Märchen und Mythen vom Fliegen
Märchen der Welt
Herausgegeben von Konstanze Ott-Koptschalijski und Wolfgang Behringer
FISCHER E-Books
Constance Ott-Koptschalijski studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft (M.A.) in Wien.
In der Reihe ›Märchen der Welt‹ hat sie zudem ›Märchen aus Griechenland‹ sowie ›Griechische Inselmärchen‹ herausgegeben.
Wolfgang Behringer studierte Geschichte und Germanistik in München und promovierte über ›Hexenverfolgung in Bayern‹. Er ist Professor für Frühe Neuzeit an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken.
www.fischerverlage.de
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403129-3
Für Nathalie
Zaubermärchen und Schamanentum haben viele Motive gemeinsam. Besonders auffällig ist die Fähigkeit der Schamanen, sich aus eigener Kraft in die Lüfte zu erheben, in die Unterwelt oder in den Himmel zu reisen. Fliegen war ein göttliches Attribut oder bildete den Gipfel magischer Künste. Das Christentum kennt die Frontstellung zwischen Simon Magus und Jesus Christus. Erzählungen von zauberischen Himmelsreisen gehören zum klassischen Repertoire zahlreicher Kulturen, die in vielen Abwandlungen dargeboten werden.
Mythologische Darstellung eines Flugversuchs mit Vogelschwingen
Es war einmal ein Dorf von siebenhundert Zelten. In dem siebenhundertsten Zelt stritten sich die Kinder, sie spielten und stritten sich. Einige sagten: »Bei uns gibt es einen besseren Zauberer.«
Die anderen aber: »Bei uns gibt es einen besseren.«
Als sie sich so stritten, fingen auch die Zauberer selbst an, sich im Zelt zu streiten. Sie stritten und stritten, indem jeder sich für den besseren hielt. Endlich sagte der eine von den beiden: »Der ist ein rechter Zauberer, der den Mond auf die flache Hand stellen kann.«
»Das kann niemand«, meinte der andere.
»Das kann ich«, sprach der erste.
»Zeige, daß du es kannst«, erwiderte der andere.
Da stellte der Zauberer den Mond auf die flache Hand. Als nun der Mond auf seiner flachen Hand lag, wurde es in dem Zelt kalt, so kalt, daß die Leute sich davor nicht schützen konnten. Sie entzündeten ein Feuer nach dem andern, sie hüllten sich in ihre Pelze, aber dennoch froren sie. Da bat der schlechtere Zauberer den besseren, daß er den Mond wieder an den Himmel stellen möge, was der auch tat.
Wiederum fingen die Zauberer an, sich zu streiten. Der schlechtere Zauberer hielt sich immer noch für ebensogut wie der, der den Mond auf seine flache Hand gezaubert und wiederum an den Himmel gestellt hatte. Der bessere Zauberer sprach: »Keiner ist ein Zauberer, der nicht die Sonne auf die flache Hand stellen kann.«
»Und das kannst du?« fragte der andere.
»Das kann ich«, sagte der bessere Zauberer und stellte sogleich die Sonne auf die flache Hand.
Da aber wurde es so heiß im Zelt, daß die Leute fast vor Hitze umkamen. Der schlechtere Zauberer bat den besseren, die Sonne wieder an den Himmel zu stellen. Da stellte der bessere Zauberer die Sonne wieder an den Himmel und sagte zu dem schlechteren: »Laß uns zu Gänsen werden und so eine Zeitlang leben.«
Gesagt, getan, die beiden Zauberer wurden zu Gänsen und flogen fort, weit fort bis nach Nowaja Semlja. Dort errichtete jeder sein Zelt; der bessere verfertigte sein Zelt aus Tuch, der schlechtere aus Rentierschädeln.
Als der Frühling kam, sprach der schlechtere Zauberer: »Wir wollen Weibchen sammeln wie die anderen Gänse.«
»Das taugt nichts«, antwortete der bessere, »denn sammeln wir Weibchen, so bekommen wir Junge, und haben wir Junge, dann fängt man uns. Nein, laß uns weiter fortfliegen, denn bald verlieren wir unsere Flügel, und diese Stelle hier ist nicht sicher.«
So flogen sie denn fort und kamen zu einem Fluß, der voll von Gänsen war. Die Gänse hielten Tag und Nacht Wache. Jede von ihnen mußte, wenn die Reihe an sie kam, wachen. Nun kam die Reihe an einen der beiden Zauberer, an den, der sich ein Zelt aus Rentierschädeln gebaut hatte. Als er auf der Wache stand, kam ein einäugiger Samojede, um zu jagen. Er hatte einen Hund bei sich, der auf drei Füßen lief. Der Hund trieb die Gänse, er trieb sie und erlegte viele. Der Samojede folgte ihm und sammelte die Gänse, die der Hund erbeutet hatte. Nun wollte der Hund, der die Gänse trieb, den schlechteren Zauberer packen und biß ihn in den Schnabel. Doch der bessere Zauberer, der ein Stück voraus war, kehrte um und befreite seinen Gefährten. Dreimal griff der Hund den schlechteren Zauberer an, dreimal befreite ihn der bessere. Der Hund trieb die Gänse immer weiter und weiter, der Fluß ward schmaler und schmaler und endlich so flach, daß die Gänse nicht mehr untertauchen konnten.
»Wir sind verloren«, sagte der schlechtere Zauberer, »was sollen wir tun? Hier können wir nicht untertauchen, und wenn wir ans Land gehn, dann vermögen wir nicht, mit dem Hunde um die Wette zu laufen.«
Der bessere Zauberer erwiderte: »Laß es uns versuchen; das Land ist nicht groß. Wir kommen bald zum Meer, und dort gibt es eine Insel, dahin wollen wir unsern Lauf richten.«
Da fingen sie an, auf dem Boden zu laufen, liefen über das Land, schwammen über den Sund und kamen zur Insel. Hier fing der schlechtere Zauberer an, Gras zu essen, der bessere aber Moos. Der Schlechtere sprach zu dem Besseren: »Du mußt Gras essen, damit deine Flügel wachsen und wir von hier fortkommen. Siehst du, wie groß meine Flügel schon gewachsen sind, und du hast gar keine. Bald fliege ich fort und muß dich hier lassen.«
So sprach der Schlechtere, der Bessere aber fuhr fort, Moos zu essen. Seine Flügel wuchsen nicht, der Schlechtere aber bekam vollwüchsige Flügel und flog davon. Er flog auf eine andere Insel und verwandelte sich dort in eine Taucherente. Da kamen Kinder herbei und schlugen ihn tot.
Als der schlechtere Zauberer fortgeflogen war, fing der bessere an, Gras zu essen, und seine Flügel wuchsen sofort klafterlang. Dann flog er wieder in seine Heimat und lebte dort als Mensch.
[Eskimo-Märchen]
Im inneren Gebiet des Sermilik-Fjords lebte ein Mann, der ein großer Angakok war. Er hieß Angákerduak und war berühmt für seine mächtigen Flüge, die er bis in die helle Frühlingszeit fortsetzen konnte und die ihn weit, weit herumbrachten. Die Leute, die auf den Wohnplätzen wohnten, dort, wo der Sermilik-Fjord ins Meer mündete, waren oft Zeugen von Angákerduaks Flügen. Man sah dann über dem Land einen dunklen Punkt mit einem langen Feuerschweif und dahinter verschiedene andere dunkle Punkte, die ebenfalls hinten Funken sprühten. Das war Angákerduak mit seinen Hilfsgeistern. Wenn die seltsame Schar nicht zu weit fort war, konnte man deutlich die Personen von den Funken unterscheiden.
Als es wieder Herbst wurde und man ins Winterhaus gezogen war, startete Angákerduak zu einem Geisterflug. Er flog den Sermilik-Fjord hinauf, und als er lange genug über das Inlandeis geflogen war, sichtete er ein großes Wasser. Unter ihm erstreckten sich zwei tiefe Fjorde, und da entschloß er sich, dem rechten zu folgen. Als er über eine breite Stelle flog, sah er von oben Licht, das von einem Wohnplatz am Ende des Fjords kam. Angákerduak schwebte nun auf den Ort zu, wo nur wenige Häuser standen, aber als er sich von mehreren Menschen entdeckt fühlte, die dort unten herumliefen und kleine bärenähnliche Tiere mit dünnen Beinen zum Wohnplatz trieben, beschleunigte der Angakok seine Fahrt wieder und stieg höher.
Dann setzte er sich auf der anderen Seite des Wassers genau gegenüber dem Wohnplatz auf den höchsten Gipfel. Und von dort hatte er einen Überblick über das Land, über das er gerade geflogen war. Aber die Gegend war ihm völlig fremd. Er kannte nicht einen einzigen Berg. In der Ferne, an der Mündung des Fjords, sah er Licht von mehreren Wohnplätzen. Von dem Berggipfel flog er direkt nach Hause. Und seit diesem Flug konnte er nicht mehr die fremden Wohnplätze vergessen, die er an dem großen Fjord gesehen hatte.
Der Frühling kam schnell. Die Zeit war nicht so recht für Geisterflüge geeignet, die am besten in der dunklen Zeit des Jahres durchgeführt werden können. Aber gerade jetzt konnte sich Angákerduak nicht mehr beherrschen. Er wollte den großen Fjord jenseits des Inlandeises erforschen.
Bald befand er sich auf dem Weg und flog dabei dieselbe Strecke wie beim letztenmal. Er schwebte auf den Fjord hinunter, diesmal in der Nähe der Mündung, wo er glaubte, etwas Ungewöhnliches gesichtet zu haben. Ja, da war Leben, ein mächtiges Weißwalfangen. Da sich Angákerduak sicher war, daß niemand ihn entdecken würde, setzte er sich auf einen Stein, nicht weit von der Bucht entfernt, in der der Fang stattfand.
Genau unter ihm befand sich ein Schwarm Kajaks – nicht weiter fort als einen guten Steinwurf. Er selbst saß nordwestlich von der Bucht und konnte das Jagdrevier gut überblicken. Wenn die Kajaks auf die Wale zufuhren, schäumte das Wasser nur so, und er konnte beobachten, wie viele Weißwale im großen Bogen auf den schlammigen Strand fielen.
Angákerduak hatte noch nicht lange auf dem Stein gesessen, als jemand rief: »Da sitzt ein Mensch auf dem Berg!«
So war weiter nichts zu tun, als sich zu erheben und nach Hause zu fliegen. Bei seiner Rückkehr erzählte er dann allen Leuten seine wunderbaren Erlebnisse.
[Eskimo-Märchen]
Es lebten einstmals in einer Stadt ein König und eine Königin. Nachdem ihnen ihr erster Sohn geboren war, beschlossen sie, sich fernerhin keine Kinder mehr zu wünschen, damit das Reich nur einen Erben hätte und somit zusammengehalten würde. Während der nächsten zehn Jahre wurde ihnen auch kein Sohn mehr geboren. Jedoch, die Königin ward bald sehr traurig und sagte eines Tages zu ihrem Gemahl: »Es ist doch eigentlich recht schade, daß wir nur einen einzigen Sohn besitzen. Wenn dieser uns krank wird und stirbt, werden wir gar keinen Erben und Nachfolger haben. Es wäre vielleicht doch besser, wir brächten recht viele Opfer und spendeten den Armen Gutes, damit die Götter uns gnädig gestimmt werden und uns noch einen oder zwei Söhne schenken.«
Der König war mit dem Vorschlag seiner Gattin einverstanden und ließ sogleich den Hungernden Reis, den Dürstenden Milch und Buttermilch und den Unbekleideten neue Tücher schenken.
Die Götter nahmen ihr Opfer an und erhörten ihre Gebete. Sie schenkten ihnen abermals einen Sohn, der schön war wie die leuchtende Sonne. Allein, unmittelbar nach seiner Geburt starb der König und wenige Minuten darauf auch die Königin. Und so übernahm eine Tante die Pflege und Erziehung des Kindes. Jeden Morgen kam eine Amme, und jeden Nachmittag kam eine Amme, das Kind zu säugen. Als der Prinz drei Monate alt wurde, begann er ununterbrochen zu weinen. Die Ammen legten ihn in ein großes Tuch, das sie an einem Türhaken befestigten, und schaukelten ihn leise hin und her, um ihn zu beruhigen, allein, der Knabe wollte nicht aufhören zu weinen.
»Sei ruhig, mein Liebling!« sagte die Amme leise und sang ihm ein Liedchen, »du sollst alles haben, mein Liebling, eine schöne Frau, die so schön ist wie der Mond, oder eine Frau, die, wenn sie einen Stein berührt, ihn in Gold oder wenn sie Erde berührt, diese in Getreide verwandelt.«
Nach solchen Worten pflegte dann der Kleine nach und nach ruhig zu werden.
Als der junge Prinz das Knabenalter erreicht hatte, schickte man ihn zur Schule. Eines Tages geriet er in Streit mit einem seiner Kameraden, dem Sohne eines Schreibers. Es fielen heftige Worte.
»Du bist eine Hexe«, schrie der Sohn des Schreibers, »du hast bei deiner Geburt deinen Vater und deine Mutter gefressen.«
Der junge Prinz erschrak so heftig über diese furchtbaren Worte, daß er schell davonlief, um seine Amme darüber zu befragen. Unterwegs kam er an einer Höhle vorbei, er kroch hinein und blieb still liegen, nur sein Herz pochte vor Aufregung.
Inzwischen wurde es Mittag, und im Schloß wartete schon alles ungeduldig auf das Erscheinen des Prinzen. Aber er erschien nicht, und man begann unruhig zu werden. Es wurden sofort alle Beamte des Landes zusammengerufen, und die Tante des jungen Königssohnes trat vor und sprach tränenden Auges: »Wer mir meinen Neffen wiederbringt, soll auf die rechte Schulter eine Stadt, auf die linke Schulter eine Stadt und auf das Haupt eine Stadt, also drei große Städte, als Geschenk erhalten. Geht, und ruft es im ganzen Lande aus!«
Sie selbst aber begann in höchster Trauer in der Nähe der Burg zu suchen. Da sah sie plötzlich aus einer Höhle zwei Beine herausragen. Erstaunt ging sie auf diese Höhle zu und erkannte sogleich die Beine ihres Neffen. Sie machte sich sofort daran, den Knaben an den Beinen herauszuziehen, da sie glaubte, er sei ermordet und sein Leichnam in die Höhle gesteckt worden. Während sie aber an seinen Beinen zog, ertönte weinerlich die Stimme des Knaben: »Zieh nicht so heftig, ich bin fest eingeklemmt, es zerreißt mir alles im Leibe!«
»Was ist denn geschehen?« schluchzte die Tante, »was tust du denn in diesem Loch? Sag’ mir doch, wie ich dir helfen kann!«
»Oh, Mutter«, fuhr der Knabe fort, »man hat mich geschmäht in der Schule, ich sei eine Hexe und hätte bei meiner Geburt meinen Vater und meine Mutter gefressen. Mein Herz ist voll tiefster Trauer. Als ich früher so traurig war, als Kind von drei Monaten, was hattest du mir damals versprochen? Du mußt jetzt dein Wort einlösen, denn zur Schule gehe ich nie wieder.«
»Es ist lange her«, sagte die Tante, »ich weiß nicht mehr, was ich dir damals versprach, doch wenn du es noch weißt, dann sage es mir!«
Der Knabe entgegnete: »Du versprachst mir damals eine Frau, die durch die Berührung ihrer Hand Steine in Gold und Erde in Getreide verwandeln könnte. Jetzt ist es Zeit, daß du dein Versprechen erfüllst. Wenn du es tust, werde ich weiter leben, tust du es aber nicht, dann werde ich nicht mehr leben.«
Die Alte erwiderte: »Wenn es weiter nichts ist, mein Kind, dies will ich dir gerne erfüllen.«
Darauf zog sie den Knaben aus der Höhle und nahm ihn mit sich. Sie berief sofort eine Ratsversammlung ein und beratschlagte mit den Großen, was zu tun sei. Sie kamen bald dahin überein, bei dem im Nachbarland wohnenden Onkel, der eine wunderschöne Tochter hatte, um deren Hand für den Prinzen zu bitten. Nachdem man noch beschlossen hatte, daß die Hochzeit bereits am nächsten Tag stattfinden sollte, ging man befriedigt auseinander.
Bei Sonnenaufgang machten sich am nächsten Morgen die Großen des Landes mit einem prächtigen Gefolge auf und zogen zu der Burg des Onkels, um ihn um die Hand seiner schönen Tochter für den Prinzen zu bitten. Der Onkel nahm die Werbung erfreut auf, und man ließ sogleich alles zum Hochzeitsfest rüsten. Herrlich geschmückt erschien alsbald die junge Braut vor dem Prinzen, um der Sitte gemäß die goldene Halsschnur von ihm umgelegt zu bekommen. Doch bevor der Prinz diese Handlung vornahm, sagte er zu der Prinzessin: »So schnell kann ich dir die Schnur nicht umlegen, siehe, ich habe in der Hand einen Stein, nimm ihn und fasse ihn an!«
Die Prinzessin tat, wie ihr geheißen, allein, der Stein blieb Stein und verwandelte sich nicht unter ihrer Berührung in Gold. Der Prinz ergrimmte heftig darüber, verweigerte die Heirat und ging mißmutig und traurig zurück auf seine Burg. Zornig rief er noch seiner Tante zu: »Ich werde nur die Frau heiraten, die du mir versprochen hast!«
Darauf verschwand er in seinen Gemächern.
Die Tante berief daraufhin abermals eine Versammlung ein und befahl schließlich, daß einige Abgesandte nach Osten und Westen, nach Süden und Norden ziehen sollten, um eine Frau zu finden, die die genannten Eigenschaften hätte. Zur Belohnung versprach sie dem Finder drei herrliche Städte.
Die Boten machten sich sogleich auf den Weg, jeder in der Richtung, die ihm vorgeschrieben war. So durchforschten sie das ganze Land, aber eine Jungfrau, die den Wünschen des Prinzen entsprach, vermochte keiner zu finden. So kehrten nach langen, beschwerlichen Wanderungen drei von ihnen unverrichteter Dinge zurück. Sie waren kaum wiederzuerkennen, denn ihre Bärte waren lang gewachsen und vom Alter weiß geworden. Der vierte Bote, der nach Norden gezogen war, konnte am selben Abend wie die anderen die Burg nicht mehr erreichen und kehrte deshalb in einem nahegelegenen Dorf ein, um dort die Nacht zu verbringen. Ein dort wohnender Brahmane wollte ihn für gutes Geld beherbergen und ihm Reis zu essen geben. Er rief seine Tochter Geiramma herbei und befahl ihr, alles für den Fremden herzurichten. Als aber der Vater seiner Tochter das erhaltene Kupfergeld überreichte, bemerkte der Bote, daß sich das Kupfer in ihren Händen in pures Gold verwandelte. Der Bote ließ sogleich sein Essen stehen und eilte in höchster Freude der königlichen Burg zu. Er ließ sich sofort vor den Prinzen bringen und erzählte ihm in höchster Aufregung alles, was er bemerkt hatte, und fügte hinzu, jenes Mädchen müßte die rechte Braut für den Prinzen sein.
Man richtete darauf sofort eine prächtige Sänfte her, rief Träger aus dem Dorfe zusammen und befahl ihnen, sofort den alten Brahmanen herbeizuholen. Im Hause des Brahmanen aber herrschte große Aufregung darüber, daß der Gast so schnell verschwunden war und sogar seine Sachen und Kleider zurückgelassen hatte. Man fürchtete schon, daß er aus irgendeinem, ihnen noch unbekannten Grund, sie beim Könige verklagen würde. Während sie noch ängstlich sich beredeten, erschienen plötzlich die Träger mit der prächtigen Sänfte und forderten den alten Brahmanen auf, einzusteigen und zum Könige zu kommen. Zitternd vor Furcht wandte sich der Brahmane an seine Tochter und fragte sie, was er machen solle. Geiramma suchte ihn zu trösten und sprach ihm Mut zu. Da er nun sah, daß er dem königlichen Befehl nicht widersprechen könne, bat er wenigstens die Träger, ihn zu Fuß gehen zu lassen, da es sich für ihn nicht gezieme, eine königliche Sänfte zu besteigen. Doch seine Bitten und Vorstellungen waren vergeblich. So stieg er denn in die Sänfte und stand in kurzer Zeit vor der königlichen Versammlung im hellerleuchteten Königssaal. Er verbeugte sich tief vor der Königin und sprach: »Unbekannt ist mir der Grund meines Hierseins, aber, was immer auch ihr über mich verfügen möget, ich bin euer gehorsamer Diener.«
»Das ist billig und recht«, sagte die Königin, »du hast eine Tochter, Geiramma mit Namen, sie ist von uns erkoren, die Frau des jungen Prinzen zu werden. Darum eile schnell nach Hause und bringe deine Tochter hierher, denn die Hochzeit soll sogleich vollzogen werden.«
Über diese Worte auf das höchste verwundert, erwiderte der Brahmane: »Ich werde sogleich zu meiner Tochter zurückkehren und sie fragen, ob sie den Prinzen zum Gemahl haben will. Es würde meinem Hause eine große Ehre sein, und ich rechne bestimmt darauf, daß meine Tochter in die Heirat einwilligt.«
»Beeil dich!« befahl die Königin, »und wenn du deine Tochter nicht sogleich hierher bringst, soll dir das Haupt abgeschlagen und auf die höchste Turmspitze unseres Schlosses gesteckt werden.«
Der alte Brahmane eilte nach Hause, rief sogleich seine Tochter und berichtete ihr, was sich alles zugetragen. Geiramma war weder glücklich noch unglücklich. In ruhigem Tone bat sie ihren Vater: »Gehe wieder zurück zur Königin und sage ihr, daß ich bereit sei, den Prinzen zu heiraten, allein unter einer Bedingung: daß ich mich des ganzen Tages Dauer dem Prinzen widmen, des Nachts aber bei meinem Vater weilen will. Ich hoffe, daß der Prinz diese kleine Bedingung annehmen wird, dann mag die Hochzeit in Jubel und Freude gefeiert werden.«
Der alte Brahmane eilte mit furchterfülltem Herzen wieder zum Schloß und teilte der noch dort verweilenden Versammlung mit, was seine Tochter ihm aufgetragen. Eine große Freude entstand unter allen Anwesenden, denn kein einziger nahm die Bedingung der Brahmanentochter ernst. Alle waren der Ansicht, daß, wenn die junge Braut erst die Pracht des Lebens im königlichen Schloß kennengelernt haben würde, sie schwerlich wieder jemals Sehnsucht nach der väterlichen Hütte bekommen würde.