Tätigkeit" nennen, eine Eigenschaft, die allen denen gemein ist, welche mit wenig Geräusch ihre Arbeit treiben. Mit Seelenruhe und Phlegma begabt, reinem Auge und unbeweglichen Wimpern, war er der vollendete Typus jener kaltblütigen Engländer, wie man sie im Vereinigten Königreiche ziemlich häufig antrifft, und deren etwas akademische Haltung Angelika Kaufmann's Pinsel zum Staunen treffend dargestellt hat. Sah man diesen Gentleman in seinen verschiedenen Tätigkeiten, so gab er die Idee eines Geschöpfes, dessen sämmtliche Teile wohl im Gleichgewicht standen und richtig abgewogen waren, so vollkommen, wie ein Chronometer von Leroy oder Earnshaw. Und in der Tat war Phileas Fogg die personificirte Genauigkeit, was man deutlich an "dem Ausdruck seiner Füße und Hände" sah; denn beim Menschen, wie bei den Tieren, sind die Glieder selbst ausdrucksvolle Organe der Leidenschaften.

Phileas Fogg gehörte zu den mathematisch exakten Menschen, welche niemals eilig und stets fertig, mit ihren Schritten und Bewegungen sparsam sind. Er hob sein Bein nicht, ohne daß es nötig war, und ging stets den kürzesten Weg. Kein Blick nach der Decke war bei ihm vergeblich, keine Handbewegung überflüssig. Man sah ihn nie in Gemütsbewegung oder Unruhe. Kein Mensch auf der Welt war weniger hastig, und doch kam er stets zu rechter Zeit. Man wird jedoch begreiflich finden, daß dieser Mann einsam lebte, und so zu sagen außer aller gesellschaftlichen Beziehung. Er wußte, daß es im Leben unvermeidlich Reibungen gibt, und da die Reibungen hemmen, so rieb er sich an Niemand.

Was nun Jean, genannt Passepartout, betrifft, so war er ein echter Pariser aus Paris, und hatte seit den fünf Jahren, wo er in England wohnte und zu London den Kammerdiener machte, vergeblich einen Herrn gesucht, an den er sich fest anschließen konnte.

Passepartout gehörte nicht zu denen, die sich in die Brust werfen, mit kecker Nase, zuversichtlichem Blick, trockenem Auge doch nur unverschämte Tölpel sind. Nein, Passepartout war ein braver Bursche mit freundlichem Gesicht, etwas vorstehenden Lippen, ein sanfter und geschmeidiger Charakter, mit so einem gutwilligen, runden Kopf, wie man ihn gerne auf den Schultern eines Freundes sieht. Er hatte blaue Augen, belebten Teint, ein Gesicht, das voll genug war, um selbst die Wölbung seiner Wangen wahrzunehmen; breite Brust, starke Taille, einen Muskelbau von herculischer Kraft, welche durch die Übungen seiner Jugendzeit erstaunlich entwickelt war. Seine braunen Haare spielten etwas in's Rötliche. Kannten die Bildhauer des Altertums achtzehn verschiedene Arten, das Haupthaar der Minerva zu ordnen, so wußte Passepartout für das seinige nur eine: drei Strich mit dem Scheitelkamm und der Hauptschmuck war fertig.

Ob der mitteilsame Charakter dieses Burschen zu dem des Phileas Fogg passen würde, war der einfachsten Voraussicht nicht möglich zu sagen. Sollte wohl Passepartout der so gründlich exacte Diener sein, welchen sein Herr bedurfte? Das ließe sich nur aus der Erfahrung abnehmen. Nachdem er, wie wir wissen, eine ziemlich vagabundirende Jugend gehabt, trachtete er nach einem ruhigen Leben. Da man ihm die regelmäßige Pünktlichkeit und sprichwörtliche Kälte der Gentlemen gepriesen hatte, so versuchte er in England sein Glück. Aber bisher hatte der Zufall ihm schlecht gedient; er hatte nirgends Wurzel fassen können, und schon zehnmal den Herrn gewechselt. Überall war man phantastisch, ungleich, abenteuerlich, von Land zu Land schweifend, was für Passepartout nicht mehr passen konnte. Sein letzter Herr, der junge Lord Longsserry, Parlamentsmitglied, kam oft, wenn er seine Nacht in den "Austernstuben" Haymarkets verbracht, auf den Schultern der Polizeileute nach Hause. Passepartout, der vor allen Dingen seines Herrn Ehre wahren wollte, wagte einige respectvolle Bemerkungen, die üble Aufnahme fanden, und er verließ den Dienst. Darauf hörte er, Phileas Fogg, Sq., suche einen Diener, und erkundigte sich über ihn. Ein Mann von so geregeltem Leben, der nicht auswärts schlief, keine Reisen machte, niemals auch nur einen Tag abwesend war, konnte ihm nur angenehm sein. Er stellte sich vor und wurde, wie wir wissen, angenommen.

Passepartout befand sich also, nachdem halb Zwölf vorüber war, allein im Hause der Saville-Row. Sogleich machte er sich daran, es vom Keller bis zum Speicher zu besichtigen. Dieses reinliche, geordnete, streng puritanische, wohl für den Dienst eingerichtete Haus gefiel ihm. Es machte auf ihn den Eindruck eines schönen Schneckenhauses, das jedoch mit Gas erleuchtet und geheizt war, denn der kohlenstoffhaltige Wasserstoff war darin hinreichend für alle Bedürfnisse der Beleuchtung und Erwärmung. Passepartout fand leicht im zweiten Stock das für ihn bestimmte Zimmer, und es gefiel ihm. Durch elektrische Glocken und Hörrohre stand es mit den Gemächern des Zwischenstocks und der ersten Etage in Verbindung! Auf dem Kamin stand eine elektrische Uhr, welche mit der Uhr im Schlafzimmer von Phileas Fogg übereinstimmte, und beide schlugen in demselben Augenblick dieselbe Sekunde.

"Das steht mir an, das gefällt mir!" sagte Passepartout.

Er bemerkte auch in seinem Zimmer über der Standuhr ein Merkblatt angeheftet, mit der Vorschrift des täglichen Dienstes. Dasselbe enthielt, von acht Uhr Vormittags, der regelmäßigen Zeit, wo Phileas Fogg aufstand, bis zu halb Zwölf, da er zum Frühstücken sich auf den Reformclub begab, alle Einzelheiten des Dienstes: Tee und geröstete Brodschnitten um acht Uhr dreiundzwanzig Minuten; Wasser zum Rasiren, um neun Uhr siebenunddreißig; Frisiren um neun Uhr vierzig, u.s.w. Nachher von halb zwölf Vormittags bis zu zwölf Uhr Nachts, wo der methodische Gentleman zu Bette ging, war alles aufgezeichnet, vorgesehen, geregelt. Passepartout machte sich eine Freude daraus, dies Programm zu studieren und dessen verschiedene Artikel seinem Geist einzuprägen.

Die Garderobe des Herrn war sehr gut ausgestattet und merkwürdig gehaltreich. Jede Hofe, jeder Rock oder Weste war mit einer Ordnungsnummer versehen, die in einem Register eingetragen war, worauf das Datum stand, wann, der Jahreszeit nach, diese Stücke angezogen werden sollten. Gleiche regelmäßige Anordnung auch für die Fußbekleidung.

Im Allgemeinen war dieses Haus der Saville-Row, welches zur Zeit des berühmten, aber zerstreuten Sheridan ein Tempel der Unordnung gewesen sein muß, bequem möblirt, einer hübschen Gemächlichkeit entsprechend.

Keine Bibliothek, keine Bücher, welche für Herrn Fogg unnütz gewesen wären, weil der Reformclub zwei Bibliotheken, eine für Literatur, die andere für Recht und Politik, ihm zur Verfügung stellte. In dem Schlafzimmer ein Kassenschrank mittlerer Größe, der gegen Feuersgefahr und Diebstahl sicherte. Keine Waffe im Hause, nichts von Jagd- oder Kriegsgeräte. Aus Allem sah man nur die friedlichsten Gewohnheiten.

Nachdem Passepartout diese Wohnung im Detail gemustert hatte, rieb er sich die Hände, sein breites Gesicht ward heiter, und er sagte wiederholt freudigen Herzens:

"Das steht mir an! Hier ist mein Platz! Herr Fogg und ich, wir verstehen uns vollkommen. Das ist ein geregelter Mann, ein Zimmerhüter! Eine wahre Maschine! Nun, ich bin's ganz zufrieden, eine Maschine zu bedienen!"

Kapitel 3 - Eine Unterredung, welche Phileas Fogg teuer zu stehen kommen kann



Phileas Fogg hatte um halb zwölf Uhr sein Haus in Saville-Row verlassen, und langte, nachdem er fünfhundertfünfundsiebenzigmal seinen rechten Fuß vor den linken, und fünfhundertsechsundsiebenzigmal seinen linken Fuß vor den rechten gesetzt hatte, im Reformclub an, einem ungeheuren Gebäude in Pall-Mall, welches nicht weniger als drei Millionen zu bauen gekostet hat.

Phileas Fogg begab sich sogleich in den Speisesaal, dessen neun Fenster die Aussicht auf einen Garten boten, mit Bäumen, die bereits im herbstlichen Goldschmuck prangten. Er setzte sich dort an die gewöhnliche Tafel, wo sein Gedeck auf ihn wartete. Sein Frühstück bestand aus einem Nebengericht, gesottenem Fisch in einer vorzüglichen "reading sauce"einem scharlachroten Rostbeaf mit "musheron" gewürzt, einem Kuchen mit Füllsel von Rhabarberstengeln und grünen Stachelbeeren, einem Stückchen Chester, alles mit einigen Tassen von dem vortrefflichen Tee, welcher ganz besonders für die Küche des Reformclubs gesammelt wurde.

Um zwölf Uhr siebenundvierzig Minuten stand die ser Gentleman auf und begab sich in den großen Salon, der prachtvoll mit Gemälden in reichen Rahmen verziert war. Hier stellte ihm ein Diener die noch nicht aufgeschnittene "Times" zu, welche Phileas Fogg mit einer Sicherheit der Hand auseinander faltete, welche eine große Übung in dieser schwierigen Operation bekundete. Mit dem Lesen dieses Journals war Phileas Fogg bis drei Uhr fünfundvierzig Minuten beschäftigt; sodann mit der Lektüre des "Standard" bis zum Diner. Diese Mahlzeit fand in gleicher Weise statt, wie das Frühstück, nur daß noch die "royal british sauce" hinzukam.

Um fünf Uhr vierzig Minuten erschien der Gentleman wieder in dem großen Salon und vertiefte sich in der Lektüre des "Morning Chronicle."

Eine halbe Stunde später kamen verschiedene Mitglieder des Reformclubs herein und näherten sich dem Kamin, wo ein Kohlenfeuer brannte. Es waren die gewöhnlichen Spielgenossen des Herrn Phileas Fogg, gleich ihm leidenschaftliche Whistspieler: der Ingenieur Andrew Stuart, die Bankiers John Sullivan und Samuel Fallentin, der Brauer Thomas Flanagan, Walther Ralph, einer der Administratoren der Bank von England, reiche und angesehene Männer, selbst in diesem Club, welcher die hervorragendsten Glieder der Industrie und Finanzwelt in seiner Mitte zählt.

"Nun Ralph," fragte Thomas Flanagan, "wie steht's mit dem Diebstahl?"

"Nun," erwiderte Andrew Stuart,"die Bank wird um ihr Geld kommen."

"Ich hoffe im Gegenteil," sagte Walther Ralph, "daß wir den Dieb in die Hand bekommen werden. Es sind sehr geschickte Polizeileute nach Amerika und Europa in alle hauptsächlichen Landungs- und Einschiffungshäfen abgeschickt worden, denen wird jener Herr wohl schwerlich entrinnen."

"Man hat das Signalement des Diebes?" fragte Andrew Stuart.

"Vor allem, es ist kein Dieb," erwiderte ernsthaft Walther Ralph.

"Wie, dieses Individuum, welches fünfundfünfzigtausend Pfund in Banknoten (über 360,000 Taler) entwendet hat, ist nicht ein Dieb zu nennen?"

"Nein," versetzte Walther Ralph.

"Also ein Industrieller?" sagte John Sullivan.

"Das 'Morning Chronicle' versichert, es sei ein Gentleman."

Der Mann, welcher diese Äußerung machte, war Niemand anders, als Phileas Fogg, dessen Kopf damals aus der um ihn herum aufgetürmten Flut von Papieren auftauchte. Zugleich grüßte Phileas Fogg seine Kollegen, welche seinen Gruß erwiderten.

Der fragliche Vorfall, welchen die verschiedenen Journale des Vereinigten Königreichs eifrig besprachen, hatte sich drei Tage zuvor, am 29. September, begeben. Ein Packet Banknoten, fünfundfünfzigtausend Pfund enthaltend, war aus dem Fach des Hauptcassirers der Bank von England verschwunden.

Wunderte man sich, daß ein solcher Diebstahl so leicht vorfallen konnte, so antwortete der Unter-Gouverneur Walther Ralph nur, daß der Cassirer eben damit beschäftigt war, einen Einnahmeposten von drei Schilling sechs Pence einzutragen, und man könne nicht seine Augen überall zugleich haben.

Aber es ist hier zu bemerken, was die Tatsache erklärlicher macht, daß dieses staunenswerte Institut der Bank von England äußerst besorgt für die Würde des Publicums ist. Keine Wachen, keine Invaliden, keine Gitter! Das Gold, Silber, die Noten liegen da ganz frei, so zu sagen dem Belieben des ersten Besten Preis gegeben. Es fällt Einem nicht ein, gegen die Ehrenhaftigkeit irgend eines Vorübergehenden Verdacht zu hegen. Einer der besten Beobachter englischer Gebräuche erzählt sogar Folgendes: In einem der Säle der Bank, wo er sich eines Tages befand, war er so neugierig, eine sieben bis acht Pfund schwere Goldbarre näher zu besehen; er nahm dieselbe, betrachtete sie, übergab sie seinem Nachbar, dieser einem anderen, und so wanderte die Barre von Hand zu Hand bis in einen dunkeln Gang hinein, und kam erst nach einer halben Stunde an ihren Platz zurück, ohne daß der Cassirer nur den Kopf darnach hob.

Aber am 29. September ging's nicht ganz eben so. Der Pack Banknoten kam nicht wieder zurück, und als die prachtvolle Uhr, welche über dem Geschäftssaal angebracht war, um fünf Uhr den Schluß der Bureaux anläutete, blieb der Bank von England nichts übrig als fünfundfünfzigtausend Pfund auf das Verlustconto zu setzen.

Als der Diebstahl gehörig festgestellt war, wurden auserwählte Agenten, "Detektivs", in die bedeutendsten Häfen zu Liverpool, Glasgow, Havre, Suez, Brindisi, New-York etc., abgeschickt, und eine Prämie von zweitausend Pfund nebst fünf Procent der wieder gefundenen Summe für die Entdeckung ausgesetzt. Während sie die Auskünfte abwarteten, welche die unverzüglich eingeleitete Untersuchung zu liefern versprach, hatten diese Agenten den Auftrag, sorgfältig alle ankommenden und abreisenden Passagiere zu beobachten.

Nun hatte man Grund, gerade wie das "Morning Chronicle" sich aussprach, anzunehmen, daß der Täter keiner der organisirten Diebesgesellschaften Englands angehöre. Man hatte im Laufe des 29. September einen wohlgekleideten Gentleman von guten Manieren und vornehmer Miene in dem Zahlungssaale, wo der Diebstahl vorfiel, ab- und zugehen gesehen. Die Untersuchung hatte es möglich gemacht, ziemlich genau das Signalement dieses Gentleman herzustellen, welches dann augenblicklich an alle Detektivs des Vereinigten Königreiches und des Continentes abgeschickt wurde. Manche gute Köpfe, worunter auch Walther-Ralph, glaubten daher Grund zur Hoffnung zu haben, der Dieb werde nicht entrinnen.

Man kann sich denken, daß dieser Vorfall zu London und in ganz England das Tagesgespräch bildete. Man stritt leidenschaftlich für und wider die Wahrscheinlichkeit des Erfolges der Polizei in der Hauptstadt. Kein Wunder also, daß, die Mitglieder des Reformclubs den nämlichen Gegenstand besprachen, um so mehr, als einer der Untergouverneure der Bank sich unter ihnen befand.

Der ehrenwerte Walther Ralph wollte am Erfolg der Nachforschungen nicht zweifeln, indem er meinte, die ausgesetzte Prämie müsse den Eifer und die Spürkraft der Agenten ausnehmend schärfen. Aber sein College, Andrew Stuart, teilte bei weitem nicht diese Zuversicht. Der Wortstreit dauerte also unter den Gentlemen fort, die an einem Spieltische Platz genommen hatten, Stuart gegenüber Flanagan, Fallentin gegen Phileas Fogg. Während des Spieles schwiegen die Spieler, aber zwischen den Robbers wurde die unterbrochene Unterhaltung um so lebhafter fortgesetzt.

"Ich behaupte," sagte Andrew Stuart, "daß der Dieb unfehlbar ein gewandter Mensch ist, welcher alle Aussicht hat, zu entkommen."

"Ei doch!" erwiderte Ralph, "es gibt ja nicht ein einziges Land mehr, wo er Zuflucht fände."

"Das wäre!"

"Wo meinen Sie denn, daß er hingehen soll?"

"Das weiß ich nicht," versetzte Andrew Stuart, "aber, trotz allem ist doch auf der Erde viel Raum."

"Das war ehedem der Fall ..." sagte Phileas Fogg halblaut. Darauf: "Sie müssen abheben, mein Herr", und reichte Thomas Flanagan die Karten.

Der Disput ruhte während der Robber. Aber bald fing er wieder an, als Andrew Stuart sagte:

"Wie so? ehedem! Ist die Erde etwa kleiner geworden?"

"Allerdings, versetzte Walther Ralph. "Ich bin der Meinung des Herrn Fogg. Die Erde hat an Umfang verloren, weil man jetzt zehnmal rascher wie vor hundert Jahren um sie herum reisen kann. Und deshalb werden auch in unserm gegebenen Falle die Nachforschungen weit rascher angestellt."

"Und auch die Flucht des Diebes wird dadurch leichter!"

"An Ihnen ist die Reihe, Herr Stuart!" sagte Phileas Fogg.

Aber der ungläubige Stuart war nicht überzeugt, und als die Partie fertig war, versetzte er:

"Man muß gestehen, Herr Ralph, Sie haben da einen scherzhaften Einfall gehabt, indem Sie sagten, die Erde sei kleiner geworden! Also weil man jetzt in drei Monaten um dieselbe herum reist ..."

"In achtzig Tagen nur," sagte Phileas Fogg.

"Wirklich," meine Herren, setzte John Sullivan hinzu, "achtzig Tage, seitdem auf der großen Indischen Eisenbahn die Strecke zwischen Rothal und Allahabad eröffnet worden ist, wie das 'Morning Chronicle' die Route berechnet, nämlich:

Von London nach Suez über den Mont-Cenis und Brindisi,
Eisenbahn und Packetboot - 7 Tage
Von Suez nach Bombay, Packetboot - 13 Tage
Von Bombay nach Calcutta, Eisenbahn - 3 Tage
Von Calcutta nach Hongkong, Packetboot - 13 Tage
Von Hongkong nach Yokohama in Japan,
Packetboot - 6 Tage
Von Yokohama nach San Francisco,
Packetboot - 22 Tage
Von San Francisco nach New-York,
Eisenbahn - 7 Tage
Von New-York nach London, Packetboot
und Eisenbahn - 9 Tage
Zusammen 80 Tage"

"Ja! achtzig Tage," rief Andrew Stuart, der aus Unachtsamkeit eine schlechte Karte abhob, "aber die schlechte Witterung, widrige Winde, Schiffbruch, Entgleisungen etc. nicht gerechnet."

"Alles einbegriffen," erwiderte Phileas Fogg, und fuhr fort zu spielen; dann diesmal nahm das Gespräch keine Rücksicht auf das Spiel.

"Selbst auch, wenn die Hindu's oder die Indianer die Schienen aufheben!" rief Andrew Stuart, "wenn sie die Züge aufhalten, um die Gepäckwagen zu plündern und die Passagiere zu scalpiren!"

"Alles inbegriffen", erwiderte Phileas Fogg, der sein Spiel hinwarf, mit den Worten: "Zwei Haupttrümpfe!"

Andrew Stuart, an welchem die Reihe war zu geben, nahm die Karten wieder zusammen und sprach:

"Theoretisch haben Sie Recht, Herr Fogg, aber in der Praxis ..."

"In der Praxis auch, Herr Stuart.."

"Ich wünschte Sie dabei zu sehen."

"Das hängt nur von Ihnen ab. Machen wir die Reise mit einander."

"Der Himmel behüte mich!" rief Stuart, "aber ich würde schon um viertausend Pfund wetten, daß eine solche Reise unter solchen Bedingungen unmöglich ist."

"Sehr möglich, im Gegenteil," erwiderte Herr Fogg.

"Nun, so machen Sie die Reise!"

"Die Reise um die Welt in achtzig Tagen?"

"Ja."

"Ich bin's zufrieden."

"Wann?"

"Augenblicklich. Nur will ich Ihnen bemerken, auf Ihre Kosten will will ich sie machen."

"Es ist Narrheit!" rief Andrew Stuart, dem das Drängen seiner Spielgenossen lästig ward. "Spielen wir lieber."

"So geben Sie die Karten nochmals," erwiderte Phileas Fogg, "denn sie sind vergeben."

Andrew Stuart nahm die Karten wieder in die zitternde Hand; dann legte er sie plötzlich wieder auf den Tisch und sprach:

"Nun ja! Herr Fogg, ja, ich wette um viertausend Pfund! ..."

"Lieber Stuart," sagte Fallentin, "werden Sie ruhig. Das ist nicht ernstlich gemeint."

"Wenn ich sage: ich wette," versetzte Andrew Stuart, "ist's immer ernstlich gemeint."

"Ich schlage ein!" sagte Herr Fogg. Dann zu seinen Kollegen gewendet:

"Ich habe zwanzigtausend Pfund bei Gebr. Baring stehen. Die setze ich gerne daran ..."

"Zwanzigtausend Pfund!" rief John Sullivan. "Zwanzigtausend Pfund, die Sie durch eine unvorhergesehene Verspätung verlieren können!"

"Es gibt nichts Unvorhergesehenes," erwiderte Phileas Fogg einfach.

"Aber, Herr Fogg, dieser Zeitraum von achtzig Tagen ist nur als ein mindestes Maß gemeint!"

"Wenn man ein Mindestes gut verwendet, reicht's immer hin."

"Aber um es nicht zu überschreiten, muß man mathematisch genau aus den Eisenbahnen in die Packetboote, und aus den Packetbooten in die Eisenbahnen springen!"

"Ich will den Sprung mathematisch genau vornehmen."

"Es ist nur Spaß!"

"Ein guter Engländer macht nie Spaß, wenn sich's um eine so ernste Sache, wie eine Wette handelt, erwiderte Phileas Fogg. Ich wette mit Jedem, der Luft dazu hat, um zwanzigtausend Pfund, daß ich die Reise um den Erdball in längstens achtzig Tagen machen werde, d.h. in neunzehnhundertundzwanzig Stunden, oder hundertfünfzehntausendzweihundert Minuten. Sind Sie es zufrieden!"

"Wir nehmen die Wette an," erwiderten, nachdem sie sich unter einander verständigt, die Herren Stuart, Fallentin, Sullivan, Flanagan und Ralph.

"Gut," sagte. Herr Fogg. "Der Zug nach Dover geht um acht Uhr fünfundvierzig Minuten ab. Mit dem reise ich."

"Heute Abend?" fragte Stuart.

"Heute Abend," versetzte Phileas Fogg. Also, fuhr er fort, indem er einen Kalender aus der Tasche zog und nachsah, weil heute Mittwoch, der 2. Oktober, so muß ich Samstags, den 21. Dezember um acht Uhr fünfundvierzig Minuten Abends wieder in London sein, hier in diesem Salon des Reformclubs, sonst sollen die zwanzigtausend Pfund, welche eben für mich bei den Gebr. Baring stehen, mit Recht und Fug Ihnen, meine Herren, angehören. "Hier ist eine Anweisung von gleichem Betrage."