Burkhard Linke und Silke Dörries-Linke

mit Lucie Flebbe

SCHOCKDIAGNOSE ALS

LEBEN UND PFLEGEN:

ZWEI SEITEN EINER UNHEILBAREN KRANKHEIT

Medizinische Biografie

Linke, Burkhard; Linke-Dörries, Silke; mit Flebbe, Lucie: Schockdiagnose ALS. Leben und Pflegen: Zwei Seiten einer unheilbaren Krankheit, Hamburg, ACABUS Verlag 2014

Originalausgabe

PDF: ISBN 978-3-86282-268-3

ePub: ISBN 978-3-86282-269-0

Print: ISBN 978-3-86282-267-6

Lektorat: Alina Bauer, Elisabeth Hofmann, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: © Jieshan Kong, ACABUS Verlag

Fotos: © Burkhard Linke und Silke Dörries-Linke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

Alle Rechte vorbehalten.

www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Inhalt

Vorworte

Kapitel 1: Spätsommer 2003

Kapitel 2: In Bewegung

Kapitel 3: Alarmsignal

Kapitel 4: Stiller Alarm

Kapitel 5: Diagnose-Marathon

Kapitel 6: Mit der Keule

Kapitel 7: Restlebenszeit

Kapitel 8: Der erste Versuch

Kapitel 9: Reise ins Ungewisse

Kapitel 10: Bangkok

Kapitel 11: Der errechnete Tod

Kapitel 12: Die letzte Pfeife

Kapitel 13: Rund um die Uhr

Kapitel 14: In der Burg

Kapitel 15: Noch mehr Träume

Dank

Vorworte

Als wir die Diagnose ALS erhielten, war das nicht nur für Burkhard ein Schock, sondern auch für mich als seine Ehefrau.

Die weitreichenden Auswirkungen, die das Leben mit einem Pflegebedürftigen mit sich bringt, veränderten nicht nur das Leben meines Mannes, sondern auch mein eigenes bis in die privatesten Bereiche.

Silke Dörries-Linke, Dezember 2013

Für Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die heimtückische Krankheit an der auch der bekannte Physiker Stephen Hawking leidet, gibt es derzeit keine Heilung. Und ihre Folgen verändern das Leben in ausnahmslos allen Bereichen.

Nicht nur vom deutschen Medizinsystem fühlten meine Frau Silke und ich uns im Verlauf meiner Krankheit oft allein gelassen – manchmal kam es uns vor, als wären wir die einzigen Betroffenen, die dieses Schicksal nicht so klaglos wie möglich hinnehmen wollten.

Statt die ALS zu akzeptieren, war ich jedoch von Anfang an entschlossen, der Krankheit mit allen Mitteln den Kampf anzusagen, sei es mit einer Therapie in Thailand oder der von vielen Betroffenen gefürchteten künstlichen Beatmung.

Sowohl meine Frau als auch ich selbst hätten in dieser schweren und verwirrenden Zeit gerne mit anderen Betroffenen Erfahrungen ausgetauscht.

Leider war das nicht möglich. Die wenigen ALS-Patienten, die wir kennenlernten, schienen sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben und vermieden es, darüber zu sprechen.

Deshalb haben wir uns jeden Schritt auf unserem Weg selbst gesucht – oft genug auch erkämpft – und tun das immer noch. Bis heute lassen wir keine Chance auf Besserung ungenutzt. Dabei bekamen wir rauen Gegenwind, oft aus unerwarteten Richtungen, zu spüren und stießen auf manchen Stolperstein.

So entstand die Idee, unsere ganz persönlichen, schwierigen und manchmal auch recht abenteuerlichen Erfahrungen mit der ALS und der daraus entstandenen Pflegebedürftigkeit aufzuschreiben.

Wir hoffen, dass unsere Geschichte anderen Betroffenen und ihren Angehörigen Mut machen kann, aktiv nach ihrem eigenen Weg im Umgang mit der Krankheit zu suchen.

Burkhard Linke, Dezember 2013

Mit dem Ehepaar Linke habe ich zwei ganz besondere Menschen kennengelernt. Ihr Mut, sich auch mit der niederschmetternden Diagnose ein selbstbestimmtes, gemeinsames Leben zu erkämpfen, beeindruckt.

Ich freue mich, dass ich eine Weile an ihrem Leben teilhaben und ihre ungewöhnliche Geschichte aufschreiben durfte.

Lucie Flebbe, Dezember 2013

Kapitel 1: Spätsommer 2003

BURKHARD

Mein Fuß gehorchte mir nicht.

Jedenfalls nicht so präzise, wie ich es aus zweiunddreißig Jahren aktivem Ballsport normalerweise gewohnt war. Seit meinem achten Lebensjahr hatte ich regelmäßig in einem Verein Fußball gespielt. Recht erfolgreich, nebenbei bemerkt. Deshalb bereitete es mir eigentlich keinerlei Schwierigkeiten, den Ball mit einem Fuß eine Weile in der Luft zu halten.

Doch heute, an diesem sonnigen Spätsommertag beim Kicken auf dem Spielplatz, gelang die Übung meinem zehnjährigen Sohn besser als mir. Von der Spitze meines rechten Turnschuhes prallte das Leder wieder und wieder nach vorn ab und rollte davon, anstatt senkrecht nach oben zu springen und erneut auf meinem Fuß zu landen. Es gelang mir nicht, den Ball zu kontrollieren.

Links funktionierte es besser. Das irritierte mich. Normalerweise handelte es sich bei meinem rechten Bein um mein Spielbein, mit dem sich die Bewegungen des Balles deutlich besser koordinieren ließen.

Aber so oft ich das kleine Kunststück heute wiederholte, das Ergebnis blieb das gleiche: Ich war nicht imstande, den Ball mit dem rechten Fuß senkrecht in die Luft zu kicken.

Die Ursache zu schlussfolgern, war nicht schwierig: Es musste am Fuß liegen. Es gelang mir offenbar nicht, die Fußspitze weit genug hochzuziehen. Hing sie herunter, sprang der Ball nach vorn weg statt nach oben.

Hatte ich mir vielleicht die Sehnen auf dem Fußrücken überdehnt, ohne es zu bemerken?

Bisher hatte mein Körper immer funktioniert. Wahrscheinlich sogar sehr viel zuverlässiger als bei den meisten anderen Menschen. Der Fuß – was auch immer damit los war – würde sicherlich von selbst wieder in Ordnung kommen.

Kapitel 2: In Bewegung

SILKE

Krankenschwester wollte ich nie werden.

Verrückt im Nachhinein.

Aber mir war tatsächlich bereits als Kind bewusst, dass ich für diesen Beruf nicht geeignet war. Dabei kümmerte ich mich paradoxerweise schon als kleines Mädchen hingebungsvoll um jeden Hilfebedürftigen in meiner Umgebung. Im Krankheitsfall umsorgte ich Mensch und Tier gleichermaßen liebevoll. Meine Pflegeaufgaben nahm ich sehr ernst und war dabei überraschend ausdauernd und zuverlässig.

Mein einziges Problem dabei war, dass ich einfach viel zu viel Mitleid hatte: Ich fühlte mit den Betroffenen. Ich litt so stark mit ihnen, dass ich selbst todunglücklich wurde, wenn ich nicht in der Lage war, effektiv zu helfen. Ich konnte nicht akzeptieren, dass eine Beschwerdelinderung oder Heilung manchmal nicht möglich war. Dass mich dieses ausgeprägte Mitgefühl als Krankenschwester in Schwierigkeiten bringen würde, war mir schon sehr früh bewusst. Ändern konnte diese Gewissheit allerdings bis heute nichts daran.

Vor zehn Jahren – 2003 – starb mein letzter Hund.

Lucy war ein weißer Mops. Sie kam schon krank zu meinen Eltern und sollte ihr ganzes Leben auf ärztliche Betreuung angewiesen bleiben. Die ständigen Tierarztbesuche zerrten sichtlich an den Nerven meiner Mutter. Bald begann sie, vor einem solchen Termin bereits zu Hause zu weinen. Also habe ich ihr diese Aufgabe abgenommen und fuhr mit Lucy unzählige Male in die Tierarztpraxis.

Dabei konnte ich die Situation keineswegs besser aushalten als meine Mutter. Ich litt mehr als Lucy selbst; das Tier nahm ja nur die konkrete Situation in der Tierarztpraxis als beängstigend wahr, während ich mir bereits lange vorher Sorgen um sie machte. Aber die Kleine brauchte Hilfe, also half ich. Für mich war unser kleiner Mops ein Familienmitglied.

Nach Lucys Tod habe ich tagelang geweint.

Als jüngstes von drei Kindern bin ich in der Kurstadt Bad Pyrmont geboren und in einem nahegelegenen Dorf, inmitten der grün bewaldeten Hügellandschaft des Weserberglandes, aufgewachsen.

Das Örtchen direkt am Waldrand bestand aus knapp dreißig Häusern. Darunter waren Bauernhöfe mit für die Gegend typischen Fachwerkhäusern. Wir Kinder kletterten auf Bäume, bauten Hütten aus Ästen und Laub und spielten in den grünen Labyrinthen der Maisfelder, Verstecken‘.

Zu Hause war ich umgeben von Tieren, um die ich mich hingebungsvoll kümmerte. Meine Familie selbst hatte Katzen, einen Hund und Hühner. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es aber auch Kühe und Schweine. Auf dem Bauernhof meines Onkels durfte ich im Alter von sieben oder acht Jahren Namen für die neugeborenen Kälbchen aussuchen, die ich umsorgte.

Um meinen Vater kümmerte ich mich ebenfalls. Seit ich denken konnte, litt er unter Rheuma und einer Herzerkrankung. Mit zehn oder elf Jahren war ich alt genug, um zu verstehen, wie stark seine Beschwerden waren und dass er unter Schmerzen litt. Bald begleitete ich ihn regelmäßig zu seinen Arztbesuchen, und wenn er mal im Krankenhaus war, war ich sein täglicher Gast.

Dementsprechend verbrachte ich viel Zeit auf den Besucherstühlen am Krankenbett und lernte so schon recht früh die Abläufe des Medizinbetriebs kennen. Ich wusste, was Untersuchungen, Visiten und Therapien waren, konnte Pfleger und Schwestern von den Ärzten unterscheiden und fand mich bald auch in unterschiedlichen Kliniken rasch zurecht.

Gern versorgte ich bei meinen Besuchen auch sämtliche Zimmernachbarn meines Vaters. Ich brachte ihnen Zeitschriften und Pralinen und füllte ihre Getränke aus den Vorräten der Schwestern auf.

Trotzdem verfestigte die Teilnahme am Klinikalltag in dieser Zeit meine Gewissheit, dass eine pflegerische Tätigkeit als berufliche Aufgabe für mich nicht infrage kam. Nicht, dass ich mich ekelte oder von den teilweise detailreichen Leidensberichten der Mitpatienten meines Vaters genervt gewesen wäre. In dieser Hinsicht war ich erstaunlich geduldig und viele Patienten öffneten mir rasch ihr Herz. Ich hatte einen guten Draht zu erkrankten Menschen.

Die Zeit im Krankenhaus war jedoch jedes Mal sehr anstrengend und nervenaufreibend für mich. Oft fragte ich mich noch Wochen später, was wohl aus den Mitpatienten meines Vaters geworden war, ob sie das Krankenhaus inzwischen wieder verlassen hatten, gesund geworden waren oder es ihnen womöglich noch schlechter ging.

Die Sorge um die fremden Menschen ließ mich nicht los. Es gelang mir nicht, abzuschalten und die ganzen Leidensgeschichten zu vergessen. Nach jedem Krankenhausaufenthalt meines Vaters hatte ich tagelang Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen.

In persönlicher Hinsicht aber machte mich die frühe Konfrontation mit der Krankheit meines Vaters und ihren Auswirkungen stärker. In unserer Familie war es eine Selbstverständlichkeit, zusammenzuhalten. Wir begleiteten einander auch in schwierigen Zeiten und lernten, mit der Erkrankung und ihren Folgen umzugehen und unser Leben weiterzuleben.

Wir unterstützten einander.

Dass das längst nicht so selbstverständlich war, wie es mir damals vorkam, sollte mir erst viel später bewusst werden.

Trotz der Grübeleien, in die mich die Konfrontation mit der Krankheit meines Vaters gelegentlich versinken ließ, war ich alles in allem ein kreatives, fröhliches Kind, das gern bastelte, viel lachte und nebenbei ein wenig zur Sturheit neigte. Ich bin Linkshänderin und wie damals noch üblich versuchten meine Lehrer in der Schule hartnäckig, mich umzuerziehen. Schreiben lernte ich mit der rechten Hand; alles weitere erledigte ich weiterhin unbeirrt mit links.

Auch für Fußball interessierte ich mich schon früh, denn der Ballsport war bei uns zu Hause Dauerthema. Gerade weil er selbst gesundheitlich eingeschränkt war, sah mein Vater sich alle Spiele an. Ich selbst kannte mich bald ebenso gut aus. Ich war immer auf dem Laufenden und wusste auswendig, wer derzeit an der Tabellenspitze stand.

Ich wuchs zusammen mit meiner zehn Jahre älteren Schwester und meinem neun Jahre älteren Bruder auf. Bereits mit neun Jahren machte meine Schwester mich zur Tante und von da an kümmerte ich mich begeistert um meine kleine Nichte, die eher eine jüngere Schwester für mich darstellte. Im Laufe der Zeit kamen noch drei weitere Neffen dazu.

Es machte mir Spaß, mich mit den kleineren Kindern zu beschäftigen. Stundenlang konnte ich mit ihnen spielen.

Nach dem Schulabschluss musste ich nicht lange über meinen weiteren Weg nachdenken: Ich wollte Erzieherin werden. Die Arbeit mit den Kindern, aber auch die kreativen Anteile des Jobs wie Basteln, Umräumen und Dekorieren, machten mir Spaß.

Als ich die schulische Ausbildung beendet und meinen Abschluss in der Tasche hatte, stieß ich allerdings auf Stolpersteine, die ich vorher nicht gesehen hatte.

Statt eine Anstellung in meinem erlernten Beruf zu finden, landete ich mit Anfang zwanzig erst einmal in einem Bürojob. Begeistert war ich darüber im ersten Augenblick nicht. Büroarbeit war wirklich nicht mein Traum gewesen.

Überraschenderweise machte es mir der neue Job unerwartet leicht, mit ihm Freundschaft zu schließen: Ich hatte nette Kollegen und freundliche Chefs und meine fröhliche und kommunikative Art wurde geschätzt. Nach kurzer Zeit durfte ich Kundengespräche führen und kassieren. So entdeckte ich ganz nebenbei mein Verkaufstalent, das ohne diese unvorhergesehene Abzweigung in meinem Lebensweg vielleicht unentdeckt geblieben wäre.

Auch von den Kunden bekam ich viel Anerkennung und Lob. Nicht zu vergessen, verdiente ich jetzt natürlich zum ersten Mal mein eigenes Geld und konnte auf eigenen Füßen stehen.

Meine erste eigene Wohnung renovierte und strich ich selbst. Meine alten Gardinen färbte ich passend ein. Blau. Neue Vorhänge konnte ich mir noch nicht leisten.

In meinem neuen, eigenen Leben fühlte ich mich auf Anhieb wohl. Selbstständig. Erwachsen. Frei.

Ich genoss die neue Unabhängigkeit in vollen Zügen. Ich ging aus bis spät in die Nacht, gönnte mir vom ersten Geld schicke Klamotten und reiste spontan, solange der Lohn reichte.

Meist ging es ab in die Sonne. Gern warf ich aus einer Laune heraus ein paar leichte Sachen in meinen winzigen Koffer und machte mich auf den Weg gen Süden. Vorzugsweise nach Spanien oder Italien, um am Strand zu feiern oder zu faulenzen.

Aber auch Städtereisen hatten ihren Reiz. Dabei war es mir wichtig, nichts zu verpassen. Ich war tagelang auf den Beinen und nahm möglichst jede Sehenswürdigkeit mit: Beim Kurztrip nach Hamburg zum Beispiel durften weder die Reeperbahn noch die Hafenrundfahrt oder der Fischmarkt fehlen.

Langeweile durfte bei mir nicht aufkommen. Allerdings gestaltete es sich als äußerst schwierig, einen Menschen – bestenfalls einen Partner – zu finden, der genauso lebenslustig, aktiv und spontan war. Viele meiner Bekannten und Bekanntschaften hielten mein Tempo auf Dauer einfach nicht durch. Ihnen ging irgendwann schlicht die Puste aus.

Das änderte sich erst 2005.

In jenem Jahr begegnete ich Burkhard. Alles passte auf Anhieb. Mein Tempo war auch seins: Autobahn, linke Spur. Er konnte Schritt halten, blieb nicht nach den ersten Wochen übermüdet hinter mir zurück.

Oft gingen wir bis morgens aus, fuhren einfach spontan an die See oder gleich in den Urlaub. So gut wie immer waren wir unterwegs. Kaum zu Hause angekommen, wurde die Wäsche gewaschen und der Koffer wieder bereitgestellt.

Wir nutzten jeden Tag, jede freie Stunde. Spontan ging es an den Wochenenden nach Dresden, Köln, Hamburg, zum Wandern in den Harz oder zum Oktoberfest nach München.

In den ersten zwei Jahren unserer Beziehung haben wir mehr unternommen, als manch andere Paare in zehn gemeinsamen Jahren schaffen.

Im Nachhinein bin ich froh darüber.

BURKHARD

Ich war mein Leben lang in Bewegung, wahrscheinlich mehr als viele andere. Habe ohne Langeweile gelebt. Konsequent.

Geboren wurde ich am 30. Januar 1962 als ältester Sohn von dreien. Erst kurz vor meiner Geburt waren meine Eltern von Hamburg nach Hameln im Weserbergland gezogen. Es waren berufliche Gründe, die meine Familie in die Rattenfängerstadt führten. Mein Vater war zuvor als Maschinenbauingenieur bei einer großen Schiffbaufirma im Hamburger Hafen tätig gewesen. Eine in Hameln ansässige Firma, die Straßenbaumaschinen fabrizierte, hatte ihm eine bessere Anstellung angeboten. Dort entwickelte er jetzt die großen, gelben Maschinen, die auf Autobahnen den Straßenbelag aufnehmen. Damals gab es nur zwei Hersteller in ganz Deutschland.

Noch im selben Jahr bauten meine Eltern ein Haus am Stadtrand von Hameln. Die gesamte Gegend war ein Neubaugebiet, in dem sich zahlreiche Familien mit Kindern angesiedelt hatten.

Ich gehörte zu den geburtenstarken Jahrgängen der sechziger Jahre und hatte unzählige Spielkameraden und -kameradinnen in unmittelbarer Umgebung. Im Sommer waren die Straßen unserer Siedlung voll mit Kindern, die Rollschuh oder Fahrrad fuhren. Meine Brüder und ich brauchten nur vor die Tür zu gehen und uns an den Spielen zu beteiligen.

Mein Interesse für Technik wurde bereits im Alter von vier oder fünf Jahren geweckt. Ich reichte oft meinem Vater die Schraubenschlüssel, wenn er in der Grube im Boden unserer Garage saß, um unser Auto zu reparieren. Ich war fasziniert von Maschinen und Motoren. Sofort fing ich selbst an, an Fahrrädern herumzuschrauben.

Ab dem sechsten Lebensjahr kam Straßenfußball dazu.

Sehr viel Zeit habe ich als Kind auch im nahegelegenen Wald verbracht. Die grünen Weserberge mit ihren Bäumen, Felsen und Bächen boten uns Kindern einen riesigen, natürlichen Abenteuerspielplatz. Wir genossen damals wohl mehr Freiraum, als die meisten Kinder heute kennenlernen. Oft verschwanden wir gleich nach dem Mittagessen im Wald und kehrten abends erschöpft von unseren Abenteuern zurück.

Meist war ich mit mehreren Freuden unterwegs, die mein Interesse, auf sehr hohe Bäume zu klettern, teilten. Aber auch Messer- und Axtwerfen gehörten zu unseren Freizeitaktivitäten. Außerdem veranstalteten wir Seifenkistenrennen. Die Wagen bauten wir uns aus ausrangierten Kinderkarren selbst zusammen.

Natürlich ließen sich Unfälle nicht vermeiden. Hin und wieder blieb schon mal ein Messer in einem Bein stecken oder jemand fiel aus einem Baum und landete im Krankenhaus.

Als ich größer wurde, fuhr ich oft mit dem Fahrrad zum Güterbahnhof. Auf einem Abstellgleis standen mehrere ausgemusterte Dampfloks zum Verschrotten bereit. Die Maschinen fesselten unser Interesse und das Abstellgleis entpuppte sich als aufregender Spielplatz.

Wir untersuchten die Lokomotiven genau und fanden schnell heraus, dass wir hinten in den Tender klettern konnten, der in fahrbereitem Zustand eigentlich mit Wasser gefüllt gewesen wäre. Im Sommer herrschte im Innern der Dampflok eine Wahnsinnshitze. Das Metall kochte; im Vergleich dazu herrschte in einer Sauna ein geradezu gemäßigtes Raumklima.

Gern sammelten meine Freunde und ich auch trockenes Gras, stopften es in den Schornstein und steckten es an. Die Leute in den umliegenden Schrebergärten sollten denken, die Lok führe los.

Mit acht trat ich dann endlich dem örtlichen Fußballverein bei. Damals verhalfen die geburtenstarken Jahrgänge meiner Generation dem Club zu vier Jugendmannschaften in meiner Altersklasse. Heute sind viele Vereine schon froh, wenn sie eine Mannschaft zusammenbekommen.

Schon als Kind war ich meist einer der größten und kräftigsten Spieler auf dem Platz – meine spätere Körpergröße von 1,92m bei etwa neunzig Kilo Gewicht war bereits vorauszuahnen. Schnell wurde ich in der Mannschaft zum ‚Mann für spezielle Aufgaben‘. Anfangs war ich dafür zuständig, die besten Spieler der Gegenmannschaften zu decken. Später war ich als Torjäger unterwegs.

Durch den Fußballverein hat sich mein Freundeskreis schlagartig noch einmal gewaltig erweitert. Die Kinder in den vier Mannschaften meiner Altersklasse kamen aus dem gesamten Stadtgebiet. Glücklicherweise war ich mit dem Fahrrad bereits recht mobil, so dass ich meine neuen Fußballfreunde auch in anderen Stadtteilen besuchen konnte.

In dieser Zeit bildeten sich Jugendgangs, mit denen es immer wieder zu kleineren Reibereien kam. Nach der Schule verabredeten wir uns zum Raufen. Das Kräftemessen mit den anderen gehörte dazu. Durch meine Körpergröße und meine sportlichen Aktivitäten gehörte ich nicht zu den Schwachen und konnte mir rasch Respekt verschaffen.

So gelang es mir relativ früh, Selbstbewusstsein und eine gewisse Selbstständigkeit zu entwickeln. Und auch Verantwortung für andere brachten meine Eltern mir bei.

„Du bist der Älteste“, pflegte mein Vater mich zu erinnern. „Sei vernünftig und pass auf deine Geschwister auf.“

Leider siegte meine Vernunft nicht immer.

Die erschrockenen Gesichter meiner Eltern, wenn ich mal wieder mit einer zerrissenen Jacke oder Hose nach Hause kam, ließen mich hin und wieder zu einer Notlüge greifen.

„Ich bin mit dem Fahrrad gestürzt“, war eine oft strapazierte Ausrede, wenn mein Vater nicht merken sollte, dass ich mal wieder von einer Rauferei kam.

Meine Technikkarriere war nicht zu bremsen: Nachdem ich mich mit zehn Jahren an die Reparatur der Drei-Gang-Narbenschaltungen der Zweiräder meiner Freunde getraut hatte, reparierte ich mit zwölf die Mofas der älteren Nachbarskinder. Zu einer erfolgreichen Reparatur gehörte natürlich eine ausgiebige Probefahrt und so rauschte ich mit den geliehenen Mofas über abgelegene Waldwege. Mit vierzehn kaufte ich mein erstes eigenes Mofa – defekt und mit Motorschaden – von meinem Taschengeld. Ich bekam es tatsächlich wieder flott. Bald darauf, mit etwa fünfzehn, entdeckte ich, dass der Spielrasenplatz in der Nähe meines Elternhauses von älteren Jugendlichen als Motorradtreffpunkt genutzt wurde.

Kurzerhand gesellte ich mich mit meinem frisch reparierten fahrbaren Untersatz dazu. Viele der Zweiradfans, die sich dort versammelten, waren bereits volljährig. Sie fuhren natürlich schon richtige Motorräder. Ich wurde als der ‚Kleine mit dem Mofa‘ belächelt. Allerdings nur, bis die ersten von ihnen meine Schrauberqualitäten erkannten. Wenige Tage später standen die ersten Motorräder zur Reparatur in der Einfahrt meiner Eltern, was mein Taschengeld schlagartig aufbesserte. Außerdem mussten selbstverständlich auch die großen Maschinen nach der erfolgreichen Reparatur Probe gefahren werden. Wahrscheinlich verdankte ich es meiner Körpergröße und dem Helm, dass ich nie erwischt wurde.

Mein Ziel zu diesem Zeitpunkt war klar: Sobald ich den ‚großen Führerschein‘ machen konnte, würde ich ein eigenes Motorrad besitzen.

Tatsächlich war es am Ende genau andersherum: Ich besaß das eigene Motorrad bereits vor dem Führerschein.

Wie alle jungen Leute entwickelte auch ich eine Vorliebe für schnelle Maschinen. Diese gipfelte später im Ritt auf der Rakete: einer Suzuki GS X 1300 R Hayabusa mit hundertfünfundsiebzig PS und einer Spitzengeschwindigkeit von 330 km/h.

Ich verunglückte nie. Vermutlich kam mir zugute, dass ich schon als Kind auf motorisierten Zweirädern geübt hatte und die Maschinen dementsprechend beherrschte. Eine Vielzahl meiner damaligen Freunde hingegen kamen durch Motorrad- und Autounfälle ums Leben. Das war mir immer wieder eine Warnung, nicht zu übermütig zu werden.

Mit sechzehn eröffnete mir meine Vorliebe für Kleinkrafträder noch ganz andere, bis dahin ungeahnte, Möglichkeiten: Ein klarer Vorteil der Maschinen war, dass ich eine Freundin hinten auf dem Sozius mitnehmen konnte.

So entdeckte ich, sozusagen nebenbei, eine weitere meiner Leidenschaften: Mädchen.

Außerdem hatte ich mir einen kleinen Nebenjob bei der ortsansässigen Bausparkasse besorgt. Das Unternehmen beschäftigte damals etwa dreitausend Mitarbeiter.

Meine Aufgabe bestand darin, werktags von siebzehn bis neunzehn Uhr dreißig mit einem speziellen Nasssauger die Essbereiche der Kantine zu säubern und Flecken und Kaugummi von Polstern, Tischen und Boden zu entfernen.

Damit war mein Tag voll ausgefüllt: Vormittags besuchte ich das örtliche Gymnasium, nachmittags erledigte ich erst die Hausaufgaben, dann den Nebenjob und fuhr hinterher zu meiner Freundin. Oft blieb ich über Nacht, um sie am nächsten Morgen zu ihrer Lehrstelle zu begleiten. Danach schaute ich kurz zu Hause vorbei – hauptsächlich, um meine Schultasche abzuholen.

An den Wochenenden reparierte ich weiterhin Mopeds, und die Sonntagmittage blieben für Fußballspiele reserviert.

Vierundzwanzig Stunden pro Tag reichten mir zu dieser Zeit einfach nicht aus.

Nebenbei liefen zur gleichen Zeit auch die Vorbereitungen für das Abitur. Ich habe die Schule nach dem ökonomischen Prinzip betrieben: Mit minimalem Aufwand maximalen Ertrag rausholen. Aufgrund meiner vielen Freizeitaktivitäten war meine Zeit zum Lernen verständlicherweise begrenzt. Trotzdem war ich ein ganz ordentlicher Schüler, auch wenn ich die meisten Fächer als notwendiges Übel betrachtet habe. Nur die Naturwissenschaften interessierten mich wirklich.

Kurz vor dem Abitur – inzwischen war ich längst im Besitz des Führerscheins – eröffnete sich mir unerwartet eine neue Möglichkeit: Einer meiner Freunde hatte es fertiggebracht, einen Porsche kaputtzufahren!

Ich konnte dieses Auto schwer beschädigt für kleines Geld erstehen.

Die Motorradreparaturen und mein Nebenjob füllten meine Kasse zuverlässig. Dieser glückliche Umstand versetzte mich nicht nur in die Lage, das begehrte Fahrzeug tatsächlich in meinen Besitz zu bringen, sondern auch gebrauchte Ersatzteile zu erstehen. Nach wenigen Wochen hatte ich den Wagen wieder in Schuss gebracht. Meine finanzielle Lage erlaubte mir, den Wagen von einem Kumpel neu lackieren zu lassen. Natürlich rot.

Die letzten Monate vor dem Schulabschluss fuhr ich also mit einem Porsche Targa mit abnehmbarem Dach zum Unterricht.

Bedenkt man, dass zu diesem Zeitpunkt der Citroen C4 – besser bekannt als die ‚Ente‘ –, in möglichst gammeligem Zustand, das beliebteste Lehrerauto war, kann man sich die Wirkung meines Wagens auf dem Parkplatz vorstellen.

Im Frühjahr hatte ich mein Abi in der Tasche. Die letzten Wochen in der Schule machten wir zur einer großen Party.

Kurz nach dem Abitur allerdings beendete der ins Haus flatternde Einberufungsbescheid zum Grundwehrdienst die Party jäh.

Eigentlich kein Grund, in Jubel auszubrechen, doch bei der Musterung hatte ich in weiser Voraussicht als ‚Verwendungswunsch‘ die technische Truppe angegeben.

Und tatsächlich wurde mein Wunsch erhört: Ich wurde in eine Instandsetzungs-Ausbildungskompanie für Panzer in Lüneburg berufen. Mir als Technikfan kam das wie eine Einladung zu einem riesigen Abenteuer vor.

Ich absolvierte die entsprechenden Lehrgänge für Leopardenkampfpanzer und weil gerade Mangel an Schulungs-personal herrschte, wurde ich gleich nach der vierteljährigen Ausbildung selbst zum Ausbilder ernannt. Unversehens leitete ich eine Ausbildungsstation für Kampfpanzerinstandsetzung.