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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von Anzinger | Wünschner | Rasp, München

Umschlagabbildung plainpicture/Frank Baquet

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26673-7 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-04001-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-04001-4

Siebenmal hinauf- und hinunterrollend

und sich achtmal wieder erhebend.

(Japanisches Sprichwort)

ZUHAUSE

1

Es gab ein Volk, das behauptete, es könne hören, wie die Sonne nachts durch das Meer nach Osten wanderte. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, dachte Frida daran. Wie eine Feuerwalze klang das, die mit brutaler Geduld das Wasser verdrängte, es an den Ufern aufschlagen ließ. Im nächsten Moment war es ein zärtlicher Sog, wie von einem Rochen, der durch die Tiefe schwebte.

Hinter ihren Lidern wurde es rot, blinkte, einmal, zweimal, dann schneller, und erst als das Licht dauerhaft auf sie einschlug, verstand sie, dass draußen jemand Sturm klingelte. Hier drinnen hörte sie nichts, doch die rote Lampe flackerte und versuchte Dringlichkeit zu signalisieren.

Frida verließ die Kabine, sah durch das Fenster drei Leute draußen stehen. Sie schob den Riegel zur Seite. Die Tür war noch nicht einmal ganz offen, da huschte schon ein Typ mit Kamera an ihr vorbei, knipste die Leuchte an und filmte das Studio ab. Ein anderer schlug ihr auf die Schulter, als würden sie sich nach Jahren plötzlich auf einer Party wiedertreffen, wo beide sonst niemanden kannten.

Hab ich mir doch gedacht, dass Sie nichts hören. So ist das immer bei euch Tonfuzzis, sagte er.

Und Frida dachte: Der Mann ist ein Arschloch, du musst ihn sofort rausschmeißen.

Da sagte er lächelnd: Wir sind verabredet. Ich bin Mike.

Die Hand, die er ihr hinhielt, war weich und schwitzig, Alkoholiker wahrscheinlich oder Diabetes, im schlimmsten Fall beides.

KiKA, sagte er, Tigerentenclub. Wir haben telefoniert.

KiKA, wiederholte Frida und konnte sich an nichts erinnern. Es war davon auszugehen, dass der Kerl recht hatte, sonst würde er jetzt nicht mit seinem gesamten Team vor ihrer Tür stehen. Hinter ihm lehnte einer mit dickem Kopfhörer um den Hals und strahlte sie an. Schon bei seinem Anblick war klar, dass er sie später fragen würde, ob er nicht ein Praktikum bei ihr machen könnte. Praktikantengesichter erkannte sie sofort.

KiKA. Gab es auf der Welt noch zwei so unschuldige Silben, hinter denen sich etwas ähnlich Grausames verbarg?

Frida trat einen Schritt zurück und sagte, was sie nicht hatte sagen wollen und auch nicht so meinte: Ja, sicher. Kommt doch rein.

Auf dem Parkplatz öffnete sich die Tür eines Vans, aus dem zwei zwanzigjährige Kinder in Janoschpullis hüpften.

Ich mach uns erst mal einen Kaffee, rief sie zu Mike hinüber und floh in die Küche. Dort stand es im Kalender, 11:00, KiKA. Es musste ein grausiger Tag gewesen sein, als sie dem zugestimmt hatte, ein Tag mit geplatzten Aufträgen, Stromnachzahlung, Streit mit Robert, Assi krank, beim Löten die Finger verbrannt, so ein Tag.

Seit Frida vor Jahren mit SAT.1 über den Flohmarkt gegangen war, hatte sie beschlossen, sich nicht wieder auf Derartiges einzulassen. Damals hatte das Telefon gar nicht mehr aufgehört zu klingeln, immer waren es Mütter gewesen, die sie zu Kindergeburtstagen eingeladen und dabei von Vorführen gesprochen hatten. Da können Sie vielleicht ein bisschen was vorführen, was ordentlich Krach macht, und als sie ihnen sagte, dass das nicht ihre Profession sei und ihre übliche Tagesgage zudem bei 800 Euro liege, beschimpften sie Frida als herzlos und geldgeil.

Aus dem Aufnahmestudio drang grölendes Gelächter. Wahrscheinlich hatten sie die Pupsknete gefunden. Davon besaß Frida zehn Dosen, die waren ihr in den letzten Monaten geschenkt worden, sämtlich von Freunden mit Nachwuchs. Ein beliebtes Produkt aus der Spielwarenabteilung, mit dem sie rein gar nichts anfangen konnte. In deutschen Filmen wurde nicht gepupst, das war vielleicht das letzte Tabu.

Sie dachte darüber nach, sich kochendes Wasser über die Hand zu schütten. Wann immer Frida nicht weiterwusste, wünschte sie sich eine Katastrophe, gebrochene Knochen, brennende Häuser, irgendetwas, das so groß und bitter war, dass ihr ursprüngliches Problem darin einfach untergehen könnte. Die Alternative lautete: zusammenreißen, daran denken, dass sie schon ganz anderes und viel Schlimmeres, dass sie immer noch lebte und das nicht mal schlecht. Die Alternative lautete: Kopf ausschalten, Rücken strecken, weitermachen.

Frida startete ihre Vorführung mit einem Horrorfilm, für den sie sich einiges hatte einfallen lassen. Besondere Freude machte ihr der Messerstich in den Brustkorb, hinein bis ins Herz: Lasagneplatten in ein feuchtes Handtuch gewickelt, die Platten leicht eingeweicht, diese Mischung von Knacken und Saftigkeit, eine Meisterleistung war das. Im Studio lagen immer noch Selleriestangen herum, es waren viele Knochen gebrochen und durchstoßen worden in diesem Film. Frida hatte Körper zersägt und abgetrennte Köpfe im Kühlschrank tropfen lassen. Lange hatte sie nicht so viel Spaß gehabt.

Ein leises Würgen ließ sie aufblicken. Sie war hier beim falschen Kanal. Diese Leute träumten von Hamstern, mit Bindfaden aneinandergebunden, die eine fahrende Kutsche simulierten. Diese Leute waren mit der Vorstellung angereist, Frida mache hier einen drolligen Job. Also stoppte sie den Horror und gab ihnen, was sie erwartet hatten.

Sie wechselte zur Beziehungskomödie, zog sich Damenschuhe an, die diesen Namen verdienten, und stöckelte, synchron zum Bild, durchs Studio. Mit einer leichten Metallscheibe machte sie mächtig Wind, während das Mädchen auf der Promenade auf und ab lief, aus Fridas Kehle drang ein Möwenkreischen, und die Tigerenten klatschten aufgeregt. Es war erstaunlich, wie wenig die Leute hörten, obwohl sie jeden Tag untergingen in Geräuschen. Sie nahmen sie nicht wahr, kannten deren Klang kaum. Wie versonnen sie schauten, wenn Frida ihnen ein Geräusch gab – wenn sie zum ersten Mal den Klang einer Jacke wirklich hörten, das Öffnen einer Handtasche, das Verschließen einer Tür, einen anfahrenden ICE, das Rauchen einer Zigarette, das niemals bloß Rauchen war. Es gab mindestens zwanzig Arten, eine Zigarette zu rauchen, und jede klang anders. Frida konnte Menschen allein daran erkennen. Manche sogen den Rauch ein, als würden sie künstlich beatmet, andere stießen ihn mit einem dünnen Pfeifen aus, und einige rauchten, wie sie atmeten, leise, gleichmäßig, dazu nur das Knistern des Tabaks. Das waren die Verträumten, Verliebten. Die Glücklichen.

Zwei Stunden sprang, stampfte, stöckelte Frida in dem Studio herum, machte Gewitter, Pferderennen und Feuerwerk, verstand die Witze der Moderatoren nicht, hatte auch keinen Praktikumsplatz und brauchte keine Kopie von der Sendung.

2

Wie die Liebe da rausqualmte. Frida sah das Licht im Haus, betrachtete den Rauch, der aus dem Schornstein stieg, stellte den Motor ab. Alles war ruhig. Die gemauerten Schulden mit zu kleinen Fenstern darin. Das hatte sie beide von Anfang an gestört, die zu kleinen Fenster und die Tür aus Fichte. Das war das Erste gewesen, das sie hatten ändern wollen. Fünf Jahre war das her und die Tür mittlerweile so verzogen, dass man sie nur noch mit einem Knall hinter sich schließen konnte, als würde man das Haus für immer verlassen. Hätte Frida wirklich vor, nie wiederzukommen, müsste sie die Tür offen stehen lassen. Das Fehlen des bekannten Geräusches würde Robert durch die Glieder fahren. Aber sie ging jeden Tag mit einem gequälten Knall, den niemand mehr hörte. Sie kam sogar mit einem Knall zurück. Der hatte etwas Stumpfes an sich: ein müder Körper, der gegen massives Holz fiel und dann die Tür von innen abschloss.

Zuhause.

Roberts Schürze hing, noch feucht vom Dunst, über dem Küchenstuhl. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe.

Du kommst spät, sagte er.

Seit Wochen kam Frida spät, manchmal zu spät, manchmal gar nicht, verbrachte die Nächte gleich im Studio unter Monstern oder schwitzte im schweren Mantel, das Sturmgewehr im Arm, eine ganze Staffel lang.

Robert schenkte ihr Wein ein, den Burgunder aus Baden, von dem sie noch vier Kartons im Keller hatten. Mit diesem Wein macht man auf keinen Fall etwas verkehrt, hatte es geheißen, und das war ja schon mal was. Sie legte den Kopf an Roberts Schulter und sagte: Ich kann heute nicht so lang. Ich muss morgen noch drei Menschen umbringen.

Ich dachte, es wären schon alle tot.

Mir kamen Tigerenten dazwischen. Aber morgen, sagte sie, morgen wird der Rest der Truppe ausgelöscht. Nie wieder mache ich eine Kriegsserie. Das ist körperliche Schwerstarbeit. Erinnere mich bloß daran.

Eigentlich steht dir das ganz gut.

Ich hätte nicht gedacht, dass eine Frau mit einer AK-47 im Arm sogar bei dir funktioniert.

Während der ersten Aufnahmen hatte Frida den Eindruck gehabt, dass der Assistent sie plötzlich lüstern ansah. Andererseits war er ein Junge, der sich eine Pistole auf die Brust hatte tätowieren lassen, da war mit so etwas zu rechnen gewesen. Robert interessierte an Kriegen ausschließlich die Taktik. Als sie ihm letzte Woche einige Szenen vorgespielt hatte, war er am Tisch eingeschlafen.

Sie trank einen Schluck, als plötzlich das Rattern von Scheinen aus einem Geldautomaten durch die Küche schallte. Auf dem Display sah sie eine unbekannte Nummer, ging trotzdem ran und bereute es sofort. Dreimal sagte sie nein, dann legte sie auf.

Neuer Klingelton?, fragte Robert, und Frida erzählte ihm von dem Jungregisseur, der sie seit einer Woche täglich anrief und das sehr wahrscheinlich so lang tun würde, bis sie weich geworden war. Eine Pest, sagte sie. Es war schwierig, diese Jungs loszuwerden. Sie waren besessen und begeistert von sich selbst, und zu oft war Frida darauf reingefallen, in ihrer Jugend persönlich, jetzt bloß noch beruflich, doch das Ergebnis blieb das Gleiche: Sie verschwendete Zeit, Geld und Energie. Von allem besaß Frida derzeit nicht besonders viel, und so sagte sie dem Jungregisseur seit einer Woche: Rufen Sie mich nicht mehr an. Das schien ihm zu gefallen. Allzu oft weckte man Ehrgeiz in den Falschen.

Robert wollte wissen, ob Frida sich den Film wenigstens angesehen habe, und das hatte sie nicht, natürlich nicht. Hatte sie sich den Film erst einmal angesehen, dann brauchte eine Ablehnung Gründe, erklärte sie, inhaltliche Gründe, was besonders enervierend war. Inhaltliche, sogenannte ehrliche Kritik, die dann stundenlang wegdiskutiert werden musste. Als gäbe es tatsächlich gute Gründe für ereignislose Filme mit kargen und abgehangenen, wenn nicht eigentlich verschimmelten Dialogen.

Robert schenkte ihr erneut das Glas voll.

Ist ja gut, sagte er. Komm wieder runter. Der Junge hat seinen ersten Film gemacht. Er gibt dafür alles.

Soll er doch, sagte sie, aber dass diese Typen immer gleich erwarten, dass die ganze Welt alles dafür gibt, das geht mir auf die Nerven. Und natürlich immer für umsonst. Das haben sie nämlich vergessen in ihrer Kalkulation. Die Vertonung, wenn nicht gar die gesamte Postproduktion, ist ihnen so durchgerutscht, oder sie haben dann doch ein bisschen länger gedreht, ist alles ein bisschen teurer geworden, und schon mit dem letzten Drehtag war das Geld alle, und jetzt schnorren sie sich durchs Telefonbuch. Am Ende bist du es, der ihnen den Film ruiniert, die Festivals, den Durchbruch. Eigentlich bist du schuld, dass sie die letzten drei Jahre in den Wind geschossen haben, weil ihr Film niemals fertig wird.

Frida holte Luft.

Scheiße, sagte sie, das muss doch mal aufhören mit dem Low Budget.

Sie schob einen Krümel auf der Tischdecke hin und her, hörte ihn knistern unter ihrem Finger. Eine ihrer neuesten Macken, über die Tischdecke streichen, Kerzenwachs abkratzen, die Oberflächen glätten.

Guck dir den Film an, sagte Robert, vielleicht taugt er was.

3

Robert war in seinen Einschätzungen, Vermutungen und Instinkten sicherer als sie. Ohne seine Klarheit würde Frida wahrscheinlich immer noch an irgendeinem Empfangstresen sitzen. Wahrscheinlich säße sie ohne Robert sogar an einem ganz anderen Tresen, und das schon vor sieben, wenn das Bier am kältesten war und die Barhocker noch frei. Kurzum: Frida verdankte Robert ihr jetziges Leben. Und ließ ihn das keine Sekunde spüren. Seit Wochen konnte sie nur daran denken, dass ihr Auto ohne TÜV fuhr, sie ein neues Mischpult brauchte und mittlerweile die dritte Produktionsfirma, für die sie gearbeitet hatte, in die Insolvenz gegangen war. An all das dachte Frida auch jetzt, als sie die Tür zum Studio aufschloss und mit dem Fuß die Post zur Seite schob. Unangenehmes Zeug, diese grauen Umschläge. Alles Unangenehme steckte in grauen Umschlägen, das Finanzamt, der Polizeipräsident, das waren Briefe, die sie nicht lesen wollte. Frida ging darüber hinweg, setzte Kaffee auf, wahrscheinlich war sie der letzte Dienstleister in der Filmbranche, der noch anständigen Bohnenkaffee ausschenkte, in einem Becher, der am Rand angeschlagen war.

Auf dem Tisch lag seit Tagen der Film, ohne Anschreiben, ohne Karte, ohne Pralinen, ohne Schnaps. Selbstbewusst, dachte Frida. Sie wusste nichts von ihm. Wahrscheinlich zog er sich an wie ein Skater. Fast alle Jungregisseure sahen so aus. Sie fragte sich, ob aus einem Skater überhaupt etwas anderes werden konnte als Filmemacher oder DJ. Das Einzige, was sie von ihm kannte, war seine Stimme, die brüchig klang, gebrochen fast, als wäre er noch nicht ganz aus einem Albtraum erwacht. Vielleicht hatte er traumatische Jugendjahre in einem Elite-Internat verbracht oder als Kind den Tod der Schwester mit ansehen müssen, etwas in der Art. Auf jeden Fall hatte er ziemlich einen mitbekommen, das hörte Frida sofort.

Sie setzte sich in ihre Kabine, um das Hüftknacken rauszuschneiden. Eigentlich müsste das ein Arzt erledigen, fand sie, ein für alle Mal. In dem kleinen Raum, in dem nichts war außer Technik und Ventilation, hörte sie ihre eigenen Laufschritte über die Boxen. Sie fügte das Knirschen der Sandpiste hinzu, sah die Bilder auf zwei Monitoren: Es knackte bei jedem Schritt. Sie hielt die Spur an, machte einen Schnitt, ließ eine Sekunde laufen, schnitt wieder. Eine stupide Arbeit, die sie nur aus Scham selbst erledigte. Das eigene Hüftknacken war zu intim, da ließ man keinen Assistenten ran. Wenn Frida in ihrer Kabine saß, könnte draußen die Apokalypse anbrechen, und sie würde sie verpassen. Ein Ort, der keine Zeit kannte, der überall sein konnte, ein Ort wie ein Körper ohne Gebrechen. Nirgendwo sonst gab es Stille. In den trockensten Wüsten heulten die Dünen, wenn der Wind an ihnen zerrte, und das war kein tröstliches Geräusch.

Sie blickte sich im Aufnahmestudio um. Der Raum wurde langsam zu klein, ein gewaltiges Chaos herrschte. Frida sammelte jeden Müll ein, der nach etwas klang. Kürzlich hatte sie aus dem schrottreifen Wagen einer Freundin den Fahrersitz ausgebaut, der stand jetzt neben einem alten Flügelfenster. Aus jedem Jahrzehnt besaß sie einen Telefonapparat, knapp zwanzig verschiedene Brillengestelle und mindestens so viele Schuhe. Überall lagen Stoffmuster herum, Leinen, Baumwolle, Seide, Jute, Kord, Filz, Samt. Unter dem Holztisch ein Wasserschlauch, eine Plastikwanne, ein Motorradhelm, ein Bunsenbrenner, ein paar Münzen, ein paar Scheine. Darauf ein Taschenbuch, ein gebundener Krimi, eine Bibel in Leder. In der Ecke standen die Gewehre, aber heute fehlte ihr die Kraft zum Töten.

Frida holte sich frischen Kaffee, ging vorbei an ihrem Schreibtisch, und was sich auf dem türmte, brauchte nicht weniger Kraft. Seit zwei Wochen hatte sie keinen einzigen Brief geöffnet. Was ich nicht sehe, sieht mich nicht, war ihre Strategie. Sie stammte aus einer Zeit, in der es manchmal geholfen hatte, sich hinter einem Baumstamm oder in einem Bettkasten zu verstecken, bis die Lage sich entspannt hatte. Die frühen Jahre, in denen sie sich die Ohren zugehalten und dabei selbst so laut geschrien hatte, bis Ruhe eingekehrt war. Das war lang her. Heute kamen die Probleme geräuschlos, in Form von Post, manchmal per Telefon, am Küchentisch, am Tresen. Gedämpfte, schwere Stimmen. Katastrophen und Krisen machten wenig Lärm. Sie schlichen sich an, und Frida schlich ihnen entgegen.

Zuerst die weißen Umschläge, dann die grauen. Strafzettel, Rechnungen, zweite Rechnungen, Mahnungen, Werbung für Boxen, die sie schon seit Jahren verdammt gern hätte. Dazwischen eine Postkarte aus Thailand von einem ehemaligen Assistenten, der Sound 30 Meter unter dem Meer: Wahnsinn. Danach der letzte Umschlag, den sie mit geschlossenen Augen aufriss, das Papier herausnahm und durchatmete, bevor sie unter halbgeöffneten Lidern versuchte, die Zahl nicht zu erkennen, die dort stand, die fünfstellig war und ein Genickschuss.

4

Was ist denn mit dir passiert?, fragte Robert, als die Tür hinter Frida ins Schloss knallte. Du kommst so früh. Und, er begutachtete ihr Gesicht, du siehst komisch aus, aufgequollen, nein, wie Treibgut siehst du aus.

Das hast du lieb gesagt, danke.

Sie ging an ihm vorbei in die Küche, fühlte sich nicht aufgequollen, sondern ausgedörrt.

So hab ich dich noch nie gesehen. Er stand staunend vor ihr. Hast du was genommen?

Was denn genommen?

Kortison oder so. Eine geheime Botox-Behandlung vielleicht?

Setz dich, sagte sie zu ihm. Setz dich hin.

Stuhl oder Boden?, fragte er.

Boden. Boden ist besser. Da können wir sicherer umfallen.

Nebeneinander lehnten sie an der Wand.

Frida sah nach oben, ließ ihren Blick durch die Küche schweifen, durchdrang die Decke, hinauf in das darüberliegende Schlafzimmer mit der Astronautenmatratze und sagte: Ich schlage vor, wir bleiben einfach hier sitzen und verkaufen den Rest.

Was ist passiert, Frida?

Nichts. Sie reichte ihm den Bescheid. Ich habe nur gut verdient. Ziemlich gut wohl.

Frida wusste nicht, wo es hin war, das elende Geld. Wahrscheinlich hatte sie nur einfach ein Jahr lang keine größeren Sorgen gehabt. Das war schließlich exakt der Plan gewesen, da dreht man nicht durch, wenn er aufgeht. Da zuckt man nicht mal.

Ich sag Ihnen was, hatte der Steuerberater gesagt. Drei Viertel meiner Klienten treten nach einem solchen Bescheid vor den Altar. Das reduziert die Summe um die Hälfte, mindestens, und von da an jedes Jahr. Wenn das kein Grund ist.

Frida hatte wortlos aufgelegt und ihren Kopf auf den von Briefen weichen Tisch fallen lassen.

Ja, sie könnten heiraten, kleiner Kreis natürlich, ganz klein, Standesamt im Bezirk, Fläschchen Champagner, Stück Kuchen, vielleicht sogar Hochzeitsreise. Sie hätte auf dem Rückweg gleich die Ringe kaufen können, eine echte Überraschung noch vor dem Abendessen: Ehe. Das dicke Ding.

Frida lag inzwischen auf dem Boden und zerbiss ihre Unterlippe. Ein Tropfen Blut quoll hervor, als sie sagte: Ist nur Geld. Geld kommt und geht, das ist wie mit Regenschirmen. Die verlieren alle ständig, sodass jeder immer einen hat, bloß nie seinen eigenen.

Das glaubst du doch selbst nicht.

Er fiel neben ihr um. Sie lagen nur da und versuchten gleichmäßig zu atmen, bis Robert sagte: Ich könnte meine Eltern fragen.

Das wirst du nicht tun. Frida richtete sich auf. Auf keinen Fall. Deine Eltern können mich nicht ausstehen.

Robert zuckte mit den Schultern und stand auf.

Komm, sagte er. Wir werden uns ab sofort bei unseren Freunden durchfressen.

5

Heiratet doch!, hatte Martin nach dem dritten Glas Zweigelt gerufen. Das haben wir letztes Jahr auch gemacht. Zum Heiraten braucht es einen ernst zu nehmenden Grund. Wenn es keine Kinder sind, dann ist es die Steuer. Aber eines von beiden ist es immer.

Ihr seid verheiratet? Frida hörte davon zum ersten Mal. Warum feiert das denn niemand mehr?

Wir feiern nach.

Wann? Wenn die Wohnung abbezahlt ist, das Kind aus dem Haus? Die erste Hüft-OP erfolgreich überstanden?

Sie vertont gerade eine Kriegsserie, ging Robert dazwischen. Seit einer Woche läuft sie mit einer AK-47 durchs Studio.

Ich meine ja nur, Frida trank noch einen Schluck. Wir sollten wieder mehr feiern. Erst ein einziges Mal war ich bei einer großen Hochzeit eingeladen, und das waren Christen.

Schussfähig?

Frida sah Martin verständnislos an.

Die AK-47.

Nein, bei eBay gekauft. Klingt aber gut.

Astrid kam aus dem Kinderzimmer zurück und fragte: Was klingt gut?

Fridas neues Gewehr, sagte Martin.

Astrid schüttelte bloß den Kopf und widmete sich dem Nachtisch. Eine Frau mit exklusivem Humor, sie lachte ausschließlich über ihre eigenen Scherze. Als Einzige.

Unsere Trauung war sehr schön, sagte sie jetzt. Meine Mutter hat sogar Reis geworfen, und Martin nickte: Ja, sehr schön. Um welchen Krieg es denn ginge, wollte er wissen.

Sieht aus wie Afghanistan, erzählte Frida. Ist aber eigentlich egal. Wüste und Höhlen, alle paar Minuten eine Explosion, Einheiten in voller Montur, schweres Geschütz, und aus dem Boden kriechen Monster.

Das klingt total krank, sagte Martin.

Dänisch, erwiderte sie.

Robert fing einmal mehr damit an, dass sie ihr Talent verschwenden würde.

Überhaupt nicht, sagte sie. Das waren meine ersten Monster, und die sind richtig gut geworden. Frida gab schleimige Geräusche von sich, und Astrid fand eine solche Serie, wie sie sagte, unverantwortlich.

Wenn Frida recht überlegte, hätte sie bei dieser Hochzeit nicht dabei sein wollen. Es ging nur ums Prinzip. Hinterher erzählten alle, sie hätten im engsten Kreis geheiratet, und nie war Frida eingeladen gewesen. Sie gehörte zu keinem engsten Kreis.

6

Die Leinwand leuchtete rot, von den Rändern floss schwarze Farbe ein, füllte das Bild, Schriftzeichen leuchteten weiß auf. Ein nackter Mann rannte durch kleine Gassen, entlang an einem Fluss, über kleine Brücken, vorbei an kleinen Häusern, alles war klein, alles war dunkel. Die Kamera hetzte ihm hinterher. Vorbei an einem Bahnhof, an dessen Fassade in grauen Lettern stand: Kyoto Station. Die Stadt wirkte verlassen, ramponiert, am Straßenrand lagen Trümmer und Müll, an manchen Fenstern klebte blaue Folie, die Geschäfte waren vernagelt. Auf einem Platz eine Gruppe Menschen in weißen Schutzanzügen. Frida begann sein Laufen zu spüren, ihre Füße setzten Schritte in die Luft.

Er verschwand durch eine Glastür, auf der stand: Hello Dolly. Die Kamera blieb draußen, das Bild atmete an seiner Stelle, pumpte kraftlos, aber unaufhörlich. Fridas Oberkörper wurde eng, etwas presste die Luft heraus aus ihr. Schnitt. Am Tresen saß der Mann allein, immer noch nackt, vor ihm ein schweres Kristallglas. Er rief dem Barmann etwas zu, eine halbvolle Flasche wurde gebracht, die er sofort ansetzte, in wenigen Zügen leerte, ohne Gier. Alles an ihm war müde Verzweiflung. Er wandte das Gesicht der Kamera zu, sein Blick ging hinein, und er begann ein Lied zu singen, ein trauriges, das hörte Frida, auch wenn es stumm war.

Sein Kopf fiel auf den Tresen. Nicht ein Geräusch, nicht ein einziger Ton, nicht einmal Atmo, nichts. Schwarzblende. Schriftzeichen. Im Untertitel: 6 Monate früher. Plötzlich Farben, Sonne, Freunde unter blühenden Kirschbäumen, Lachen, lautlos.

Sie spulte den Film einige Minuten vor. Ein kleiner Club, ein Konzert, auf der Bühne derselbe Mann, er schrie, schwitzte, auf seiner Brust ein blutiger Schnitt. Das Publikum eine wild tanzende Menge.

Sie sprang zur Mitte. Vor allen Häusern vollgepackte Autos. Ein Kind brüllte, eine Alte protestierte, ein Uniformierter, der beschwichtigte. Der Himmel war weiß.

Frida hielt den Film an, trat aus dem Studio. Vor den Fenstern fiel der Tag aus, es war, als schiene die Straßenbeleuchtung rund um die Uhr. Sie suchte im Telefon nach der Nummer, die in der letzten Woche am häufigsten angerufen hatte, und wählte.

Er rief begeistert ihren Namen in den Hörer, während sie nur fragte, was das sei, was er ihr da geschickt hatte. Ob sie ihn komplett gesehen habe, wollte er wissen. Er keuchte.

Da stimmt was mit Ihrer Atmung nicht.

Ich jogge, sagte er und fragte noch einmal, ob sie den Film bis zum Ende gesehen habe.