image

Titel

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book-Shop, gekauft hat.
Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

ISBN 978-3-7751-7222-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5563-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: The Dancing Master
Copyright © 2013 by Julie Klassen
Published by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
Cover art used by permission of Bethany House Publishers. All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: SuNSiDe, Reutlingen
Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz;
www.oha-werbeagentur.ch
Titelbild: Mike Habermann, Photography
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg




Zu Ehren von
Aurora Villacorta
die über zwanzig Jahre Tanzlehrerin an der Universität von Illinois war.
Danke, Miss V.

Das, was ich bei Ihnen gelernt habe, ist mir immer gegenwärtig. Sie haben uns nicht nur Tanzschritte, sondern unendlich viel mehr beigebracht – Anstandsregeln, Umgangsformen, Anmut, Höflichkeit. Es waren Ihre Kurse, die mir in meinen Collegejahren die größte Freude gemacht haben.
Ich werde Sie nie vergessen.

Ornament




Mr J. Dawson, Professor für Tanz und Fechtkunst, hat die Ehre, seine Rückkehr aus London anzuzeigen, und möchte zugleich in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass er in der Zeit seiner Abwesenheit von der Unterweisung und Erfahrung exzellenter Lehrer profitiert hat. Mr J. D. hat Kenntnisse in allen neuen modernen Tänzen erworben, den berühmten Galopps, den spanischen Tänzen und vielen anderen, und hofft daher, mit seinem Angebot großen Anklang in der Öffentlichkeit zu finden.

The West Briton, 1829

Ornament

Quadrillen, Walzer, Menuette, Kontertänze lehrt in nur sechs privaten Unterrichtsstunden für den Preis von einer Guinee Mr Levien, Tanzmeister.

26 Lower Charlotte Street, Bedford Square.

Zwei Mal die Woche Abendunterricht für zwei Guineen im Vierteljahr.

Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag Tanzunterricht für Jugendliche: Haus- und Schulbesuche möglich.

The (London) Times, 1821

Ornament

Welcher Ort könnte geeigneter sein, um die ständig wechselnden Moden und Sitten zu beobachten, die Menschen und ihre Eigenheiten zu studieren, sich an Schmeicheleien zu ergötzen, ohne ihnen zu viel Bedeutung beizumessen, gute Manieren und verbindliche Umgangsformen zu lernen, ohne tiefe Zuneigung zu empfinden, und noch dazu Anmut ohne Übermut, Fröhlichkeit ohne Krawall, Würde ohne Hochmut und Freiheit ohne Leichtsinn zu erleben?

Thomas Wilson, Tanzlehrer, An Analysis of Country Dancing, 1811

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

Epilog

Nachwort der Verfasserin

Leseempfehlungen

Prolog

KapitelOrnament

1. Mai 1815
Beaworthy, Devonshire, England

Wir begingen den Ersten Mai wie üblich. Wir zogen uns schön an und fuhren in dem schwarzen Landauer von Buckleigh Manor nach Beaworthy. So war es Tradition, sagte meine Mutter. Aber ich wusste, dass sie noch einen anderen Grund hatte, an diesem besonderen Tag ins Dorf zu fahren. Lady Amelia Midwinter wollte zeigen, dass sie existierte – damit niemand es wagte, diese Tatsache zu ignorieren.

Wir fuhren zuerst zum Blumenladen und kauften zwei Sträuße – Maiglöckchen und Vergissmeinnicht.

Als Nächstes hielt unser Kutscher Isaacs an der Ecke High Street und Green, wie immer ohne einer Aufforderung zu bedürfen.

Der junge Stallbursche half meiner Mutter beim Aussteigen. Sie drehte sich um und schaute mich an, doch ich ignorierte sie und blieb trotzig in der Kutsche sitzen. Hier ging es um ihre Tradition, nicht um meine.

Sie überquerte die Straße und legte einen der beiden Sträuße vor der Markthalle ab – dem Handelsplatz auf der kleinen Grünfläche in der ansonsten gepflasterten High Street. Es war der Ort, an dem er gestorben war.

Vergissmeinnicht. Niemals.

Dann kam sie zur Kutsche zurück, doch wir fuhren nicht sofort weiter, sondern blieben noch ein paar Minuten schweigend sitzen und warteten auf das Mittagsgeläut der Kirchenglocken.

Bim, bam, bim, bam …

Als das Läuten verklang, schob sie mit einer anmutigen Bewegung einer ihrer schlanken Finger den Samtvorhang beiseite und blickte auf die Straße hinaus. Einen Augenblick lang blieb ihr Gesicht völlig unbewegt, dann öffnete sich ihr Mund vor Überraschung. Gleich darauf jedoch presste sie indigniert die Lippen zusammen.

»Was ist denn?«, fragte ich und in meinem trotzigen Herzen keimte eine rebellische Hoffnung. Ich rutschte auf ihre Seite hinüber und spähte ebenfalls aus dem Fenster.

Dort, vor dem Dorfanger, stand eine ältere Frau. Sie war zart wie ein Vögelchen. Mit einer Hand raffte sie ihren Rock zusammen, die andere Hand hielt sie in die Höhe. Sie blickte sich um, als warte sie auf jemanden, und einen Moment lang fürchtete ich, sie würde vielleicht ganz allein in dieser Haltung mitten auf der Straße stehen gelassen werden.

Doch dann humpelte hinter der Markthalle ein Mann hervor. Er nahm seine Schürze ab und verneigte sich vor der Frau. Die Frau knickste höflich. Als sie ihn schüchtern anlächelte, sah sie mit einem Mal zwanzig Jahre jünger aus.

Er bot ihr seine Hand, sie legte die ihre hinein. Dann gingen sie langsam zusammen die High Street hinauf, in einem seltsamen Rhythmus – Schritt, Schleifschritt. Schritt, Schleifschritt. Schließlich blieben sie voreinander stehen, reichten sich beide Hände und drehten sich im Kreis.

»Was machen sie da?«, fragte ich verwundert.

Meine Mutter entgegnete schnippisch: »Wonach sieht es wohl aus?«

»Wer ist das? Kennst du sie?«

Sie antwortete nicht.

Ich blickte zu ihr hinüber und sah, wie ein Schwall an Gefühlen über ihr Gesicht glitt: Ärger. Schmerz. Sehnsucht.

»Wer ist das?«, flüsterte ich erneut.

Sie schaute unverwandt aus dem Fenster, blickte dem Paar nach, das langsam seinen Weg fortsetzte und aus unserem Blickfeld verschwand, ohne seine seltsame Schrittfolge zu unterbrechen.

Meine Mutter holte tief Luft und hielt ihre Empfindungen – welche auch immer es gewesen sein mochten – mit eiserner Faust im Zaum. »Ein Mr und eine Mrs Desmond, glaube ich.«

»Ich glaube nicht, dass ich sie kenne.«

»Nein, Julia. Du kennst sie nicht. Sie leben … außerhalb der Stadt.«

Ich spürte, wie sich mein Gesicht verzog. »Dann kennen sie … die Regel nicht?«

»Sie kennen sie.«

Ich schaute meine Mutter an, doch sie wandte die Augen ab und klopfte mit dem Spazierstock ihres Vaters gegen das Dach.

Als der Kutscher das bekannte Signal hörte, trieb er die Pferde an und wir fuhren weiter.

Wir fuhren nach Buckleigh zurück. Unterwegs hielten wir vor dem Friedhof des Anwesens. Meine Mutter stieg zuerst aus. Mit einer Handbewegung entließ sie den Stallburschen, der mit einem Schirm wartete. Ich kletterte ebenfalls aus der Kutsche. Als der junge Bursche mir die Hand bot, lächelte ich kokett und sah erfreut, dass er rot wurde.

Es war ein grauer, wolkenverhangener Tag. Der kalte Nieselregen drang schon bald durch mein Cape und ließ mich erschaudern.

Ich folgte meiner Mutter, vorbei an den mit Flechten überwachsenen Gräbern und Grabsteinen. Schließlich blieben wir vor der Grabstätte unserer Familie, einem mit Steinen eingefassten Areal, stehen. Massige, eindrucksvolle Grabsteine reihten sich aneinander wie matte Edelsteine in einem makabren Armband. Ich las die Grabinschrift ihres Bruders.

Graham Buckley, Lord Upcott
Geboren am 4. Januar 1776
Gestorben am 1. Mai 1797
Geliebter Sohn und Bruder

»Einundzwanzig Jahre alt«, murmelte ich. »So jung.«

»Ja«, flüsterte sie.

»Wie ist er gestorben?«, fragte ich – wie jedes Jahr in der Hoffnung, dass sie mir irgendwann die ganze Geschichte erzählen würde.

»Er wurde in einem Duell getötet.«

»Wer hat ihn getötet?«

»Ich möchte den Namen nicht aussprechen.«

Mein Blick wanderte vom Grabstein des Onkels, den ich nie kennengelernt hatte, zu dem meiner Tante, die ich ebenfalls nicht kannte. Sie war bei einer Entbindung gestorben, als ich selbst noch nicht geboren war.

Lady Anne Tremelling
Geboren am 5. Dezember 1777
Gestorben am 9. Dezember 1797
Geliebte Tochter und Schwester

Ich nickte zum Grabstein ihrer Schwester hinüber. »Sie ist kaum ein Jahr später gestorben.«

»Ja.«

Meine Mutter bückte sich und legte den Maiglöckchenstrauß auf das Grab ihres Bruders.

Maiglöckchen. Tränen und Bescheidenheit.

Sie richtete sich wieder auf. »Wir müssen uns beeilen, Julia. Deinem Vater geht es heute gar nicht gut.«

»Ja, ich war erstaunt, dass du heute überhaupt hierherkommen wolltest.«

»Es ist Tradition.«

Ich warf ihr einen Blick von der Seite zu.

»Wie ich sehe, hältst du dich in erster Linie an deine ganz persönlichen Traditionen.«

Das bezog sich auf den Maifeiertag, der in Beaworthy seit zwanzig Jahren keine Beachtung mehr fand. Ich kannte die Gerüchte über die alte Sitte und ihren Niedergang.

Mutter wandte sich wortlos der Kutsche zu und ich versuchte, den Stachel der Ablehnung in dieser Geste zu ignorieren, so wie sie meine scharfe Zunge ignoriert hatte.

Ich folgte ihr. »Worum ging es bei dem Duell?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht. Der Stallbursche, der uns kommen sah, öffnete den Schlag.

»Warum legst du keine Blumen auf das Grab deiner Schwester?«, bohrte ich weiter. »Warum nur auf das deines Bruders?«

Mit einem Blick auf den Stallburschen sagte meine Mutter ruhig: »Darüber reden wir ein anderes Mal. Nicht jetzt. Wir haben deinen Vater schon viel zu lange allein gelassen.«

Ich bezweifelte, dass ihm meine Abwesenheit etwas ausmachte. Genau genommen bezweifelte ich, dass er überhaupt einen Gedanken an mich verschwendete.

Am nächsten Tag ging mein Vater von uns. In der Zeit unmittelbar nach seinem Tod, geprägt von Trauergästen und Bombasin-Gewändern, dem Begräbnis und der Auswahl des Grabsteins, begruben wir mit meinem Vater auch meine Fragen – in dem klaren Bewusstsein, dass sie eines Tages wiederauferstehen würden.

1

KapitelOrnament

Ihre Ladyschaft war ausgeritten und trug noch immer ihr langes Reitkleid … Sie tanzte einen furiosen Tanz, bei dem sie auf spielerische Weise ihre Reitgerte einsetzte.

Ein neuer, ausgezeichneter Tanzlehrer:

The Journal of Joseph Lowe
5. November 1816
Beaworthy, Devonshire, England

Julia Midwinter trat zu den Einwohnern von Beaworthy, die auf dem Platz zwischen der Dorfkirche und der Herberge zusammengekommen waren. Julias Mutter, Lady Amelia, richtete schon seit Jahren keine Feier zum Ersten Mai mehr aus, doch im Dorf hatte man die alte Tradition beibehalten. Ihre Mutter ließ sich selten dabei sehen, doch sie erlaubte es Julia, zusammen mit ihren Nachbarn, den Allens, daran teilzunehmen. Jedes Jahr am fünften November scharten sich die Dörfler um einen massiven Stein – über einen Meter breit und fast zwei Meter hoch und bestimmt über eine Tonne schwer, so jedenfalls die Schätzung eines angeblich berühmten Fachmanns, von dem noch nie zuvor jemand gehört hatte, bis er Beaworthy vor einigen Jahren besuchte.

An jenem Tag vor etlichen Jahren hatte Julia am Rand der Menge gestanden und zugesehen, wie der Fachmann den Stein mit großem Interesse begutachtete.

Zuerst betrachtete er ihn eingehend durch ein Vergrößerungsglas und erklärte anschließend, einen solchen Stein gäbe es in ganz Südwestengland, ach was, in ganz England nicht noch einmal. Dann kratzte er sich am Kinn und stellte Erwägungen darüber an, wie der Stein wohl hierhergekommen war.

Julia hätte es ihm sagen können. Jeder im Dorf hätten es ihm sagen können, doch sie hatten alle ihren Spaß an der Ratlosigkeit des Fachmanns, an der schlichten Tatsache, dass sie etwas wussten, was dieser gebildete Mann nicht wusste. Jedes Kind in Beaworthy hatte, auf dem Schoß seines Großvaters sitzend, die Geschichte gehört: Der Stein war dem Teufel aus der Tasche gefallen, als er vom Himmel in die Hölle gestürzt war. Und deshalb drehten die Männer, die die Kirchenglocken läuteten, den Stein jedes Jahr am fünften November um; auf diese Weise hielten sie nämlich den Teufel fern.

Doch dieses Jahr war alles anders. Den Männern, die gewöhnlich die Kirchenglocken läuteten, gelang es nicht, den Stein umzudrehen, so sehr sie sich auch anstrengten. Julia, die mit Sir Herbert Allen und seinen Söhnen dabeistand, überlegte, ob die Männer vielleicht zu alt und zu schwach für die Aufgabe geworden waren.

Leute aus dem Dorf kamen ihnen zu Hilfe. Sie setzten starke Pfosten als Hebel ein, dazu ihre ganze Kraft, erworben in Ziegeleien, Schmieden und bei der Feldarbeit. Weitere Männer mit weiteren Stäben schlossen sich ihnen an, darunter auch Sir Herbert und seine Söhne. Doch der Stein rührte sich nicht vom Fleck.

Sir Herbert meinte, es könne daran liegen, dass der Boden schon besonders früh gefroren war. Er erntete nur Kopfschütteln; eine solch bodenständige Erklärung wurde von den meisten abgelehnt. Nein, das konnte einfach nur eines bedeuten.

Der Teufel war zurückgekehrt.

Die besonders Abergläubigen sahen darin ein Omen schrecklicher Dinge, die über sie hereinbrechen würden. Doch in einem waren sich alle einig: Eine einschneidende Veränderung lag in der Luft.

Julia Midwinter hoffte von Herzen, dass sie recht behielten.

Alles, was eine Abwechslung in die träge verstreichenden Tage mit ihren endlosen Gottesdiensten und feierlichen Mahlzeiten bringen würde, war ihr willkommen. Die Tage vergingen mit Näharbeiten für gemeinnützige Zwecke, an den Abenden las man Fordyces Predigten für junge Frauen, den Gnadenspiegel und ein paar höchst langweilige Romane, die ihre Mutter als angemessen für junge Damen erachtete. Julias einzige Abwechslung waren die wenigen Ausflüge oder eher Fluchten zu ihrer besten Freundin, Patience Allen. Und ihr Pferd Liberty.

Doch der November, der Dezember und auch der Januar gingen vorüber, ohne dass die ersehnte Veränderung eintrat, und Julia mit ihren neunzehn Jahren wurde zunehmend ruheloser. Die Trauerzeit für ihren Vater war ebenfalls vorüber, doch die Langeweile war geblieben. Immerhin musste sie sich jetzt nicht mehr abmühen, seine Anerkennung zu erringen.

Ornament

An einem grauen Februartag ritten Julia und Patience zusammen durch die weitläufigen Ländereien von Buckleigh Manor. Sie folgten einem Weg durch den Wald, welcher allmählich aus seinem Winterschlaf erwachte – Efeu und Moos färbten sich bereits grün, doch die knorrigen Äste über ihnen waren noch kahl. Ein paar mutige Vögel zwitscherten bereits fröhliche Melodien – wenn auch mit etwas eingerosteten Stimmen. Vielleicht hofften sie wie Julia, dass der Frühling dieses Jahr schon bald kommen würde.

Vor ihnen öffnete sich der Wald zu einem Tal hin, im Westen begrenzt von einer Hecke. Julia lief ein unverschämt köstlicher Schauer über den Rücken und ein Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. Sie beugte sich über Libertys Hals und trieb die Stute mit Händen und Stimme zum Galopp – die Reitpeitsche, die sie hielt, war nur Zierrat. Niemals würde sie ihr Pferd schlagen.

Undeutlich hörte sie noch, wie Patience rief, dass die Hecke viel zu hoch sei, doch Julias Pferd war schneller als ihres und Julia eine sehr viel bessere Reiterin, sodass die Worte ihrer Freundin nichts als ein fernes Summen waren. Julia ritt sehr selbstbewusst und saß im Damensattel so sicher wie jeder Mann in einem normalen Sattel. Berauscht vom Wind, der Geschwindigkeit und einem herrlichen Gefühl von Freiheit, gab sie Liberty den Kopf frei. Das schöne Pferd galoppierte mit voller Kraft direkt auf die Hecke zu, welche die Ländereien ihrer Mutter begrenzte wie eine Gefängnismauer. Dahinter lag Devonshire, lag England – lag die Welt.

Patience rief noch ein letztes Mal: »Sie ist zu hoch!«

Den Bruchteil einer Sekunde bereute Julia, dass sie die Beine und das Leben ihrer geliebten Liberty aufs Spiel setzte, doch es war zu spät.

Liberty sprang und einen gesegneten Augenblick lang spürte Julia, wie das Gewicht der Welt von ihr abfiel. Sie flog. Sie floh.

Das Pferd kam auf dem schweren Boden auf der anderen Seite der Hecke auf, Julia kämpfte um ihr Gleichgewicht und es gelang ihr nur mit Mühe, im Sattel zu bleiben. Liberty lahmte leicht und Julia hoffte, dass sie sich beim Aufkommen nichts in den Huf getreten hatte.

Mit einem »Ho« verlangsamte sie ihr Pferd zum Schritt, dann wendete sie es mit einem leichten Schenkeldruck und einem noch leichteren Zug am Zügel. Ein paar Meter entfernt befand sich ein Zauntritt, damit Fußgänger, nicht aber Vieh, die Hecke passieren konnten. Dort wollte sie absteigen und Libertys Hufe prüfen; allerdings würde sie wohl ohne Hilfe nicht wieder aufsteigen können. Was soll’s, dachte Julia, sie konnte ihr Pferd auf dem Rückweg auch führen.

Sie hob ihr Knie über das Sattelhorn, bückte sich nach dem Zauntritt und ließ sich auf die erste Stufe hinabgleiten. Dann schob sie sich die Reitgerte unter den Arm, bückte sich erneut und hob zuerst das eine, dann das andere Vorderbein ihres Pferdes an.

Patience holte sie ein paar Minuten später ein. Sie hatte einen kleinen Umweg durch das Westtor nehmen müssen.

Sie sah Liberty besorgt an. »Ist sie in Ordnung?«

»Ich glaube, ja.«

»Und du?«

Julia grinste. »Hab mich nie besser gefühlt.«

Patience erwiderte ihr Lächeln nicht, aber wenigstens schimpfte sie nicht – was Julias Mutter bestimmt tun würde, wenn sie von dem Sprung erfuhr.

Julia setzte Libertys Bein ab, nahm die Zügel und machte sich daran, ihr Pferd nach Hause zu führen. Patience ritt langsam neben ihr her.

Am Westtor vernahmen sie plötzlich Stimmen und Julia blieb stehen, um zu lauschen.

Patience zügelte ihr Pferd. »Was …?«

Julia hob eine Hand und bedeutete ihr zu schweigen. Die Stimmen kamen von der anderen Seite des alten Torhauses, das schon seit Langem leer stand. Sie klangen nicht vertraut. Und vor allem nicht angenehm.

Sie schlang Libertys Zügel um den Ast eines Baums und flüsterte ihrer Freundin zu. »Warte hier.«

»Julia, nicht!«, zischte Patience. »Es könnte gefährlich sein.«

Julia ignorierte die Warnung. Sie schlich auf Zehenspitzen über den feuchten Boden, die Gerte wie eine Waffe in der Hand. Dann drückte sie sich an der Wand des Torhauses entlang und spähte vorsichtig um die Ecke.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriffen hatte, was sich vor ihr abspielte. Ein korpulenter Mann hielt einen schmächtigen jungen Mann in Arbeitskleidung und Mütze in fester Umklammerung. Ein anderer Mann, mit drahtiger Figur und strähnigem blondem Haar, belästigte eine junge Frau. Er hielt ihre Hand fest und schwenkte sie herum.

»Komm schon, Liebchen«, drängte er mit öliger, weicher Stimme, »lass uns sehen, wie du hopst. Tanzen im Geist, so nennt ihr das doch, oder?« Julias anfängliche Empörung wich rasch flammendem Zorn, als sie zwei der Beteiligten erkannte: die widerlichen Wilcox-Brüder.

Sie trat vor, die Reitgerte parat. »Lassen Sie sie los, Mr Wilcox.«

Felton Wilcox wandte sich um, seine stechenden grünen Augen verengten sich. »Ach, sieh mal an. Wenn das nicht Miss Hochnäsig ist, die ihre Nase wieder in Angelegenheiten steckt, die sie nichts angehen.«

»Ich sagte, Sie sollen sie loslassen.«

»Ach kommen Sie schon, Miss«, wiegelte der jüngere Wilcox ab. »Das sind doch nur zwei von den Kanzelpaukern. Ich will sie doch nur ein bisschen singen und rumhüpfen sehen, wieʼs bei denen üblich ist.«

»Lassen Sie sie los!«, rief nun der junge Mann und wehrte sich heftig gegen Joes Griff.

Joe Wilcox rammte ihm das Knie in den Rücken.

»Benjamin!«, schrie die junge Frau.

Felton Wilcox drückte ihr mit eiserner Hand die Wangen zusammen. Der Druck war so stark, dass die Lippen der jungen Frau aussahen wie ein Fischmaul.

»Träller doch ein bisschen, du hübsche Abweichlerin. Los, mach schon!«

»Ich singe zum Lob Gottes«, brachte das Mädchen mühsam heraus, »nicht, um Spötter zu amüsieren.«

»Warte, du …« Felton runzelte wütend die Stirn und hob die Hand, als wolle er sie schlagen.

In diesem Moment zog Julia ihm die Gerte über das Handgelenk.

Felton sprang zurück, gleichermaßen erschrocken über den Schlag wie über Julias Mut.

Er fuhr zu ihr herum und hob erneut die Hand, doch dann zögerte er.

Julia wich keinen Schritt zurück, sondern starrte ihn herausfordernd an. »Vielleicht glauben Sie ja, dem Wachtmeister ist es egal, wenn er hört, dass Sie diese Leute belästigt haben. Aber ich versichere Ihnen, wenn Sie es wagen, Hand an mich zu legen, werden Sie aufgehängt.«

Er schüttelte sich das strähnige Haar aus der Stirn und schnaubte: »Hexe!«

Julia hob zornig die Gerte und ließ sie zischend durch die Luft sausen. Doch Felton entriss sie ihr.

Drohend hob er die Gerte, seine Schlangenaugen glitzerten bösartig. »Wer sagt denn, dass ich Hand an Sie lege …«

Aus der Ferne vernahm man das Geräusch von Pferdehufen. Julia ließ Felton nicht aus den Augen, doch dieser blickte zum Westtor hinüber und runzelte die Stirn. Dann warf er die Gerte mit einer plötzlichen Bewegung weg und drehte sich zu seinem Bruder um.

»Los, komm. Das hier sollte eine Privatparty werden, aber unsere ungeladenen Gäste haben sie verdorben.«

Joe versetzte dem jungen Mann noch einen hinterhältigen Stoß, sodass er zu Boden fiel, dann lief er mit für einen so schwerfälligen Mann überraschender Geschwindigkeit hinter seinem Bruder in den Wald.

Der schmächtige junge Mann rappelte sich auf und machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch das Mädchen packte ihn am Arm. »Benjamin, nicht. Lass sie laufen. Mir ist nichts passiert.«

Er löste den Blick von den verschwindenden Gestalten und sah sie an. »Wirklich?«

»Ja, es geht mir gut.« Sie wandte sich an Julia. »Ich weiß, dass Sie es gut gemeint haben, Miss. Aber Sie hätten ihn nicht schlagen sollen. Wir sollen auch die andere Wange hinhalten.«

Julia hob die Brauen. »Wenn Sie das möchten, können Sie es gern tun. Aber Felton Wilcox wird das zweite Mal nur umso härter zuschlagen.«

Das Mädchen warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Wie Sie es getan haben?«

Julia war fassungslos. »Ich wollte Ihnen doch nur helfen.«

Der junge Mann legte dem Mädchen eine Hand auf den Arm und sah Julia an. »Ich bin Ihnen dankbar, Miss. Wirklich. Ich schäme mich nur, dass ich Tess nicht selbst beistehen konnte.«

»Machen Sie sich nichts draus«, tröstete Julia ihn. »Die Wilcoxes sind beide Ringer-Champions hier in der Gegend. Sie waren nicht der Erste, den sie zu Boden geschickt haben, und Sie werden auch nicht der Letzte sein.«

Er hob seinen Hut auf und verbeugte sich. »Ich bin Ben Thorne und das ist meine Schwester Tess. Noch einmal vielen Dank, Miss Midwinter.«

Sie kannten ihren Namen, fiel Julia auf, obwohl sie die ihrigen nicht gekannt hatte. Sie glaubte zwar, die beiden schon einmal flüchtig gesehen zu haben, doch sie waren einander noch nicht vorgestellt worden.

Die Reiter langten bei ihnen an – ein Wirbel aus donnernden Hufen und aufspritzenden Erdbrocken.

»Bist du in Ordnung?«, fragte James Allen, während er elegant vom Pferd glitt, das gut aussehende Gesicht angespannt vor Sorge.

»Ja. So ziemlich jedenfalls.«

Sein Bruder Walter stieg ebenfalls vom Pferd. Dabei blieb er mit dem Fuß im Steigbügel hängen, hüpfte herum, um das Gleichgewicht zu wahren, und befreite seinen Fuß schließlich mit einem verzweifelten Ruck, bei dem sein Hut zu Boden fiel.

Miss Thorne trat vor, bückte sich, hob den Hut auf und streckte ihn ihm hin. »Alles in Ordnung?«, fragte sie freundlich.

Walter wurde rot. »Ja, Miss. Danke, Miss.«

James behielt Julia fest im Blick. »Patience kam uns entgegengeritten und sagte uns, dass du in Schwierigkeiten bist.«

Das hatte sie getan? Julia hatte gar nicht gehört, dass sie fortgeritten war. »Die Wilcox-Brüder«, erklärte sie. »Sie haben die beiden belästigt. Aber jetzt sind sie weg.«

Ben Thorne nickte. »Miss Midwinter und ihre Reitgerte haben sie überzeugt, dass es besser ist, uns zu verlassen.«

James Allens blonde Brauen hoben sich. »Reitgerte? Das war nicht gerade klug, Julia. Jetzt sinnen die beiden bestimmt auf Rache!«

»Zum Glück bist du ja vorbeigekommen.«

Walter, fiel ihr auf, starrte noch immer die junge Tess an. Sie war eine liebliche Erscheinung, ein zartes, wildes Elfenwesen, mit ihrem schulterlangen, rotbraunen Haar und den riesigen braunen Augen.

Armer Walter. Der große junge Mann war schrecklich schüchtern im Umgang mit Frauen – und nun gar eine hübsche Frau in seinem Alter? Gütiger Himmel! Mit seinem unscheinbaren hellbraunen Haar, den traurigen Augen und den leider etwas unglücklich geformten Ohren würde wohl keine Frau auf der Welt ihn als gut aussehend bezeichnen, obwohl er ein durchaus ansprechendes Gesicht hatte.

Noch bevor Julia die Anwesenden bekannt machen konnte, kam Patience herangaloppiert. Ihr Haar, das noch heller war als Jamesʼ goldene Locken, tanzte um ihre Wangen, die von einem frischen, roten Hauch überzogen waren. Arme Patience. Die sittsame junge Dame blieb normalerweise in jeder Situation völlig gelassen. Julia hatte sie noch nie so schnell reiten sehen, dennoch hatte sie offenbar nicht mit ihren Brüdern mithalten können.

Völlig außer Atem stieß sie hervor: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, meine Liebe«, sagte Julia. »Und danke. Danke, dass du die Kavallerie gerufen hast.«

Ornament

Am Sonntag saß Julia Midwinter in ihrer gewohnten Kirchenbank in St. Michael, neben ihrer Mutter und ihrer Freundin Patience. Der Pfarrer, Mr Bullmore, stand über ihnen auf der erhöhten Kanzel und leierte seine Predigt herunter. Julia hörte gar nicht mehr zu. Der Pfarrer hatte eine Vorliebe für hochgestochene Formulierungen, die er gern und reichlich benutzte; anscheinend genoss er den Klang seiner eigenen Stimme. Doch schlimmer noch, der Mann erinnerte Julia an ihren Vater. Jedes Mal, wenn er sie anschaute, wirkten seine Augen kalt und missbilligend. Wie die Augen ihres Vaters es immer gewesen waren.

Offenbar war der Sohn des Pfarrers aus Oxford zu Besuch gekommen. Cedric Bullmore wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten. Julia fragte sich, wo er wohl ein Auskommen finden mochte – vielleicht an einem fernen, aufregenden Ort? Sie beschloss, ein wenig mit dem jungen Mann zu flirten. Am besten fing sie gleich heute Nachmittag damit an.

Heiratsfähiger Sohn hin oder her, Julia zog es vor, wenn Mr Bullmore das Predigen dem netten alten Mr Evans überließ, dem Vikar. An besonderen Festtagen hielt Mr Evans weiterhin den Gottesdienst auf dem Buckleigh-Anwesen für die, die ihn gern hörten – in der Regel waren das Julia, Lady Amelia, die Allens und eine kleine Schar Diener und Pächter. Alle anderen schienen die neuere Dorfkirche vorzuziehen.

Julias Gedanken gingen auf Wanderschaft. Als sie zufällig über die Schulter auf den Mittelgang schaute, fiel ihr Blick auf einen Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er saß in Mr Ramsays Bank, ein paar Reihen hinter ihr. Der junge Mann hatte dunkles Haar und ein attraktives Profil – eine wohlgeformte Nase, ein festes Kinn und markante Wangenknochen. Seine hervorstechendste Eigenschaft war jedoch, dass sie ihn nicht kannte – er stammte bestimmt nicht aus Beaworthy.

Sie beugte sich zu Patience hinüber und flüsterte: »Wer ist das?«

Patience, die der Predigt zugehört hatte, löste sich einen Moment lang aus ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit und folgte Julias Blick. »Keine Ahnung«, flüsterte sie zurück.

Ohne den pflichtbewussten Blick von Mr Bullmore zu lösen, legte Lady Amelia ihre behandschuhte Hand leicht auf Julias Knie und bedeutete ihr damit, still zu sitzen und zu schweigen.

Ein paar Minuten später, die Gemeinde erhob sich gerade zu einem Lied, bemerkte Julia auch die Frau, die neben dem Fremden stand. Sie mochte Mitte vierzig sein, in strenges Schwarz gekleidet – wahrscheinlich seine Mutter. Und auf der anderen Seite der Frau stand ein schlankes, etwa siebzehnjähriges Mädchen. Seine Schwester, nahm Julia an.

Hoffte sie jedenfalls.

Als der Gottesdienst endlich vorbei war, schritt Julia hinter ihrer Mutter im Mittelgang nach vorn, um dem Pfarrer zu danken. Mr Bullmores kalte Augen glitten über Julia hinweg und richteten sich auf Lady Amelia.

Er lächelte sie an und sagte: »Ihre Ladyschaft, darf ich Ihnen ein paar Neuankömmlinge in unserer Gemeinde vorstellen?«

Julias Mutter neigte höflich den Kopf und drehte sich zu der Frau in Schwarz um.

»Lady Amelia Midwinter, darf ich Sie mit Mrs Valcourt, der Schwester von Mr Ramsay, bekannt machen?«

Die Frau lächelte schwach und neigte ebenfalls den Kopf. Julia konnte absolut keine Ähnlichkeit zwischen ihr und Mr Ramsay, dem rundlichen, steifen Anwalt, der ein paar Schritte entfernt stand, erkennen.

»Sehr erfreut«, sagte Lady Amelia in einem Ton, der nicht gerade zu einer Antwort ermutigte.

Der Pfarrer fuhr fort: »Und dies sind ihre Tochter, Miss Aurora Valcourt« – das hübsche Mädchen machte einen anmutigen Knicks – »und ihr Sohn, Mr Alec Valcourt.«

Der gut gekleidete Mann verbeugte sich gewandt. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Ihre Ladyschaft.«

Julia platzte heraus: »Sind Sie auf Besuch bei Mr Ramsay oder werden Sie hier leben?«

Ihre Mutter versteifte sich, als sie die vorlaute Frage hörte, doch dann drehte sie sich zu ihr um und sagte: »Das ist meine Tochter, Miss Midwinter.«

Mr Valcourt verbeugte sich erneut und die Damen knicksten.

Julia lächelte die Valcourts an. »Ich freue mich sehr, Sie alle kennenzulernen. Herzlich willkommen.«

Mr Valcourts Mutter sah gut aus, fand Julia, auch wenn ihre leicht hängenden Wangen und ihre etwas zu große Nase verhinderten, dass sie wirklich hübsch war. Und Schwarz stand ihr ganz und gar nicht. Seine Schwester hingegen war hinreißend mit ihrem braunen Haar, den leuchtend blauen Augen und ihrem liebenswürdigen, freundlichen Gesicht. Mr Valcourt selbst war sicher über einen Meter achtzig groß und von athletischem Körperbau – mit breiten Schultern, die sich zu einer schmalen Taille verjüngten. Er hatte dunkles, lockiges Haar; die Haare seiner Schwester hingegen waren glatt. Von vorn war sein Gesicht noch anziehender als im Profil. Volle Lippen, eine wohlgeformte Nase und blaugraue Augen. Doch er sah nicht nur besser aus bei näherer Betrachtung, sondern auch älter. Höchstwahrscheinlich mindestens fünfundzwanzig.

Julia schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln.

Doch anstatt es zu erwidern oder zu erröten oder sonst eine der Reaktionen zu zeigen, an die sie gewöhnt war, blinzelte er nur und wandte den Blick ab.

»Hm … was Ihre Frage betrifft«, antwortete Mrs Valcourt mit einem raschen Blick auf ihren Bruder, »Mr Ramsay hat uns freundlicherweise eingeladen, so lange bei ihm zu wohnen, wie wir wollen. Wie lange das sein wird, wissen wir noch nicht.«

»Ach so.« Julia nickte verständnisvoll, obwohl sie überhaupt nichts verstand. Das war eine unbestimmte Antwort, doch sie würde sich hüten, das Thema weiterzuverfolgen. Wahrscheinlich erwartete sie ohnehin bereits eine Strafpredigt wegen unziemlicher Neugier, sobald sie und ihre Mutter außer Hörweite waren.

Mrs Valcourt dankte Mr Bullmore für seine Predigt und die freundliche Aufnahme in seine Gemeinde.

Während die Frau mit dem Pfarrer sprach, trat Julia dichter an ihre Mutter heran und sagte leise: »Patience hat mich eingeladen, heute Nachmittag mit ihr auszureiten und danach ein wenig Handarbeit für den Frauenverein zu machen. Du hast doch nichts dagegen?«

»Am Sonntag?«

»Ja, sie besteht darauf.« Julia wandte sich an Patience, die mit einem kleinen, rothaarigen Mädchen sprach, das neben ihr stand. »Nicht wahr, Patience?«

Patience wandte sich um und blinzelte verwirrt mit ihren blassblauen Augen. »Bitte?«

»Ich habe Mama gerade gesagt, dass du mich heute Nachmittag eingeladen hast. Es ist dir doch sehr wichtig, oder?«

Ihre Freundin öffnete überrascht den Mund. »Ich … ja, richtig«, antwortete sie etwas stockend, doch dann fügte sie überzeugender hinzu: »Nichts würde mich mehr freuen.«

»Siehst du?« Julia strahlte ihre Mutter an. »Mädchen in unserem Alter plaudern eben gern miteinander und erzählen sich ihre Geheimnisse. Warst du als Mädchen nicht genauso?« Das war zwar etwas, das Julia sich bei ihrer dreiundvierzigjährigen Mutter beim besten Willen nicht vorstellen konnte, doch sie war fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen.

Die Augen ihrer Mutter verschleierten sich. »Ich hatte nur wenige Freundinnen, mit denen ich so vertraut war.«

»Aber du hattest eine Schwester, Patience und ich nicht.«

»Ja, das hatte ich«, sagte Lady Amelia mit seltsam abgehackter Stimme. »Nun gut, du darfst gehen. Aber der Stallbursche soll dich begleiten.«

»Mama, das ist doch nicht nötig. Es ist doch nicht einmal ein Kilometer von uns bis nach Medlands. Bis Tommy sein Pferd gesattelt hat, bin ich hin- und wieder zurückgeritten.«

»Ich bestehe darauf.«

»Gut. Aber er braucht nicht auf mich zu warten. Einer von den Allens kann mich zurückbegleiten.«

»Einverstanden.«

Ein Triumphgefühl stieg in ihr auf. Als sie sich abwandte, gestattete sie sich ein heimliches Lächeln der Befriedigung – bis sie sah, dass Mr Valcourt sie beobachtete.

Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Er sah sie wissend an und ihr war klar, dass er das Gespräch mit angehört hatte und sich nicht täuschen ließ. Sie öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, da drehte er sich wortlos um und begleitete seine Mutter und seine Schwester hinaus.

2

KapitelOrnament

Um 1706 hatte sogar das sauertöpfische Philadelphia eine Tanz- und Fechtschule, trotz der Proteste der Society of Friends.

Lynn Matluck Brooks, York County Heritage Trust

An seinem ersten richtigen Tag in Devonshire verließ Alec Valcourt die Dorfkirche mit Miss Midwinters hübschem Gesicht vor seinem geistigen Auge. Sie war schön, ja. Und sie wusste es. Sie erinnerte ihn an zu viele junge Damen, die er kannte und die Freude am Flirten hatten – und die ihre Tanz- und Verführungskünste an ihm erprobten, allerdings nur in der Hoffnung, irgendwann einen passenderen jungen Herrn in die Finger zu bekommen.

Alec hatte genug von dem Gespräch Miss Midwinters mit ihrer Mutter mit angehört, um zu merken, dass sie ihren Kopf durchzusetzen verstand. Ihre offensichtlichen Manipulationen hatten ihm Miss Underhill in ungute Erinnerung gerufen und er hatte sich abgewandt mit dem Entschluss, beide Frauen aus seinen Gedanken zu streichen.

Er hatte wahrlich an Wichtigeres zu denken.

Mit wehmütigen Gedanken an London, das er schon jetzt vermisste, schritt er neben seiner Mutter, der Schwester und einem Onkel, den er kaum kannte, durch das winzige Beaworthy. Als sie an der Herberge vorüberkamen, blickte er zu den Fenstern hoch und überlegte, ob das Haus wohl einen Saal besaß. Er würde irgendwann vorbeigehen und den Besitzer fragen müssen.

Onkel Ramsey lebte außerhalb des Dorfes in einem zweistöckigen, weiß getünchten Cottage mit Ziegeldach. Es gab einen kleinen Stall, eine Pferdekoppel und ein paar weitere Wirtschaftsgebäude. Als junger Teilhaber der Sozietät hatte er über der Anwaltskanzlei in der High Street gewohnt, doch nachdem er die Kanzlei gekauft hatte, war er in das Cottage gezogen. Jetzt teilten sich seine beiden Angestellten die Räume über der Kanzlei und er lebte allein in dem kleinen Haus, mit einer Haushälterin, die zugleich als Köchin fungierte, und einem Diener, der alles in Ordnung hielt.

Kurz nach ihrer Ankunft im Cottage nahmen Alec und seine Familie im etwas steifen Esszimmer ihres Onkels ein frühes Mahl an dem bescheidenen Junggesellentisch ein. Onkel Alec war nicht etwa arm – immerhin war er der einzige Anwalt in der Stadt und hatte zwei Angestellte –, doch anscheinend war er ziemlich knauserig und seine Haushälter-Köchin hatte gelernt, sparsam zu wirtschaften.

Alec hielt sich zurück, als er sich von dem Brathähnchen und den gekochten Kartoffeln nahm, damit die anderen auch noch etwas abbekamen. Er warf insgeheim einen Blick zu seiner Mutter und seiner Schwester hinüber und sah, dass sie sich ebenfalls beherrschten, eine winzige Kartoffel in allerwinzigste Stücke zerteilten und sie langsam und sorgfältig kauten, damit ihre Teller nicht vor dem ihres Onkels leer waren. Wenn ihr Onkel immer so speiste, hätte er ein spindeldürrer Mann sein müssen, doch das war er nicht. Im Gegenteil, seine Leibesmitte strafte seine karge Tafel Lügen.

Die Konversation war ebenfalls spärlich. Alecs Mutter hatte gestern Abend erklärt, warum sie hergekommen waren, und ihm vom Schicksal ihres Mannes berichtet. Cornelius Ramsay hatte nur ernst genickt, aber wenig gesagt.

Jetzt begann er plötzlich: »Was meint ihr – wir brauchen doch wohl niemandem zu erzählen, wie es dazu kam, oder? Es genügt, dass die Leute hier wissen, dass dein Mann euch verlassen hat und dass du deshalb hier lebst.«

Alec, seine Mutter und Aurora nickten in ernstem Einverständnis.

Nach dem Essen holte Alec seinen Geigenkasten heraus. Da er wusste, dass die Musik im ganzen Haus zu hören sein würde, und er unsicher war, ob sie seinem Onkel gefallen würde, nahm er das Instrument mit nach draußen. Es war ein kalter Februartag, doch er fand eine sonnige Bank, und da der kalte Wind hier von der Gartenmauer abgehalten wurde, war es sogar einigermaßen erträglich. Er setzte sich, holte seine Geige heraus, nahm den Bogen und begann zu spielen. Dabei sann er über seine Pläne nach.

Er hatte noch einen kleinen Stapel Broschüren aus London, in denen die Fecht- und Tanzstunden beschrieben wurden, die er in Privathäusern und an ihrer Schule gegeben hatte. Wenn er den unteren Teil wegschnitt, auf dem die Adresse der Valcourt-Schule und die wöchentlichen Kurstermine standen, konnte er sich damit bei den Schulen und den Familien der Mittelschicht und des Landadels hier am Ort vorstellen. Er würde wohl mit Privatunterricht anfangen. Sobald er dann genügend Schüler hatte und ausreichend verdiente, würde er ein passendes Haus in Beaworthy suchen und eine neue Schule eröffnen.

Dabei fiel ihm wieder die hübsche Miss Midwinter ein, der er heute Morgen in der Kirche begegnet war. Er nahm an, dass eine vornehme junge Dame wie sie bereits Tanzunterricht hatte, aber es konnte nicht schaden, wenn er trotzdem noch einmal nachfragte …

Aurora trat heraus, einen Wollschal um die Schultern, und setzte sich neben ihn auf die Bank. Während sie seinem Spiel zuhörte, wanderten ihre Blicke über den Garten, der in Winterruhe vor ihr lag, und über die stille Straße dahinter.

Nach ein paar Minuten fragte sie ruhig: »Das ist neu, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es ist eine Variation von Großvaters LʼAimable Vainqueur

»Ah!« Sie stand auf und begann mit zurückhaltenden, langsamen Tanzschritten, während Alec weiterspielte.

Ein Pferdekarren rumpelte vorüber und der Mann, der die Zügel hielt, drehte sich um und starrte sie an. Aurora hielt verlegen inne und wartete, bis der Mann außer Sicht war, dann tanzte sie weiter. Als Alec das Tempo beschleunigte, hob sie beide Arme und drehte sich in einer Pirouette, bei der sie beinahe ihren Schal verloren hätte.

»Aufhören! Was macht ihr da?«

Aurora wirbelte herum und ein zornroter Onkel Ramsay stand vor ihr. Schalt er sie, weil sie am Sonntag tanzte? Alec hatte am Sonntag zwar keinen Unterricht gegeben, doch ihre kleine Familie hatte nachmittags häufig ein oder zwei angenehme Stunden mit Musik und Tanzen verbracht.

Alec ließ die Geige sinken und stand auf. »Es tut mir leid, Onkel. War die Musik zu laut? Wir sind extra rausgegangen, damit wir dich nicht stören.«

»Aber gerade das tut ihr!« Er blickte zur Straße hinüber, dann winkte er ihnen. »Kommt rein, beide.«

Alec und Aurora wechselten einen betretenen Blick und folgten ihm durch die Tür ins Wohnzimmer, dabei fühlten sie sich wie ungezogene Kinder.

Mrs Valcourt, die drinnen saß, blickte von dem Buch mit Predigten auf, in denen sie gerade las.

Ihr Blick wanderte von ihren Kindern zu ihrem Bruder, dann runzelte sie besorgt die Stirn.

Onkel Ramsay sah sie an. »Tanzen wird hier in der Gegend nicht gern gesehen.«

»Du meinst am Sonntag?«, fragte Alec. »Aurora ist nur die Schritte einer Variation durchgegangen, die ich komponiert habe. Es war mein Fehler, sie hat keine Schuld.«

»Nein, nicht nur am Sonntag«, sagte Onkel Ramsay. »Tanzen ist hier ganz allgemein nicht gestattet.«

Aurora lächelte scheu. »Onkel, du scherzt, oder? Du weißt doch, dass Alec Tanzlehrer ist.«

Onkel Ramsay öffnete vor Überraschung den Mund, er war ganz offensichtlich wie vom Donner gerührt. »Was?«

Alec kroch eine entsetzliche Ahnung den Rücken hinauf, doch er riss sich zusammen und sah seinem Onkel furchtlos in die Augen. »Ich bin Tanz- und Fechtlehrer, Sir. Wie mein Vater und mein Großvater vor mir.«

Onkels Ramsays Gesicht verdüsterte sich. Er drehte sich zu seiner Schwester um. »Also wirklich, Joanna. Du hättest mir sagen sollen, dass dein Sohn die Familientradition fortsetzt, und zwar, bevor ihr hierherkommt.«

»Ich wusste, dass du es nicht billigen würdest«, antwortete sie, legte ihr Buch beiseite und schlug den Blick nieder.

Alec blickte von seiner Mutter zu seinem Onkel. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. »Aber mein Beruf ist doch sicher keine Überraschung für dich!«

»Doch! Und zwar eine schlechte! Ich wusste, dass dein Großvater Tanzlehrer war und obendrein Franzose. Aber dein Vater hat geschworen, seinen Beruf aufzugeben, wenn ich ihm erlaube, meine Schwester zu heiraten.«

»Er hat ihn ja auch aufgegeben«, sagte Mrs Valcourt, fügte jedoch hinzu: »Eine Zeit lang jedenfalls.«

Cornelius Ramsay schüttelte den Kopf und sah sie bekümmert an. »Er hat es versprochen. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben.«

Mrs Valcourt presste die Lippen zusammen. »Männer halten ihre Versprechen nicht immer, wie ich feststellen musste.«

Ihren Worten folgte ein Augenblick angespannten Schweigens. Die Kaminuhr tickte laut. Aurora warf Alec einen nervösen Blick zu. Dieser Satz ihrer Mutter war das Äußerste an Kritik an ihrem Vater gewesen, das sie bis jetzt aus ihrem Mund gehört hatten.

Onkel Ramsay nahm den Schürhaken und stocherte in der Ofenglut. »Ich nehme an, die Rückkehr deines Mannes in seinen Beruf und die Tatsache, dass dein Sohn in seine Fußstapfen getreten ist, erklären deine nichtssagenden und seltenen Briefe in den letzten Jahren?«

Er warf seiner Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu, doch sie schaute ihn nicht an.

»Nun gut«, schloss er abrupt, »wenn du mir vom Beruf deines Sohnes erzählt hättest, hätte ich dich warnen können, dass hier in Beaworthy nicht getanzt wird. Und deshalb wohl kaum Nachfrage nach Tanzlehrern besteht. Genau genommen kann ich mir keinen Ort vorstellen, an dem ein Tanzlehrer weniger benötigt würde.« Er legte den Schürhaken mit einem lauten Klappern zurück an seinen Platz.

»Aber … warum?«, stotterte Alec.

»Auf Betreiben einer der führenden Familien der Gemeinde. Lady Amelia Midwinter, Tochter des letzten Earl.«

Alec spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er fragte entgeistert: »Aber warum? Ist sie Quäkerin oder so was?«

Sein Onkel schüttelte den Kopf. »So war es schon, als ich vor Jahren hierherzog und Partner des alten Mr Ley wurde – Gott sei seiner Seele gnädig.«

»Aber das verstehe ich nicht. Soll das heißen, dass es tatsächlich ein Gesetz oder eine Anordnung gibt, die das Tanzen untersagt?«

Onkel Ramsays schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Nein, von einem richtigen Erlass weiß ich nichts, aber es ist sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz.« Er zuckte die Achseln. »Ich muss bekennen, dass ich mich nie näher damit befasst habe. Es betraf mich einfach nicht – ich hatte noch nie wirklich etwas übrig für derartige Frivolitäten.«

»Aber …«

Sein Onkel legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es geht hier nicht um den Grund, mein Junge. Tatsache ist, dass in Beaworthy nicht getanzt wird, dass hier seit zwanzig Jahren nicht getanzt wurde und dass wohl kaum einer damit anfangen wird, nur weil du jetzt hier bist.«

Alec sah seine Mutter an, fassungslos angesichts dieser unerwarteten Wendung der Ereignisse. »Mama, warum hast du uns denn nichts davon gesagt? Wenn ich das gewusst hätte …«

Ihre Augen sprühten plötzlich Funken. »Wenn du es gewusst hättest … was dann? Wir wären trotzdem hierhergekommen. Wir hatten keine andere Wahl. Dank meines großzügigen Bruders haben wir hier ein Dach über dem Kopf gefunden. Wir sollten ihm dankbar sein.«

»Aber wir dürfen nicht einfach davon ausgehen, dass wir auf lange Zeit vom Wohlwollen Onkel Ramsays leben können, Mama«, beharrte Alec. »Ich muss meinen Lebensunterhalt selbst verdienen und dich und Aurora unterstützen.«

Sein Onkel nickte. »Sehr schön gesagt, mein Junge. Ein junger Mann von fast fünfundzwanzig muss doch ein paar Fähigkeiten und Eigenschaften haben, die sich als nützlich erweisen.«

Alec hob das Kinn. »Ich bin ein erfahrener und fähiger Tanz- und Fechtlehrer, Sir.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Allerdings habe ich einige Zeit als Büroangestellter gearbeitet, bevor Vater seine Schule wiedereröffnet hat.«

»Ah, Büroangestellter! Nun, das ist doch etwas Nützliches.«

»Ich habe diese Erfahrung nie bereut«, gab Alec zu. »Als ich anfing, Vater bei der Unterrichtstätigkeit zu helfen, konnte ich ihn in geschäftlichen Belangen unterstützen – Buchführung, Steuern bezahlen, solche Dinge.«

Seine Mutter fragte hoffnungsvoll: »Kann Alec dir vielleicht in der Kanzlei helfen, Bruder?«

Sein Onkel überlegte, doch dann schüttelte er den Kopf. »Leider nicht. Ich habe im Moment zwei Angestellte und brauche keine weiteren. Und ich wüsste auch nicht, dass hier in der Gegend irgendwo eine Stelle frei wäre. Aber ich werde mich noch einmal erkundigen.«

Alec war zwar bereit, sich nach den Wünschen seines Onkels zu richten, aber er wollte nicht in einem Büro arbeiten. Er sagte: »Vielleicht ist das Interesse am Tanzen doch größer, als du denkst. Außerdem gebe ich auch Fechtunterricht, zumindest dafür müsste ich doch Schüler finden.«

»Genügend, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen? Das halte ich für höchst unwahrscheinlich.«

»Dann suche ich mir eben Schüler im größeren Umkreis«, sagte Alec. »Vielleicht habe ich in den Nachbardörfern mehr Glück.«

»Hier gibt es vor allem Bauern und Arbeiter und kaum wohlhabende Familien, die Interesse am Tanzen hätten.«

»Woher weißt du das?«

»Betrachte es als begründete Vermutung. Es ist einfach meine professionelle Einschätzung.«

»Es kann nicht schaden, wenn ich mich trotzdem erkundige.«

»O doch, das kann es. Es kann deinem Ruf und deiner Aufnahme hier schaden. Und für mich ist es auch nicht gerade von Vorteil.«

»Aber …«

Onkel Ramsay hob die Hand. »Alec, pass auf. Ich bin ein vernünftiger Mann und werde dir nichts verbieten. Trotzdem rate ich dir, diskret vorzugehen. Und komm nicht auf die Idee, das Schicksal herauszufordern und auf Buckleigh Manor oder dem Nachbaranwesen, Medlands, nachzufragen. Nimm dir, sagen wir, eine Woche Zeit. Wenn du bis dahin nicht genügend Schüler aufgetan hast, reden wir über Alternativpläne für deine Zukunft. In Ordnung?«

»Das klingt vernünftig«, stimmte Alecs Mutter zu. »Sehr großzügig von dir, Bruder. Vielen Dank.«

Eine Woche? Alec spürte, wie sich alles in ihm sträubte. Er hatte das Gefühl, dass sein Leben ihm entglitt, dass er die Kontrolle darüber verlor – und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Auf diese Weise entlassen, räumte Alec seine Geige weg, holte seinen Degen und ging wieder hinaus. Doch statt nach rechts ins Dorf wandte er sich nach links, aufs freie Land. In dem kleinen Cottage seines Onkels gab es kaum Rückzugsmöglichkeiten. Er brauchte jedoch einen Ort, an dem er üben und seinen Ärger abreagieren konnte, ohne dass ihn jemand kritisierte oder auslachte, einen Ort, an dem er seinen Mantel ausziehen und auf höchst unziemliche Weise ins Schwitzen kommen konnte.

Den kleinen Degen unauffällig an der Seite haltend, ging er den ungepflasterten Weg entlang und betrachtete dabei neugierig die Landschaft um sich herum.

Er kam an einem ummauerten Friedhof vorbei, dessen Grabstellen und graue Kalksteinkirche sehr viel älter waren als die, die er im Dorf besucht hatte. Er wusste nicht recht, ob der Ort noch genutzt wurde, und ging weiter.

Der Weg mündete in ein Wäldchen aus Laub- und Nadelbäumen. Obwohl es erst Anfang Februar war, hörte man allenthalben bereits die Vögel singen. Anscheinend kam der Frühling hier im Südwesten früher. Vielleicht war doch nicht alles so aussichtslos, wie es ihm im Moment erschien.

In der Ferne vernahm er Stimmen. Dann erhaschte er durch die Bäume eine flüchtige Bewegung. Er blieb stehen, weil er keine Lust hatte, in seiner gegenwärtigen Stimmung jemandem zu begegnen, und sich nicht durch seine Schritte verraten wollte, doch irgendetwas an den Gestalten, die er hinter den Zweigen nur erahnte, erregte seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig trat er vom Weg in den Wald hinein und vermied es dabei sorgfältig, auf herabgefallene Zweige zu treten.