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Martin Suter

Das Bonus-
Geheimnis

und andere Geschichten
aus der Business Class

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2009

im Diogenes Verlag

Sämtliche Kolumnen wurden im Zeitraum

Oktober 2005 bis Februar 2007 zuerst veröffentlicht

im Magazin des Tages-Anzeigers, Zürich (bzw. Tamedia)

Umschlagfoto von Herb Allgaier

Copyright © Herb Allgaier/F1online

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24031 3 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60601 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Lüthis Kritikfähigkeit  [7]

Frau Holle  [10]

Erni und die Humorkultur  [13]

Pfister präsentiert  [16]

Weders stilles Qi Gong  [19]

Kölliker im Herbst  [22]

Loyalitätsbedenken  [25]

Champions League  [28]

Die Anstatt-Frage  [31]

Sorgen um die Zukunft  [34]

Mit neuen Augen  [37]

Die Unzertrennlichen  [40]

Lehmann on the Rocks  [43]

Kellermann greift durch  [46]

Vom Füllen der Wortabstände  [49]

Pech für Buchmann  [52]

Himmelfahrtskommando  [55]

Außer Gefecht  [58]

Die soziale Kompetenz  [61]

Präventivmaßnahmen  [64]

Das Bonus-Geheimnis  [67]

April, April  [70]

Les fleurs du mal  [73]

Unter dem Regenschirm  [76]

Schicksalsfreitag  [79]

Versäumter Anruf  [82]

So ein Tag  [85]

Dätwilers Challenge  [88]

Vorbild Burgener  [91]

Termin mit Spillmann  [94]

Unterwegs mit Stauffer  [97]

Niederlande – Argentinien  [100]

Bewerber Leimgruber  [103]

Eigenbild/Fremdbild  [106]

Eine späte Erkenntnis  [109]

Die Diskrepanzen  [112]

Geheimnisträger Bergmann  [115]

[6] Kleine Ursache  [118]

Die Religionsfreiheit  [121]

Die Produktverbesserung  [124]

Pfenningers Albtraum  [127]

Eine Privatbewirtung  [130]

Präventivmaßnahmen  [133]

Hofer, der Reiseprofi  [136]

Schneebergers Gegenüber  [139]

Die Work-Life-Balance  [142]

Alles super!  [145]

Der rote Faden  [148]

Meiers positive Aggression  [151]

Mehr Bodenhaftung  [154]

Krisenmanager Guggenbühl  [157]

Probsts Jahresbilanz  [160]

Carstens Integration  [163]

Ohne Tabu  [166]

Ein Lohngespräch  [169]

Braucht es Binder?  [172]

Toujours l’amour  [175]

Happy Hänni  [178]

Scheiblins Nachlass  [181]

Letzte Worte  [184]

[7] Lüthis Kritikfähigkeit

»Ach, Herr Lüthi, Moment noch.«

»Ja?«

»Wo Sie schon einmal hier sind.«

»Ja?«

»Nehmen Sie doch noch einmal kurz Platz.«

»Danke.«

»Hm. Kaffee? Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein, danke.«

»Oder einen Tee? Lieber einen Tee?«

»Nein, aber vielleicht ein Wasser. Wenn das möglich ist.«

»Mit oder ohne Kohlensäure?«

»Lieber ohne.«

»Ich nehme jetzt auch immer ohne. Soll gesünder sein. Obwohl, manchmal, wenn man so richtig Durst hat…«

»Stimmt.«

»Frau Ackeret, bitte bringen Sie uns zwei Mineralwasser ohne Kohlensäure. – Moment, ich frage. – Kalt oder Zimmertemperatur?«

»Zimmertemperatur, bitte.«

»Auch Zimmertemperatur, sagt er. Danke. Tja, Herr Lüthi… ähm… das Problem ist… ähm… kalte Getränke schockieren den Magen. Der muss das zuerst aufwärmen, bis er es weiterverarbeiten kann. Früher konnte es mir nicht kalt genug sein. Aber heute…Außer Bier. Ich bin zwar nicht [8] der typische Biertrinker, aber ab und zu ein Bierchen. Aber dann: kalt. Nicht wahr?«

»Doch. Das geht mir auch so. Dann lieber kein Bier als lauwarm.«

»Genau. Dann lieber keins. Ähm, wie gesagt: Wo Sie nun schon einmal hier sind, können wir die andere Sache auch gerade anschneiden, dachte ich. Geht in einem Aufwasch. Anstatt extra einen Termin auszumachen. Das würde die Sache übergewichten. Und meine Agenda… Ich nehme an, Ihre sieht auch nicht viel besser aus.«

»Nein, über Arbeitsmangel kann ich mich nicht beschweren, hehe.«

»Geht mir auch so. Über Arbeitsmangel nicht. Aber sonst… Herein! Danke, Frau Ackeret, ja, einfach hinstellen, wir schenken schon selber ein, danke. – Gesundheit, Herr Lüthi, im wahrsten Sinne. Ein Bierchen wäre uns zwar lieber, im Moment, nicht wahr?«

»Ja. Obwohl, um diese Zeit…«

»Klar, ein bisschen früh, da haben Sie schon recht. Ich dachte auch nur zur Auflockerung. Mehr im übertragenen Sinn, Sie verstehen. Ein Scherz.«

»Klar. Eine Bieridee, sozusagen.«

»Genau, haha, eine Bieridee, der ist gut, ich freue mich, dass Sie es mit Humor sehen. Eine Bieridee, sehr gut… Tja…Wo waren wir stehengeblieben? Ich meine: vor der Bieridee, hehe.«

»Bei unseren Agenden.«

»Agenden?«

»Dass wir uns beide nicht über Arbeitsmangel beschweren können.«

[9] »Genau! Beschweren können. Das war das Stichwort. Beschweren. Danke.«

»War mir ein Vergnügen.«

»Vergnügen. Das gefällt mir an Ihnen, Herr Lüthi. Das Optimistische, Lebensbejahende. Vergnügen. Trotz allem. Ich kenne nicht viele, die so reagieren würden. Chapeau, Herr Lüthi, Chapeau.«

»Tja…«

»Ja, dann…Falls von Ihrer Seite nichts mehr vorliegt… Sie finden ja den Weg. – Ach, und sagen Sie bitte Frau Ackeret, sie solle nachher schnell bei mir reinschauen… Ja, danke, Ihnen auch.«

»Herein!«

»Wie hat er es aufgenommen?«

»Ich muss sagen: Erstaunlich gefasst.«

[10] Frau Holle

Stahel ist nicht überrascht über die Anfrage. Im Gegenteil: Er hat sich schon lange gewundert, dass das Fernsehen noch nicht auf die ZATAG aufmerksam geworden ist, sie ist immerhin eines der innovativeren Unternehmen des regionalen Lebensmittelsektors. Kommt dazu, dass er bei der Einführung von Zata Light einen größeren Betrag für Fernsehwerbung bewilligt hat. Höchste Zeit, dass wenigstens ein bisschen davon zurückkam.

Für den Auftritt würde er den neuen dunkelbraunen (schokoladenbraun nennt ihn Veronika) Anzug mit einem hellblauen Buttondown und der roten Krawatte mit den Motorbötchen tragen.

Als Drehort wird er die neue Abfüllanlage wählen. Vor der GRA 217C stehen und ein paar Kernsätze zur Philosophie der ZATAG äußern, während hinter ihm auf dem Laufband die frisch abgefüllten Becher Zata Light vorbeiziehen. Danach wird er das Fernsehteam durch den Betrieb führen und darauf achten, dass er nicht von hinten gefilmt wird.

Stahel ist es gewohnt, dass seine Anweisungen befolgt werden, und reagiert etwas gereizt, als ihm der Fernsehjournalist am Drehtag erklärt, dass kein ausführliches Porträt der ZATAG und ihres Chefs geplant sei, sondern nur ein kurzes Statement im Rahmen eines Beitrags zum Produktionsstandort, bei dem auch andere Manager der Region zu Wort [11] kommen. Erst als die Fernsehleute ganz unverblümt damit drohen, auf Stahels Statement ganz zu verzichten, lenkt er ein. Immerhin setzt er als Drehort die GRA 217C durch.

Als der Produktionsleiter den Fernsehleuten und Stahel am Eingang die weißen Übermäntel und die Einweghäubchen aushändigt, wird ihm die hygienische Problematik des gewählten Drehorts bewusst. Einen Moment lang ist er versucht, den Dreh ins kleine Sitzungszimmer mit dem von Schülern der Gewerbeschule künstlerisch verfremdeten ZATA-Schriftzug zu verlegen. Aber im Hinblick auf die Werbewirksamkeit der hinter ihm auf dem Laufband vorbeiziehenden frisch abgefüllten Becher Zata Light und auf die günstigen Auswirkungen, die eine Kopfbedeckung auf die gelichteten Stellen seines Haarwuchses hat, lässt er sich von seiner Sekretärin Frau Meierhofer in Übermantel und Hygienehäubchen helfen.

Das Statement ist nach dem achten Take im Kasten, und das Foto, das Frau Meierhofer mit ihrer Digitalkamera schießt, bestätigt Stahel, dass ihm das Outfit etwas sympathisch Uneitles, Zupackendes verleiht.

Aber als er das Foto am Abend Veronika zeigt, findet sie: »Du siehst aus wie Frau Holle.«

In dieser Nacht macht Stahel kein Auge zu. Wiegt der Werbeeffekt für Zata Light und die ZATAG die Schmach eines Fernsehauftrittes als Frau Holle auf? Geht seine Verantwortung dem Unternehmen gegenüber so weit, dass er sich im Dienst der Verkaufsförderung vor Millionen Zuschauern lächerlich machen muss?

Am Morgen lässt er sich mit dem zuständigen Redakteur verbinden und verlangt eine Wiederholung des Drehs vor [12] anderem Hintergrund. Als dieser nicht darauf eingeht, zieht Stahel sein Statement zurück.

Der Beitrag wird dann auch mit gewichtigen Statements sämtlicher Konkurrenten der ZATAG ausgestrahlt. Stahel kommt nicht vor. Außer in der Ankündigung der größten Programmzeitschrift.

Das Bild wurde vom Fernsehen zur Verfügung gestellt.

[13] Erni und die Humorkultur

Erni verfolgt sehr gewissenhaft die Entwicklungen auf dem Gebiet der Managementtechniken, denn wer sich nicht weiterbildet, ist weg vom Fenster. In diesem Zusammenhang stößt er auf einen höchst interessanten Ansatz: Humor als Führungsinstrument. Nicht Humor im Sinne von: Ab und zu ein guter Spruch lockert die Stimmung und dient dem Betriebsklima. Sondern Humor im Sinne von Kompetenzfaktor.

Erni ist von Haus aus nicht ein ausgesprochenes Humortalent. Nicht, dass er humorlos wäre. Er gehört nur zu den Menschen, die manchmal etwas Mühe haben, ernst und lustig zu unterscheiden. Er hat es gerne eindeutig ernst oder eindeutig lustig, der fliegende Wechsel zwischen beiden ist nicht so seine Sache. Das wirkt dann manchmal so, als hätte er eine lange Leitung. Was natürlich überhaupt nicht zutrifft.

Deswegen kommt seinem Charakter dieser Ansatz entgegen. Humor als ernsthafter Bestandteil des Unternehmensleitbilds ist etwas, was er sich zutraut.

Anders verhält es sich mit dem Witz. Wenn man den Humor als die Fähigkeit definiert, Spaß zu verstehen, dann ist der Witz vielleicht die, Spaß zu machen. Und diese Fähigkeit ist Erni nun nicht gerade angeboren. Aber er sagt sich, dass ihm auch die Fähigkeit, vernetzt zu denken und [14] lösungsorientiert zu planen, nicht in die Wiege gelegt wurde. Er hat sich im Laufe seiner Karriere so viele Eigenschaften angeeignet, da wäre es doch gelacht, wenn ihm das ausgerechnet in humorkultureller Hinsicht nicht gelingen sollte. In jedem von uns steckt ein Clown, schreibt der Verfasser des Fachartikels, man muss ihn nur entdecken.

Der Clown in Erni hat sich gut versteckt. Vor dem kleinen Spiegel in der Tür seines USM-Schranks im Büro gibt er sich jedenfalls nicht zu erkennen. Und auch Frau Knaus reagiert auf sein »Jupeidi« mit einem mechanischen »Jupeida«, als er kurz darauf durch sein Vorzimmer stürmt.

Aber am Abend beim Zähneputzen vor dem Badezimmerspiegel hat er das Gefühl, einen kurzen Blick auf den Clown in sich zu erhaschen. Der ernste Blick über dem blendend weißen Schaumgrinsen sieht irgendwie komisch aus, und auch ein wenig tragisch. Wie bei einem richtigen Clown.

Möglich, dass der gestreifte Pyjama diesen Eindruck noch etwas verstärkt. Rote und gelbe Längsstreifen auf blassblauem Grund. Eigentlich ein klassischer Pyjama, aber mit kurzen Ärmeln. Und – wenn er ein paar Schritte zurückgeht, deutlich zu erkennen – auch mit kurzen Hosen. Ein Sommerpyjama im Spätherbst! An sich schon nicht unkomisch. Und dass es ein L ist statt eines XL, betont das Humorvolle des Ganzen noch. Verleiht ihm etwas geradezu Grockhaftes.

Doch, doch, jetzt sieht er ihn, den Clown in Erni. Er muss ein bisschen schmunzeln, dass der ihm so lange hat verborgen bleiben können. Er sucht auf Cornelias Seite der Spiegelablage nach einem Lippenstift und – schminkt sich die Nase rot!

[15] Jetzt steht er vor ihm, der Marcel Marceau des Managements, der Dimitri der Führungselite.

Er lacht laut und lange. Dann geht er, um die Wirkung auf Drittpersonen zu testen, Adrian (6) eine gute Nacht wünschen.

Das Kind weint bis in die frühen Morgenstunden.

[16] Pfister präsentiert

Wenn Pfister noch rauchen würde, würde er sich jetzt eine anstecken. Er steht in der Kaffeeküche der Direktionsetage und stellt sich vor, was im großen Sitzungszimmer mit seiner Installation passiert: Jemand stößt versehentlich an seinen Beamer, und während er ihn geraderückt, verstellt er die Schärfe und hinterlässt Mayonnaisespuren von seinem Lunchbrötchen auf der Linse. Jemand stolpert über das Kabel, weil das Klebeband, mit dem er es gesichert hat, auf dem Teppichboden nicht hält, und reißt den Beamer zu Boden.

Aber als die Assistentin von Dr. Lauer ihn ins Sitzungszimmer führt, scheint alles in Ordnung. Die Teilnehmer des Meetings verstummen. Nur der CEO, Dr. Lauer, spricht noch mit Dr. Wirz, dem Linienvorgesetzten von Pfisters Linienvorgesetztem.

Jetzt hat auch Dr. Lauer ihn bemerkt, schaut ihn über den Rand seiner Halbbrille an und sagt: »Nun, denn, Herr…«, er wirft einen Blick auf die Traktandenliste, »…Pfister, legen Sie los.«

Das ist er, der große Moment, auf den Pfister sich die letzten vier Wochen so minuziös vorbereitet hat: seine Präsentation vor dem Topmanagement. Ein kurzer Herzaussetzer, dann geht er »flott«, wie er es gelernt hat, zum Beamer, schaltet ihn ein und klappt seinen Laptop auf.

Aber er beginnt nicht mit der Präsentation. Er nimmt [17] Kontakt auf mit dem Publikum. Er versammelt die Blicke auf sich. Hier steht der Coming Man des Hauses und bittet um – nein: verlangt die verdiente Aufmerksamkeit der Unternehmensführung für das, was er vorzubringen hat.

Es dauert ein paar quälende Sekunden, bis er die volle Aufmerksamkeit besitzt, und er hängt noch ein paar dran. Erst dann begrüßt er die Runde und lässt nahtlos sein Purpose Statement folgen. Was will ich mit dieser Präsentation? Was ist das Lernziel? Wo stehen wir, und wo wollen wir hin?

Diesen Einstieg fokussiert er voll auf Dr. Lauer und Dr. Wirz, weil man mit Purpose Statements bei der obersten Führungsebene am meisten Pluspunkte erzielt. Die nachfolgende Agenda, eine Art Szenario der bevorstehenden Präsentation, richtet er an die gesamte Runde. Dann legt er los.

Er hat die ganze Präsentation farblich auf Anzug und Krawatte abgestimmt. Viel Blau, viele Goldtöne, kein Grün, Rot nur äußerst sparsam. Er verzichtet absichtlich auf einen Laserpointer und deutet lediglich mit seinem Mont Blanc auf die Punkte, die er besonders hervorheben will. Das gibt ihm die Möglichkeit, immer wieder vor die Leinwand zu treten und in den Farbstrahl des Beamers zu tauchen. Wie zufällig werden Schlagworte wie »future«, »challenge« und »success« auf seinen Rücken oder auf die weiße Hemdbrust projiziert.

Pfister spürt, wie er sein Publikum in den Bann zieht. Wie er mit seiner Präsentation eins wird. Wie er mit jeder Folie immer untrennbarer mit der Lösung verbunden wird. Er ist die Lösung.

Nach der letzten Folie ist es einen bangen Moment still. [18] Dann beginnt Dr. Wirz zu klatschen, und der Rest der Runde stimmt ein.

Pfister verbeugt sich, klappt seinen Laptop zu und verlässt unter Applaus den Raum. Draußen rammt er die Faust in die Luft und stößt einen lautlosen Triumphschrei aus.

Drinnen beugt sich Dr. Lauer zu Dr. Wirz und raunt: »Haben Sie das verstanden?«

»Nein«, antwortet Dr. Wirz, »aber es war super präsentiert.«

[19] Weders stilles Qi Gong

Weder steht mit geschlossenen Augen in Socken im Büro. Aus der Micro-Stereoanlage klingt leise meditative Musik. Er hat das Jackett ausgezogen und die Krawatte gelockert und entspannt die Stelle zwischen den Augenbrauen nach vorn, bis eine Empfindung von Weite und Helligkeit in seiner Stirn entsteht. Danach geht er zur zweiten vorbereitenden Übung. Er lässt kurz fernste Geräusche ins Ohr eindringen, um ein Gefühl von Ruhe und Raum entstehen zu lassen.

Das Fernste ist das Klicken der Tastatur von Frau Zehnder, die im Vorzimmer darüber wacht, dass er nicht gestört wird. Er lauscht dem Klicken so lange, bis sein Atem leicht, lang, gleichmäßig und tief wird.

Jetzt lässt er das Lächeln entstehen. Er lässt seine Mundwinkel leicht nach oben wandern und beobachtet mit seinem inneren Auge, wie es sich im Gesicht ausbreitet. Warm, ruhig und hell stellt sich ein Gefühl sanfter, freundlicher Heiterkeit ein.

Er lächelt aus den Augen. Er lächelt aus dem Scheitel. Er lächelt aus der Brust.

Das sanfte, warme Gefühl, das durch das Lächeln ausgelöst wird, breitet sich im ganzen Körper aus bis in die Hände und Füße. Weder würde sich gerne einmal in einem großen Spiegel sehen als diese Verkörperung eines einzigen milden Lächelns.

[20] Jetzt ist er bereit für die Stehübung: Er beginnt sich zu verwurzeln. Von seinen schulterbreit auseinandergestellten Füßen wachsen dicke Wurzeln durch den Spannteppich, den Fußboden, das Büro von Wüthrich, Finanz, und weiter durch das Marketing, die Disposition, die Administration, den Empfang, das Archiv und die zwei Stockwerke der Tiefgarage. Sie finden Halt in der kühlen, lehmigen Erde tief unter dem Grundwasserspiegel.

Er zieht das Kinn ein wenig an und dehnt den Nacken. Sein Scheitelpunkt hebt jetzt seinen Kopf hinauf. Hinauf durchs große Sitzungszimmer, hinauf durch die Dachterrasse, auf der an schönen Sommertagen der Unternehmensleitung zuweilen ein kalter Imbiss serviert wird, hinauf durch die Hochnebeldecke, hinauf durch die Ozonschicht. Er verankert sich fest im Weltall.

Das ist Weders Lieblingsstelle bei dieser Übung. Dieses Heranwachsen zu seiner wahren inneren Größe. Er weitet die Brust, lockert die Schultern, drückt den Kreuzbereich leicht nach hinten und zieht den Dammpunkt etwas an.

Er geht in die Knie, als setze er sich auf einen imaginären Hocker, und hebt die Arme auf Brusthöhe in einer Geste des Umarmens. Langsam gewinnt er das Gefühl, als umarme er einen Ballon. Und dann wird nach und nach aus dem Ballon der Erdball.

So steht Weder etwa zwanzig Minuten auf dem kastanienbraunen Wollteppich seines Büros und umarmt schweigend den Erdball zu Harfe und Klangschale.

Dann löst er sich aus seiner Verankerung im Weltall und aus seiner Verwurzelung im Erdinnern, richtet sich auf und sammelt das Qi im unteren Dantian.

[21] Erst jetzt öffnet er die Augen, reibt die Handflächen gegeneinander, bis sie warm werden, und massiert die Meridianpunkte des Kopfes. Zum Abschluss klopft er Arme und Beine von oben nach unten ab, zieht Schuhe, Krawatte und Jackett wieder an und schaltet die Musik ab. Das Lächeln behält er auf.

Derart aufgebaut macht er sich an den Abbau einiger Personalpositionen.

[22] Kölliker im Herbst

Wie immer bei zweifelhafter Witterung nimmt Kölliker den Touareg von Eveline für die Fahrt zum Fitness-Parcours. Sie braucht ihn noch nicht um sechs Uhr früh, und jetzt, wo das Herbstlaub fällt, kann der Vierradantrieb nichts schaden.

Die Straßen sind leer wie nach der nuklearen Katastrophe.

Kölliker erschrickt über das Bild. Keine Ahnung, wie das in seiner sonst nüchternen Phantasiewelt hatte entstehen können. Er steht – im Gegensatz zu seiner fünfzehnjährigen Tochter Linda – der Kernenergie aufgeschlossen gegenüber.

Er schaltet die Anlage ein. Aus den Boxen schluchzt eine heisere Männerstimme einen verzweifelten Flamenco. Eine der CDs, die Eveline als Erinnerung an das gemeinsame verlängerte Wochenende in Sevilla gekauft hat, das er seit zwei Jahren verschiebt.

Er drückt auf »Radio«. Eine freudlose Frauenstimme kündigt das Nonett in Es-Dur op. 139 für Bläser und Streicher von Joseph Gabriel Rheinberger an. Kölliker schaltet die Anlage aus.

Dunkle Vorgärten voller kahler Birken säumen die nass glänzende Straße. Es regnet nicht, aber die Herbstluft ist so feucht, dass er den Scheibenwischer in der Intervallposition laufen lassen muss.

[23] Die Häuser sehen aus wie unbewohnt. Nur selten sieht Kölliker Licht hinter einem milchverglasten Badezimmerfenster. Noch ein einsamer, verantwortungsbewusster Frühaufsteher, denkt er.

Der Parkplatz des Fitness-Parcours ist leer. Das Herbstlaub verdeckt die Markierungen. Kölliker parkt nach Gefühl ein.