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SEBASTIAN CHRIST
BERLINER ASPHALT

Geschichten von Menschen in Kiezen
ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

Korrektorat: Martin Spieß

ePub-Erstellung/Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: Olaf Witte/pixelio.de

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.deinfo@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-16-1

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2014, Berlin

Sebastian Christ

Berliner Asphalt
Geschichten von Menschen in Kiezen

1
Frühling

Berlin explodiert. Einmal im Jahr.

Noch im März sind die Wände aller schönen und hässlichen Häuser so grau wie feuchter Brotteig. Jeder Fußgänger verliert sich zwischen kahlen Brandmauern und tropfenden Dachtraufen. Die Bordsteine der blattlosen Alleen stehen so weit auseinander, dass das Nichts des Berliner Winters auch für den letzten Träumer sichtbar wird.

Es kommt vor, dass die Stadt noch zu Ostern wie eine zwangsgeräumte Dreizimmerwohnung aussieht, deren Leere jedem Besucher wie ein feuchtes Handtuch ins Gesicht klatscht.

Wenn aber erst einmal die Knospen an den Zweigen aufgebrochen sind, dauert es kaum drei Wochen, bis die Äste so schwer am neuen Grün tragen, dass sie weit auf die Radwege hinabhängen. Berlin ist dann voller Blüten.

Rund um den Reichstag finden dann noch mehr Demonstrationen statt als sonst, in Prenzlauer Berg klingeln Hipster mit Filzhüten und Vollbärten von ihren Fahrrädern aus jungen Frauen hinterher, während in Reinickendorf die Jugendlichen traditionsgemäß Passanten anpöbeln, wenn sie sich bei den ersten Fußballpartien des Jahres gestört fühlen.

März. April: Mai.

Ich war auf dem Weg zu Freunden nach Potsdam. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Das Wasser auf den Seen leuchtete in Malkastentönen, Flaschengrün und Violettblau, darauf spiegelte sich das Licht wie auf zerbeulter Alufolie. Ich sah Füchse. Ich hörte Amseln singen. Mein Rad lief fast widerstandsfrei über den Asphalt. Weil es frisch aus der Werkstatt kam. Ich dachte: Weil die Luft gerade warm genug geworden war, dass ich beim Treten gedankenlos atmen konnte.

Die Sonne schien auch noch über Zehlendorf. Vom Königsweg aus sah ich erste Schwaden, in Steinstücken wehte der kalte Wind über meine Unterarme.

Am Babelsberger Bahnhof fing es an zu regnen. Es war nicht mehr weit.

Noch eine Straßenkreuzung. Von links kam ein Auto, der Fahrer übersah mich. Ich musste scharf bremsen, mein Hinterrad brach aus. An mehr erinnere ich mich nicht mehr. Wahrscheinlich bin ich mit dem Kopf auf das rotbraune Granitpflaster aufgeschlagen, das hier verlegt worden ist, um den Kreuzungsbereich etwas handfester wirken zu lassen.

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich über meine Kopfhörer Oasis in Endlosschleife. Es schien, als würde Liam immer wieder an der letzten Zeile von „Champagne Supernova“ scheitern. Der Fahrer des Autos war geflüchtet. Und meine Hände klebten vom Matsch des aufgeweichten Blütenstaubs.

2
Der Partisan von nebenan

Mein Nachbar ist ein pensionierter Fahrstuhlmechaniker aus Bosnien, der seit über vierzig Jahren in seiner Dreizimmerwohnung im Hinterhof lebt. Er redet oft vom Partisanenkampf und von Tito. Ich könnte mich irren, aber ich glaube, dass er Heimweh nach einem längst untergegangenen Land hat.

Es kommt vor, dass er ums Haus streicht und jemanden zum Boxen sucht. Entdeckt er einen anderen Mann, nimmt er die Fäuste zur Deckung hoch, die Ellenbogen auf Nierenhöhe. Aber niemand will sich mit ihm schlagen. Mein Nachbar ist siebenundsiebzig Jahre alt.

Außerdem hilft er gerne auf den Baustellen der Gegend aus. Dort schleppt er Zementsäcke für junge Männer, die beinahe seine Urenkel sein könnten. Im Gegenzug erzählen ihm die Arbeiter aus der Ukraine und aus Russland, wo gerade saniert wird und wie viel Geld die Hausbesitzer investieren. Er weiß vor allen potenziellen Neu-Berlinern, wie sich die Mietpreise in Moabit entwickeln werden. „Siehst du, Scheißbalkon: Kostet mindestens siebentausend Euro. Muss umgelegt werden auf den Preis. Wird teuer. Und dann kommt Bad dran. Wird noch teurer.“ Immer fügt er routinemäßig hinzu: „Oh, Scheißkapitalismus.“

Regnet es dagegen, versteckt er sich gern im Hausflur und erschrickt seine Mitbewohner.

Ich stand am Briefkasten und sortierte meine Post, als ich plötzlich seine bratpfannengroße Pranke auf meiner Schulter spürte.

„Hallo Nachbar“, hustete er, gefolgt von einem spotzenden Lachen. „Heute ist Geburtstag von mir!“

Ich gab ihm die Hand, er machte sich einen Spaß draus, sie fast zu zerquetschen.

„Als ich war so jung wie du, alles gut. Habe mich gefühlt wie Tiger-Panzer.“

Wieder lachte er dreckig. Wir gingen durch den Innenhof.

„Frauen, Frauen, Frauen. Als ich jung war. Aber Gott ist schlau. Alte Männer, nix mehr Tiger-Panzer. Müssen sterben.“