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Damir Karakaš
Ein herrlicher Ort für das Unglück

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Damir Karakaš

Ein herrlicher Ort
für das Unglück

Roman

Aus dem Kroatischen von

Alida Bremer

Herausgegeben von

Nellie und Roumen Evert

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Die editionBalkan im Dittrich Verlag
ist eine Gemeinschaftsproduktion mit
CULTURCONmedien

Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt von:

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Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Kultur-Kontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die S. Fischer Stiftung angehören.

Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
>http://dnb.ddb.de< abrufbar.
ISBN 978-3-943941-21-0
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2014
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Sjajno mjesto za nesreću, Zagreb 2009
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch unter Verwendung eines
Fotos von »dioxi/ photocase.com
www.dittrich-verlag.de / www.culturcon.de

Inhalt

TEIL 1

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

TEIL 2

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

TEIL 3

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

TEIL 4

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

TEIL 5

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

TEIL 1

1.

»Madame!« Ich zeige auf die Karikatur von Woody Allen über meinem Kopf. »Caricature!«

Diese Karikatur dient mir als Werbung.

Am Anfang hatte ich noch keine Werbezeichnung, aber dann fiel mir auf, dass fast alle anderen Zeichner vor dem Pompidou eine haben.

Die meisten Zeichner verwenden dafür schlauerweise Fotokopien aus Zeitschriften. Meine habe ich selbst gezeichnet. Zunächst habe ich eine Filmzeitschrift gekauft und sie auf der Suche nach dem passenden Foto einer berühmten Person sorgfältig durchgeblättert. Ich schwankte zwischen Gérard Depardieu und Woody Allen, zwischen ihren bemerkenswerten Nasen. Doch das Foto von Woody war deutlicher und ausdrucksstärker, so dass ich mich schließlich für ihn entschied.

»Excusez-moi!«, rufe ich einer Frau und einem Mann mit riesigen roten Rucksäcken auf dem Rücken zu, die im Laufen einen Stadtplan studieren. »Vous voulez un souvenir de Paris?« Sie würdigen mich keines Blickes und zeigen weiter mit den Fingern auf die Karte, als würden sie rappen. Ich sehe mich um: Auch die anderen Zeichner sind nicht besonders erfolgreich. Ich versuche es noch ein paarmal, aber niemand reagiert.

Dann erspähe ich eine Frau, einen Mann und einen Jungen; sie kommen aus der Rue Rambuteau. Ich gehe ihnen entgegen, zeige auf den Jungen und zeichne mit dem Finger durch die Luft. Ich zeige auf Woody. Der Mann bleibt stehen, schaut den Jungen an und fragt: »How much?«

»Wir werden uns schon einigen.« Schnell schiebe ich den Stuhl auf den Jungen zu.

»Wo kommen Sie her?«, frage ich, während ich das Profil des Jungen zeichne.

Der Mann antwortet: »Aus Canberra.«

»Australien ist ein wunderbares Land«, sage ich.

Ich halte inne und frage den Jungen, was er werden will, wenn er groß ist. Er schweigt. Ich zeichne ihn mit einem Cowboyhut und zwei Pistolen, im Hintergrund den Eiffelturm. Dann signiere ich das Bild und setze noch den Monat, das Jahr und in Großbuchstaben PARIS hinzu. Die Karikatur ist recht gelungen, deshalb halte ich sie ihnen lange vor die Nase. Sonst mache ich es wie die anderen Zeichner und rolle sie schnell zusammen, damit der Kunde es sich nicht anders überlegt. Der Mann fragt: »Wie viel?«

Ein Typ, der etwas abseits steht, betrachtet die Zeichnung ebenfalls.

»Bitteschön!« Ich deute auf den Stuhl. »Sie sind als nächster dran.«

Der Typ schaut mich an und geht.

Ich wende mich wieder an den Australier.

»Dreißig Euro.«

Die Frau streift mich mit einem grimmigen Blick, der Mann zählt die genannte Summe ab und reicht mir das Geld.

Ich nehme es und stopfe es mir in die Gesäßtasche, aber so, als würde mich Geld überhaupt nicht interessieren. Und dann frage ich sie: »Möchten Sie vielleicht auch eine Karikatur?« Gleichzeitig zeige ich auf den freien Stuhl, setze den Kohlestift auf das Papier und spanne meinen Körper an.

Ich verhalte mich ganz so, als hätte sie schon zugestimmt.

»Nein!«, sagt die Frau kategorisch.

Ich blicke sie an, stehe langsam auf und setze ein freundliches Lächeln auf.

»Einen angenehmen Aufenthalt in Paris«, sage ich.

2.

Auf der Brücke vor Notre Dame zeichne ich eine Karikatur von einem rothaarigen Bodybuilder aus Kalifornien.

Er hat diese Art Bürstenfrisur, die an eine Landebahn erinnert. Deshalb zeichne ich ein kleines Flugzeug auf seinen Kopf. Ein Mädchen aus dem Publikum – sie trägt einen eng anliegenden schwarzen Rock, der ihren schlanken Körper betont – prustet los. Ein paar Tage zuvor habe ich einen Typen gezeichnet, der unruhig wurde, als zwei Romakinder hinter meinem Rücken anfingen zu lachen. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und brach in Schweiß aus. Vermutlich dachte er, dass ich mich über ihn lustig machte. Ich musste die Romakinder vertreiben.

Den Bodybuilder aus Amerika stört das Lachen überhaupt nicht.

Ganz im Gegenteil, er glaubt, dass Lachen ein zuverlässiges Anzeichen für eine rundherum gelungene Karikatur ist. Denn was wäre das schon für eine Karikatur, wenn sie nicht lustig ist.

Als der Typ zufrieden davonzieht, frage ich das Mädchen ernst, ob ich auch von ihr eine Karikatur zeichnen soll. Sie prustet wieder los. Nachdem sie sich endlich gefangen hat, unterhalten wir uns im Stehen. Sie sagt, dass sie Maud heißt und bei ihrem Vater in einem Designerbüro arbeitet, und ich sage ihr, dass ich ein bekannter Schriftsteller aus Kroatien bin. Ich bemühe mich, langsam und fehlerfrei Französisch zu sprechen, aber es gelingt mir nur mäßig.

Ich füge hinzu, dass ich auf die Veröffentlichung meines Romans in Paris warte und ab und zu Karikaturen zeichne. Das stimmt tatsächlich. Aber sie wirft mir einen zweifelnden Blick zu und lächelt. Ich ziehe meinen Roman »Ein herrlicher Ort für das Unglück« aus der Tasche und halte ihn ihr hin. Sie nimmt den Roman, beginnt darin zu blättern und lacht wieder los. Als würde sie Kroatisch verstehen und hätte gerade etwas unbeschreiblich Komisches gelesen.

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Die Nacht ist schön, heiter, die Sterne berühren einander mit ihren glühenden Zacken. Wir lehnen an der Stahlbrüstung der Charles-de-Gaulle-Brücke und blicken in die Sterne. Man könnte sagen, die Szene sei romantisch. Dann beginnt Maud, mit ihren Armen in der Luft herum zu tanzen, legt sich langsam auf die leere Straße, verschmilzt mit ihrem eigenen Schatten und sagt: »Es geht mir so gut, dass ich mich umbringen könnte.«

Ich betrachte immer noch voller Bewunderung die Sterne, die glänzen wie noch nie, doch dann fügen sich meine Augenbrauen zu einer Linie. Ich ordne meine Gedanken: »Es geht mir so gut, dass ich mich umbringen könnte … Es geht mir so gut, dass ich mich umbringen könnte …«, wiederhole ich langsam vor mich hin.

Nein, da gibt es keine Logik, dieser Satz ist nicht logisch.

Eine Autokolonne, immer mehr Scheinwerfer, ich ziehe Maud in Panik von der Straße. Sie lacht noch immer, hält die Arme um den Bauch geschlungen, bekommt Krämpfe vor Lachen.

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Maud wohnt neben der Metrostation Les Volontaires. Wir gehen die flachen Stufen nach oben.

Die Wohnung liegt in der sechsten Etage, die Läufer sind rot und weich, es ist angenehm, darüber zu laufen.

Aber … Jener verfluchte Satz geht mir wieder durch den Kopf.

Auf der fünften Etage ist es mir irgendwie gelungen, ihn abzuschütteln.

Maud öffnet die Tür, tritt in die Wohnung, breitet die Arme aus.

Plötzlich laufen von überallher Tiere auf sie zu und springen ihr begeistert in die Arme: Hunde, Katzen und ein paar Tiere, die ich noch nie zuvor gesehen habe: eine Art laufender Fische. Ich stehe wie versteinert da und zähle genau fünf Hunde, zehn Katzen und zwei Leguane, von denen ich im ersten Augenblick schockiert angenommen hatte, es handle sich um Fische, die laufen können. Dann noch zwei Hasen und einen Hamster, der als einziger in einem Käfig lebt.

Einer der Hunde, ein zotteliges Exemplar, das sie Samson nennt, ist riesengroß und verhält sich mir gegenüber feindlich. Ich drehe mich um und schaue aus dem Fenster: Der Eiffelturm leuchtet. Ich würde ihn am liebsten herausreißen und Samson in den Arsch schieben. So ungefähr bin ich drauf. Dann hellt sich meine Laune ein wenig auf, da die Tiere sehr diszipliniert sind. Als Maud sie endlich gefüttert hat, befiehlt sie ihnen, sich zurückzuziehen. Nur die Leguane klettern weiterhin auf Maud herum.

Doch bald ziehen auch sie sich auf einen Ast zurück, der aus der Wand wächst.

Ich denke, dass die Sache mit den Tieren gar nicht so schlimm ist, die Wohnung ist sehr groß, es gibt genug Platz für alle.

Außerdem ist dieses Land die Wiege der Demokratie. Wir werden uns schon aneinander gewöhnen.

Und siehe da, Samson kommt auf mich zu und wedelt friedfertig mit dem Schwanz.

Ich gehe zu Maud und küsse sie. In der Wohnung leuchtet nur ein Nachtlämpchen, deshalb frage ich: »Wo macht man das Licht an?«

»Neben der Eingangstür«, erwidert sie. »Aber ich muss neue Glühbirnen kaufen. Wenn du auf die Toilette musst, dann nimm die Taschenlampe, die im Schlafzimmer liegt.«

Ich nehme die Taschenlampe, betrete die Toilette, leuchte auf die Kloschüssel und pisse.

In der Zwischenzeit hat Maud einen Joint gedreht.

Wir rauchen, wir trinken Wein, wir küssen uns.

Ich ziehe ihr das Hemd aus und lecke an den Brüsten. Ihre Brustwarzen sind mit Schmuck verziert und rot, als fingen sie gerade an zu bluten. Der Geschmack ihrer gepflegten, betörend nach Kamille duftenden Haut, der erregten Brustwarzen und des kalten Metalls törnt mich gefährlich an.

Als ich meine Hand zwischen ihre Schenkel schiebe, sagt sie leise: »Lass sein, ich bin nicht gut drauf.«

Ich seufze unmerklich, verstecke meinen Ärger und küsse sie weiter zärtlich auf den Hals, auf die Wangen.

Etwas später langt sie mit einem Arm über mich, um eine CD einzulegen.

Irgendwelcher Jazz.

Ich muss an Morana denken.

Wir haben ein paarmal in engen Clubs am Châtelet Jazz gehört. Alles war in Ordnung, bis die Musiker auf der Bühne begannen, mehr Spaß zu haben als ich und vor lauter Vergnügen in Trance verfielen. Das ist es, was mich bei Jazz immer ein wenig nervt. Ich bezahle Geld für die Eintrittskarte, doch je weiter das Konzert voranschreitet, desto mehr liegt das Vergnügen auf Seiten der Musiker. Man fühlt sich irgendwie betrogen.

»Wie gefällt es dir?«, fragt sie mich.

»Ganz okay.«

»Magst du Jazz?«

»Manchmal«, sage ich. »Ich glaube, Jazz ist besser, wenn man ihn spielt, als wenn man ihn hört.«

»Mein Vater hasst Jazz«, sagt sie. »Er behauptet, Jazz sei ein Sport.«

»Was hört er denn so?«

»Nichts.«

Ich zucke mit den Schultern.

Mein Vater mochte auch keine Musik.

Immer, wenn er ins Haus kam, stellte er das Radio leiser.

Ich konnte diese Art Menschen noch nie verstehen.

Zum zehnten Geburtstag schenkte er mir sein Fahrrad und sagte, dass es auch weiterhin sein Fahrrad bleiben würde.

Mein Vater?

Mir wird schlecht, wenn ich an ihn denke.

Kurze Zeit später dreht Maud einen neuen Joint.

Wir rauchen ihn und liegen umarmt unter warmen Decken, hören Jazz. Maud schläft ein, aber ich kann nicht, wahrscheinlich wegen all dieser Tiere.

Ihre Augen leuchten im Dunkeln.

Ich habe Angst, dass sie ins Bett kommen.

Katzen und Hunde gehen noch, aber Leguane? Die kenne ich nicht, ich weiß nicht, was man im Bett von ihnen zu erwarten hat.

Ich stehe auf und laufe durch die Wohnung.

Die Tiere schlafen jetzt: Nur Samson beobachtet mich von seiner Liegestätte mitten in der Wohnung aus und wedelt mit dem Schwanz. Ich streichle ihn hinter den Ohren, weiß nicht, was ich sonst tun soll, und gehe in ein anderes Zimmer.

Es ist schrecklich stickig. Kaum schaffe ich es, das verrammelte Fenster zu öffnen, dann versinke ich in einem roten Sessel.

Auf einem Holzregal neben meinem Kopf stehen Bücher in drei Reihen. Ich lege den Kopf zur Seite und lese die Buchrücken: Voltaire, Rousseau, T. S. Eliot, Rimbaud, Edgar Allan Poe, Virginia Woolf, einige Bücher über Filme, etwas über die Malerei des Mittelalters.

An der Wand hängt ein Poster mit Virginia Woolf.

Ich weiß nicht, warum Menschen Poster mit Personen an ihre Wände heften, die sich umgebracht haben. Ich könnte das nicht, es macht mir Angst. Deshalb nehme ich einen Roman von Nina Berberowa in die Hand, nur um nicht mehr an Virginia Woolf denken zu müssen. Ich blättere darin und versuche mir vorzustellen, wie ich meinen eigenen Roman in Händen halte, noch druckfrisch, gerade in einem prestigeträchtigen, französischen Verlag erschienen.

Darauf steht: »UN FORMIDABLE ENDROIT POUR LE MALHEUR

Ich stehe auf und gehe zurück zu Maud, die fest schläft. Dort, wo bis vor Kurzem ich gelegen habe, liegt nun Samson. Ich will nicht zurück ins Bett, weiß nicht, wohin mit mir, will in drei Richtungen auf einmal gehen.

Schließlich gehe ich auf die Toilette.

Da sitze ich nun auf dem Klodeckel und warte darauf, dass Maud aufwacht. Ich frage mich, ob ich hier leben könnte, in Gesellschaft all dieser Tiere, aber besser hier als in der Wohnung von Hristo, in der es kein Klo gibt und in der wir in Plastiktüten scheißen müssen: Wir werfen sie heimlich in die Mülleimer auf der Straße.

Ich erinnere mich an die unangenehmen Tage, nachdem ich mich von Morana getrennt und sie mich aus ihrer Wohnung geschmissen hatte; ich hatte keinen Ort, an dem ich schlafen konnte, aber es ging irgendwie, da der Winter noch nicht eingesetzt hatte.

Hristo hat mir erzählt, dass jedes Jahr in den Wintermonaten Tausende von Obdachlosen auf den Pariser Straßen sterben. Er hat mir von den Gitterrosten über der Metro erzählt, durch die warme Luft nach oben strömt und wo sich Obdachlose in Scharen versammeln. Es sei schwierig, dort einen freien Platz zu finden.

Ich bin auf dem Klodeckel eingenickt. Ich wache wieder auf, pisse in die Kloschüssel und verfehle sie ein wenig. Ich finde einen Putzlappen, hocke mich hin und beginne zu wischen.

Dann höre ich Maud, sie lacht. Ich wische den Boden sauber und höre durch die Wände, wie sie lacht.

Vielleicht sieht sie mich und lacht, vielleicht ist sie eine Hexe, vielleicht kann sie durch Wände sehen.

Ich spitze die Ohren, jetzt höre ich etwas besser.

Dann stehe ich auf, gehe mit leisen Schritten zur Tür und verlasse die Toilette.

Ja … Das ist kein Lachen mehr – sie weint, ich habe mich nicht geirrt. Sie schluchzt laut.

Nachdem ich Samson vorsichtig zur Seite geschoben habe, setze ich mich verwirrt neben Maud.

Ich frage leise: »Was ist passiert? Maud … Was ist mit dir?«

»Ich werde verrückt«, schluchzt sie. »Ich werde verrückt.«

Sie legt die Hände vors Gesicht, heult heftig los.

»Ich bin verrückt«, weint sie und schreit: »Ich bin verrückt!«

»Maud«, sage ich, umarme sie und schlucke meine zähe Spucke herunter.

Ich flüstere: »Beruhige dich doch, alles wird gut. Beruhige dich.«

Nach einiger Zeit beruhigt sie sich endlich.

Sie schaut mich an, ihr Gesicht wirkt zerknittert und ist nass.

»Entschuldige«, sagt sie. »Gestern habe ich mich den ganzen Tag schlecht gefühlt.«

»Das kommt vom Wetter«, sage ich. »Mir geht es genauso. Wenn es regnet, geht es mir auch schlecht.«

Dann fällt mir ein, dass es gestern sonnig war.

Ich schaue nach draußen. Die Sonne scheint wie noch nie.

»Beruhige dich, alles ist in Ordnung«, flüstere ich.

Sie umarmt mich fester.

Wir liegen umarmt in der Stille – wortlos.

Neugierig beobachten uns von allen Seiten die Tiere.

»Sollen wir etwas frühstücken?«, frage ich. »Möchtest du, dass ich Croissants hole?«

»Gerne«, sagt sie kaum hörbar. »Merci.«

Ich entziehe mich ihrer Umarmung, schlüpfe in die Schuhe und gehe zur Bäckerei.

Ich komme nicht zurück.

3.

Röhren aus durchsichtigem Plexiglas, durch die Rolltreppen voller Touristen fahren, rote, senkrechte Röhren, durch die Aufzüge voller Touristen fahren, blaue Röhren, bunte Röhren; der Glaskubus, der den zentralen Teil des Centre Georges Pompidou bildet, reflektiert die Sonne: als würde ich durch ein Kaleidoskop schauen.

Die Touristen quellen von überall her darauf zu, vor allem aus Richtung Les Halles. Es ist ein ununterbrochenes Strömen auf den schrägen Platz Pompidou.

Er ist der einzige Ort in Paris, an dem man frei zeichnen, spielen, jonglieren, vor den Touristen Rasierklingen schlucken und noch allerlei andere Kunststücke vorführen kann … Ich stehe vor zwei zusammenfaltbaren Anglerstühlen und versuche einen Touristen zu erwischen, um eine Karikatur von ihm zu zeichnen.

Ununterbrochen lasse ich den Blick über die Menge schweifen, doch irgendwann breite ich ohnmächtig die Arme aus.

Das Problem besteht darin, dass vor mir schon eine Unmenge von Zeichnern versucht hat, die Touristen zu bearbeiten. Das Problem ist mein beschissener Standort. Ich locke sie von der Mitte des Platzes aus an, doch um mich herum ist alles besetzt, es wimmelt von gierigen Zeichnern.

»Hey, mein Herr!« Ich laufe hinter einem rüstigen, alten Mann her. »Wollen Sie eine Karikatur?«

Er bleibt stehen, wechselt die Brille und betrachtet wie ein versierter Kunstsammler Monsieur Allen.

»Nicht schlecht«, sagt er. »Gar nicht schlecht.«

Seinem Akzent nach vermute ich, dass er Franzose ist.

»Möchten Sie, dass ich auch Sie zeichne?«, frage ich.

»Ich habe keine Zeit«, sagt er freundlich und lächelt.

»Das mache ich in fünf Minuten im Stehen!« Ich laufe neben ihm her und beginne zu zeichnen.

Er sieht mich an, seufzt tief auf und wartet, bis ich mit dem Zeichnen fertig bin. Erneut setzt er die Brille auf, durch die er Woody betrachtet hat, und lächelt. »Arbeiten Sie auch in Farbe?«

Ich taste in meiner Tasche nach einem Päckchen mit Farbstiften. Eigentlich arbeite ich nicht in Farbe, es dauert zu lange, vor allem, wenn man das Gesicht, die Augen und die Hände farbig gestalten muss, was ziemlich kompliziert ist. Doch wenn jemand darauf besteht, kann ich problemlos seinen Mantel, seine Schuhe, seinen Hut und seine Krawatte einfärben, das wird dann etwas teurer. »Ja«, sage ich. »Aber dann wird es teurer.«

»Und was kostet Schwarzweiß?«, fragt er.

»Fünfzehn Euro«, sage ich.

»Ich will es nicht«, sagt er und reicht mir die Karikatur.

»Gut.« Ich laufe hinter ihm her. »Wie viel geben Sie?«

»Lassen Sie es gut sein, ich habe doch gesagt, ich will nicht.«

»Geht es für zehn? Für sieben?«

Er bleibt stehen, zieht zehn Euro aus der Tasche, reicht mir das Geld und nimmt die Karikatur.

Dann sagt er: »Nur weil ich selbst auch Karikaturen zeichne.«

Ich habe ihn nie gesehen, weder hier noch bei Notre Dame. Ich habe von einigen Franzosen gehört, die auf dem Place du Tertre auf dem Montmartre Portraits und Karikaturen zeichnen, aber dort braucht man eine Erlaubnis, die teuer bezahlt wird. Also frage ich ihn: »Und wo zeichnen Sie?«

Er sagt ein wenig verärgert »Au revoir« und geht.

In den folgenden zwei Stunden zeichne ich nur noch eine weitere Karikatur und verdiene zehn Euro.

Manchmal gebe ich sie auch für fünf Euro ab, manchmal gebe ich sie aus Prinzip nicht ab. Wenn jemand unverschämt oder geizig ist, zerreiße ich sie lieber, als sie für ein paar Euro herzugeben.

Manchmal passiert es auch, dass die Touristen die Karikatur nicht haben wollen, weil sie nicht zufrieden sind.

Das bringt mich immer wieder zur Verzweiflung; während man zeichnet, rechnet man schon damit, sich die Kohle in die Tasche zu stopfen, und dann ist es eine Niete. Letzte Woche habe ich an dieser Stelle hundertsiebzig Euro verdient.

Alles hängt vom Tag ab und vom Glück, aber am wichtigsten ist und bleibt der Standort. Wenn ich an einem schlechten Standort an einem Tag hundert Euro verdiene, hätte ich an demselben Tag an einem besseren Ort das Doppelte verdient.

Was das Zeichnen betrifft, so ist es nicht nötig, besonders gut zu sein. Ich habe als Kind schon viel gezeichnet, gemalt und kleine Skulpturen aus Holz geschnitzt. Mein Großvater sagte mir, ich solle den Bleistift nicht abnutzen, denn er diene zum Schreiben; mein Vater wies mich an, die Dachrinnen und Zäune zu streichen, damit ich irgendwie von Nutzen sei. Es störte ihn vor allem, dass mir der Bleistift lieber war als irgendwelche landwirtschaftlichen Gerätschaften. Mein Vater wiederholte ständig: »Aus dem wird nie was.«

Eine Zeitlang hängte ich meine Bilder an die Bäume im Wald.

Das waren meine ersten Ausstellungen.

Danach begann ich Karikaturen zu zeichnen.

Schon zu meiner Schulzeit veröffentlichte ich sie in Zeitungen. Bei der ersten, die in einer Sportzeitung erschien, zeichnete ich einige Läufer auf der Bahn: Der vierte rannte und dachte an Geld, der dritte rannte und dachte an Frauen, der zweite rannte und dachte an die Goldmedaille, doch der erste, der schon weit vorne lag und kurz vor dem Ziel war, dachte nur daran, wie er möglichst schnell auf die Toilette kommen würde.

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Der Typ kreist hartnäckig wie eine Schmeißfliege um den Haupteingang des Pompidou: Anzug, Krawatte, am Hals eine lange Narbe. Einige meinen, dass in seinem Land (niemand weiß, wo er herkommt) jemand versucht hat, ihn abzuschlachten; andere dagegen meinen, dass er vor langer Zeit in seinem Land dem Galgen entflohen ist und dass die dunkelrote Narbe daher stammt.

Wie auch immer, der Typ mit der Narbe steht vor zwei Klappstühlen: Er hält seine Zeichenutensilien in der Hand und pafft eine Pfeife. Aber er kann gar nicht zeichnen, und sein Standort ist nicht gut – wenn die Touristen das Pompidou verlassen, wo sie gerade eine erstklassige Ausstellung gesehen haben, dann würden sie es begrüßen, wenn sie von Kokoschka oder Klimt persönlich gezeichnet würden.

Der Typ vor dem Pompidou hat erstaunlicherweise dennoch Erfolg.

Er spricht Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch.

Sein Künstlername ist Coca-Cola.

Wenn er sich einen Kunden schnappt, ruft er schnell einen der Zeichner herbei, die gerade frei sind. Später teilen sie dann das Geld.

»Croate!«, ruft er mich.

»Ich komme gleich«, antworte ich, während ich auf einen Schwarzen mit Safarihut einrede.

Der Schwarze ist misstrauisch, er überlegt noch.

Er fragt mich: »Wie viel?«

»Setzen Sie sich.« Ich zeige auf den Stuhl.

»Croate«, ruft Coca-Cola ungeduldig.

»Ich kaufe noch schnell etwas in der Stadt und komme dann wieder«, sagt der Schwarze. Ich reiße ihm den Woody aus der Hand und eile zu Coca-Cola; einmal habe ich schon für ihn gezeichnet.

»Ein großer Künstler!« Coca-Cola zeigt auf mich und bereitet den Stuhl für mich vor.

Er presst die Fingerkuppen seiner beiden Hände gegeneinander und steht ein wenig abseits, mit einem todernsten Gesichtsausdruck, so als erwarte er ein großes Kunstwerk, das die Welt verändern wird.

Auf dem Stuhl mir gegenüber sitzt eine Engländerin voller Sommersprossen. Sie hat eine riesengroße Nase.

Wenn Frauen eine große Nase haben, muss man sie en face zeichnen, damit ihre Nase nicht zu sehr zum Ausdruck kommt.

Bei Frauen muss man außerdem unbedingt auf Falten achten und sie überall geschickt minimieren, die Augen hingegen müssen größer gemacht werden. Die Touristen lieben es, wenn man ihnen große Augen verpasst. Es ist wünschenswert, die Kommunikation mit den Klienten während des Zeichnens nicht abreißen zu lassen und in diesen fünf bis zehn Minuten zu versuchen, die größtmögliche Nähe herzustellen. Steht die Familie daneben: »Sie haben eine wunderbare Familie.«

Sitzt auf dem Stuhl ein Kind: »Man kann bereits erkennen, dass aus Ihrem Kind ein guter Mensch wird.«

Manchmal ist es ratsam, ein wenig zu scherzen: »Wenn Sie die Karikatur Ihrer Frau zeigen, wird sie denken, es ist Mick Jagger, hahaha.«

Mit Frauen Scherze zu machen, ist nicht empfehlenswert; Männer sind empfindlich, wenn es um ihren Penis geht, Frauen bei allem. Wenn Coca-Cola eine Karikatur von einer Frau zeichnet, ist er immer todernst. Gelegentlich sagt er einer alten Schabracke voller Bewunderung: »Oh la la, was für ein interessantes Gesicht!« Außerdem mögen Frauen keine Karikaturen, sie wollen vor allem Portraits.

Die Engländerin ist zufrieden.

Coca-Cola schafft es auch, ihre Freundin zu überreden. Auf eine vornehme Art, die gar nicht zu ihm passt, weist er auf den Stuhl und begleitet jedes Wort mit einem bedeutungsvollen Hochziehen der Augenbrauen.

»Ein neuer Picasso«, lobt er mich wieder. Ich nehme einen neuen Kohlestift in die Hand, weil der alte so kurz geworden ist, dass ich ihn nicht mehr gut führen kann. Auch die zweite Engländerin treffe ich ganz passabel. Beide habe ich hergerichtet wie ein Schönheitschirurg.

Coca-Cola klopft mir auf die Schulter und gibt mir die Hälfte des Geldes.

Hier auf dem Pompidou verdienen nur die Pakistani besser als Coca-Cola.

Aber sie haben auch die mit Abstand besten Standorte: neben dem riesigen, weißen Abluftrohr. Da ist der Hals des Platzes, da beginnt die erste Reihe. Aber nicht jeder darf an diesem Standort zeichnen: Man muss Pakistani sein, und man muss dem Boss, der diese Standorte verteilt, die Hälfte des Geldes geben.

Taucht ein Eindringling auf, kann er sich leicht ein Messer im Rücken einfangen.

Wenn in Paris die Sonne aufgeht, nehmen gleich nach den Pakistani Zeichner aus Russland und der Ukraine ihre Stellungen ein – die sie vermutlich von jemandem aus der Zeit der Oktoberrevolution geerbt haben. Und dann verteidigen sie die Stellungen mit ihrem Leben. Man weiß genau, wo wer steht, wo die Abdrücke der Stühle zu finden sind, man kennt jeden Zentimeter, ja sogar Millimeter, und wenn sich jemand hier breitzumachen versucht, helfen auch die Pakistani, den Eindringling zu vertreiben. Ihnen passt es am wenigsten, wenn sich die Spielregeln ändern.

In der dritten Abteilung mischen sich Chinesen unter alle anderen Karikaturen- und Portraitmaler.

Ich liege unter dem Baum, der aus dem Beton wächst.

Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen höre ich dem Georgier Shota zu, der auf der Ziehharmonika »Podmoskovnye vechera« spielt. Er hat unglaublich lange Finger und kann seine Ziehharmonika sogar auf dem Rücken spielen. Das ist für die Touristen eine besondere Attraktion. Jetzt spielt er gerade auf dem Rücken, die Touristen hören ihm voller Bewunderung zu und lassen sich mit ihm fotografieren. Shota verdient das meiste Geld mit diesen Fotos.

Er beendet sein Spiel und setzt sich mit verschwitztem Gesicht neben mich.

»Hast du eine Wohnung gefunden?«, fragt er mich auf Englisch und stellt den karierten Koffer ab, in dem die Geldstücke lustig klimpern.

Ich sage: »Ja, habe ich … Bei Hristo.«

»Ich habe die alte Frau gefragt, aber es war schon vermietet«, sagt Shota.

»Jetzt bin ich erst mal bei Hristo«, sage ich, »und dann sehe ich weiter.«

Shota wohnt kostenlos bei einem Cousin, der in der zweiten französischen Liga Rugby spielt.

»Einige werfen mir immer noch Francs in den Koffer«, sagt er, während er ein Geldstück hochhält und betrachtet.

Er greift in den Koffer, man hört das Geld klimpern, dann lässt er es durch die Finger rieseln. Er zählt seine Einnahmen: siebenundfünfzig Euro in Münzen, fünfzehn Euro in Banknoten, eine Creme zur Entfernung von Make-up und fünf Zigaretten.

»Willst du die Creme haben?«, fragt er mich.

Ich frage zurück: »Was soll ich damit?«

Er legt sie neben einen Papierkorb.

Dann fragt er mich: »Willst du eine Zigarette?«

Ich nehme eine und stecke sie mir hinter das Ohr. Vielleicht kann sie ja irgendjemand gebrauchen.

»Stell dir vor«, sagt Shota, »heute Morgen hat mir ein Holländer ein Päckchen Gras in den Koffer geworfen, fein säuberlich verpackt, stell dir mal vor, was passiert wäre, wenn die Polizei das in meinem Koffer gefunden hätte.«

»Und was hast du damit gemacht?«

»Weggeworfen. Ich bin zum nächsten Papierkorb gelaufen und habe es weggeworfen.«

Ich sage: »Hm.«

Obwohl ich wirklich selten einen Joint rauche, tut mir es doch leid, dass dieses Gras im Papierkorb gelandet ist. Vermutlich war es gut.

»Schade.«

Er schaut mich an.

»Lass gut sein«, sagt er, »das hätte echt Probleme geben können.«

Dann zieht er seinen Geldbeutel heraus und verstaut die Banknoten darin. Für einen Moment holt er ein Farbfoto mit einem Mädchen mit langen, schwarzen, glatten Haaren aus dem Beutel. Sie heißt Kathaven. Im letzten Monat ist Shota durch die Straßen von Paris gestreift und hat von jedem verlangt, in seiner jeweiligen Sprache aufzuschreiben: Ich liebe dich, Kathaven. Ich habe es auf Kroatisch geschrieben. Er hat »Ich liebe dich, Kathaven« in siebenunddreißig Sprachen zusammenbekommen, und das hat er ihr dann nach Tiflis geschickt. Sie war angeblich völlig hin und weg.

»Gib Hristo diese zwanzig Euro«, sagt er. »Soviel schulde ich ihm, und du wirst ihn vor mir treffen.«

Ich verstaue die Geldstücke in meiner Tasche.

»Ich gehe jetzt ein wenig am Saint-Germain spielen«, sagt Shota.

Mit einem Schulterklopfen verabschiedet er sich von mir.

Shota ist eine Art Freund, so könnte man es nennen. Wir unternehmen nichts gemeinsam, wir treffen uns nur manchmal auf der Straße. Viele gemeinsame Themen haben wir nicht, aber es freut mich immer, ihn zu treffen. Wäre ich allerdings in Kroatien, würde ich mit der Mehrheit der Menschen, mit denen ich hier in Paris befreundet bin, kein einziges Wort wechseln, von Freundschaft ganz zu schweigen. Aber um es klar zu sagen – ich habe auch in Kroatien nicht viele Freunde. Es wird immer dunkler, nur noch ein paar chinesische Zeichner sind da. Sie haben sich in dem Lichtschein versammelt, der durch die riesigen Fenster des Pompidou fällt. Ich stehe auf und gehe rein, zur Toilette. Ein Geschäftsmann in Anzug und Krawatte und mit Laptop steht vor dem Spiegel, gibt sich selbst Ohrfeigen und weint gedämpft vor sich hin.

Ich pinkle und beobachte ihn: Er hat seinen Kopf in die Hände gelegt und schluchzt immer mehr.

Ich schüttle meinen Schwanz ab, wasche mir die Hände und sage: »Mein Herr, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Er zuckt zusammen, als erwache er aus einem hässlichen Traum, taxiert mich von Kopf bis Fuß und sagt: »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, du Penner.«

Er wäscht sich schnell das Gesicht, schnappt seinen Laptop und schaut mich noch einmal voller Verachtung an.

»Du kannst mich mal«, sage ich auf Kroatisch, während er die Toilette verlässt.

Dann stelle ich mich vor den Spiegel und sehe mich genauer an. Dieses »Penner« hat mich getroffen, ich gebe es zu.

Warum hat er mich Penner genannt?

Ich bin rasiert, meine Kleidung ist sauber.

Ich rieche an meinem Ärmel und an meinen Achseln, um zu prüfen, ob ich stinke, aber ich stinke nicht. Vielleicht hat mich dieser Idiot draußen dabei gesehen, wie ich den Touristen nachlaufe. Für ihn sind wahrscheinlich alle solchen Menschen Penner. Vielleicht bin ich auch hinter ihm hergelaufen, wer soll sich schon daran erinnern. Ich gehe zurück vor den Eingang des Pompidou.

Unter einem starken Lichtstrahl beendet der langhaarige Chinese Pong gerade die Karikatur eines kleinen Amerikaners. Etwas abseits steht wie versteinert der Vater des Jungen. Pong kann nämlich gar nicht zeichnen. In dem Moment, in dem der Vater darüber nachzudenken beginnt, ob er seinen Sohn vom Stuhl fortziehen soll, ist etwas fertig, was doch wie eine Karikatur des Jungen aussieht.

Während der Amerikaner immer noch zögert, zieht Pong seinen stärksten Trumpf aus dem Ärmel. Über den Kopf des Kindes auf der Zeichnung setzt er eine Sprechblase und schreibt hinein: »PAPA, ICH HAB DICH LIEB

4.

Am Freitagabend bin ich zur Performance »Souvenirs de Sarajevo« eines jungen bosnischen Künstlers in Paris eingeladen.

Ich mache mich direkt vom Pompidou auf den Weg zu dieser Galerie am Saint-Germain und überquere den Pont des Arts.

Der Himmel ist blutrot, beide Ufer der Seine sind überlaufen von Touristen, die laut singen, zu Tangoklängen tanzen, spielen, das Leben feiern. Die Brücke ist ebenfalls voller Touristen: Ein Typ hat einen Tisch angeschleppt, zwei Stühle, einen Kerzenständer und eine Kerze und hat ein Abendessen serviert. Am Tisch sitzen er im Frack und eine Frau in einem langen Spitzenkleid. Sie trinken Champagner aus langhalsigen Gläsern. Einige Clochards kommen mit ihren Plastikbechern dazu, es werden immer mehr, sie betteln um ein wenig Champagner.

Ich stehe einige Zeit an die Brüstung gelehnt dort und sehe dem beleuchteten Schiff zu, das unter der Brücke hindurchfährt, direkt durch meine gespreizten Beine. Es sieht so aus, als würde es gleich mit seinen Schornsteinen an meinen Hoden hängen bleiben.

Zehn Minuten später löse ich mich langsam von der Brücke.

Ich erreiche mein Ziel und treffe vor dem überfüllten Eingang der zweistöckigen Galerie Šejla, die in der bosnischen Botschaft in Paris arbeitet.

Sie war es, die mir vor ein paar Tagen die E-Mail-Einladung zu dieser Performance geschickt hat.

»Na, du Schriftsteller«, sagt sie, während sie gerade eine SMS an irgendjemanden schreibt. »Was gibt’s Neues?«

Ich nicke und lächle und sage: »Alles okay.«

Sie wirft das Haar zurück, das wie ein Wasserfall auf ihren Rücken fällt, klappt ihr Handy zu und macht mich mit ihrer Freundin Ana bekannt.

Dann klingelt ihr zweites Handy.

»Geht schon mal rein«, sagt Šejla, »ich komme gleich nach.«

»Na dann«, sagt Ana und balanciert dabei auf einer Ferse.

Sie schiebt die Zigarette, die sie sich gerade anzünden wollte, zurück in die Packung und gibt mir mit dem Kopf ein Zeichen, dass wir hineingehen sollen.

Nachdem wir gemeinsam die fünfminütige Performance verfolgt haben, in der der Künstler vollständig nackt, nur mit einem Helm auf dem Kopf, um einen Globus läuft und wie ein Mantra laut wiederholt: »Sarajevo, Sarajevo«, während an der Wand wechselnde Aufnahmen der unter Granatbeschuss liegenden Stadt zu sehen sind, frage ich Ana, wie es ihr gefallen hat.

»Leichenfledderei«, sagt sie. »So sollte die Performance heißen.«

»Wie gefährlich du bist«, lächle ich.

»Überhaupt nicht«, sagt sie, »und außerdem ist die Performance schon an sich schlecht.«

»Vielleicht haben wir sie nicht kapiert.«

Sie sagt: »Du vielleicht nicht.«

Ich lache. »Du ärgerst dich über irgendetwas?«

»Keineswegs«, sagt sie. »Es geht mir nur auf die Nerven, dass man heutzutage einen Scheißhaufen in die Ecke setzen und das Ganze dann als hohe Kunst verkaufen kann.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Außerdem hat er einen kleinen Pimmel«, sagt sie.

»Oho«, sage ich.

Sie lächelt.

»Was soll’s. Ich bin doch nur ehrlich.«

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue mich in der Runde um.

»Wenn es was Gutes zu trinken gibt, werden wir ihm verzeihen«, sage ich. »Was willst du?«

Sie fährt sich mit den Fingern durch ihr kurzes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen ist: »Rotwein vielleicht?«

Ich nicke und beginne, mich mit der Schulter zu dem Tisch durchzukämpfen, auf dem die Getränke stehen. Dann entdecke ich Šejla mit einem langhaarigen Typen in einem Anzug. Ich will ihr zuwinken, aber sie steht mit dem Rücken zu mir und ich gebe es auf.

Im nächsten Augenblick freut es mich, dass sie mich nicht gesehen hat. Jetzt wirkt es sicher so, als wollte ich über sie lästern, aber Šejla kann wirklich unglaublich nervig sein, vor allem dann, wenn sie ein wenig getrunken hat.

Ich sehe noch einige Bekannte, die aus dem ehemaligen gemeinsamen Staat stammen und die ich am selben Ort kennengelernt habe wie Šejla – bei den Rundek-Konzerten im Club Les Voutes im 13. Arrondissement. Dort pflegt sich die Clique aus dem ehemaligen Jugoslawien zu versammeln, Menschen aller Nationalitäten, man singt, man tanzt, Ćevapčići werden gegrillt, man hat den Eindruck, zu Hause zu sein und nicht im Herzen von Paris.

Ich meide alle Balkan-Cliquen, die sich im Ausland auf nationaler Grundlage versammeln; bevor sie die Kirche betreten, lassen sie ihre Pistolen und Messer im Vorraum zurück, und nach dem Gottesdienst stecken sie sie wieder in den Gürtel, so ungefähr kommen sie mir vor.

»Und wie läuft es so in Paris?«, fragt mich Ana, als ich mit dem Wein zurückkomme. Ich habe die Gläser auf meinem Weg hoch über dem Kopf halten müssen.

Ich sage: »Super.«

Sie lebt in Orléans, einem Städtchen, das mit dem RER in einer Stunde zu erreichen ist.

Sie ist in Zagreb geboren, ihr Mann kommt aus Istrien.

Sie sagt, dass sie vor dem Krieg ein Studium der Malerei an der Zagreber Akademie für Bildende Kunst abgeschlossen hat. Als der Krieg begann, ist sie mit ihrem Mann – einem Theaterregisseur – zuerst nach Paris und dann nach Orléans gegangen.

Sie sagt, dass sich keiner von beiden mehr mit Kunst beschäftigt. Er ist Unternehmer, sie kümmert sich um die Kinder, kocht, lernt mit ihnen, genießt das Leben.

Sie trinkt einen Schluck Wein und blickt über den Glasrand.

»Kinder sind das Schönste im Leben.« Für einen Moment verliert sie sich in ihren Gedanken.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und trinke meinen Wein. Kinder interessieren mich nicht die Bohne, auch Häuser nicht oder eine Familie.

Ich bin vielleicht nicht normal, aber wenn ich Familienhäuser mit ordentlich gemähtem Rasen sehe, verstreut herumliegendes Kinderspielzeug aus Plastik und einen Grillplatz, überkommt mich ein panikartiges Gefühl.

»Und du bist Schriftsteller?«, fragt sie.

»Ja«, sage ich.

»Ich habe nichts von dir gelesen.«

»In Kroatien kannst du in jeder besseren Buchhandlung etwas von mir finden«, sage ich.

»Ich werde in Zagreb etwas kaufen«, sagt sie. »Ist etwas ins Französische übersetzt worden?«

»Bald«, sage ich.

»Und das?« Sie zeigt auf meine Tasche, aus der der Zeichenblock hervorlugt.

»Ich zeichne«, sage ich.

»Du zeichnest?« Sie sieht mich an. »Was zeichnest du denn so?«

»Karikaturen für Touristen.«

Sie lacht, sieht mich wieder an und sagt: »Entschuldigung.«

Dann fragt sie: »Und wie läuft das?«

»Je nachdem«, sage ich. »Das mache ich nur vorübergehend.« Ich trinke meinen Wein aus.

»Ich habe das auch ein paar Wochen lang gemacht«, sagt sie. »Vor allem Portraits.«

»Und wie lief es?«

»Für mich war es Zeitverschwendung. Ist Tito noch da?«

»Welcher Tito?«

»Er bindet sich ein schwarzes Tuch um die Augen und zeichnet ein Portrait von Che Guevara. Er sieht alles durch das Tuch«, sagt sie lächelnd.

»So einen Typen habe ich bislang nicht gesehen.«

»Ein Argentinier, ganz sympathisch.«

Wir schweigen, trinken Wein, und ich habe das Gefühl, dass noch etwas gesagt werden müsste.

Mir fällt nichts Besseres ein, also sage ich: »Es ist besser zu zeichnen, als Kartoffeln zu schälen.«