NORBERT BLÜM

EINSPRUCH!

Wider die Willkür an deutschen Gerichten

Eine Polemik

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eBook Edition

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ISBN 978-3-86489-556-2
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Teil I
Einblicke, Ein- und Aussichten: Nachrichten aus dem Innenleben des Rechtsstaates

Teil II
Der Verfall des Rechtsanwaltsberufes oder die Verkümmerung der Berufsethik

Teil III
Ehe auf Abruf: Scheidungsrecht als Fluchthilfe

Teil IV
Jagdszenen

Nachwort

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Den Frauen, die vor Familiengerichten gedemütigt werden.

Den Wehrlosen, die der Raffinesse

der »Rechthaber« nicht gewachsen sind.

Für alle, die für Recht und Gerechtigkeit eintreten.

Liebe Leserinnen, lieber Leser,

aus Bestürzung darüber, welche zum Teil unvorstellbaren Zustände an deutschen Gerichten herrschen, bei denen oft vor allem die sogenannten »kleinen Leute« nicht zu Ihrem Recht kommen, habe ich dieses Buch geschrieben.

Es war leider unumgänglich, einige Anonymisierungen vorzunehmen, um die Personen, um die es hier geht, zu schützen, oder um weitere Schwierigkeiten von ihnen fernzuhalten. Auch daran erkennt man, wie wichtig es ist, dass wir viel genauer hinschauen müssen, was an den Gerichten passiert. Ich wäre sehr froh darüber, wenn dieses Buch einen Beitrag dazu leisten könnte.

Ihr Norbert Blüm

Vorwort

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Ich sage es ganz offen: Dies ist ein Buch über die Verlotterung der dritten Gewalt in unserem Land, und ich lasse Schonungslosigkeit walten. Auch auf die Gefahr hin, dass sich einige ihrer Vertreter auf den Schlips getreten fühlen. Mögen sie ihn sich abreißen und mit mir in eine Diskussion auf Augenhöhe einsteigen. Ich stelle ihnen gerne eine Leiter an ihr hohes Ross, damit der Abstieg komfortabel ist …

Rechtspflege – was ist das?

Ehrlich gesagt, Jura hat mich nie sonderlich interessiert. Richter, Gerichte und Rechtsanwälte hatten für mich zeit meines Lebens etwas Exotisches. Meine Vorlieben befinden sich jenseits der Reichweite der sogenannten Rechtspflege, wiewohl dies doch ein verlockend schönes Wort ist: »Rechtspflege«. Es kommt so harmlos und sanft daher, dass man annimmt, niemandem in ihrem Gehege könne je ein Härchen gekrümmt werden. Dabei geschehen gerade hier Dinge, die ein Leben umwerfen können. Sie unter »Rechtspflege« zu subsumieren ist so, als würde man das Wildwasser »Erholungsbad« nennen oder den Urwald »Lustgarten«.

Gerichte: meine Auswärtsspiele

Recht und Gerichte standen bisher nicht im Fokus meines Lebenslaufes, Politik war mein Lebenselixier, Politik, die Kunst des Möglichen. Dagegen schien mir das Recht der Zwang des Notwendigen zu sein. Dieser elementare Unterschied zwischen Politik und Recht flößte mir immer großen Respekt ein. Politik gestaltet Leben, Recht bändigt Gewalt und Willkür. Politik ist offensiv, das Recht ordnet und schützt im Hintergrund.

Meine persönlichen Kontakte mit Gerichten sind rar, doch hinterließen diese wenigen Begegnungen bei mir einen umso nachhaltigeren Eindruck. Zweimal trat ich vor dem Bundesverfassungsgericht auf und zweimal vor einem Zivilgericht. In beiden Fällen ging es nicht um mich, sondern um die beklagten Institutionen, für die ich meinen Kopf hinhielt. Vor dem Bundesverfassungsgericht musste ich die Sozialgesetze der damaligen Bundesregierung verteidigen. Vor das Zivilgericht zog ich für »Xertifix«, eine Organisation, die der Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen den Kampf angesagt hatte.

Ich war mir meiner Sache in beiden Fällen relativ sicher. Meine Zuversicht wurde nicht enttäuscht, ungeschoren verließ ich das Gericht. Dennoch hatte mich – wie ich ungern zugebe – bei meinen vier Gerichtsauftritten ein merkwürdiges »Untertanengefühl« beschlichen.

Der Einzug der Richter ins Bundesverfassungsgericht glich der Eröffnung eines Festgottesdienstes. Die Priester der Göttin Justitia betraten den Gerichtssaal in Talaren, die Messgewändern ähnelten, auf den Köpfen ein Barett, wie ich es von Pfarrer Jung kannte, dem Pfarrer meiner Kindheit. Das Volk erhob sich beim Einzug der Richter wie die Gläubigen beim Einzug der Zelebranten. Der Blick zum »Hohen Gericht« entsprach in etwa dem Blickwinkel von der Kniebank zum Hochaltar, und ich fühlte mich zurückversetzt in ferne Kindertage, als der Hohe Dom zu Mainz für mich noch der Vorhimmel war. Wie ein Messdiener vollzog ich meine Auftritte vor dem Kadi entsprechend der Gerichtsliturgie – mit einem kleinen Unterschied: Meine Gerichtstexte waren keine vorgeschriebenen Gebetstexte, sondern von Anwälten vorbereitete Sprechzettel, die für mich aber den gleichen Sinn wie die einstigen Gebete hatten: Hier wie dort, heute wie damals ging es um Erhörung von oben. Das Gericht schüchtert mich bis heute ein – nur kein falsches Wort! Die Worte vor Gericht, mit dessen Hilfe im Namen des Volkes Recht gesucht und gefunden werden soll, waren für mich eine Fremdsprache, die ich nicht gelernt habe. Die Not zwang mich zu mimen, als hätte ich verstanden, was ich nicht verstanden hatte. Ich wollte mich nicht blamieren. Dennoch paarte sich meine Unsicherheit mit einem ungebrochenen Vertrauen zu Recht und Gericht. In mir schlummerte die Vermutung, Richter seien keine Menschen wie du und ich – sie wissen es besser. Leider glauben das einige von ihnen auch von sich.

Wenn ich aus den sozialpolitischen Schlachten, in denen ich mich gebalgt hatte, als Sieger hervorging, so waren diese Siege selten unumstritten, und kaum war etwas beschlossen, wurde es wieder in Frage gestellt – eine ganz normale Sache im politischen Geschäft. Die Opposition ist sogar darauf spezialisiert. Die Revision ist die ständige, selbstverständliche Begleiterin der Demokratie. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Mehrheiten sind vorübergehende Sieger. Vor Gericht ist es anders: Urteile erscheinen als endgültig, wie in Stein gemeißelt. Revision ist die Ausnahme. Recht ist auf Dauer angelegt. Demokratie ist dynamisch, Recht dagegen seiner Natur nach statisch. Das ist die bleibende Spannung zwischen Parlament und Gericht. Der besondere Reiz der Demokratie besteht darin, dass nichts und niemand unbestreitbar ist, und jeder Sieger ist immer nur ein vorläufiger – bis zur nächsten Wahl. Der Machtwechsel ist der Normalfall in einer Demokratie oder sollte es sein, und er ereignet sich gewaltlos, nicht durch Tod oder Ermordung des Machthabers wie in vordemokratischen Zeiten.

Mein Kinderglaube

Gerechtigkeit vor Gericht, das ist etwas Höheres, höher als alles, was ich sozialpolitisch mache, dachte ich. Diesen Respekt behielt ich, selbst wenn ich über die Justiz spottete. Witze über Richter, Rechtsanwälte und Gefolge schwächten so wenig mein Vertrauen, wie Witze über Gott meiner Frömmigkeit schadeten. Solche Witze sind antiautoritär und machen die »Obrigkeit« Gott, seine irdischen Vertreter und überhaupt alle Autoritäten leichter erträglich.

Mein juristischer Lieblingswitz ist der Witz vom Landgerichtspräsidenten. Er ist obrigkeitsfeindlich wie alle guten Witze: Herr Landgerichtspräsident wird wie immer von seiner Gemahlin freundlich und pünktlich am täglichen Mittagstisch empfangen. Heute konfrontiert sie ihn mit einer schlechten Nachricht: »Der Nachbar behauptet, unser Hund habe ihm die Hosen zerrissen, und verlangt nun Schadenersatz.« »Mach’ nicht viel Worte. Bezahl’ das Geld!«, befiehlt der Herr Landgerichtspräsident seiner ihm treu ergebenen Gattin. »Aber wir haben doch gar keinen Hund!«, entsetzt sich die arme Frau. »Weiß man, wie die Gerichte entscheiden?«, ist die resignative Antwort des Herrn Landgerichtspräsidenten, der als Insider offenbar wusste, wovon er sprach.

Diesen Witz, den ich vom Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes, Professor Müller, in damaligen Fachkreisen »Tarzan« genannt, erzählt bekam, empfand ich immer als eine berufsbedingte, liebenswerte Ironie, welche die Souveränität der Amtsinhaber eher exemplarisch erhöht, als sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Diese Art von Spott ähnelt dem Sarkasmus greiser Kardinäle, die über ihren Chef, den Herrn Jesus, halbernst parlieren, um so ihre vertrauliche Gottesnähe zu demonstrieren.

Lange Rede – kurzer Sinn: Mein Verhältnis zur Justiz war ehrfurchtsvoll wie das eines Gläubigen zu Gott.

Gesetzestreue

Etwas von dem Schauer, den die Achtung vor dem Gesetz erzeugt, ist vielleicht sogar religiösen Ursprungs. Irgendwie nimmt das irdische Gericht das »Jüngste Gericht« vorweg. Es wird bei beiden abgerechnet. Die tief sitzende Scheu vor dem Gesetzesbruch habe ich mir eisern bewahrt, was das Leben nicht immer leichter macht. Ich habe sogar einst – es war im Jahr 2000 – gegen alle meine Gefühle schweren Herzens der Gesetzestreue die Vorfahrt vor der Freundschaft eingeräumt. Und das war so: Meine lange Freundschaft mit Helmut Kohl ging über Nacht in die Brüche, weil ich ihm in der Parteispendenaffäre nicht recht gab, sondern der Achtung des Rechts den Vorzug vor der Freundschaft gegeben hatte. Das ist mir nicht leichtgefallen. Die Namen von Spendern müssen laut Parteiengesetz genannt werden. Helmut Kohls Verhalten, die Namen der Spender nicht zu nennen, war gesetzwidrig. Da half auch kein Ehrenwort. Dieses regelt nur Verhalten jenseits von Recht und Gesetz, aber nicht gegen das Gesetz. Kein Hehler bleibt ungestraft, wenn er den Namen des Stehlers nicht nennt, weil er diesem ein Ehrenwort gegeben habe. Und keine Lüge wird aus Freundschaft Wahrheit. So wenig eine mathematische Aufgabe richtig wird, wenn jemand aus Freundschaft behauptet, zwei mal zwei ergebe fünf.

Selten habe ich mich so gequält. Bis zur letzten Sekunde der Abstimmung im CDU-Vorstand über die Aberkennung des Ehrenvorsitzes von Helmut Kohl habe ich gehofft, mir fiele ein Argument ein, das »Unheil« abzuwehren. Mir fiel keins ein. So trage ich schwer an dem Vorwurf, den Freund im Stich gelassen zu haben. Der Verlust der Freundschaft ist ein hoher Preis für die Achtung des Gesetzes. Ich habe ihn bezahlt und will es nicht bereuen.

Später trat die Versuchung in Gestalt eines Funktionärs der LINKEN nach einer Talkshow in Berlin an mich heran.

Er fragte mich – mehr tuschelnd als klar redend –, ob man nicht über die CDU-Spendenaffäre vertraulich reden könne. Es gebe auch auf seiner Seite Probleme. Ich habe über die versuchte Mauschelei noch nicht einmal nachgedacht und mit niemandem darüber gesprochen. Ich verrate sie jetzt zum ersten Mal. Sie verschwand in meinem Unterbewusstsein wie eine kindliche Schamlosigkeit, die ich nicht gebeichtet, sondern »bewusst« verdrängt habe.

Die Revolution der Gleichheit

Die Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der höchsten Errungenschaften der Zivilisation, vielleicht vergleichbar mit der Erfindung des Rades. Gleichheit vor dem Gesetz gilt für Könige und Knechte. Für Bundeskanzler wie für Bürger. Sie ist prinzipiell und ausnahmslos. Die Demokratie bietet zudem noch die Chance, das Recht mit Hilfe von Mehrheiten zu gestalten. Die Menschheit hat lange, lange Zeiten gebraucht und viele Mühen und Leiden erduldet, um »Rechtsgleichheit« zu lernen, die alle herkömmlichen Hierarchien relativierte (was deren Spitzen selten zu schätzen wussten). Manche Gesellschaften haben die Gleichheit vor dem Gesetz sogar bis heute noch nicht gelernt. Wahrscheinlich lebt in diesen sogar die Mehrheit der Menschheit. Selbst in zivilisierten Gesellschaften gibt es den dunklen Fluchtweg Korruption, auf dem man sich den Zwängen der Rechtsgleichheit zu entziehen versucht. Gleichheit ist für die Oberen bisweilen eine lästige Beschwernis. Das Christentum half bei den oft blutigen Lernschritten, Gleichheit vor dem Gesetz zu akzeptieren mit der Botschaft, dass alle Menschen Kinder Gottes und deshalb prinzipiell gleich sind. Wahrscheinlich versöhnte es den ausgelaugten, ausgebeuteten mittelalterlichen Bauern mit seinem Schicksal, wenn er bei der sonntäglichen Messe das Bild vom Jüngsten Gericht an den Wänden seiner Kirche erblickte. Darauf war nämlich zu sehen, wie Päpste, Kaiser und Könige vor Gottes Gericht erzitterten. Keine Krone, keine Mitra, kein Talar gewährte Straferleichterung. An der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle malte Michelangelo selbst den Papst in der Hölle. Da wusste der Gläubige: Vor Gottes Gericht herrscht die totale Rechtsgleichheit.

Das Neue Testament treibt die nivellierende Entprivilegierung sogar noch auf die Spitze: »Was hast Du dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan?« Die Antwort auf diese Gottesgerichtsfrage entscheidet über die Ewigkeit. Der Unterste, nämlich der Geringste, liefert das Beweismaterial für das Urteil über die Obersten. Mehr Umsturz geht nicht. Es wird nicht nur eine Duldung der Benachteiligung verboten, sondern ein aktiver Einsatz für die »Unteren« geboten.

Keine Amtswürde, kein Reichtum, keine Gescheitheit schont die Obrigkeit vor der entscheidenden Gerichtsfrage. Das ist Gleichheit pur.

Manche sind gleicher

Die ersten Risse in meinem Zutrauen in die irdische Gerechtigkeit beruhen auf der traurigen Erfahrung: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Mir fiel schon in der Schule auf, dass das Kind des Sparkassendirektors anders behandelt wurde als das Kind der unehelichen Mutter, die bei dem Direktor als »Putzfrau« beschäftigt war. Heute begreife ich die sozialpsychologischen Mechanismen besser, welche die Welt abseits aller Funktionsnotwendigkeiten noch immer in oben und unten einteilen. Dass der Feuerwehrmann den Einsatzbefehl gibt, verstehe ich. Dass sein Sohn es in der Schule besser hat als die Tochter des Mannes, der den Anweisungen des Kommandanten am Schlauch folgt, verstehe ich nicht.

So hat manches aus der alten Standesgesellschaft in Schule und Öffentlichkeit überlebt, in der Arbeitswelt sowieso. Uns allen ist noch der Fall des Verkäufers geläufig, der im Lager einen Becher Milch getrunken hat, dessen Ablaufdatum überschritten war, woraufhin ihm fristlos gekündigt wurde. Schädigt hingegen ein Manager seine Firma, verlässt er das Unternehmen mit dem goldenen Handschlag einer Millionenabfindung. Der Wert des Milchbechers betrug 54 Cent. Niemand wurde geschädigt, denn der Becher wäre wegen des abgelaufenen Verfalldatums sowieso weggeworfen worden. Der Fehler des Managers bringt dagegen unter Umständen 10 000 Menschen um Arbeit und Brot. Dirk Jens Nonnenmacher erhielt, nachdem er die HSH Nordbank in die Nähe der Manövrierunfähigkeit versetzt hatte, einige Millionen Euro als »Abschiedsgeschenk« zusätzlich zu seinem bis Vertragsende 2012 weitergezahlten Fixgehalt. Nonnenmacher soll mit »seiner« HSH Nordbank den Staat von 2009 bis 2011 um etwa 112 Millionen Euro Steuergelder erleichtert haben. Die Bank muss jetzt rund 127 Millionen Nachforderung bezahlen – hier 54 Cent »Schaden« und zur Strafe eine Entlassung, dort 112 Millionen Schaden und zum Dank eine saftige Abfindung.

Ein Metzger, der schlechte Wurst verkauft, macht Bankrott und verliert alles. Ein Manager, der versagt, wird noch gemästet.

Mein schreckliches Erwachen

Es hat lange gedauert, bis es mir dämmerte, dass die hehre Justiz doch nicht der von menschlichen Schwächen befreite Ort des »reinen Rechts« ist. Dass aber unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit eine Rechtspflege agiert, die mit sublimer Selbstherrlichkeit und handfesten Abhängigkeiten ausgestattet ist, diese Erkenntnis traf mich jäh wie ein Blitz.

Der polizeiliche Täterbedarf

Dabei war ich immer sehr froh, wieder in Deutschland zu sein, wenn ich von oft turbulenten Auslandsreisen zurückkam. Auf ihnen erlebte ich bisweilen Anarchie und Chaos, so dass mir meine Heimat dagegen wie eine heile Welt des Friedens und des Rechts erschien.

Ich war in Buenos Aires für den RTL-Spendenmarathon gelandet. Der Pater, dessen Projekt ich besuchen sollte, schleppte mich ohne Umwege in ein Jugendgefängnis, in dem zwölf Stunden vorher eine wilde Revolte der Gefangenen niedergeschlagen worden war. In der Ecke einer kalten, gekachelten Zelle kauerte mit ein paar Fetzen am Leib ein Häuflein Elend. Es war der Anführer, er stammelte nur »No, no«. Als der Pater ihn schließlich zum Reden brachte, zischte er finster: »Ich war es nicht« und noch etwas später: »Die Polizei hat mich mitgenommen. Die Täter des Überfalls sind ihnen entwischt.« José – so hieß er – verstand die Welt nicht mehr. Ich kapierte. Die Polizei stand unter Erfolgsdruck, sie bedurfte eines Täters und nahm sich, wen sie bekommen konnte. Sie bekam José. Er war der Schwächste und nicht schnell genug weggelaufen.

Ich konnte José nicht helfen. Als Versager flog ich nach Deutschland zurück und versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass bei uns so etwas nicht passieren könne. Heute schäme ich mich fast für diese billige und noch dazu irrige Selbstberuhigung.

Ulvi Kulac wird 2004 vom Landgericht Hof wegen Mordes an der neunjährigen Peggy Knobloch zu lebenslanger Haft verurteilt. Er soll das Kind 2001 erstickt haben, behauptete das Gericht. Nachdem die Polizei ein Jahr nach Verschwinden des Kindes immer noch keine Spur gefunden hatte, sogar eine SoKo war gebildet worden, bedurfte die Polizei eines Täters. Sie fand ihn im psychisch labilen Ulvi, der wegen eines Sittlichkeitsvergehens in der Psychiatrie einsaß. Als Informanten benutzte sie den bei den Behörden als Kleinkriminellen bekannten Peter H. Er lieferte das Geständnis von Kulac. Was war ihm dafür versprochen worden? Acht (!) Jahre später gab Peter H. zu, dass alles erlogen war.

Dem Richter und dem Gutachter kam die von unter Erfolgsdruck stehenden Ermittlern in Selbsthilfe erstellte Tathergangshypothese sehr zupass. Der Tathergang sei so präzise beschrieben, dass niemand ihn sich so genau hätte ausdenken können – schon gar nicht ein geistig behinderter Mensch –, meinte der Gutachter, um so den Wahrheitsgehalt zu bekräftigen. Ja, wenn Fachleute unter sich und in Bedrängnis sind … Sie schaffen sich ihre Wahrheit zur Not selbst, sozusagen in Heimarbeit.

José in Buenos Aires und Ulvi in Hof: Beide verschwanden im Gefängnisdunkel. Doch Ulvi sollte herausgeholt werden. Das Landgericht Bayreuth ordnete im Dezember 2013 einen neuen Prozess an (Der Spiegel 51/2013).

Ähnlich ging es im Mordfall des Bauern Rudolf Rupp zu. Der Mann war 2001 nicht nach Hause gekommen. Diesmal geriet eine ganze Familie unter Verdacht. Die nachweislich debilen Familienmitglieder wurden unter Druck gesetzt. Sie wurden schwach und »gestanden« schließlich. Selbst der Bundesgerichtshof nickte das Urteil ab.

Doch es war ganz anders, als die Ermittler behaupteten. Nicht die Familie war schuld am Tode von Rupp. Rupp ist mit seinem eigenen Mercedes in die Donau gefahren und ertrunken. Polizei und Justiz wehrten sich gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens. Jetzt sprach ein Gericht die Verurteilten frei, lehnte eine Entschädigung jedoch ab, weil das Urteil auf falschen Geständnissen beruhte.

Gewirr von Willkür

Den schwersten Schock erlitt mein bis dato nahezu unerschütterlicher Glaube an das Recht durch die Erfahrungen, die mir nahestehende Personen mit der Rechtspflege machen mussten. Wehrlos sahen sie sich den Launen eines Richters und der Skrupellosigkeit eines Gegenanwalts ausgesetzt. Der Mensch, dessen Erfahrungen mir unter die Haut gingen, geriet in ein Gewirr der Willkür, aus dem kein Notausgang erkennbar war. Willkür bedeutet in diesem Zusammenhang Verweigerung von Anerkennung und Missachtung der Würde derer, die Recht verlangen. Willkür macht, was sie will. Willkür ist es, wenn Kläger oder Beklagte von der Laune und den Voreingenommenheiten der Richter abhängen. Die Götter in Talaren halten sich wie die Götter in weißen Kitteln für »einwandfrei«.

Ich erfuhr nach und nach, dass es noch mehr Menschen gab, denen von Rechtsanwälten und Richtern in familienrechtlichen Auseinandersetzungen übel mitgespielt wurde. Ein Fall kam zum anderen. Dann waren es viele Fälle. Ein Horrortraum aus früher Kindheit kam mir in Erinnerung, in dem ich an einem Faden aus dem Pullover zog, den meine Mutter gestrickt hatte. Je mehr ich zog, umso länger wurde der Faden, und am Ende hatte ich den ganzen Pullover zu einem Wollknäuel aufgewickelt …

So ist es mit den »Einzelfällen« im Familienrecht: Du ziehst an einem, und prompt entspinnt sich vor deinen Augen ein ganzes System der Willkür und Arroganz.

Sind die Honoratioren honorabel?

Am meisten erschütterte meinen juristischen Kinderglauben die Art und Weise, wie »Respektpersonen« der Anwaltschaft mit Wahrheit und Recht umgehen. Meine Lehrzeit als alter Mann absolvierte ich unfreiwillig als entfernter Beobachter eines familiengerichtlichen Verfahrens. Manches lernt man eben spät und nicht aus Büchern. Für mich stürzten Welten der Ehrfurcht ein, als ich hilflos miterleben musste, wie ein angesehener Anwalt skrupellos das Recht drangsalierte und sich um die Wahrheit einen Dreck kümmerte. Nie ist mir die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis eines Berufsstandes so aufgefallen. Dennoch wird der Herr Anwalt von der Bewunderung seines bürgerlichen Milieus getragen, dem er entstammt. Bei Gericht genießt er seinen Honoratiorenbonus. In der Kleinstadt, die er bewohnt, ist er berühmt für seine Raffinesse, und der Staat stattet ihn selbstverständlich mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Die Honoratioren liegen ihm zu Füßen. In der Partei, der er angehört, besetzte er Spitzenpositionen. Er gilt als bedeutend.

Nicht immer bestimmt die Gesetzeslage das Urteil, sondern häufig, wie ein Richter »drauf ist«. Noch wichtiger ist, welcher gerissene Rechtsanwalt wem gegen viel Geld, das »Honorar« genannt wird, zu dem verhilft, was der Auftraggeber für rechtens empfindet, ohne dass es eine große Rolle spielt, was in dem Fall wirklich Recht ist.

Der Abstieg des Anwaltsberufes

Rechtsanwälte gibt es unzählige. Doch manche tragen ihre Berufsbezeichnung zu Unrecht. Sie sind nicht Anwälte des Rechts, sondern des Geldes. Wenn sie »wenig verdienen«, müssen sie sich viele »Kunden« an Land ziehen, egal wie. Wenn sie jedoch viel verdienen, wollen sie in der Regel noch mehr verdienen.

Nicht alle über einen Kamm scheren!

Die Behauptung besteht zu Recht: Kollektivurteile sind immer falsch. Es gibt viele anständige Anwälte und ehrenwerte Richter. Aber wenn die »Einzelfälle« der Fehlleistungen sich zur Vielzahl summieren, bestimmen sie einen Trend.

Mein Erlebnis der Willkür erschien mir lange Zeit als singulär, doch entdeckte ich bald zu meiner Überraschung, dass es viele ähnlich gelagerte »singuläre« Fälle gibt.

Das Problem ist: Viele Opfer können sich nicht wehren, weil sie weder Geld noch Sprache haben, andere haben sich gewehrt, sind gescheitert, an ihrem Scheitern zerbrochen und schließlich verstummt. Die im Dunklen sind, die sieht man nicht, sie haben keine Lobby, die »Loser«.

Über »die majestätische Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen« (aus: Anatole France, »Le lys rouge«, 1894): Die Starken kommen zur Not auch ohne Recht durch. Piraten, Räuber, Tyrannen und Terroristen beweisen dies. Die Lesebuchgeschichte, in welcher ein kleiner Mühlenbesitzer sein Eigentum gegen den Zugriff Friedrichs des Großen durch einen selbstbewussten Hinweis auf die Existenz des Kammergerichts Berlin erfolgreich verteidigte, hat mir schon als Kind imponiert. Auch der Ranghöchste muss sich beugen vor dem erhabenen Gesetz, bei dem es kein Ansehen der Person mehr gibt, ganz im Sinne der Aufklärung.

Circa 250 Jahre später wurde das Ansehen der Person über das genauere Ansehen der Zahlen durch eine kleine Änderung in der Zivilprozessordnung indirekt wieder eingeführt: Im »vereinfachten Verfahren« kann laut ZPO das Verfahren bei einem Streitwert unter 600 Euro beschleunigt werden. Es muss erst gar nicht ein Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt werden. Bei Säumnis einer Partei kann sofort ein Endurteil ergehen – ohne Berufungsmöglichkeit. Dieser »Rationalisierungsterror« wird auf der Haut der Schwachen ausgetragen. Weitgehend wehrlos stehen die »kleinen Leute« da mit ihren Ansprüchen in diesen Schnellverfahren.

Dass Gerichte nicht in Bagatellfällen ersticken wollen, ist verständlich. Wenn dies allerdings zur »Wegrationalisierung« von Rechtsansprüchen führt, hört bei mir das Verständnis auf. Der Schaden, der einer altersarmen Rentnerin dadurch entsteht, dass sie um 500 Euro betrogen wurde, ist für sie existentiell weitaus folgenschwerer als für einen Superreichen der Verlust von 500 Millionen.

Wie soll man einen Rechtsstaat nennen, der die berechtigten Rechtsansprüche von wirtschaftlich Schwächeren unberücksichtigt lässt? »Unrechtsstaat«?

Suum cuique

Laufen mir neuerdings tatsächlich immer mehr am Recht Verzweifelte und Gescheiterte über den Weg oder hatte ich früher nur keinen Blick für die Unterlegenen, weil ich fälschlicherweise annahm, die Schlachten der Gerechtigkeit würden nicht vor Gericht, sondern vor allem auf dem politischen Kampffeld geschlagen? Welch fataler Irrtum! Es geht nicht nur um Geld oder Umverteilung und auch nicht um neue Paragraphen auf dem Papier. Es geht um das konkrete Recht derer, die ihr Recht suchend von der Arroganz und Ignoranz bei Gericht zurückgestoßen und zwischen den Zeilen der geschriebenen Gesetze »erledigt« werden.

»Jedem das Seine« (»suum cuique«) ist der Elementarsatz der Gerechtigkeitslehre. Recht ist kein Almosen, sondern »Eigentum« eines jeden Bürgers. Und »jedem« Bürger steht »das Seine« zu, er ist Inhaber von Rechten und als solcher zu achten.

Warum dieses Buch?

Das Buch entstand aus Beleidigung. Ich gebe es zu. Meine Betroffenheit, hervorgerufen durch Demütigung von Menschen, die ich gut kenne, ist größer als die Hemmung, mich an die Arbeit in einem Gebiet zu machen, in dem ich Dilettant bin. Von Justiz verstehe ich zwischen wenig und nichts. Der Dilettant ist Spezialist fürs Generelle. Vielleicht sind jetzt nicht juristische Spitzfindigkeiten gefragt, sondern eine fundamentale Nachfrage nach dem Zustand der Rechtsprechung und allem, was dazugehört.

Mein hessischer Landsmann Johann Wolfgang von Goethe gab mir den Mut, das Wagnis auf mich zu nehmen, mich als Dilettant in die Schlacht mit den Profis der Justiz zu begeben. Goethe bewunderte die Dilettanten als Liebhaber des Wichtigen. Ein guter Dilettant will sich von Nebensächlichkeiten nicht ablenken lassen.

In dem Gespräch mit Eckermann vom 21. Januar 1829 pries der Dichterfürst den Vorteil, den Dilettanten der Wissenschaft bringen: »Männer vom Fach müssen sich um Vollständigkeit bemühen und deshalb den weiten Kreis in seiner Breite durchforschen, dem Liebhaber dagegen ist darum zu tun, durch das Einzelne durchzukommen und einen Hochpunkt zu erreichen, von woher ihm die Übersicht wohl nicht des Ganzen, doch des Meisten gelingen könnte.«

So einen »Hochpunkt« zu erreichen war mein dilettantisches Ziel. Er sollte mir die Übersicht geben über das »Meiste«: Was ich einst für Einzelfälle hielt, sind viele Fälle. Was ich als Ausnahme ansah, entpuppt sich als das »Meiste«.

Der Dilettant ist ein Mensch, der den Wald sieht. Der Fachmann sieht vor allem die Bäume. Während die professionellen Rechtskundigen die Paragraphen und ihre Anwendung studieren, versucht der Dilettant zu klären, welchen Sinn das Ganze hat.

Ich stelle mir vor, dass die Untersuchung von Kafkas Roman Der Prozess durch einen Juristen eine Sammlung von Rechts- und Regelverstößen ergeben könnte, sollte er keinen Abstand zu seinem eigenen Gewerbe haben. Der juristische Laie als Leser hingegen erliegt mangels Fachwissen nicht der Versuchung, sich in Details zu verlieren, und entschlüsselt unmittelbar den Sinn des Werks. Er interpretiert den Roman als Darstellung einer absurden Welt, in der sich der Mensch hilflos und entfremdet fühlt. Er erkennt mit Kafka die Sinnlosigkeit eines absurden Rechtsbetriebs.

Nur wer den Sinn sucht, kann den Unsinn entdecken. Mich, den Dilettanten des juristischen Gewerbes, ergreift die Sinnlosigkeit, die sich in Kafkas Der Prozess offenbart und die ich auch im »wahren Leben« hinter Ritualen, Raffinesse und Routine der Rechtspflege entdecke.

Meine Gespräche und Recherchen haben mich in ein mir bis dahin unbekanntes Gelände geführt, in das Familien-, Scheidungs- und Unterhaltsrecht, also dorthin, wo nach meiner Beobachtung das Recht diesen Namen nicht mehr verdient.

Wie soll den Frauen, die mir von ihren Erfahrungen von Familiengerichten berichten, etwas vom Sinn der Veranstaltungen klar geworden sein? Sie wurden von Rechtsprofis drangsaliert. Diese zelebrierten ihre juristische Überlegenheit, um sich der Not der Bedrängten durch eine unverständliche Sprache und ihr wichtigtuerisches Gehabe zu entledigen. Diese Frauen, die sich gedemütigt fühlen, sind frei von jeder Kenntnis juristischer Terminologie und ungeübt in Gepflogenheiten des juristischen Betriebes. Wie Josef K. in Kafkas Prozess verstehen sie die Welt nicht mehr. Dass ihnen Unrecht geschieht, wissen sie allerdings sehr genau und präziser als ihre Richter und Anwälte.

Es dämmerte diesen Frauen nicht sofort, aber doch nach einiger Zeit, dass sie unentwegt über den Tisch der Gerichte gezogen wurden und zwar mit allen Mitteln und Tricks der Rechtspflege. Es beschlich sie die Erkenntnis, zu der Josef K. bis zum Schluss nicht gelangte: Die Willkür hat kein System, sie ist unbegreiflich und sie ist prinzipiell ohne Rechtfertigungsbedarf. Wenn der Sinn des Rechts abhandengekommen ist, sind wir alle potentielle Angeklagte im Prozess, den Franz Kafka beschrieben hat.

Ich bleibe Dilettant auch in diesem Buch, und die gescheiten Rechtskundigen werden mich mit Sicherheit vieler Fehler überführen. In der Achtung für das Recht der Beschädigten der Justiz werden mich die Rechtsprofis allerdings nicht übertreffen.

Ich habe respektable Richter und ehrenwerte Rechtsanwälte kennengelernt. Aber auch Typen, von denen ich niemals angenommen hätte, dass die es in die Höhen des Rechtswesens schaffen könnten und sich sogar zu Repräsentanten der Anwaltschaft aufschwingen dürfen. »Der Fisch stinkt vom Kopf«, weiß der Volksmund. Ich meine, die »anständigen« Anwälte sollten mehr darauf achten, wer sie repräsentiert.

Der Autismus der dritten Gewalt

Meine Zweifel an der dritten Gewalt sind im Laufe meiner Recherchen gewachsen. Die dritte Gewalt schickt sich an, Staat im Staate zu werden. Die Jurisdiktion scheint niemandem rechenschaftspflichtig zu sein außer sich selbst, und so schmort sie im eigenen Saft vor sich hin. Ich bezweifle nicht die unverzichtbare Funktion der Unabhängigkeit der dritten Gewalt. Aber ich beklage ihre Selbstgefälligkeit, mit der sie jedwede Kritik als Angriff auf ihre Unabhängigkeit abschmettert. Richter und Rechtsanwälte sind die letzten Berufe, die für sich eine Art Berührungstabu beanspruchen. Sie sind wie Brahmanen, die in einem westlichen Exil ihr Kastensystem aufrichten und damit den demokratischen Rechtsstaat unterwandern.

Die Verwechslung von Intransparenz und Unabhängigkeit

Der Elementarfehler, der sich im Imperium der dritten Gewalt ausbreitet, ist die Verwechslung von Intransparenz mit Unabhängigkeit. Die Schweigepflicht der Anwälte und die Nichtöffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen dienen keineswegs immer nur dem Schutz der Rechtsuchenden, sondern sind auch für viele Richter und Anwälte ein Freibrief, ohne Rechtfertigungspflichten schalten und walten zu können, wie es ihnen in den Kram passt.

Die Grenzen der Schweigepflicht müssen neu justiert werden. Wer dem Einspruch der öffentlichen Meinung entzogen ist, der muss mit alternativen Interventionsmöglichkeiten rechnen. Je weniger Öffentlichkeit, umso mehr interne, kontrollierte Verantwortung tut Not.

Die offene Gesellschaft verträgt prinzipiell keine toten Winkel, in die weder das Licht der Öffentlichkeit leuchtet noch Kontrolle Macht ausbalanciert. Jede »Macht« muss durch Gegenmacht gebändigt werden, und jeder Machthaber bedarf der Opposition.

Öffentliche Meinung als Machtkontrolle

Im Nachhinein entdecke ich die wirkliche Bedeutung, welche die öffentliche Meinung in der Disziplinierung der Arroganz der Mächtigen spielt. Oft habe ich mich über die Leichtfertigkeit der journalistischen Kritik entrüstet, und ich habe mich prophylaktisch vor ihr in Acht genommen. Und das war für beide Seiten gut. Muss ein Richter die Zeitung, das Radio oder das Fernsehen fürchten? Kein Richter und selten ein Anwalt muss vor öffentlicher Kritik zittern, die jeden Politiker zur Rechtfertigung zwingt. Hinter dem Schutz der Nichtöffentlichkeit versteckt sich auch eine gute Portion bequemer Diskussionsverweigerung. Die Bequemlichkeit, die als Versuchung in die Unabhängigkeit der Richter nolens volens eingebaut ist, muss aufgestöbert und aufgelöst werden, ohne die Unabhängigkeit aufzugeben.

Öffentliche Diskussionen können ein Mittel gegen die Abgehobenheit der Gerichte sein. Mehr Öffentlichkeit darf allerdings nicht zu »Volksgerichten« führen, die oft nur das Echo der öffentlichen Stimmung und derer waren, die sie erzeugten. Richter müssen auch weiterhin nach Gesetzeslage und nicht auf Zuruf entscheiden. Im Rahmen ihrer gesetzlichen Pflichterfüllung sind sie unabsetzbar, aber dennoch dürfen sie nicht rechtfertigungsfrei sein. Ebenso gilt, dass Opferschutz und Verhinderung von Vorverurteilungen nicht durch Öffentlichkeit weggewischt werden dürfen.

Ein Richter ist nicht die Prinzessin auf der Erbse, sondern ein im Zweifel sturmumtoster Leuchtturm. Aber Stürme sollte er schon aushalten können.

Modernes Scheidungsrecht

Meine überraschende Begegnung aus der Zuschauerperspektive mit dem Scheidungsrecht war für mich überaus befremdlich. Ich fand mich in einem großen Gehege mit eigenem Gehabe wieder, das den öffentlichen Blicken entweder entzogen oder von diesen unbeachtet ist. Das Familienrecht scheint mir ein extrem heruntergewirtschafteter Sektor des Rechtsstaates zu sein. »Heruntergewirtschaftet« im wahren Sinn des Wortes: Recht wird Wirtschaft. Zu guter Letzt ist alles eine monetäre Frage. Das Scheidungsrecht folgt dem Trend der Zeit: Alles wird Wirtschaft, auch die Ehe wird verwirtschaftet.

Von der normativen Idee lebenslanger Verbindlichkeit der Ehe und Familie sind nur noch Relikte sentimentaler Treueerinnerungen übrig geblieben. Die Hauptsache der Eheabwicklung, die das Scheidungsrecht organisiert, sind Geldrechnungen. Moralische Pflichten kennt das moderne Ehe- und Familienrecht nur noch in Spurenelementen.

Dazu haben der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht ihre Beiträge geleistet. Artikel 6 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz stellt und das Erziehungsrecht »zuvörderst« den Eltern zubilligt, erfüllt nur noch die Funktion, die ein Geweih in der Jagdstube besitzt. Es dient der nostalgischen Erinnerung. »Meine« Partei, die CDU, hat bei der Demontage von Ehe und Familie leider Schmiere gestanden und sich bei dieser »Modernisierung« als eine geradezu olympische Partei erwiesen: »Dabei sein ist alles.« Getrieben von einem manischen Anpassungsdruck hat die CDU zu fast allem »Hurra!« gerufen, was als modern daherkam.

Die sprachliche Mimikry

Bereits die Sprache des neuen Familienrechts offenbart die Verlegenheit seiner Reformer. Aus »Urteil« wird »Beschluss«, aus »Kläger und Klägerin« werden »Beteiligte« – die Tragik einer Trennung wird begrifflich weichgespült.

Das Familienrecht verzichtet vorerst noch nicht darauf, dass die Elternschaft aus Mann und Frau besteht, aber vorauseilend werden in der Familienpädagogik die schönen alten Namen »Mama« und »Papa« – Mutter und Vater – durch das glattgebürstete Wort »Bezugspersonen« ersetzt und gleichgestellt. Welcher Verlust an Weltzugang durch sprachliche Nivellierung! Man stelle sich das alte Kinderlied »Schlaf, Kindlein, schlaf …« in neuer Fassung vor: »… deine Bezugsperson hütet die Schaf …«

Normen weichen auf und die Sprache reagiert darauf adäquat mit terminologischem Sprachbrei. Wenn die Wirklichkeit Schwierigkeiten macht, wird sie hinter neuen Bezeichnungen versteckt. Die Veränderung der Worte ersetzt die Auseinandersetzung mit den Sachen. »Name bekannt – Problem gebannt«. Der Zauber funktioniert aber nur im Märchen wie dem vom Rumpelstilzchen.

Die terminologische Kreativität ist Ausdruck einer realen Verlegenheit. Die alten Begriffe »Ehe« und »Familie« definierten normative Realitäten und gaben somit Halt und Orientierung. Die neuen Titel »Lebenspartnerschaft« für Ehe und »Bezugspersonen« für Eltern sind Abstraktionen ohne Verbindlichkeit. Und die Substanzentleerung der Begriffe schafft wiederum Freiräume für die Manipulation der Wirklichkeit.

Das Recht und die Leute, die es managen, ihre normative Spezialsprache und vor allem die bequeme Behausung ihrer Überheblichkeit zerstören mehr soziale Chancen, als wir in der Sozialpolitik eröffnen können.

Ich entdeckte, dass ich meine alten sozialpolitischen Kämpfe überschätzt und die Bedeutung von Paragraphen überbewertet habe. Die Schlacht um die Anerkennung der »kleinen Leute« wird im Unterholz des Rechtsstaates geschlagen. Dort, wo die Gesetze angewandt werden und öffentliche Aufmerksamkeit nie oder selten hinleuchtet.