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Inhaltsverzeichnis

1. Abessinien
2. Die Geschichte von Äksum
3. Der König Ärwē
4. Die Geschichte des Drachen
5. Die Geschichte vom Drachen
6. Der Schlangenkönig und seine Schwester
7. Die Ebene Ḥäṣäbo
8. Äbba Gärima
9. Das Wesen der acht Länder Äthiopiens
10. Die Geschichte von der Königin von Saba in der Überlieferung von Äksum
11. Die Ankunft der Bundeslade in Äksum
12. Salomon und die Königin von Saba
13. (1) Menilek I.
13. (2) Wie Ebnä Elḥäkim die Bundeslade stahl
14. Der erste Krieg des Königs von Äthiopien
15. Die Geschichte vom König Kalēb
16. Säyfä Ärcad (1344–1371)
17. Die Mauer von Ḥärär
18. Aḥmad Ibn Ibrāhim al-Ġāzi, der Linkshändige (Grañ)
19. (1) Das Schaf des ’Aṣē Bäkafa aus dem Reich Äthiopien
19. (2) Der listige Student
20. Die Sprache der Tiere
21. Der Schulmeister, die Hühner und die Schüler
22. Die späte Rache eines Hundes
23. (1) Der Hund und sein Bild im Wasser
23. (2) Der Hund und der Knochen
24. Die Geschichte von den Mäusen
25. Die unglückliche Maus
26. Der Mäuserat
27. Die Geschichte von der Maus und von der Kröte
28. Die hungrige Ratte
29. Die Hausratte und die Feldratte
30. Die Geschichte der Spinne
31. Der Junge und der Skorpion
32. Die Biene und der Affe
33. Sieben Löwen und ein Ochse
34. Der Löwe und der Affe
35. (1) Der Löwe, die Hyäne und der Schakal
35. (2) Löwe, Hyäne und Schakal auf der Jagd
36. Der Schakal und der Löwe
37. Das Keuchel, der Schakal und der Löwe
38. Der Hase, der dem Löwen gleichen wollte
39. Die Geschichte von dem Löwen und dem Mistkäfer
40. Die Geschichte vom Mistkäfer und der Spinne
41. Der Hase und die Erde
42. Gottes Wille geschehe
43. Die Gabelweihe und der Hase
44. Der am Schwanz ergriffene Leopard
45. Der Leopard, die Ziege und der Kohlkopf
46. Das Junge des Leoparden und das Junge der Ziege
47. Die Geschichte einer Antilope
48. Die Äffin als Gemahlin des Siebenhorns
49. Die Affenmutter und ihre Tochter
50. Das Rabenjunge
51. Das Affenweibchen als Bäuerin
52. Der Schreiber und der Affe
53. Die Geschichte der Affen und ihr Grabgesang
54. Zwei Katzen und ein Pavian
55. Der Mann und die Schlange
56. Der Wanderer und die Hyänen
57. Der Schläfer und die Hyäne
58. Die Hyäne als Gast
59. Der Mann und die Hyäne
60. Die gierige Hyäne
61. Die Hyäne, der Schakal und der Affe
62. Die Hyäne und der Esel
63. (1) Die Esel kondolieren den Hyänen
63. (2) Die Hyäne und der Esel
64. Die Geschichte der Hyäne
65. Der Schakal und der Raubvogel
66. Die Geschichte vom Schakal und vom Geier
67. (1) Der Schakal und der Rabe
67. (2) Der Rabe und der Schakal
68. Die Vorsicht des Schakals
69. Der Schakal als Büßer
70. Der Esel, der Wolf und der Schakal
71. Die Geschichte der Aloë
72. Die Eisenwerkzeuge und die Bäume
73. Die Erzählung von Rhampsinit, dem König von Ägypten
74. Die Geschichte der Tochter des Königs
75. Das Urteil eines klugen Königs
76. (1) Das Urteil des Königs »Unverstand«
76. (2) Das Urteil eines Königs
77. Die zweite Geschichte vom König »Unverstand«
78. Vom König und vom Philosophen
79. Der Ratgeber zweier Könige
80. Der Kammerdiener des Königs und der Intrigant
81. Der Däǧǧač Gwäschu und sein Diener
82. Ein Sklave überbringt eine schlechte Nachricht
83. König Śahlä Śellasē und Martin
84. Der Mönch und der Soldat
85. Zwei Geschichten von dem Bauern und den Soldaten
86. Der Erzengel Uriel auf dem Flug über Äthiopien
87. Die Geschichte des Heiden
88. Das Wunderkind
89. Das Leben Täklä Haymanots
90. Der Preis der Liebe
91. Ein Ehehindernis
92. Das Hochzeitsmahl
93. Ein dummer Mann und eine kluge Frau
94. Die Geschichte einer dummen Frau
95. Der Jäger und seine Frau
96. Die Geschichte eines Blinden und seiner Frau
97. Die Geschichte von der Frau und den Räubern
98. Die naschhafte Frau und der unverschämte Student
99. Die Gattin, der Gatte und der Liebhaber
100. Die Verschlagenheit einer Ehebrecherin
101. Die Rache des verratenen Ehemannes
102. Die vergebene Mühe einer Frau
103. Die Frauen, die Männer und der Dämon
104. Die Geschichte vom Sohn der zänkischen Frau
105. Das Narrenpaar
106. Die zwei Stieftöchter
107. Die Geschichte eines Mannes, der ängstlich auf die Wahrheit achtete
108. Der Magen und die anderen Sinnesorgane
109. Hochmut kommt vor dem Fall
110. Der verzogene Hund
111. Der bescheidene Reiche
112. Der schwachsinnige Arme und die Reichen
113. Das geizige Ehepaar und der Gast
114. Die Geschichte von einem geizigen Reichen
115. Der bestrafte Betrug
116. Der Neid ist vorherbestimmt
117. Der reiche und der stolze Diener
118. Vom reichen alten Mann
119. Der Reiche und der Tod
120. (1) Die Geschichte von den zwei Schlauen
120. (2) Die beiden schlauen Bauern
121. Das Urteil der Menschen ist eitel
122. Die Geschichte von den dummen Kaufleuten
123. Der Furchtsame und die Furt
124. Der Student als Prahlhans
125. Der geübte Dieb und sein Schüler
126. Die dumme Unterländerin
127. Der Zudringliche
128. Die drei Schiedsrichter
129. Die Geschichte eines tauben Richters und zweier tauber Menschen
130. Der bestechliche Richter
131. Die weise Antwort eines Gelehrten
132. Der fehlende Erbe
133. Der Junggeselle und der Philosoph
134. Acht Brüder in der Zeit der Teuerung
135. Der erfüllte Traum
136. Der Philosoph und der Ratsuchende
137. Die drei Philosophen
138. Die Geschichte von den Leprakranken
139. Die Geschichte eines Bauern
140. Die Getreidewächterin
141. Der Überlebende
142. Der freche Diener
143. Die zwei Sklaven
144. Die ungelegene Antwort eines Sonderlings
145. Der ungeschickte Tröster
146. Die Schüler und die Nadel
147. Der mildtätige Gastgeber und der Blinde
148. Der Zwiebeldieb
149. Der Lahme und der Blinde
150. Ein leichtsinniger Mensch kann eher eine große und schwere Mühle tragen als eine Sache bei sich behalten
151. Ein Landmann macht sich lächerlich
152. Der enttäuschte Landwirt
153. Der Zwerg und seine Brüder
154. Der gefräßige Gast
155. Die Geschichte von den zwei Brüdern
156. Geistesgegenwart
157. Drei Toren
158. Die Verschlagenheit Satans
159. Der Spaßvogel
160. (1) Die Töpferin
160. (2) Der Aläqa und seine Frau im Hause
160. (3) Das vertauschte Baby
160. (4) Ein Genießer
160. (5) Die mit Asche beschmutzte Schülerin
160. (6) Der verspottete Eselstreiber
160. (7) Heimweh
160. (8) Gutes Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen
160. (9) Rettung vor Räubern
160. (10) Die Rache des Aläqa Gäbre-Hanna
161. Das wunderbare Minarett
162. Die wunderbare Reise des Au Bahár
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1. Abessinien

Abessinien bedeutet Vermischung. Die Vermischung zeigt sich auf zweierlei Weise:

Nach der einen heißt es, daß die Nachkommen Sems und die Nachkommen Japhets sich mit den Nachkommen Hams vermischten.

Nach der anderen wäre es ein Menschenname. Sie sagen, daß dieser Mensch weder rot noch schwarz war, sondern kastanienbraun. Das war zur Zeit des Pentateuchs, der Königin des Südens, ihres Sohnes Ebnä Elḥäkim. Ebnä Elḥäkim bedeutet »Sohn des Weisen«. Er ist Menilek.

Es ist bekannt, daß zu dieser Zeit die Nachkommen Jakobs in das Land kamen, die das Gesetz des Pentateuchs angenommen hatten. Von dem Einzug der Kinder Japhets zur Zeit des Pentateuchs ist sonst nichts bekannt. Er ist der Zeit des Evangeliums zuzuschreiben. Unser Vater Frumentios, genannt Sälama, ist der Offenbarer des Lichts. Die Erklärung ist, daß er das Evangelium und die Taufe gelehrt hat. Da er ein Grieche war, Sohn Japhets, kamen zu seiner Zeit viele Menschen, wie bekannt ist.

2. Die Geschichte von Äksum

Kam (= Harn) zeugte den Kusch. Kusch zeugte den Äthiopis. Und nach seinem Namen ist Äthiopien benannt worden bis auf den heutigen Tag, und sein Grab ist in Äksum und wird bis auf den heutigen Tag »das Grab des Äthiopis« genannt. Man erzählt, daß ein Feuer darin zu brennen pflegte. Es heißt, wenn Eselsmist hineinfiel und darauf ein Stück Zeug, daß er es verbrannte.

Äthiopis zeugte den Äksumawi. Äksumawi zeugte den Mäläkya Äksum, und er zeugte den Sum, Näfas, Bägico, Kuduki, ’Äkhero, Färheba. Diese sechs Söhne des Äksumawi wurden die Väter von Äksum. Und als sie ihr Land teilen wollten, erschien ein Mann, dessen Name May Bih genannt wurde, und teilte das Land, wie man erzählt. Sie aber gaben ihm jeder zwei Äcker, und er ließ sich bei ihnen nieder.

3. Der König Ärwē

Es war einmal eine große Schlange, die König des Landes Äthiopien war. Alle Statthalter verehrten sie und opferten ihr ein jungfräuliches Mädchen von schönem Aussehen. Sie ließen sie schminken und schmücken, führten sie vor jenen Drachen und ließen sie dort zurück. Daraufhin verschluckte er sie. Jener Drache war 170 Ellen lang, vier Ellen dick, seine Zähne maßen jeweils eine Elle, seine Augen waren Feuerflammen gleich, die Brauen seiner Augen ähnelten einem schwarzen Raben, und seine ganze Gestalt war wie Blei und Bronze. Wenn er trank, genügten ihm keine 17 Eimer. Zur Nahrung brachte man ihm täglich zehn ausgewachsene Ochsen, zehn junge, 100 Ziegen, 100 Schafe und abertausend Vögel. Auf seinem Haupt war ein Horn von drei Ellen Länge. Wenn er marschierte, hörte man sein Getöse acht Tagesreisen weit entfernt.

4. Die Geschichte des Drachen

Es wird erzählt, daß ein Drache oder eine Schlange namens Wäynabä 400 Jahre lang über Abessinien herrschte. Alle Menschen und Tiere waren ihm untertan und brachten ihm Tribut dar: Eine erstgeborene Tochter und ein Gäbäta Mich waren ihr Tribut. Danach aber verschwor sich ein Mann, der Ängäbo hieß und sein Diener gewesen war, mit allen Bewohnern des Landes, indem er sprach: »Ich will den Drachen töten; dann gebt mir die Herrschaft.« Und alles Volk sagte: »Ja« und schwur ihm. Er aber, das heißt der Drache, war in Tämbēn. Als er nach Äksum gekommen war, säuberte Ängäbo die Straße und stellte unter der Straße ein Eisen auf. Der Drache aber machte sich auf den Weg nach Äksum. Als er auf der Straße war, traf er zur Rechten und zur Linken Feuer. Dazwischen wälzte er sich dahin. Er gelangte nach Äksum und starb. Man begrub ihn in May Wäyno. Sein Grab ist dort bis auf den heutigen Tag und heißt das »Grab des Drachen«. Das Land gehört zu Färheba.

Ängäbo, der den Drachen getötet hatte, herrschte zweihundert Jahre. Es heißt, daß er der Vater der »Königin des Südens« (= der Königin von Saba) war. Die »Königin des Südens« aber gebar den Menilek von König Salomon. Und Menilek starb in Äksum und wurde bei seiner Mutter, der »Königin des Südens«, begraben. Ihr Grab ist dort bis auf den heutigen Tag auf dem Gebiet von Mäläkya Äksum.

5. Die Geschichte vom Drachen

Ein Drache oder eine Schlange namens Wäynabä regierte 400 Jahre in Abessinien, wie es heißt. Alle waren ihm untertan und zahlten ihm Tribut: Ein erstgeborenes Mädchen und ein Gäbäta Milch waren ihr Tribut. Aber dann verschwor sich ein Mann namens Ängäbo, der einer seiner Diener war, mit dem ganzen Land, indem er sprach:

»Ich werde die Schlange töten; danach übergebt mir das Reich!«

So sprach er. Alle Menschen stimmten ihm zu und schwuren ihm. Und sie, nämlich die Schlange, hielt sich in Tämben auf. Nun, für die Zeit sobald sie nach Äksum kam, hatte Ängäbo die Straße geglättet, und unter der Straße hatte er Eisen verlegt. Und die Schlange machte sich auf den Weg, um sich nach Äksum zu begeben. Während sie nun auf der Straße war, machte Ängäbo Feuer zu seiner Rechten und zu seiner Linken. Die Schlange wälzte sich bis nach Äksum und starb dort. Sie begruben sie in May Wäyno. Bis heute findet sich dort ihr Grab. Es heißt »Das Grab der Schlange«. Und der Boden ist von Färheba, sagt man.

Jener Ängäbo, der die Schlange tötete, regierte für einen Zeitraum von 200 Jahren. Es heißt, er wurde der Vater der Königin des Südens. Und die Königin des Südens empfing Menelik von dem König Salomon. Und Menelik starb in Äksum. Er wurde mit seiner Mutter zusammen begraben, der Königin des Südens. Und bis heute ist dort ihr Grab. Sein Platz ist der Boden von Mäläkya Äksum, heißt es.

Und auf dem Boden von Mäläkya Äksum befindet sich die Skulptur eines Löwen, dessen Geschichte folgendermaßen erzählt wird: Weil der Löwe ständig fraß, erzürnte sich der heilige Michael und befestigte ihn an diesem Stein, und er blieb dort abgebildet. Und sein Abbild findet sich dort bis heute. Und nahe bei ihm befand sich ein Dorf bis zu der Zeit des Königs Johannes.

Und über diesen Ort erzählt man sich die Geschichte eines Mannes, der Ayana Äzgi hieß. Und er, der ein Fürst war, sammelte sein Heer, und als er nach Westen zog, sagte er zu den Soldaten.

»Jeder einzelne sammle an diesem Orte einen Stein für heute abend.«

So sprechend, gab er ihnen diesen Befehl, damit er – zurückkehrend – sein Heer erkennen und wissen würde, wie viele von ihm fehlten. Und als er zurückkehrte, sprach er zu ihnen:

»Jeder von Euch hebe einen Stein auf!«

Als diejenigen, die zurückgekehrt waren, ihre Steine aufhoben, blieben viele zusammengesammelt auf der Erde. Dort sind sie bis heute!

6. Der Schlangenkönig und seine Schwester

Azeb, ein junges Mädchen, und Agabuos, eine große und lange Riesenschlange, waren Geschwister. Agabuos war Oberhaupt der Schlangen und Schlangenkönig. Seine Schwester war seine Dolmetscherin. Sie vermittelte den Untertanen seine Absichten, die sie verstehen sollten.

Sie residierten in Schum Ärwē, was »Ort des Schlangenoberhauptes« heißt. Die Notabeln von Schum Ärwē hatten Azeb den Thron versprochen. In der Tat zettelten sie eines Tages eine Verschwörung an, als das Schlangenoberhaupt sich nach Äksum begab und den Ort jenseits von Ueri Guaharò erreicht hatte. Sie zündeten die Wiesen an, so daß Agabuos keinen Ausweg aus dem Feuer fand und verbrannte. Und so geschah es, daß die Flammen das Schlangenoberhaupt verzehrten. Agabuos wurde in Äksum begraben, in der Gegend von Meerabe Decchenai.

Doch Azeb wurde nach dem Tode des Bruders nicht zur Königin ausgerufen. Die Notabeln hielten sich nicht an das Abkommen mit ihr. Sie begab sich daher nach Äksum zum Grabe ihres Bruders und weinte dort, unter Tränen sprechend:

»Komm, o Gott des Agabuos!

Komm, o Gott des Agabuos!

Komm Du, schaffe Gerechtigkeit!«

Nachdem sie diese Worte gesagt hatte, erhob sich ein großes Erdbeben, und das Land verdunkelte sich. Die erschreckten Notabeln von Schum Ärwē wußten Bescheid, begaben sich zu Azeb, baten sie um Verzeihung und erhoben sie zur Königin mit Sitz in Äksum, nahe bei dem Kirchhof, auf dem Agabuos ruhte.

7. Die Ebene Ḥäṣäbo

Wer von Ädwa nach Äksum geht, stößt auf eine Ḥäṣäbo genannte Ebene (südöstlich von Äksum). Woher kommt der Name Ḥäṣäbo? Einige Leute erklären sich das so:

In Äthiopien war vor langer Zeit die Schlange Herr der Erde und König, wie man erzählt. Und die Landbewohner machten es so, daß sie ihr als Speise ein Gäbäta voll Milch und eine erstgeborene Jungfrau gaben. So verlangte es das Gesetz des Landes für viele Jahre, sagt man. Während es so geschah, zogen die neun Heiligen die Straße entlang, wo die Schlange ihre Speise erwartete. Als sie vorbeizogen, setzten sie sich am Fuß einer Sykomore nieder, um ihren Schatten zu genießen. Während sie so saßen, fielen Tränen herab, und diese Heiligen, sich umwendend, entdeckten das an der Sykomore aufgehängte Mädchen.

»Wer bist Du?« fragten diese sie. Und sie sprach zu ihnen: »Ich bin ein menschliches Wesen.«

»Was machst Du also?« fragten sie sie.

»Ich bin als Tribut für die Schlange gekommen«, sprach sie zu ihnen. Und diese fragten:

»Aber wo ist sie?« Und sie antwortete:

»Dort ist sie!« Und sie sprachen zu ihr:

»Vielleicht dort, nahe bei dem Hügel?«

Aber sie sprach zu ihnen:

»Sie selbst ist es, die ein Hügel zu sein scheint.«

Und sie wandten ihre Gesichter der Schlange zu und machten mit ihren Kreuzen das Kreuzzeichen, und jene Schlange starb berstend, und ihr Blut floß nach Ḥäṣsäbo. Diese Heiligen sagten zu der Ebene: »Sie hat Dich gewaschen«  – und seitdem nennt man sie Ḥäṣäbo.«

Andere erzählen hingegen so, indem sie sprechen:

»Äbreha und Äṣbeḥa waren dabei, die Kirche von Äksum zu erbauen. Nachdem sie den Tag über gebaut hatten, begaben sie sich am Abend auf ihr Land und wuschen sich im Fluß Ruba, der in jener Ebene ist. Und der Name jener Ebene wurde Ḥäṣäbo genannt«, erzählen sie.

8. Äbba Gärima

Die neun Heiligen waren zu der Michaelskirche gekommen, erzählt man. Nachdem sie dort angekommen waren und sich in der Michaelskirche aufhielten, war Fastenzeit, wird berichtet. Sie aber fanden – bevor die Zeit des Fastenbrechens herangekommen war – etwas zu essen, teilten es unter sich und aßen es. Äbunä Gärima jedoch, nachdem er gesagt hatte: »Ich werde nicht essen, bevor die Zeit herangekommen sein wird«, legte seine Portion nieder. Während er seine Portion niederlegte, sahen ihn seine Genossen nicht.

Nachdem sie nun gegessen hatten, fragte ein Küster sie, indem er sprach:

»Wer unter Euch kann die Anaphora feiern?« Alle sagten:

»Wir können nicht!«

Der Äbunä Gärima, nachdem er gesagt hatte: »Ich hier, ich«, feierte die Anaphora. Die anderen Heiligen sprachen über Äbunä Gärima und sagten:

»In der Tat, nachdem er mit uns gegessen hat, ist er gegangen, um die Anaphora zu feiern!«

Nach der Feier der Anaphora, während Gärima zurückkehrte, sprachen seine Genossen zu ihm:

»Entferne Dich von uns, auf daß wir uns beraten.«

Und als er gesagt hatte: »In Ordnung!« und nachdem er – während er sich von ihnen trennte – gesagt hatte: »O Wald, entferne Dich zusammen mit mir!«, da entfernte sich der ganze Wald und bewegte sich zusammen mit ihm. Als die Heiligen angesichts dieses Wunders gesagt hatten: »Bleibe stehen, o Gärima, o König, Du hast uns verwundert«, da blieb er stehen. Und als er nun stand, sagten sie zu ihm: »Vergib uns, wir waren dabei, schlecht von Dir zu reden«, sprechend: »Seht, nachdem er Nahrung zu sich genommen hat, hat er die Anaphora gefeiert!«

Aber der Äbunä Gärima zeigte ihnen dieses bißchen Nahrung, das ihm zuteil geworden war, und sagte:

»Ich habe es nicht gegessen.«

Und alsdann vergab er ihnen.

Bis heute ist es in unserem Lande jedes Jahr so, daß man den Tabot der Kirche des Äbunä Gärima nimmt und zu der Michaelskirche in Ädwa geht. Das ganze Volk geht zu der Feier der Anaphora. Danach veranstaltet man ein großes Fest. Dieses Fest heißt Gäbrä Tä’ammer, was bedeutet, »der Tag, an dem das Wunder geschah!«

9. Das Wesen der acht Länder Äthiopiens

Von Jerusalem kamen acht nach Äthiopien. Sie hießen Leichtfertigkeit, Halsstarrigkeit, Stolz, Gesittung, Tapferkeit, Treulosigkeit, Einfalt und Klugheit. Als sie nach Tegrē kamen, sprach Leichtfertigkeit:

»Brüder, ich habe mein Land gefunden und werde hierbleiben, lebt wohl.«

Als sie dann nach Semen kamen, sagte Halsstarrigkeit:

»Meine Brüder, ich habe meinen Ort gefunden, lebt wohl«, und blieb zurück. Als sie Wäggära erreichten, sagte Stolz: »Brüder, ich bin in mein Erbteil gekommen, lebt wohl«, und blieb zurück. Als Gesittung Gondär erreichte, sagte er: »Meine Brüder, ich habe mein Lager gefunden und bleibe hier, lebt wohl«, und blieb dort. Die vier zogen weiter, und als sie Bēgämder erreichten, nahm Tapferkeit Abschied von ihnen und sprach:

»Meine Freunde, ich habe einen Platz zum Verweilen gefunden, möge Gott Euch recht leiten.«

Als sie dann Däbrä Tabor erreicht hatten, stand Treulosigkeit auf der Höhe von Däbrä Tabor und schaute über e9783641139476_i0002.jpg. Und nachdem er gesagt hatte: »Brüder, erlaubt mir, in mein Land zu gehen«, zog er hinüber nach Goǧǧam. Die zwei zogen welter und gelangten in das Amharenland. Da sprach Einfalt: »Mein Bruder, möge Gott Dich an einen guten Ort führen« und blieb zurück. Klugheit reiste allein weiter, kam nach Šäwa und herrschte dort.

10. Die Geschichte von der Königin von Saba in der Überlieferung von Äksum

König Menileks Mutter war ein Tegrēmädchen namens Eteyē Äzēb. Damals verehrte man in Tegrē einen Drachen, den Drachen, dem man folgendes Opfer darbrachte: Jeder Mann gab reihum seine erstgeborene Tochter und ein Entälam Met und ein Entälam Milch. Als nun die Eltern Eteyē Äzēbs an die Reihe kamen, banden sie ihre Tochter für den Drachen an einen Baum. Und an den Ort, an dem sie an den Baum gefesselt war, kamen sieben Heilige und setzten sich dort in den Schatten. Und während sie dort saßen, begann das Mädchen zu weinen, und eine ihrer Tränen fiel auf sie. Und als diese Träne auf sie gefallen war, blickten sie nach oben und sahen sie dort gefesselt und fragten sie, indem sie sprachen:

»Wer bist Du? Bist Du Mariens oder ein menschliches Wesen?« Und sie antwortete ihnen:

»Ich bin ein menschliches Wesen!«

Sie sprachen zu ihr:

»Und warum bist du hier angebunden?«

»Sie fesselten mich, damit mich der Drache verschlingen kann«, sagte sie. Sie fragten sie:

»Ist er jenseits des Hügels oder an dieser Seite?«

»Er ist der Hügel«, war ihre Antwort. Und als sie ihn sahen, packte Äbba e9783641139476_i0003.jpg seinen Bart, und Äbba Gärima sagte:

»Er hat mich erschreckt«, und Äbba Menṭelit erklärte: »Ergreifen wir ihn«, und in schnellem Lauf warf er sich auf ihn und schlug ihn. Daraufhin griffen ihn alle an, schlugen ihn mit dem Kreuz und töteten ihn. Und als sie ihn töteten, spritzte Blut auf das Mädchen und tropfte auf ihre Ferse, die ein Eselshuf wurde.

Danach befreiten sie das Mädchen und sagten zu ihr:

»Gehe nun in Dein Dorf.«

Und als sie in ihr Dorf kam, trieben die Leute des Dorfes sie weg, denn sie wußten nicht, daß der Drache tot war. Außerhalb des Dorfes erklomm sie einen Baum und verbrachte dort die Nacht. Am nächsten Tage kehrte sie zurück und sprach:

»Kommt, damit ich Euch zeige, daß der Drache tot ist.«

Die Dorfleute folgten ihr also und sahen den Drachen tot vor sich liegen. Und als sie ihn so tot liegen sahen, sprachen sie:

»Laßt sie uns zu unserem Meister (= Rabbi) machen! Denn wenn Gott ihr das nicht gegeben hätte, wie hätte der Drache dann durch sie seinen Tod finden können?«

Und sie machten sie zu ihrer Anführerin. Und nachdem sie das geworden war, machte sie ein Mädchen wie sie zu ihrer Beraterin.

Danach hörte sie, daß man folgendes berichtete: In Jerusalem ist ein König namens Salomon. Wer immer zu ihm geht, wird von der Krankheit kuriert, die er hat.

»Wenn Du hingingest, dann würde Dein Fuß wieder so werden wie vorher, sobald Du durch seine Tür eintreten würdest«, erklärte man ihr. Nachdem sie das gehört hatte, flocht sie ihr Haar, so daß sie einem Manne glich. Ihre Beraterin tat ein Gleiches. Dann gürteten beide sich mit Säbeln und zogen davon. Als sie sich der Stadt näherte, hörte König Salomon von ihr. Man berichtete ihm:

»Der König von Abessinien kommt.« – »Laßt ihn eintreten«, sagte er. Und als sie kam, da wurde ihr Fuß wie früher, sobald sie durch die Tür trat. Und sie trat zu dem König ein und ergriff seine Hand, ihn grüßend. Der König befahl: »Bringt Brot, Fleisch und Met«; und sie setzten sich zum Mahl. Und während sie speisten, aßen die Frauen aus Bescheidenheit nur wenig und tranken auch nur wenig. Daher argwöhnte der König, daß sie Frauen seien.

Als es Abend wurde, befahl er:

»Bereitet die Betten für sie.«

Und sie bereiteten sie in dem gleichen Raum mit ihm, eines gegenüber dem anderen. Und er nahm einen Fellschlauch voller Honig und hing ihn im Raum auf. Und er stellte eine Schale darunter. Auch machte er ein Loch in den Schlauch, so daß es tröpfeln würde. Er hatte aber die Angewohnheit, seine Augen halb zu öffnen, wenn er schlief. Und wenn er wach war, so schloß er sie. Des Nachts, während sie ruhten, schlief er ein, und seine Augen blieben halb offen. Und die Frauen sprachen:

»Er schläft nicht. Er sieht uns. Wann wird er schlafen?«

Während sie so sprachen, erwachte er und schloß seine Augen.

»Nun ist er eingeschlafen«, sagten sie und leckten aus der Schale. Da wußte er bestimmt, daß sie Frauen waren, und er näherte sich ihnen beiden und schlief mit ihnen. Jede von ihnen sprach zu ihm:

»Das ist die Reinigung von meinen Blumen (= Ich bin entjungfert worden).«

Und er gab jeder einen silbernen Stab und einen Ring und sprach zu ihnen:

»Wenn es ein Mädchen ist, laßt sie diesen silbernen Stab nehmen und zu mir kommen. Und wenn es ein Junge ist, laßt ihn diesen Ring nehmen und zu mir kommen.«

Und die Königin des Südens kaufte einen Spiegel. Beide kehrten schwanger in ihr Land zurück. Und beide gebaren einen Sohn. Als die Jungen größer waren, sagten die Tegrē-Leute zu ihnen:

»Sie sind vaterlose Kinder!«

Und sie fragten ihre Mütter. Und ihre Mütter anworteten ihnen:

»Euer Vater ist der König Salomon. Er lebt in Jerusalem.«

Und der Sohn der Königin des Südens glich genau seinem Vater. Selbst in seiner Hautfarbe war er wie König Salomon.

Jetzt sagte sie zu ihm:

»Mein Sohn, Dein Vater gleicht Dir. Nimm diesen Spiegel und begib Dich zu ihm. Und wenn Du einen anderen Mann auf dem Thron sitzen siehst, begrüße ihn nicht!«

Danach zogen sie nach Jerusalem. Und als sie ankamen, sagte der König Salomon:

»Wenn es meine Söhne sind, laßt sie warten!«

So blieb er drei Jahre weg von ihnen und zeigte sich nicht. Nach diesen drei Jahren sagte er: »Laßt sie eintreten.«

Aber er hatte seine königliche Kleidung abgelegt und sich in Lumpen gekleidet. Und auf seinen Thron hatte er einen aus seinem Volk gesetzt, und er selbst war in den Stall gegangen. Und als sie eintraten, ergriff der andere Junge die Hand desjenigen, der auf dem Thron saß und begrüßte ihn. Menelik aber stand steif da und betrachtete sein Antlitz im Spiegel und sah, daß die Hautfarbe des Mannes nicht wie seine war. Dann wandte er sich in alle Richtungen, fand jedoch niemand, dessen Gesichtsfarbe der seinigen glich. Nach einiger Zeit schaute Salomon aus dem Stall heraus. Sofort ging Menelik zu ihm hin und ergriff seine Hand, um ihn zu grüßen. Daraufhin sagte Salomon:

»Du bist mein wahrer Sohn, der andere ist auch mein Sohn, aber ein Narr«, und setzte sich nun selbst auf den Thron.

Nun pflegte sein Vater zu sagen: »Wenn Vieh in ein fremdes Feld eindringt, dann mag der Besitzer des Feldes es sich aneignen.« Er aber sagte:

»Der Besitzer des Feldes mag sechs Maß Korn nehmen«; und er tadelte seinen Vater, indem er fragte:

»Wie kann das Vieh beschlagnahmt werden?«

Daraufhin beschwerte sich das Volk der Stadt bei dem König, indem es sprach:

»Wie können zwei Führer über uns herrschen? Sende diesen Deinen Sohn weg von uns in sein Land!« – »Laßt mich wenigstens beratschlagen, danach werde ich Euch meine Antwort wissen lassen«, antwortete der König.

»Beratschlage«, sprachen sie. Und er berichtete dieses seinem Sohn, indem er sprach:

»Sie haben sich bei mir beschwert und gesagt: ›Schicke Deinen Sohn fort von uns‹, und sie bleiben dabei. Was sollen wir nun machen?« Darauf antwortete er ihm:

»Rede folgendermaßen zu ihnen: ›Ist er nicht mein erstgeborener Sohn? Schickt Ihr auch Eure erstgeborenen Söhne mit ihm!‹« – »Es ist gut«, sagten sie, und jeder von ihnen schickte seinen erstgeborenen Sohn mit ihm.

Und König Salomon sprach zu seinem Sohn:

»Nimm die Lade (Tabot) Michaels mit.«

Aber er nahm die Lade (Tabot) Mariens und tat die Decke der Lade Mariens auf die Lade Michaels und diejenige der Lade Michaels auf die Lade Mariens. Und er zog mit dieser Lade von dannen. Nach wenigen Tagen erhob sich ein Sturm in Jerusalem, und Salomon sprach:

»Schaut nach der Lade Mariens!«

Und nachdem sie geschaut hatten, ohne daß sie die Decke weggezogen, also nur kurz hingeschaut hatten, sprachen sie:

»Sie ist da.«

Aber er wiederholte: »Nehmt die Decke weg und schaut!«

Und als sie die Decke weggenommen hatten und schauten, zeigte sich vor ihnen die Lade Michaels. Und er sandte einen Boten zu seinem Sohn, der sprach:

»Schicke sie zurück zu mir!«

Aber der Sohn weigerte sich. Als sie nun nach Qäyeḥ-Kor gelangten, starb ein Diakon namens Gäbrä Ḥeywät, der die Lade trug, und er wurde dort begraben. Und nachdem sie ihn begraben hatten, wollten sie weiterziehen. Aber die Lade ließ sich nicht aufheben. Darauf sagte Menelik:

»Grabt ihn aus, und legt seinen Körper in einen Sarg!«

Und sie gruben ihn aus und legten seinen Körper in einen Sarg. Aber als sie nun mit ihm weiterziehen wollten, ließ sich die Lade noch immer nicht aufheben. Und wiederum sprach er: »Grabt«, und sie gruben und fanden, daß sein Finger aus dem Sarg herausragte. Daraufhin steckten sie ihn in den Sarg.

Danach konnte die Lade aufgehoben werden, und sie zogen weiter und kamen nach Tegrē. Und nachdem sie nach Tegrē gelangt waren, erreichten sie Äksum. Nun baute der Satan ein Haus, um gegen Gott zu kämpfen. Aber als sie sagten: »Maria ist zu Dir gekommen«, da zerstörte er es und verließ es. Einen großen Stein hatte er aufgehoben, um ihn fortzuschleppen. Aber als sie sagten: »Sie ist zu Dir gekommen«, da ließ er ihn fallen und zog von dannen. Und mit den Steinen, mit denen er gebaut hatte, bauten sie die Marienkirche. Der große Stein hingegen steht dort noch heute aufrecht.

93. Ein dummer Mann und eine kluge Frau

Ein dummer Mann saß in der Versammlung mit vielen Leuten zusammen und sagte in der Unterhaltung:

»Ich weiß, wieviel Ellen das Maß der Erde beträgt.«

Er wettete mit einem Mann um sein Vermögen, daß er es wisse. Er schwur feierlich, am nächsten Tag die Zahl des Erdmaßes zu nennen, und ging dann traurig nach Hause. Als seine Frau ihm sagte:

»Wir wollen unser Abendbrot essen«, sagte er:

»Ich esse nicht.«

Dann hüllte er sich ein und legte sich schlafen. Seine Frau sagte ihm:

»Sag mir, warum Du heute traurig bist; was für eine betrübende Sache hast Du erlebt?«

»Ich habe um mein Vermögen gewettet, daß ich das Maß der Erde kenne. Ich habe feierlich geschworen, morgen zu kommen, um das Maß zu nennen. Wenn ich aber das Maß nicht nenne, werde ich meines ganzen Vermögens beraubt.«

Da riet sie ihm also:

»Dies ist eine leichte Sache: Morgen früh gehe an den Ort, für den Du Dich feierlich verpflichtet hast, pflanze einen Stock in die Erde und sage: ›Die Erde beträgt von hier nach der einen Richtung soundsoviel, von hier nach der anderen Richtung soundsoviel. Wenn Du es aber nicht glaubst, so miß es mir nach; und wenn ich gelogen habe, soll ich bestraft werden.‹«

Da aß er, über den Rat seiner Frau erfreut, sein Abendbrot und verbrachte die Nacht.

Am nächsten Tag ging er hin und tat, wie seine Frau ihm geraten hatte. Als der König diese Sache hörte, ließ er jenen Mann rufen und sprach zu ihm:

»Wer hat Dir diesen Rat gegeben?«

Da sagte er:

»Meine Frau hat mir geraten!«

Der König fragte ihn:

»Ist Deine Frau klug?«

»Ja, sie ist eine sehr kluge und schöne junge Frau.«

Und der König sagte:

»Eine junge Frau, die so klug und schön ist, gebührt uns, und wir wollen sie heiraten.«

Da ging der Mann sehr bestürzt, betrübt und nachdenklich in sein Haus. Seine Frau sprach zu ihm:

»Warum bist Du heute wiederum so traurig?«

Da sagte er zu ihr:

»Heute ist eine noch sehr viel schlimmere Trauer als die frühere über uns gekommen.«

Sie sprach zu ihm:

»Was für eine Trauer hast Du gefunden? Bitte, sage es mir!«

Er sagte:

»Der König fragte mich nach Deiner Klugheit, und ich sagte: ›Meine Frau ist eine sehr kluge und schöne Frau.‹ Da sagte der König zu mir: ›Eine junge Frau, die so klug und schön ist, gebührt uns, und wir wollen sie heiraten.‹ Ich bin über diese Sache sehr betrübt.«

Da sagte sie:

»Du Dummer, weshalb hast Du ihm gesagt: ›Meine Frau ist eine kluge und schöne junge Frau?‹ Jetzt gehe und sage dem König: ›Als ich die Sache, die Ihr mir gesagt habt, meiner Frau erzählte, war sie sehr froh, und sie hat viele Speisen und Met vorbereitet und lädt den König mitsamt seinen Großen zum Essen ein.‹ Dann komm mit ihnen zu uns!«

Er ging, wie seine Frau ihm geraten hatte, lud den König mit seinen Großen ein und kam mit ihnen in sein Haus. Die Frau hatte den Tisch hergerichtet, indem sie viel Flachs gleichsam als Soße in die Soßenschüsseln und auf die Fleischplatten tat und indem sie die Deckel der Soßenschüsseln und der Fleischplatten der Reihe nach mit einem goldbestickten Tuch, einem Seidentuch, einem buntgestreiften, einem blumenbestickten und einem changierenden Stoff, einem baumwollenen Tuch, einem Wollstoff, einem Leinentuch, einem weißen Stoff, einem dicken, einem alten dicken Stoff bekleidete und so zudeckte. Als der König sich mit den Großen zum Essen niedersetzte, stand die in Wollstoff eingehüllte Schüssel vor dem König; und als er sie öffnete, war es Flachs. Diese warf er weg und ließ die mit dickem weißen Stoff verhüllte kommen; und als er sie öffnete, war es Flachs. Ebenso war es mit der in Leinwand, der in den baumwollenen Stoff, der in Tuch, der in blumenbestickten Stoff gehüllten, der mit buntstreifigem, seidenen Stoff, mit rotem Seidenstoff, mit goldbesticktem Stoff verhüllten Schüssel; eine jede war, wenn er sie kommen ließ und öffnete, mit Flachs gefüllt. Der König war sehr zornig und rief:

»Wie hat diese Frau uns zum Narren gemacht!«

Er ließ die Frau kommen und sagte ihr:

»Was bedeutet diese Sache, die Du uns angetan hast?«

Da sagte ihm die Frau:

»Oh König, das Gesicht der Frau ist häßlich und schön, verschieden, wie die Stoffarten je nach ihrer Art häßlich und schön, gering geachtet und geschätzt sind. So ist das Gesicht und die Natur der Frauen, im Inneren ist aber alles wie Flachs allein. So ist auch, mögen wir schön sein oder häßlich, unser aller Wesen eines!«

Da war der König sehr erstaunt und freute sich, daß sie dieses Gleichnis erzählt hatte, um lieber ihrem armen Gatten die Treue zu bewahren, als die Ehre, des Königs Gattin genannt zu werden, zu haben. Deswegen gab ihnen der König mit den Worten:

»Ich habe Euch, Dich und Deinen Gatten, durch meinen schlimmen Plan in Bestürzung versetzt und Euch betrübt, und Du hast mich durch dieses Gleichnis vor einer Sünde bewahrt«, viel Geld und kehrte in seinen Palast zurück.

 

Sprichwort

Eine gute Frau ist ihrem Manne eine Krone; wer eine gute Frau gefunden hat, hat einen guten Segen von Gott gefunden.

94. Die Geschichte einer dummen Frau

Ein Mann hatte eine dumme Frau. Als ihr Gatte ihr eines Tages – betrübt über ihre Dummheit – Ratschläge erteilte, hörte ein schlauer Mensch zu, der sich auf dem Hof befand. Als ihr Mann weggegangen war, kam er herzu, und indem er in den Eingang ihres Hauses trat, bettelte er mit den Worten:

»Als ein vom Himmel gekommener, hungernder Wanderer stehe ich da.«

Dieser dummen Frau waren ihre Eltern gestorben, und als sie ihn sagen hörte:

»Ich bin vom Himmel gekommen«, ging sie voller Freude schleunigst heraus, um ihn nach Nachrichten über ihre Eltern zu fragen. Sie sprach zu ihm:

»Väterchen, woher kommt Ihr?«

Er sagte zu ihr:

»Ich bin vom Himmel gekommen.«

Sie fragte ihn: »Kennt Ihr meine Eltern?«

Er antwortete:

»Ja, ich kenne sie.«

Die dumme Frau sprach:

»Sind sie wohlauf?«

Der schlaue Mann antwortete ihr:

»Ja, sie sind wohlauf, aber da ihnen die Kleidung ausgegangen ist und im Himmel jetzt Hungersnot herrscht, wird ihnen der Lebensunterhalt schwer. Sonst sind sie gesund.«

Die dumme Frau ging mit ihm in ihr Haus, und nachdem sie ihm Mittag zu essen gegeben hatte, gab sie ihm den wohlverwahrten schönen Rock ihres Gatten und seine ganzen Gerätschaften für ihren Vater und ihr eigenes schönes Kleid und ihre ganzen Gerätschaften für ihre Mutter. Und indem sie für ihren Unterhalt 200 Taler bestimmte, gab sie sie ihm, damit er es ihren Eltern geben sollte. Er sagte: »Jawohl!« Und als sie ihm alle jene Sachen, indem sie sie in einen Trommelsack hineintat, übergeben hatte, ging er mit ihnen schleunigst von dannen. Ein wenig später kam ihr Gatte nach Hause zurück. Sie erhob sich schnell und sprach zu ihm:

»Frohe Botschaft! Ich habe Nachricht von meinen Eltern erhalten.«

Er sprach zu ihr, indem er – erstaunt über ihre Dummheit  – sie zornig betrachtete:

»Von wem hast Du diese Nachricht gehört?«

Sie erzählte ihm:

»Als ich einen vom Himmel gekommenen Mann fand, hat er es mir gesagt. Deshalb habe ich, nachdem ich ihn zum Mittag habe essen lassen, Dein und mein Gewand mitsamt unserem Zubehör zusammengelegt und 200 Taler hinzugefügt und ihm dies alles gegeben, damit er es ihnen überliefere!«

Der Mann aber wurde sehr zornig und grimmig, und nachdem er sie sehr ausgescholten hatte, sprach er zu ihr:

»Jetzt habe ich keine Zeit, mit Dir zu reden; sage mir den Weg, auf dem er gegangen ist.«

Sie zeigte ihn ihm, indem sie sprach:

»Auf diesem Weg ist er gegangen.«

Da eilte er schnell, auf seinem Maulesel galoppierend, fort und erreichte ihn. Jener schlaue Mann aber erkannte, als er sich umdrehte und hinsah, daß der Hausherr zu ihm gekommen war. Deshalb verbarg er sich schnell im Wald und versteckte den Sack im Wald. Indem er nun um seinen Kopf alte Lumpen schlang und gleichsam wie ein lahmer Mönch sich auf seinen Stock stützte und hinkte, fing er an, seinen Weg zu gehen. Als der Hausherr ihn erreicht hatte, glaubte er, daß er in Wahrheit ein Mönch sei, und sprach zu ihm:

»Wie geht es Euch, mein Vater?«

Er antwortete:

»Gott sei Dank, wie geht es Euch, mein Herr?«

Der Hausherr sprach zu ihm:

»Wohin ist jetzt der Mann, der auf diesem Weg einen Trommelsack trug, indem er wanderte, gelangt?«

Er antwortete ihm:

»Er ist jetzt, indem er voller Bestürzung sich umblickte und lief, zu mir gelangt, und als ich ihn ansah, fragte er mich: ›Wer ist laufend zu mir gekommen, indem ich erschrak und herumging?‹, und kam an mir vorüber, indem er den Trommelsack trug und voll Furcht lief. Als ich ihn nun fragte: ›Wer bist Du?‹, antwortete er mir nicht. Vielmehr ging er an diesem Abhang, der vor uns ist, indem er kletterte und den Sack trug, herunter. Und jetzt ist er unten. Wenn Ihr schnell geht, werdet Ihr ihn erreichen.«

Der Hausherr sprach zu ihm:

»Mein Vater, haltet mir also bitte diesen Maulesel und wartet auf mich!«

Der Schlaue antwortete ihm:

»Mein Herr, ich bin ein schwacher Mönch, ich fürchte, daß er mich schlagen und, sich von mir losreißend, weglaufen wird. Wenn er aber fromm ist, würde ich ihn für Euch halten.«

Der Hausherr übergab ihn ihm mit den Worten: »Er ist fromm, fürchtet Euch nicht, haltet ihn mir nur«, und fragte ihn:

»Wie heißt Ihr?«

Der Schlaue antwortete ihm:

»Ich heiße Äbba Jähunnu Jebbas mit Namen!«

Darauf ging der Eigentümer dieses Maulesels schnell an diesem Abhang herunter, indem er kletterte. Zu dieser Zeit ritt jener Schlaue, indem er zurückkehrte und den Sack dort, wo er ihn versteckt hatte, aufhob und sich auf den Maulesen setzte, im Galopp davon. Der Eigentümer des Maulesels aber kehrte, nachdem er den Abhang hinuntergestiegen war und, den Schlauen im Wald vergeblich suchend, gewartet hatte, zu seinem Maulesel zurück. Er fand jedoch seinen Maulesel nicht und sah keinen Menschen. Da rief er viele Male:

»Äbba Jähunnu Jebbas!«

Er fand aber niemanden. Da erkannte er, daß der, der seinen Maulesel fortgeführt hatte, jener Schlaue war, der – seine Frau betörend – sein ganzes Geld fortgenommen hatte. Darauf kehrte er, indem er vor Trauer und Gram sich die Lippe zerbiß und sich auf die Hände klopfte und mit den Fingern knackte, nach Hause zurück. Seine Nachbarn und seine ganze Familie versammelten sich und fragten ihn:

»Wie kommst Du, hast Du ihn gefunden, hast Du ihn nicht gefunden?«

»Gefunden habe ich ihn wohl; allein, ich habe ihn entlassen, nachdem ich ihm noch einen Maulesel dazugegeben habe.«

Sie fragten ihn nun:

»Aus welchem Grund hast Du ihm auch Deinen Maulesel gegeben?«

Er erzählte ihnen von Anfang bis zum Ende, wie jener Schlaue ihn betrogen und alles, was er getan hatte. Darauf kehrte die Hälfte von ihnen, indem sie ihn wegen seiner Dummheit auslachten, nach Hause zurück. Die andere Hälfte aber sagte:

»Es war nicht seine Dummheit, sondern die Dummheit seiner Frau. Deshalb darf man nicht lachen, sondern man muß von einer solchen Sache sagen, sie möge nicht passieren«, und kehrten, indem sie über die Trauer, die ihn erreicht hatte, traurig waren, nach Hause zurück.

Als er darauf seiner Frau erzürnt Ratschläge gab, sprach er zu ihr:

»Durch Deine Dummheit bin auch ich wie ein Dummer gewesen. Du, unterlaß diese Dummheit, bitte. Also wiederhole eine solche Sache nicht, bitte. Kaufe Dir Herz (= Verstand)!«

Als er ihr diesen Rat gegeben hatte und ins Freie hinausgegangen war, trat jener Schlaue, der – indem er sich im Hofe befand – zugehört hatte, nachdem er einen Vogel getötet und dessen Herz herausgenommen hatte, mit diesem in den Eingang ihres Hauses und rief:

»Wer ein Herz kauft, melde sich!«

Da ging sie schnell hinaus und sprach zu ihm:

»Wieviel beträgt der Preis?«

Er antwortete ihr:

»Der Preis ist 100 Taler.«

Diese dumme Frau kaufte, indem sie dachte, sie würde dadurch ihren Mann erfreuen, dieses Herz des Vogels für 100 Taler und band es sich, es wie ein Amulett auf eine Schnur ziehend, um ihren Hals. Als nun ihr Mann kam, sagte sie zu ihm:

»Seht, da Ihr in mich drangt, indem Ihr spracht: ›Kauf Dir Herz‹, habe ich mir heute ein schönes Herz gekauft.«

Als er nun mit den Worten »Es ist recht!« auf sie blickte, sah er das Vogelherz, auf einer Schnur aufgezogen, an ihrer Brust hängen. Da erfüllte ihn ein großer Zorn, und im Zorn fragte er:

»Zu welchem Preis hast Du es gekauft?«

Sie antwortete ihm:

»Für 100 Taler habe ich es gekauft.«

Da aber sprach er:

»Mein ganzes Geld hast Du mir durch Deine Dummheit zugrunde gerichtet, und zum Gegenstand des Gespötts und Geschwätzes aller Menschen hast Du mich gemacht.«

Und er tötete sie, indem er mit einem Stein nach ihrem Herzen warf.

 

Sprichwort

Unverstand und Verstandeslosigkeit führen zum Tode.

95. Der Jäger und seine Frau

Einst ging ein Dalau mit seiner Frau durch die Wälder. Die Frau trug auf ihrem Rücken einen Jungen bei sich. Als sie einen Fluß erreichten, sprach der Gatte zu der Frau:

»Ihr erwartet mich hier an diesem Ufer. Ich werde übersetzen und auf die Jagd gehen.«

»Ist gut!« sagte sie.

Als er weitergezogen war, rief er:

»Komm, Du! Komm, Du!« Nachdem sie den Jungen auf die Erde gelegt hatte, überschritt sie den Fluß. Nachdem sie den Fluß überschritten hatte, eilte sie dahin, von wo er gerufen hatte. Er sprach:

»Ich habe diese Antilope mit meinem Hirschfänger getötet! Beladen wir uns mit dem Fleisch.«

»Geht in Ordnung!« sagte sie.

Sie hatte es gesagt, und sie begannen ihre Arbeit. Als sie fertig waren, setzten sie wieder an das andere Ufer über. Und als sie ihren Jungen suchten, fanden sie ihn nicht. Da sprach er: