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Björn Bicker

WAS WIR ERBEN

Roman

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

And you know he’ll never let you leave

’Cause blood is clear, it never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Oh blood never lies

Thurston Moore: Blood never lies

Auf dem Foto sieht man den Vater als sechsunddreißigjährigen Mann an der Seite einer blonden Frau, die ein buntes, eng geschnittenes Sommerkleid trägt. Sie legt ihren Arm um seine Hüfte, er schaut seitlich zu Boden. Sie posiert. Hinter der Scheibe ein paar kostümierte Hostessen. Das Gesicht des Vaters im Profil, ein dunkler Schatten schneidet den Kopf in zwei Hälften. Der Körperhaltung nach passt ihm die Situation nicht, aber das kann täuschen. Er trägt eine braune Anzughose mit Schlag und eines von seinen weißen, kurzärmeligen Sommerhemden. Dazu einen braunen Kunstledergürtel. Die Füße sind abgeschnitten. Wahrscheinlich hat er Sandalen und Socken an. Die beiden stehen neben dem Eingang der Olympiaschwimmhalle. Rechts das himmelblaue Piktogramm mit den zwei weißen Figuren beim Startsprung. Wenn man die Geschichte kennt, erahnt man bei Deiner Mutter einen kleinen Bauch unter dem knalligen Paisley. Auf der Rückseite der Originalfotografie hat Deine Mutter Ort, Datum und Anlass vermerkt. Du hast ihre Notizen kopiert. Fein säuberlich hast Du mit Kugelschreiber hinten auf dieses dünne Blatt Papier geschrieben: München, 29. August 1972. Entscheidung 200 M K.

Ich bin im selben Jahr am 28. Dezember auf die Welt gekommen.

Vier Monate vor meiner Geburt stand der Vater auf dem Gelände der Olympischen Sommerspiele 1972 und hat sich mit Deiner Mutter fotografieren lassen.

Als diese Aufnahme gemacht wurde, war meine Mutter im fünften Monat schwanger. Mit mir.

Er hat es gehasst, fotografiert zu werden.

Der Alphaville-Forever-Young-Klingelton, den Holger ein paar Tage vorher auf unserem neuen Telefon programmiert hatte, hat Dich angekündigt, mittags, an einem ganz normalen Dienstag, und ich habe gedacht: Bestimmt wieder so eine Umfrage für irgendeinen Marktforschungsscheiß. Ich habe den Hörer abgenommen, obwohl ich wusste, keiner von meinen Leuten ruft mich um diese Uhrzeit an. Deine ruhige Stimme, der amerikanische Akzent. Legen Sie bitte nicht auf, hast Du gesagt. Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Und ich habe gedacht, klar, Lotterie, Umfrage, was weiß ich, und ich habe Luft geholt und in meinen tiefen Atmer hinein hast Du gesagt: Ich glaube, ich bin Ihr Bruder. Wie bitte? Mein Bruder? Und dann hast Du es mir ganz langsam erklärt. Dass Deine Mutter gestorben sei. Dass sie Dir in einem Brief offenbart habe, wer Dein leiblicher Vater war. Dass Du erst nichts davon wissen wolltest, dass Du dann aber doch Nachforschungen angestellt hättest und dabei auf mich gestoßen seist. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich Dein Anruf als besonders raffinierter Marketinggag entpuppen würde. Oder als Trickbetrug. Jetzt gleich, habe ich gehofft, wird er anfangen von Geldproblemen und Verwandtschaft und Notlage zu reden, und dann hole ich aus zum Gegenschlag. Aber ich habe mich getäuscht. Haarklein hast Du mir erklärt, wie Du bei Deiner Recherche vorgegangen bist. Dass Du erst zum Hörer gegriffen hast, als Du Dir ganz sicher warst. Die muss es sein. Ich bin schon in der Stadt, hast Du gesagt. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen.

Du hast gesagt, dass Du wieder zurück musst. Nach Amerika. Weil Deine Familie auf Dich warte. Der Job. Als ich Dich gefragt habe, was Du beruflich machst, hast Du etwas verlegen gelacht. Uni, Werbung, habe ich angefangen zu raten, nein, nein, bist Du mir ins Wort gefallen, ich bin Lehrer. Biologie, Chemie. Eigentlich hättest Du Forscher werden wollen, Arzneimittel, irgend so was, aber dazu habe Dir die Ausdauer gefehlt. Und dann hast Du gelacht. Und es sah aus, als hätte der Vater gelacht.

Ich habe Dir einen Abriss von seinem Leben gegeben. Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Einritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater. Aber nicht so tragisch, Zeit heilt Wunden, habe ich abgewiegelt. Ich habe so getan, als ob mich Deine Geschichte nicht sonderlich bewegen würde. Der Vater hatte andauernd irgendwelche Affären, habe ich gesagt. Es würde mich nicht wundern, wenn da draußen noch mehr von Deiner Sorte rumliefen. Ich hatte Mühe, meine Tränen zu unterdrücken.

Ich habe Dich angelogen. Der Vater war kein Typ für Affären.

Wir sitzen uns in diesem Café gegenüber. Ich beobachte Dich. Wie Du sprichst. Wie Deine Hände aussehen. Ich vergleiche Dich. Mit mir. Mit ihm. Die Stimme, die Haare, aber ich kann nichts erkennen. Dein Hals ist kurz. Seiner war lang. Mein Hals.

Und dann sage ich: Wenn ich Dich einfach so getroffen hätte, auf einer Party oder im Theater, dann wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, dass Du mit mir verwandt sein könntest. Du lächelst verlegen. Du versuchst, Deine Hände vor mir zu verbergen. Ich höre meine Stimme: Eine Affäre. Weiter nichts. Das sieht ihm ähnlich. Deine Augen werden feucht.

Ehrlich gesagt, das Foto spricht eine andere Sprache. Das sieht nach Doppelleben aus, nach Liebe, nach großem Kino. Du bist einen Monat jünger als ich, das heißt, vier Wochen nach meiner Zeugung hat mein Vater mit Deiner Mutter Sex gehabt. Mit dieser forschen, gut aussehenden Frau auf dem Foto. Ihre Beine sind nach außen gespannt, leichtes O, aber die Füße sind abgeschnitten, wie beim Vater, man sieht die Schuhe nicht, der Rock ist kurz, die Beine sind stramm, ihre Oberarme kräftig, gebräunt. Eine Haarlocke fällt ihr ins Gesicht, ihr Mund ist links etwas nach oben verzogen, wahrscheinlich, weil sie die Locke aus dem Auge blasen will. Das sieht frech aus, selbstbewusst, überhaupt kommt mir diese Frau auf dem Foto so vor, als wüsste sie ziemlich genau, was sie will. Aber was sagt schon ein Foto.

Du streichst Dir die Tränen mit den Fingern von der Wange. Du schaust mich lächelnd an. Entschuldigst Dich für die Tränen. Meine kehlige Stimme: Warum hast Du nie richtig nachgefragt? Hast Du nie den Drang verspürt, nach ihm zu suchen? Nein, sagst Du. Ich war ja glücklich. Und wo hat sie all die Jahre dieses Foto versteckt? Musste sie nicht Angst haben, dass Du das Bild entdeckst? Was wäre eigentlich, wenn Deine Mutter ihre Wahrheit mit ins Grab genommen hätte? Wenn das Foto nie aufgetaucht wäre? Wenn Deine Mutter das Stückchen Papier in den Müll geworfen hätte? Das Bild wäre wahrscheinlich im Verbrennungsofen irgendeiner amerikanischen Halde gelandet, es wäre als kleiner Teil einer giftigen Wolke in den Himmel gestiegen und die Wahrheit über den Vater und Deine Mutter wäre als saurer Regen auf die Erde getropft. Deine Mutter hätte ein paar Tränen verdrückt, und Dein Leben würde genauso weitergehen wie vorher.

Es geht nicht nur um den Vater. Es geht auch um Deine Mutter.

Erzählst du mir mehr von ihm, fragst Du mich, wir könnten skypen, mailen, alles Mögliche. Ich weiß nicht, sage ich. Lass mir Zeit. Ein paar Wochen vielleicht. Bei mir ist gerade viel los.

Wir verabschieden uns, ohne uns anzufassen.

Kein Händedruck, nichts.

Als ich nach unserem Treffen wieder zu Hause war, wusste ich nichts mit mir anzufangen. Ich bin ziellos durch die Wohnung getigert, von Raum zu Raum und an keinem Punkt der Wohnung hat es mich länger als ein paar Sekunden gehalten. Der Fernseher hat sein farbiges Gift versprüht. Die Augen taten weh. Das Sofa hat gebrannt unter meinem Hintern. Der Küchenboden stand unter Strom. Ich habe mit den Fingern in den Haaren gedreht, bis sie sich angefühlt haben wie Stroh. Ich habe das Radio eingeschaltet, um es ein paar Takte später wieder auszuschalten. Ich habe den Hörer der Gegensprechanlage aus der Wandhalterung genommen, kurz dem Rauschen der Straße gelauscht, ein paar Schritte, ein Auto, vorbei laufende Partyleute, ich habe den Hörer wieder eingehängt.

An Schlaf war nicht zu denken. Ich habe mich hin- und hergewälzt. Ab und zu bin ich weggedämmert. Am frühen Morgen, um kurz vor sieben, ist Holger nach Hause gekommen. Ich habe mich zu ihm in die Küche gesetzt. Wir haben Kaffee getrunken. Stumm. Das machen wir jedes Mal, wenn er von seinem Nachtdienst in der Klinik nach Hause kommt. Eine viertel Stunde sitzen wir zusammen. Der Kühlschrank brummt. Der Kaffee duftet. Und dann steht er auf, gibt mir einen Kuss, geht ins Bad, putzt sich die Zähne und legt sich hin. Ich hole dann die Zeitung von draußen. Neues vom Tag.

Ich habe unser Treffen nicht erwähnt.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar verstaut seine Kinder im Auto. Gegenüber hängt eine alte Frau ihr Bettzeug zum Lüften über die Fensterbank. Ab und zu fährt ein Wagen los. Aus der Ferne die Feuerwehr. Die Sirene verschwindet wieder. Der Unfall, der den anderen passiert. Holger schläft.

Gleich muss ich zur Probe. Letzte Woche ist es wieder losgegangen. Ich habe zwei Monate nach meiner letzten Premiere frei gehabt. Das heißt: nur Vorstellungen am Abend. Und jetzt wieder Probebühne. Jeden Tag. Morgens und Abends. Außer, es gibt eine Vorstellung zu spielen. Drei-, viermal die Woche. Am Nachmittag ein paar Stunden frei. Zwischen drei und sieben. Zwei Wochen noch und dann sind Theaterferien. Wir haben einmal im Jahr Urlaub. Sechs Wochen lang. Im Sommer.

Ich starre auf das Foto. Ich trage es durch die Wohnung wie eine Monstranz. Ich versuche, irgendetwas zu erkennen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mich weiterbringen könnte. Ein stinknormales Paar, denkt man. Ich kenne das Schwimmbad. Ich kenne das Olympiagelände. Ich kenne München. Ich lebe hier, seit Jahren. Bisher hatte die Stadt nichts mit dem Vater zu tun. Die Stadt war vaterfrei.

Du hast erzählt, dass Deine Mutter eine fröhliche Frau gewesen sei. Dass sie einen Arzt geheiratet habe, als Du fünf warst. Dass sie noch zwei Kinder bekommen habe, Deine beiden Schwestern, und dann habe sie ihren Job als Krankenschwester an den Nagel gehängt. Sie sei jeden Tag schwimmen gegangen, ihr Leben lang, hast Du gesagt. Und dann diese Diagnose. Darmkrebs. Dein Ziehvater sei viel älter gewesen. Er sei schon vor zehn Jahren gestorben. Hat er von den beiden gewusst?

Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich Dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.

Und dann ist da noch dieses Hörensagen, das die sechsunddreißig Jahre vor meiner Geburt betrifft.

Und die Jahre nach seinem Tod. Die gehören auch zum Vater.

Der Vater ist tot und die Vergangenheit ist ein Popanz.

Popanz ist ein altmodisches Wort, das ich schon lange nicht mehr benutzt habe. Popanz hat der Vater immer gesagt, wenn er sich von jemandem gekränkt fühlte, wenn ihm jemand zu nahe kam, wenn er sich vor jemandem schämte, dann hat er ihn als Popanz beschimpft. Menschen, die in seinen Augen von anderen Menschen abhängig und beeinflussbar waren, die aber dauernd versuchten, den Eindruck von Macht und Selbstbestimmtheit zu erwecken. Menschen, die ihm Angst machten. Einmal, ich war noch ganz klein, sechs oder sieben Jahre alt, da kam er nachts besoffen nach Hause und es dauerte nicht lange, bis sich ein Streit zwischen ihm und der Mutter entzündet hatte. Der Vater hat rumgeschrien. Das ist ein Popanz, hat er krakeelt. Was willst du von diesem Popanz! Zu diesem Popanz zu gehen. Das ist unwürdig. Ich lag im Bett. Den Kopf längst unter der Decke versteckt, ich schwitzte. Der Zorn glühte und schlug Funken. Ich hörte immer wieder dieses Wort. Popanz. Popanz. Immer wieder, immer lauter, bis die Türen knallten und die Mutter sich schluchzend im Badezimmer einschließen musste. Ruhe war erst, als der Vater im Wohnzimmer auf seinem Sessel eingeschlafen war. Morgens bin ich als Erste aufgestanden und da saß er noch in seinem Sessel, der Fernseher lief, sein Kopf zur Seite abgeknickt. Speichelfäden hingen aus dem Mund auf seine Schulter. Es roch nach verbranntem Holz. Und Schweiß. Und Alkohol. Ich legte mich vor ihn auf den Teppich. Wie ein Hund, der sein schlafendes Herrchen bewacht. Bis die Mutter kam, mich verscheuchte und den Vater aufweckte.

Erst viel später habe ich von der Mutter erfahren, dass er mit Popanz einen Therapeuten meinte, den sie eine Zeit lang wegen seiner Trinkerei konsultiert hatte. Weil sie ratlos war, sich nicht mehr zu helfen wusste. Als kleines Mädchen trug ich diesen Popanz immer bei mir. Popanz war mein Ungeheuer, mein Gespenst. Der Popanz machte mir alles streitig, was ich hatte. Wenn die Mutter wegging, ohne mich, eine Erledigung machen, einen raschen Einkauf, dann fürchtete ich, dass sie wieder diesen Popanz treffen würde. Das Gespenst namens Popanz saß in meinem Kopf. Es sitzt da immer noch.

Aber das Wort Popanz hatte ich längst aus meinem Wortschatz gekickt. Bis eben. Mit dem Wort steigt die Unruhe wieder auf. In mir brodelt es, mein Fleisch, meine Haut, die halten die Lava in Schach. Ein altmodisches Bild, das hinkt, so wie alle Vergleiche hinken. Ich weiß. Halber Bruder. Ich spreche das Wort aus, laut, immer wieder: Popanz. Die Vergangenheit hinterlässt dabei ihren rauchigen Geschmack auf meiner Zunge.

Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief jemals lesen wirst.

Ich habe gestern die Abendprobe abgesagt, weil ich Holger von Dir erzählen wollte. Ich wusste, dass er nichts vorhatte. Meistens ist er verplant. Er hat keine Lust, die Abende alleine zu verbringen. Er geht zum Sport. Ins Kino. Manchmal mit Freunden zum Essen. Ich habe der Regieassistentin gesagt, dass ich mich krank fühle und Schonung brauche. Und bevor ich richtig flachliege, habe ich sie beruhigt, bleibe ich heute Abend zu Hause. Die Assistentin hat die Schnute verzogen, aber mein schlecht gelaunter Blick, kurz davor, ins Ungehaltene abzugleiten, hat sie sofort einlenken lassen. Du hast ja einen Arzt zu Hause, hat sie beschwichtigt.

Am Theater ist Krankheit ein Problem. Die knappen Probenzeiten. Vorstellungen, die ausfallen könnten.

Ich habe Holger aus der Garderobe angerufen. Und ohne vorher nachzudenken, habe ich losgequatscht. Holger, wir müssen reden, es ist etwas passiert, das du unbedingt wissen musst. Stille am anderen Ende der Leitung. Nein, nein, nichts Schlimmes, habe ich gleich hinterhergeschoben, damit er sich keine Sorgen machen musste. Das hält er nicht aus, wenn er Dienst hat. Nicht solche Anrufe, hat er mich ganz am Anfang unserer Freundschaft gebeten, nachdem ich ihm am Telefon wegen einer versäumten Verabredung eine Riesenszene gemacht hatte. Ich kann mir solche Sorgen in der Klinik nicht erlauben, hat er mir damals erklärt. Es gehe da nicht um ihn, sondern um die Patienten. Und denen gehöre seine ganze Aufmerksamkeit.

In Ordnung, hat er gesagt, ich bin um acht zu Hause.

Ich habe gekocht, Kartoffeln und Forelle, habe Wein auf den Tisch gestellt, Kerzen angezündet und Holger ist nach Hause gekommen und hat die Küche betreten und hat gelächelt und dann hat er mich in den Arm genommen. Er hat mich ganz fest an sich gedrückt. Er hat nach Desinfektionsmittel und Zigaretten gerochen. Muss ich aufhören zu rauchen, hat er mich leise gefragt. Ich habe gar nicht verstanden, was er gemeint hat. Nein, habe ich gesagt, bloß nicht, dann hast du ja überhaupt kein Laster mehr. Aber, wenn du schwanger bist und wir ein Kind kriegen, ist es doch besser, ich höre auf. Nein, nein, habe ich gerufen, ich bin nicht schwanger, ach so, du hast gedacht, ich mach das hier alles, weil ich dir sagen wollte, dass wir ein Kind kriegen, nein, bitte, entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht, es geht um etwas ganz anderes. Holger hat mich von sich weggeschoben und seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Soweit ich weiß, hat das mit Daran-Denken nicht viel zu tun, hat er gesagt und sich an den gedeckten Tisch gesetzt. Er sah traurig und enttäuscht aus. Er wünscht sich so sehr ein Kind. Wir haben es eine Zeit lang darauf angelegt, aber es hat nicht geklappt und dann haben wir entschieden, nicht mehr daran zu denken, vielleicht funktioniert es ja dann. Holger fing an, den Korkenzieher in den Hals der Weinflasche zu drehen. Hätte ja sein können, hat er gelacht. Holger lacht immer so bizarr, wenn es ernst wird. Und ohne den Kopf zu heben, hat er in das fette Ploppen des Korkens hinein gefragt: Was ist es denn dann?

Ich habe ihm von unserem Treffen erzählt.

Während ich sprach, hat er sich mit beiden Händen an seinem Weinglas festgehalten, wie an einem Glühwein, den man draußen trinkt, wenn es eiskalt ist. Wissend, dass einem danach noch kälter wird. Seine Augen waren klein, müde, wie nach einer großen Anstrengung, nach einem langen Tag im Freien. Er hat mich angeschaut, als wollte er sagen: Jetzt weißt du endlich, was Dir die ganze Zeit gefehlt hat. Als sei ihm soeben bestätigt worden, dass seine Diagnose, die er niemals vor den Kollegen auszusprechen gewagt hätte, die zutreffende gewesen sei. Kein Triumph, aber Genugtuung. Er sah mich an und blieb stumm. Also habe ich geredet: Ich weiß überhaupt nicht, ob das stimmt, was der Typ behauptet. Er sagt zwar, dass er mein Bruder ist, aber es ist nichts bewiesen, gar nichts.

Ja, ich habe Dich Typ genannt, ich wollte Holger gegenüber nicht zeigen, wie nah Du mir schon bist, nach so kurzer Zeit. Ich habe so getan, als sei ich noch im Modus des Überprüfens, als gäbe es für mich noch Zweifel an Deiner Glaubwürdigkeit.

Und dann hat Holger gesagt: Macht doch einfach einen Test. Er wollte mir helfen, er hat tatsächlich geglaubt, der Zweifel würde mich umtreiben. Pass auf, habe ich gesagt, ich brauche diese Art Beweise nicht. Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle. Genauso wenig wie ich irgendeine künstliche Befruchtung brauche, um schwanger zu werden, genauso wenig brauche ich einen Gentest, um zu glauben, dass das mein Bruder ist. Wenn überhaupt, dann Halbbruder, hat Holger gespielt unbeteiligt vor sich hin gemurmelt, aber egal – ihr seid aus einem Fleisch und Blut. Ihr seid Verwandte. Dagegen könnt ihr nichts machen. Das hat Holger gesagt. Und ich habe gesagt: Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht. Wir sind nur miteinander verwandt, wenn wir das wollen, nur dann. Ich habe versucht, gegen die Biologie anzureden.

Also glaubst Du ihm doch, hat Holger gefragt. Ja, ich glaube ihm. Es gibt keinen Zweifel. Und dann habe ich das Foto, wie ein Full House beim Poker, vor ihm auf den Tisch gelegt. Und Holger: Die stehen vor dem Olympiabad. Vor unserem Olympiabad.

Später am Abend hat Holger von Zwillingsforschung angefangen. Von telepathischen Beziehungen. Er hat von Leuten gesprochen, die nach der Geburt getrennt wurden und dreißig Jahre lang nichts voneinander gewusst haben. Wie unvollständig sich diese Leute all die Jahre gefühlt haben. Dass es bei allen diese Ahnung gegeben habe, dass da noch jemand sei. Die unfreiwillige Ähnlichkeit: Die gleichen Lieblingsspeisen, derselbe Sport, ihre Ehepartner trügen dieselben Namen, bei einem Paar habe man sogar festgestellt, dass sie über Jahre denselben Urlaubsort besucht hätten, allerdings jeder von beiden zu einer anderen Jahreszeit. Sonst wären sie sich wahrscheinlich schon früher begegnet, hätten einen lustigen Abend in einem Strandrestaurant miteinander verbracht, hätten die Adressen ausgetauscht und sich ein paar Jahre lang zu Weihnachten per Mail eine von diesen Grußkarten geschickt.

Wir sind keine Zwillinge.

Holger und ich haben noch lange in der Küche gesessen. Holger erzählte mal wieder von seinem Urgroßvater, der angeblich auf einer Reise durch die amerikanischen Südstaaten in einem Whiskey-Fass ertrunken ist. Wir haben gelacht, wir wurden immer ausgelassener, später haben wir in der Küche getanzt. Holgers Augen funkelten, sein Gesicht glühte. Alles fühlte sich plötzlich neu an. Wir haben uns geküsst wie lange nicht mehr. Später lagen wir erschöpft und glücklich im Bett.

Ich habe von Deinen Händen geträumt, tatsächlich, von Deinen Händen. Sie sehen aus wie seine Hände, die Hände des Vaters. Lange, schmale Finger, Fingernägel, die sich wölben, und diese Hauthöcker auf den Gelenken. Eure Hände gibt es nicht oft.

Im Café hast Du mich gefragt, ob ich zufrieden sei mit meinem Beruf. Ja, habe ich geantwortet, wie ein braves Mädchen, das gefragt wird, ob es gerne zur Schule geht. Ich habe mir immer gewünscht, Schauspielerin zu werden.

Der Vater hat mich nie auf der Bühne gesehen.

Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich zum Schauspielstudium nach Wien gehen werde, war sie nicht überrascht, obwohl ich ihr meine Bewerbung am Reinhardt-Seminar bis dahin verheimlicht hatte. Schön, schwärmte sie, Wien. Mein Berufswunsch interessierte sie nicht. Sie konnte sich unter Schauspielerei nichts Konkretes vorstellen. Sie dachte wahrscheinlich: Irgendwas mit Fernsehen. Von dem Renommee der Schule hatte sie keine Ahnung. Deshalb schien es ihr auch nicht sonderlich bemerkenswert, dass ich in Wien auf Anhieb angenommen worden war. Sie hatte keinen blassen Schimmer von diesen quälenden Aufnahmeprozeduren. Als wir jung waren, hat sie gesagt, dein Vater und ich, da hat er mir von Wien vorgeschwärmt. Wien, hat er immer gesagt, wir fahren nach Wien. Wenn sie mal wieder kraftlos gewesen sei, dann habe er von dieser gemeinsamen Reise geredet, um sie zu trösten, ihr ein Ziel vor Augen zu halten. Sie zwei. Ganz alleine. Aber er habe immer nur versprochen. Nie gehalten. Auf die Frage, warum sie nicht alleine hingefahren sei, ohne den Vater, fing sie schlagartig an zu heulen, das könne sie nicht erklären, die Zeit sei so schnell vergangen. Aber nun könne sie mich besuchen, ihre Tochter, darauf freue sie sich.

Als die Mutter ein halbes Jahr später tatsächlich anrückte, habe ich ihr die Stadt gezeigt, alles, Museen, Kaffeehäuser, Bellaria-Kino, Zentralfriedhof, Prater, wir sind ins Theater gegangen, und ich war stolz, dass ich mich schon so gut zurechtfand in dieser Stadt, ich war euphorisch, weil ich bis dahin nur die kleinen Käffer der Eifel gekannt hatte, aber die Mutter konnte nichts begeistern, kein Funke ist übergesprungen, sie war skeptisch, sie ist widerwillig mit mir durch die Stadt geschlichen, ihr Gesicht hat seinen säuerlichen Ausdruck drei Tage lang nicht verändert. So, als geschehe ihr ein schmerzhaftes Unrecht. Irgendwann habe ich sie zur Rede gestellt. Da brach es aus ihr heraus, warum ich eigentlich in diese Stadt zum Studieren gegangen sei, ob ich ihr damit etwas beweisen wolle. Warum ich so tue, als ob ich die Erfinderin der großen weiten Welt sei. Sie würde mich gar nicht mehr wiedererkennen. Ich wusste keine Antwort. Später, am Abend, als wir zusammen in meinem kleinen Zimmer saßen, da habe ich ihr versucht zu erklären, dass es keinen speziellen Grund für mich gegeben habe, ausgerechnet in diese Stadt zu gehen. Wien sei schlicht die erste Schule gewesen, die mich angenommen habe, mehr nicht. Das glaube ich dir nicht, hat sie geantwortet. Und dann hat sie mir noch einmal die ganze Geschichte vom Vater erzählt. Wien war darin das Synonym für Enttäuschung und hohle Worte. Irgendwann bin ich eingeschlafen.

Ich fahre heute nach Hause, hat sie gleich nach dem Aufwachen verkündet, obwohl sie eigentlich länger bleiben wollte. Wir lagen noch im Bett, ich auf meiner alten Federkernmatratze, die ich unter das undichte Fenster geschoben hatte, und sie auf dem Futon, das mir meine tschechische Mitbewohnerin Sarka für die Dauer des Besuchs überlassen hatte. Damit war der Boden des Zimmers bedeckt, nur ein kleiner Schreibtisch hatte noch Platz und eine alte, braune Schrankwand, die ich von meinem Vormieter übernommen hatte. Genauso wie die immergrüne Waldtapete um die weiß lackierte Tür herum. Ich habe nichts zu ihrer Entscheidung gesagt.

Wir standen am Bahnsteig und warteten auf ihren Zug Richtung Salzburg, da fing sie an zu heulen. Ihr liefen die Tränen das Gesicht herunter. Nichts und niemand konnte ihr helfen. Er wird bald sterben, er macht es nicht mehr lange, schluchzte sie so laut, dass sich der halbe Bahnsteig nach uns umdrehte. Und dann offenbarte sie mir, dass sie, kurz bevor sie losgefahren sei nach Wien, einen Anruf bekommen habe aus der Klinik, der Vater sei gestürzt, nachts, vor dem Haus, man habe ihn im Krankenhaus behalten müssen. Der Arzt habe versucht, sie am Telefon zu beruhigen, der Beinbruch sei nicht das Problem, sie wisse ja Bescheid, er werde jetzt entgiftet, aber danach, da müsse er halt wieder zu sich nach Hause und dann gehe alles wieder von vorne los, es sei denn, er entschließe sich, eine Therapie zu machen, stationär in einer Klinik. Aber auch das könne dauern, bis es einen geeigneten Platz gebe, außerdem müsse er das schon selbst wollen. Und. Und. Und. Ich kann nicht mehr, rief die Mutter. Warum rufen die mich an? Warum lassen die mich nicht in Ruhe? Willst du deshalb zurück, weil du es nicht aushältst, ihn sich selbst zu überlassen, habe ich sie gefragt, und ich weiß noch, wie stolz ich war auf meine kühle, beherrschte Art. Der Zug stand schon da. Die Mutter stieg ein. Ich bin eine Weile auf dem Bahnsteig stehen geblieben und habe dem Zug mechanisch hinterhergewunken. Als der letzte Wagen am Horizont verschwunden war, überfiel mich schlagartig ein erbarmungsloser Schüttelfrost. Zum Glück war der Weg vom Westbahnhof zu meiner WG in der Turmburggasse nicht weit. Fast hätte ich es nicht bis nach Hause geschafft. Während der zwei U-Bahn-Stationen bis zur Neubaugasse schoss das Fieber in meine Glieder, ich schwitzte, und als ich den Berg runterging, am Apollo Kino vorbei, verlor ich fast das Bewusstsein. Die Nacht unter dem undichten Fenster. Mutters Abreise. Die Nachricht vom Zusammenbruch des Vaters. Ich wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben.

Eine ganze Woche habe ich fiebrig im Bett verbracht, erst als mein Rollenlehrer Thomas zu mir nach Hause kam, um nach mir zu sehen, fand ich die Kraft, die Wohnung wieder zu verlassen und einen Arzt aufzusuchen. Thomas bestand darauf. Du brauchst eine Krankmeldung, hat er mich gewarnt, sonst fliegst du von der Schule. Zuerst vermutete der Arzt das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber da war nichts zu finden, alle Blutwerte waren in Ordnung, keine Entzündung im Körper, kein Mangel, nichts. Nur diese plötzliche Müdigkeit. Das Fieber. Der Schüttelfrost. Das ganze dauerte noch drei Wochen, Thomas, ein junger Schauspieler, der damals am Burgtheater engagiert war, besuchte mich jeden Tag und wir arbeiteten zu Hause weiter, so lange es ging, mal eine halbe Stunde, mal zwei Stunden, einen zusammengeschusterten Monolog aus Schillers Jungfrau von Orleans, den Schluss, voller Pathos, mit Wucht sollte das sein, das war die Aufgabe im ersten Jahr, die große Form, ich sollte mich trauen, die sterbende Johanna, am Ende ihrer Kräfte, ein letztes, bebendes Aufbäumen. Thomas schrie unentwegt bei den Proben. Ja, schrie er, jaaaa, lauter, los, du willst nicht sterben, du sollst nicht umsonst gekämpft haben. Schrei es heraus. Und ich hatte bis dahin alles gegeben bei den Proben, aber als ich da krank in meinem WG-Zimmer kauerte, da war mir nicht nach Schreien zumute, nach großer Form, da war mir nach Flucht, nach leisen Tönen, nach Rückzug, nach Kapitulation, aber Thomas ließ nicht locker. Ich habe ihm nichts von der Mutter erzählt, auch nicht vom alkoholkranken Vater, nichts, er wusste gar nichts und er setzte sich zu mir auf die Matratze und legte den Arm um meine Schultern, um mich, den Haufen Elend, das verschüchterte Ding, die deutsche Leblosigkeit, und er sprach sehr verständnisvoll mit seinem etwas behäbigen, aber gut geölten österreichischen Akzent. Ich verstehe dich, du hast Schwierigkeiten, dich zu öffnen, das ging mir auch so am Anfang. Weißt du, deshalb haben sie dir diesen Monolog gegeben, gleich zu Beginn, damit du aus dir raus kannst, deine Mittel kennenlernen kannst, deine Stimme, deine Bewegungen, deinen wunderbaren Körper, damit du eine Erfahrung machst mit dir selbst, da musst du jetzt durch, es gibt nichts, was du dich nicht trauen solltest, nichts, das ist das Wahnsinnige an unserem Beruf, wir können alles machen, alles, aber nichts zählt, alles ist gespielt, das ist das Größte, sei frei, sei einfach frei. Wenn du die Lähmung überstanden hast, und du wirst diese Lähmung überstehen, er nahm meinen Kopf in seine Hände, so als wollte er mich küssen, er sah mich lange an mit seinen wässrigen, grünen Augen, sein Atem roch gut, nach frischer Minze, dann nahm er mich bei den Schultern, freundschaftlich, ernsthaft, er stand auf, öffnete das Fenster meines Zimmers und schaute hinaus zur Straße. Er stand da, stramm, mit leicht durchgedrücktem Rücken, sein T-Shirt hing luftig an ihm herab. Der ausrasierte Nacken. Er glaubte wirklich, mein Problem sei die gewöhnliche Hemmung einer neunzehnjährigen Schauspielschülerin, die Angst vor ihren eigenen Gefühlen hat, Angst vor irgendeinem imaginären Tier in ihr drin, das nicht freigelassen werden durfte. Davon sprach er jedenfalls. Von diesem Tier. Die Vorstellung, dass man dieses Tier befreien müsse, erlösen, diese Vorstellung schien ihn anzuspornen, das machte ihm Mut. Damit lag er ganz auf der pädagogischen Linie der Schule. Vor allem, wenn es sich um junge Mädchen handelte. Ich ließ ihn in seinem Glauben und plötzlich gefiel mir der Gedanke, an meinem Coming-out zu arbeiten, mich zu entpuppen, mich als eine extrovertierte, die eigenen Grenzen verachtende Darstellerin zu erweisen. Damit würde ich alle überraschen, mich selbst allerdings am wenigsten. Das sollte eine leichte Übung sein. Ich konnte die Kontrolle über mein Leben, meine inneren Zustände zurückerobern. Ich konnte den diffusen Schmerz und die Schwere, die der Besuch der Mutter und ihre Nachrichten aus der Familienhölle hinterlassen hatten, einfach ersetzen, ich konnte so tun, als ob ich eine ganz normale, gut behütete junge Frau gewesen wäre, ich konnte meine Geschichte einfach abschütteln, indem ich tat, was Thomas sagte. Ich musste ihm einfach etwas vorspielen.

Komm her, befahl er mir, ohne sich umzudrehen, stell dich hier neben mich. Was siehst du da draußen? Ich sehe ein Haus, sagte ich, ich sehe geschlossene Fenster, ich sehe die schmutzige Hauswand, ich sehe, dass die Straßenbeleuchtung gerade angesprungen ist, ich sehe den Asphalt, wenn ich nach unten schaue, ich sehe Autos, einen Hund, eine alte Frau, zwei Punks, die behäbig vorbeilaufen, auf dem Weg zum Schnorren vor der U-Bahn-Haltestelle, ich sehe eine kleine Baustelle am Ende der Straße, ich sehe die Trafik, ich sehe den Verkehr auf der Wienzeile. Und wenn ich nach oben schaue, dann kann ich den Himmel sehen, einen Kondensstreifen, die schwache Silhouette des Mondes, ein paar Wolken. Du siehst die Welt, rief Thomas. Zwar nur einen Ausschnitt, aber doch die Welt. Das Wort Welt klang bei ihm wie eine Mischung aus dem englischen Word und dem deutschen Wild: Wöhld, oder so ähnlich. Er steigerte sich noch. Und dieser Welt hast du etwas mitzuteilen, du, Johanna, Königin, Kämpferin, Hoffnung deiner Männer. Ich weiß noch genau, wie ich mir plötzlich das Lachen verkneifen musste, ich wollte ihn ernst nehmen, ich wollte ihm folgen, ich wollte, dass er seine Arbeit an mir verrichten konnte, aber das fiel verdammt schwer. Stell dich auf das Fensterbrett, befahl er mir. Ich sah ihn kurz an, sein Blick verriet Entschlossenheit. Ich tat, was er sagte, und kletterte auf den schmalen Holzvorsprung und hielt mich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest. Los, stell dich nach draußen, trau dich. Er griff meine Beine von hinten. Ziemlich weit oben. Ich ruckelte nach vorne, bis meine Füße auf dem äußeren Fenstersims angekommen waren. Und jetzt leg los, sagte Thomas ruhig, aber bestimmt. Loslegen? Womit? Text, schrie er, Text, jetzt sofort! Schrei es nach draußen. Ich tat es. Erst leise, dann, nach ein paar weiteren Aufforderungen zur Ekstase, immer lauter. Ich brüllte es heraus. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal, immer heftiger, gegenüber gingen schon die ersten Fenster auf, unten auf der Straße blieben ein paar Leute stehen und sahen mir zu. Ein Typ von der anderen Straßenseite riet mir, damit aufzuhören. Er wolle seine Ruhe haben. Spiel ihn an, nimm ihn, sag’s ihm, zischte Thomas von hinten. Und ich tat es. Der Typ schüttelte mit dem Kopf, hörte sich meine Tirade ein Weile an und rief laut zu mir herüber: Was für ein Dachschaden. Eine Frau von unten bellte zu mir hoch, Hilfe, Hilfe, ob ich Hilfe brauche, ob es mir gut gehe. Ich beschimpfte sie als Verräterin, die Hilfe anböte, aber Verrat meine, ganz in meiner Rolle, die Jungfrau, die Kämpferin, die Terroristin, die Unerbittliche, die Alleingelassene. Ich erfand neue Texte, auf niemanden könne man sich in diesem Leben verlassen, man sei nur auf der Welt, um wieder von ihr zu verschwinden, aber trotzdem solle man daran arbeiten, die Welt besser zu machen, gerechter, glaubwürdiger, Liebe, wir brauchen Liebe! Nieder mit den Lügen über das Leben! Das hatte mit der Jungfrau von Orleans so viel zu tun wie Thomas mit meiner Familie, aber das war egal. Plötzlich tauchten unten zwei Polizeiwagen auf. Die Polizisten sprangen aus ihren Autos und zwei von ihnen liefen ins Haus, es klingelte an der Tür. Scheiße, rief Thomas, die Bullen. Mach auf, schrie ich ihn an, los, geh zur Tür, was wollen die schon, wir machen doch nichts Verbotenes, ich stehe hier und brülle ein paar Wahrheiten in den Abend, die sollen nur kommen. Ich war richtig in Fahrt. Er zog mich vom Fensterbrett und schob mich durch mein Zimmer zur Wohnungstür. Das musst du machen, das ist deine Wohnung, sagte er ängstlich. Ich öffnete die Tür, verschwitzt, das T-Shirt halb über die Schulter gezogen. Der eine Polizist, ein kleiner Dicker, hatte seine Mütze in der Hand und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Der andere schob sofort einen Fuß in die Wohnung. Alles in Ordnung bei Ihnen, fragte er mich. Ja, alles okay. Wir proben. Theater. Das war nicht ernst. Das war Spiel, machen Sie sich keine Sorgen. Wir machen uns keine Sorgen, sagte der Dicke. Wir schauen nach dem Rechten. Die Nachbarn haben angerufen. Sie sind zu laut. Sie können sich gerne in Ihr Fenster stellen, aber bitte leise, schob der Dicke sichtlich genervt hinterher. Was proben Sie denn da, fragte der Jüngere belustigt. Der Dicke schaute seinen Kollegen verwundert an. Schiller, klärte ich ihn auf. Die Jungfrau von Orleans. Schiller, rief der Jüngere, Schiller! Das können Sie ja dann demnächst bei geschlossenem Fenster proben, zischte der Dicke und schüttelte den Kopf. Der Jüngere lachte. Bitte entschuldigen Sie meinen Kollegen, er ist ein Banause. Der Dicke fand das nicht lustig. Er wollte meinen Ausweis sehen und meine Aufenthaltserlaubnis. Sie sind also eine Studentin. Was studiert die Dame denn, wenn man fragen darf? Schauspiel. Reinhardt-Seminar. Und der Herr. Der Herr ist Schauspieler. Nur hier in der Wohnung, oder kann man Sie auch gelegentlich auf einer Bühne bewundern? Der Dicke kam in Fahrt. Burgtheater, sagte Thomas, nachdem er eine sehr gekonnte Kunstpause eingelegt hatte. Der Jüngere und der Dicke schauten sich an. Burgtheater? Sie sind also Schauspieler am Burgtheater? Nicht schlecht, sagte der Dicke. Warum sagen Sie das nicht gleich? Die beiden entspannten sich. Der Junge hob seine Fäuste wie zum Boxkampf und rief: Olé! Der Dicke setzte seinen Hut wieder auf. Na dann, sagte er, einfach ein bisschen leiser, wenn Sie so freundlich wären. Und lassen Sie sich nicht weiter stören, sehr interessant, Burgtheater. Habe die Ehre. Die Situation war mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrt. Eben waren wir noch Delinquenten, denen man allerhöchstens Arroganz und Verachtung entgegenbringen konnte, und plötzlich fühlten sich die beiden durch unsere Gegenwart geschmeichelt, es schien, als fühlten sie sich fast ein bisschen geehrt, mit wem sie es unerwarteterweise zu tun hatten. Die beiden wünschten uns noch einen schönen Abend und verschwanden wieder. Thomas war sichtlich stolz, dass seine Auskunft bei den beiden so einen Eindruck gemacht hatte. Er lachte. Siehst du, so funktioniert das bei uns. Ich lief in mein Zimmer, schloss das Fenster und sprang auf meine Matratze, ich hüpfte rauf und runter und fing wieder an mit meinem Text. Ich streckte meine Arme nach Thomas aus, er kam zu mir und sprang mit, bis wir beide hinfielen, auf die Federkernmatratze, und anfingen uns zu küssen, völlig außer Atem. Ein paar Minuten später lag ich nackt und röchelnd auf dem Rücken, zwischen mir und Thomas ein schmieriger Blutfleck. Das Bettlaken bedeckte die Matratze nur noch halb. Unter meinem Bein hatte sich eine Metallfeder durch den Stoff gedrückt. Ich drehte mich zu Thomas und flüsterte ihm ins Ohr: Jetzt brauche ich eine neue Matratze. Sie hat ein Loch. Thomas lachte. Noch stolzer als vorher. Er verrieb sich genüsslich den Schweiß auf seiner rasierten Brust. Er schaute auf den Blutfleck zwischen uns. War das wirklich das erste Mal, fragte er mich. Das allererste Mal? Ich glaube, ich habe in diesem Moment nur an meine Matratze gedacht und daran, dass ich kein Geld hatte, mir eine neue zu kaufen. Ich habe ihm keine Antwort gegeben damals. Thomas warf sich auf mich. Ich habe meinen Kopf zur Seite gedreht. Neben der Matratze lagen seine Kleider, T-Shirt, Hose, Unterhose, Socken. Du musst dich nicht schämen, sagte er. Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! Das säuselte er mir triumphierend ins Ohr. Den letzten Satz aus meinem Jungfrau-Monolog. Ich versuchte, ihn von mir runterzuwerfen, dabei knallte ich mit meiner Stirn auf seine Nase, die sofort zu bluten anfing. Thomas sprang auf. Sein linker Fuß verfing sich in der herausgeplatzten Metallfeder, er stürzte nach vorne auf den Boden, sein Zeh blieb in dem Draht hängen, er schrie, laut, vor Schmerz, sein Fuß klemmte in der Feder, seine Nase blutetet immer stärker. Ein erbärmlicher Anblick war das. Wie ein Tier, das in die Falle gegangen war. In Sekundenschnelle hatte sich die Entjungferungsszene in eine scheinbare Gewaltorgie verwandelt. Ich musste lachen. Thomas wollte seinen Fuß aus der Falle bugsieren, der Zeh schwoll an, das Blut tropfte ihm aus der Nase auf die Brust. Ich blieb einfach zur Seite gedreht liegen und sah mir das Schauspiel an.

Am nächsten Tag bin ich wieder in die Schule gegangen. Ich fühlte mich gesund. Ich spürte, wie die Mitschüler hinter meinem Rücken tuschelten. Die Lehrer waren erfreut, mich zu sehen, bis auf meinen Sprechlehrer. Er wisse nicht, wie ich das Versäumte nachholen könne. Ich glaube, Thomas hatte ihm von seiner Eroberung erzählt und der alte Sack war enttäuscht, dass er nicht der Erste gewesen war. Er war dafür bekannt, sich an seine Schülerinnen ranzumachen. Er profitierte von seinem, aus besseren Tagen herübergeretteten, Ruhm. Damals lud er seine Lieblingsstudentinnen regelmäßig zu sich nach Hause ein, gab ihnen Zusatzstunden und beeindruckte sie durch seine innere Ruhe und sein Verständnis für die Fragen der altersbedingten Sinnsuche. Eine waschechte Gratisinitiation, die die Schule ihren weiblichen Elevinnen da anbot. Seine Wohnung war der Hort des Tabus. Und natürlich des dazugehörigen Bruchs. Er wartete den richtigen Moment der Verunsicherung ab, meistens ein halbes Jahr nach Beginn der Ausbildung, dann schlug er zu. Bei mir hatte er den passenden Zeitpunkt sicher auch schon kommen sehen, aber Thomas war schneller. Und dreißig Jahre jünger. Thomas hatte nach unserer Rollenarbeit ein paar unansehnliche Probleme: seine Nase war mit Mull und Pflaster verklebt, der linke Fuß steckte in einer klobigen Schiene. Er hatte ein paar Vorstellungen am Burgtheater zu spielen, das Schminken vorher, nachdem die Nasenverhüllung jedes Mal aufs Neue entfernt worden war, musste die Hölle gewesen sein. Wir hatten uns auf die Version Probenunfall geeinigt, das rettete sein Ansehen und meine Reputation. Gleichzeitig nötigte die vermeintliche Intensität unserer Zusammenarbeit den Leuten auf der Schule eine ordentliche Portion Respekt ab. Eine Zeit lang konnte ich den Rückfall des Vaters und den Besuch der Mutter vergessen, ich war euphorisiert von meiner kleinen Neugeburt, aber dann, ganz langsam, sickerte dieses eigenartige Gefühl, ferngesteuert zu sein, unfrei, beschwert mit Zentnern von klumpiger, zotteliger Vergangenheit, wieder in mein Bewusstsein.

War ich in Wien, weil der Vater die Mutter dorthin einladen wollte, es aber nie geschafft hat?