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Kapitel 1:
Bedeutet Chinas Aufstieg den Niedergang des Westens?

Die weltweit anerkannten Chinaexperten der Vereinigten Staaten David Shambaugh und Stefan Halper repräsentieren die beiden unterschiedlichen westlich-intellektuellen Reaktionen auf die Machtvergrößerung der Volksrepublik China. Während Shambaugh China als »einseitige« beziehungsweise »unvollständige Macht« betrachtet, sieht Halper in Chinas autoritärem Modell das Potenzial, das 21. Jahrhundert zu beherrschen. Ihm folgt der ZEIT-Reporter Matthias Naß mit den Worten: »So wie die Globalisierung die Welt schrumpfen lässt, so lässt China den Westen schrumpfen – indem es still und leise die Ausbreitung westlicher Werte begrenzt.«1 Letztere sind überzeugt vom definitiven Niedergang des Westens und einer Ablösung der Supermacht USA durch die Volksrepublik China. Entsprechend wird auch in deutschen Leitmedien die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von China räsoniert und deren Verschuldungshöchststände den welthöchsten Währungsreserven der Volksrepublik gegenübergestellt.

Die Ansicht, Europa sei als genuiner Bestandteil des Westens im Abstiegsprozess der USA inbegriffen, gehört zu dieser weitverbreiteten Niedergangsstimmung. Auch für Eberhard Sandschneider ist der »Abstieg Europas« bereits eine Tatsache. Nun komme es darauf an, wie dieser Abstieg erfolgreich zu managen sei.2 Für ihn startete das 21. Jahrhundert mit einem langen »Jahrzehnt des Schreckens für den Westen«3. Seine Liste der Schrecken, die allesamt den Abstieg des Westens unter der Führung der Vereinigten Staaten beschleunigt hätten, beginnt mit der Dotcom-Blase und endet mit der schweren Weltwirtschaftskrise – dazwischen die blutigen Kriege im Irak und in Afghanistan ebenso wie die Terroranschläge in New York, Bali, London, Madrid, Moskau und Mumbai.4

Dagegen räumt Sandschneider nüchtern ein, dass der Aufstieg neuer Mächte ein völlig normales Phänomen der Weltpolitik sei: »Katastrophen entstehen nur dann, wenn die alten Mächte nicht bereit sind, friedlich und konstruktiv Platz zu machen und auch für sich eine neue Rolle jenseits der alten Dominanz zu finden.«5 Daher soll die »eigentliche Aufgabe des Westens zu Beginn dieses Jahrtausends« nicht darin bestehen, »den eigenen Machtanspruch zu sichern oder gar den Aufstieg weiter zu betreiben, sondern den eigenen Abstieg so zu bewerkstelligen, dass ein neues globales Gleichgewicht zum Nutzen aller entstehen kann«6. In diesem Sinne lautet die Empfehlung Sandschneiders: »Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen.«

Im Gegensatz dazu deutet die zweite Denkrichtung die Machtverschiebung vom Westen auf die Schwellenländer als eine »Scheinverschiebung«. In Wirklichkeit habe der Westen keine echte Macht eingebüßt. Echte Macht sei mehr in »Strukturen« zu sehen als in Form von hard oder soft power. Es handelt sich um eine Denkschule, deren Denkkategorie vom Begriff der »strukturellen Macht« geprägt ist. Dieser wurde vor 40 Jahren von der britischen Politikwissenschaftlerin Susan Strange entwickelt, um gegen die damals schon verbreitete These des Niedergangs der Vereinigten Staaten zu argumentieren. Sie spricht von struktureller Macht als einer strukturbestimmenden Fähigkeit, die Handlungsspielräume beziehungsweise Handlungsoptionen des Gegenspielers nicht sichtbar, aber effektiv zu begrenzen und dadurch Macht auszuüben. Die strukturelle Macht der USA begründet sich für sie vor allem aus der Kontrolle über die vier Schlüsselstrukturen der Weltwirtschaft und Weltpolitik: Sicherheitsstruktur, Produktionsstruktur, Finanzstruktur und Wissensstruktur. Ihre Überzeugung lautet: »Power over structures« geht über »power from resources«,7 mit der Bedeutung, dass Macht, die auf der Kontrolle über Strukturen beruht, wirkungsvoller und langlebiger sein kann als jene, die allein im Besitz von materialen Ressourcen gründet.

Die Vertreter der Strange’schen These halten es entsprechend für reichlich übertrieben, vom Niedergang der USA beziehungsweise des Westens zu sprechen. Darunter auch Carla Norrlof in ihrer jüngst vorgelegten Studie »America’s Global Advantages«. Darin negiert sie den Geist des declinism und erklärt, warum die amerikanische Hegemonie noch lange Zeit andauern werde: Verantwortlich hierfür seien die von der Leitwährung US-Dollar dominierten Strukturen der Weltkapitalmärkte, die Strukturen der globalisierten Wertschöpfungsketten mit deren Innovationszentren auf dem amerikanischen Boden und die Bündnisstrukturen, die die USA nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit ausgebaut haben. Diese Strukturen verliehen den USA einen einmaligen Vorteil im Wettbewerb mit anderen Staaten um Einflüsse auf die Welt. Die sich daraus ergebende unendliche Hebelkraft soll Amerika ermöglichen, so Norrlof, von den vorhandenen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Strukturen über die Maßen zu profitieren und ihre langfristige Vormachtstellung in der Welt zu sichern.8

Weder die Aufregung über eine Vormachtstellung Chinas noch die Besorgnis über den Niedergang des Westens sind intellektuell hilfreich, weil sie schematisch und nicht synergiebewusst gedacht sind. Dadurch wird die Natur des chinesischen Aufstiegs nicht vollständig erkannt. Im Grunde stellt der Aufstieg Chinas eine Ausdehnung des kapitalistisch geprägten Wirtschaftssystems dar. Es hat sich also lediglich das Einflussgebiet des westlichen Wirtschaftssystems dramatisch vergrößert. Dadurch erhöht sich die Globalität der kapitalorientierten Produktionsart und -weise in dem Sinne, dass dieses von Karl Marx in der Theorie stark kritisierte und von Lenin und Mao Zedong in der politischen Praxis komplett verworfene System ab Anfang der 1980er-Jahre 1,34 Milliarden Menschen zusätzlich in Fernost erfasst hat. Ausgehend von Immanuel Wallersteins Verständnis des Kapitalismus als eines Wirtschaftssystems, das die »unendliche Akkumulation von Kapital«9 ordnungspolitisch priorisiert, praktiziert China offensichtlich immer intensiver ein kapitalistisches System, auch wenn eine starke staatliche Lenkung nicht zu übersehen ist. So gesehen, stellt die Entwicklung in China eine Teilbestätigung der These Francis Fukuyamas vom »Ende der Geschichte« dar: Die Regierung in Beijing beharrt zwar nach wie vor auf dem kommunistischen Einparteiensystem und lehnt eine politische Liberalisierung kategorisch ab. Aber die Volkswirtschaft dort atmet schon längst kapitalistisch. Daher muss, um den systemischen Sieg des Westens gegenüber China hervorzuheben, nochmals bekräftigt werden: Die Durchsetzung des Kapitalismus im China der Gegenwart bedeutet definitiv das Ende der sozialistischen Planwirtschaft als Wirtschaftssystem im bevölkerungsreichsten Land der Welt. Sie markiert somit den Sieg des Westens über das Reich der Mitte, auch wenn dessen politische Führung dies offiziell nicht anerkennen will. In diesem Kontext dürfte vom Niedergang des Westens keine Rede sein.

Historisch betrachtet, ist Chinas Aufstieg zu einer führenden Wirtschaftsmacht im 21. Jahrhundert in der Tat ein einmaliges Phänomen. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir einen Kapitalismus, der unter der Führung von Kommunisten realisiert wird. Der Schutz des Privateigentums ist in die chinesische Verfassung eingeschrieben. Der Wettbewerb als das Leitprinzip des wirtschaftlichen Lebens setzt sich durch. Im Reich der Mitte entsteht eine regelrechte Marktwirtschaft, auch wenn Staatssektor und Privatkapital noch um die Dominanz konkurrieren. Mit Ausnahme der USA und der Europäischen Union, die aus geoökonomischen und geopolitischen Gründen noch zögern, haben sich viele Staaten dazu bereit erklärt, China den Status der Marktwirtschaft zuzuerkennen. Und selbst im politischen Washington mehren sich die Zeichen einer Anerkennung der Volksrepublik China als »Marktwirtschaft«. Dies bezeugen nicht zuletzt die umfangreichen Kooperationserklärungen, die die Regierungsvertreter beider Seiten im Auftrag der Präsidenten Barack Obama und Xi Jinping im Rahmen des sogenannten fünften strategischen Dialogs zwischen der Volksrepublik China und den USA im Juli 2013 abgegeben haben. Sollte die US-Regierung China tatsächlich bald in den Klub der Marktwirtschaften aufnehmen, würde die Europäische Union unter starken Druck geraten. Noch immer sind der EU die staatlichen Subventionen in China zu hoch und die Markttransparenz zu niedrig.

Einmalig erscheinen auch die Dauer und die Intensität des chinesischen Wirtschaftsbooms seit dem Abschied von der sozialistischen Planwirtschaft: 30 Jahre ununterbrochenes Wachstum auf einem Niveau von zehn Prozent hat es bislang noch nirgendwo in der Welt gegeben, weder in Europa und Amerika noch in Asien und Afrika – auch wenn sich die Wachstumsrate im Jahr 2013 auf 7,8 Prozent verlangsamt hat. Weder der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit in Deutschland noch jener in Japan haben dieses Ausmaß je erreicht. Die unmittelbar daraus resultierende Entwicklungsleistung ist beachtlich: die Überwindung der Massenarmut. Etwa 20 Millionen Menschen werden jährlich aus der Armut geholt. Dies macht etwa 90 Prozent der Erfolge der weltweiten Armutsbekämpfung aus. Nicht umsonst würdigt die Weltbank diese Entwicklung als eine Leistung für die Menschheit des 21. Jahrhunderts. Chinas Erfahrungen haben nochmals deutlich bestätigt, dass der Kapitalismus – oder positiv formuliert: die Marktwirtschaft – das einzige Wirtschaftssystem zu sein scheint, das in der Lage ist, die Armut unzähliger Menschen zu überwinden.

In der Tat ist das Reich der Mitte nun auf dem Weg, den gerade aus der Armut befreiten Menschen einen »kleinen Wohlstand« (xiaokang) zu sichern. 650 Millionen Landeinwohner müssen noch von Bauern zu »Nicht-Bauern« gemacht werden. Ein massiver Urbanisierungsprozess steht im Land der 1,34 Milliarden Menschen an. Es sieht so aus, als befinde sich China erst am Anfang seines Booms. Führende Ökonomen der Welt sehen hierin den entscheidenden Antrieb für einen noch nachhaltigeren und kräftigeren Konjunkturaufschwung Chinas. Auch westliche Unternehmer, die in China tätig sind, spüren diesen Trend. Jörg Wuttke, ein deutscher Topmanager, der seit Langem die Niederlassung eines großen deutschen Konzerns in China leitet und daneben in den vergangenen Jahren der EU-Handelskammer in Peking als Präsident vorstand, ist von dieser Entwicklung überzeugt. Als einer der besten Kenner des heutigen China, die den Boom der zurückliegenden Jahre hautnah miterlebt haben, spricht Wuttke im Blick auf das, was er bisher gesehen hat, von einer Art »Vorspiel«. Es sei nur der Anfang, so Wuttke unlängst in einem ZEIT-Interview: »China wird erst in den nächsten zehn Jahren richtig durchstarten.«10 Sollte Wuttke recht behalten, gilt auch die Konsequenz: Je intensiver China marktwirtschaftlich agiert und boomt, desto stärker kann auch der Westen davon profitieren. Dass ein solcher Win-win-Prozess nicht unbedingt zum Niedergang des Westens beitragen muss, versteht sich von selbst.

Selbst unter weltpolitischen Aspekten hat der Aufstieg Chinas den Westen nicht geschwächt. Ein Verteidigungszwang ist dadurch jedenfalls nicht entstanden. Es ist auffällig, wie friedlich der Aufstieg des autoritären China bislang verlaufen ist. Das verhängnisvolle Schicksal des militaristischen Japans und des nationalsozialistischen Deutschlands in der Folge von deren Machtexpansion blieb China bis heute erspart. Die Welt ist offensichtlich durch Chinas Aufstieg von einem Agrarland zu einem Industriezentrum, in dem mehr als ein Drittel der globalen Verarbeitungskapazitäten konzentriert sind, nicht in besonderem Maße verunsichert worden. Weder einen »Heißen« noch einen »Kalten« Krieg hat die chinesische Wirtschaftsexpansion und Machtausdehnung bis jetzt verursacht – auch wenn geopolitische Reibungen und territoriale Streitigkeiten im asiatisch-pazifischen Raum seit 2011 durchaus zugenommen haben. Diesen »friedlichen Aufstieg« erklärte ein japanischer Politiker in einem Fernsehinterview in Hongkong damit, dass China zwar die Macht, aber nicht den Willen zu einem Angriffskrieg gegen Japan besäße. Für viele Beobachter, aber auch für Involvierte scheint die Absicht der Chinesen zum friedlichen Aufstieg eine beschlossene Sache zu sein, auch wenn die Frage offen bleibt, ob und inwiefern diese friedliche Absicht die zunehmende Eskalation der territorialen Konflikte im asiatisch-pazifischen Raum übersteht.

In der Tat resultiert Chinas Entscheidung für einen friedlichen Aufstieg aus historischer Einsicht, technokratischer Kalkulation und strategischer Klugheit. Die weltpolitischen Katastrophen, die Japan und Deutschland durch die Ausdehnung der eigenen Macht gegen den Willen anderer Mächte herbeigeführt haben, ließen die Regierungselite in Beijing vor einer expansionistischen Politik zurückschrecken. Die Einsicht, dass das Land seine Modernisierung nur in Kooperation mit den führenden Industriestaaten erreichen könne, ist politischer Konsens unter den Regierungseliten im chinesischen Politbüro.

Nicht nur der Wille zur Vermeidung eines neuerlichen deutschen und japanischen Kriegsschicksals sorgt für die chinesische Abneigung gegen eine offene Konfrontation mit dem Westen. Auch die positive Einstellung der technokratischen Regierung zum Prozess der Globalisierung prägt die chinesische Politik des »friedlichen Aufstiegs«. Globalisierung wird zwar nach wie vor als ein »doppelschneidiges Schwert« mit Risiken und Möglichkeiten betrachtet. Jedoch sieht die Regierung in diesem Prozess auch eine einmalige Chance für China, an den Dynamo der Weltwirtschaft und damit an den Wohlstand der Nachbarländer und der westlichen Industriestaaten anzuknüpfen. Aufgrund der billigen Arbeitskräfte und des grenzenlosen Marktpotenzials der Milliarden Einwohner wurde das Land als lukrativer Standort für die westlichen Industriestaaten und die asiatischen Tigerstaaten identifiziert.

So entstand Ende der 1970er-Jahre die Politik der Reform und Öffnung. Die Tür des Landes wurde gerade in der Zeit geöffnet, als das internationale Kapital, zermürbt durch den üppigen Sozialstaat im Heimatland und befreit durch die neoliberalistischen Deregulierungen, den Globus nach neuen Investitionschancen absuchte. Die chinesischen Kommunisten versprachen den internationalen Kapitalisten Ordnung, Steuerbegünstigungen und vor allem Infrastruktur sowie die Abwesenheit des Arbeitskampfes – das Paradies eines jeden Investors. Zum perfekten Timing hinzu kam die stimmige Chemie zwischen den Kommunisten und den Kapitalisten.

Im Rahmen dieser kommunistisch-kapitalistischen »Großkoalition« ging die technokratische Rechnung auf. Das Reich der Mitte ist heute ein Weltproduktionszentrum: 80 Prozent der Spielzeuge weltweit werden heute in China produziert. 70 Prozent der Farbfernseher und Klimaanlagen kommen aus China. 69 Prozent der Mikrowellengeräte und 34 Prozent der Kühlschränke entstammen den chinesischen Produktionsanlagen. Das Land stellt 33 Prozent der Waschmaschinen her und baut 30 Prozent der Schiffe der Welt.

Die Umarmung der Globalisierung hat Chinas Stellung in der Weltwirtschaft revolutionär verbessert. Von einer Pariaposition aus hat das Land alle westlichen Staaten überholt, um – gleich nach den USA – Platz zwei unter den größten Volkswirtschaften der Welt einzunehmen. Auch die Tage der USA als größte Ökonomie der Welt sollen nach Einschätzung führender Wirtschaftsforschungsinstitutionen gezählt sein. Gestritten wird allein um die Dauer der verbleibenden Zeit: 10, 15 oder 20 Jahre.

Chinas Aufstieg blieb in einem bestimmten Sinne für viele Menschen im Westen unauffällig. Nur wenige Fachleute und Chinabeobachter scheinen bemerkt zu haben, dass die chinesischen Unternehmen an die Weltspitze vorgerückt sind. Schon aus einer Studie der Firma Ernst & Young aus dem Jahr 2007 geht hervor, dass China heute zu den drei Spitzenländern mit den meisten Großunternehmen zählt. Noch vor 15 Jahren waren die Chinesen auch da eine Unbekannte, wo es um Rang und Ruhm in der Landschaft der Großkonzerne ging. Diese Situation hat sich jedoch geändert. Auf der aktuellen »Forbes-Liste« der weltweit größten Unternehmen sind die beiden Spitzenländer USA und China mit jeweils vier Unternehmen vertreten und teilen sich damit die Dominanz der vorderen Plätze. An erster Stelle hat allerdings ein Wechsel stattgefunden: Die chinesische Bank ICBC löst die Exxon Mobil Corporation als Anführer der »Global 2000« ab.11 Mit ihr als der größten Bank überhaupt ist auch das Ranking der Großbanken der Welt durcheinandergeraten. Unter den Top fünf der weltweit größten Bankhäuser stammen drei aus China.12

Zweifelsohne ist China mächtig geworden, auch unter finanz- und geldpolitischen Aspekten. Mit 3,8 Billionen US-Dollar übertreffen Chinas Devisenreserven diejenigen sämtlicher Industriestaaten zusammengenommen. Schätzungsweise sind davon 65 bis 70 Prozent in in US-Dollar notierten Wertpapieren angelegt, meistens in Staatsanleihen der US-Regierung. Jede Umschichtung der Anlagestruktur oder neue Ausrichtung der Anlagepolitik der chinesischen Regierung in größerer Ordnung würde den Weltfinanzmarkt erheblich in Bewegung bringen. Betroffen wäre dabei selbstverständlich auch der Wert des Euro, der um einiges teurer werden würde, sollte die chinesische Zentralbank, aus welchem Grund auch immer, dazu übergehen, US-Dollar massiv zu verkaufen, und zwar unabhängig davon, ob China selber von den Konsequenzen seiner eigenen Handlungen profitiert oder darunter leidet. Fest steht nur: Zum ersten Mal in der Geschichte ist das Wirtschaftsleben Europas so eng mit der Entwicklung in China verflochten, dass der Wert seiner Währung, die Sicherheit der Arbeitsplätze seiner Bürger und die Stabilität seiner Konjunktur nicht mehr von dem Fernostland getrennt analysiert werden können. Dies gilt entsprechend auch für China, das die meisten seiner Produkte auf dem europäischen Kontinent absetzt und sich damit europäischen Veränderungen selbst nicht entziehen kann.

Aber Chinas Entwicklung verläuft asymmetrisch. Die Narrativen über seinen Aufstieg beschwören lediglich einen Mythos, wenn sie nicht auch seine Kehrseite aufzeigen. Denn es stellt sich die Frage, ob die Chinesen nicht einen zu hohen Preis für den wirtschaftlichen Aufstieg der Nation gezahlt haben und noch bezahlen. Zunehmend verfestigt sich der Eindruck, dass die Chinesen ihre politische Freiheit gegen den materiellen Wohlstand ausgetauscht haben und damit auf einen wesentlichen Bestandteil des modernen Lebens verzichten. Während die Wirtschaft prosperiert, steigt die Umweltverschmutzung so drastisch, wie die soziale Gerechtigkeit sinkt.

Chinas Gini-Index verschlechtert sich ständig. Lag er im Jahr 1978 noch bei 0,2913, so stieg er 2012 auf 0,47.14 Der gängige Alarmwert der Sozialungleichheit liegt bei 0,4. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die chinesische Bevölkerung massiv daran gehindert wird, in gleichen Maßen vom Wirtschaftsboom zu profitieren. In der Tat führen die städtischen Einwohner ein weit wohlhabenderes Leben als die Landbewohner. So ist das Jahreseinkommen der Beschäftigten in den östlichen Küstenzonen im Durchschnitt fast sechsmal höher als im Westen des Landes. Die Kluft zwischen Reichen und Armen vergrößert sich dramatisch.

Chinas wirtschaftlicher Aufstieg entpuppt sich gleichfalls als ambivalent, wenn man bedenkt, dass das Land gezwungen ist, jährlich etwa zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts auszugeben, um allein die Schäden der Umweltverschmutzung zu bekämpfen. Ironischerweise entspricht diese Prozentzahl genau der jährlichen Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft. So gesehen, hat China praktisch ein »Nullwachstum« vorzuweisen. Nicht ohne Grund rangiert das Land auf dem Index der Umweltperformance 2008 auf Platz 105 unter den 149 Staaten, die die amerikanische Eliteuniversität Yale untersucht hat.15

Dennoch stellt China für den Westen eine ernst zu nehmende Herausforderung dar. Das Konzept »Friedlicher Aufstieg« (heping jueqi) bedeutet nicht nur die chinesische Bereitschaft zur Nationalerneuerung unter Verzicht auf militärische Expansion, es ist auch als Angebot der Chinesen an die etablierten Mächte zu verstehen: Lasst uns aufsteigen, und wir versprechen euch, dies friedlich zu tun. Aus chinesischer Sicht meint »friedlich« in diesem Kontext den Willen, die vorhandene internationale Ordnung nicht infrage zu stellen, sondern von ihr zu profitieren. In der Tat ist China in den letzten Jahren allen internationalen Institutionen beigetreten, die diese Ordnung verkörpern, also jenen Institutionen, die unter der amerikanischen und europäischen Dominanz errichtet wurden, um die liberale Wirtschaftsordnung aufrechtzuerhalten: von der WTO über die Weltbank bis hin zum IWF.

Aber China, erstarkt durch sein Gewicht in der Weltwirtschaft, lässt zunehmend erkennen, dass es nicht mehr bereit ist, sich der vorhandenen Ordnung nur zu unterwerfen. Sein Verhalten in Fragen des Klimawandels, der Energieversorgung, der Entwicklung des afrikanischen Kontinents, der Doha-Entwicklungsagenda sowie der Behandlung des Irans zeigt, dass die chinesische Führung in vielen globalen Zukunftsfragen vom Westen abweichende Vorstellungen hat. Im Westen herrscht zwar die Auffassung, dass diese Aufgaben ohne China nicht wirklich gelöst werden können, aber auf politischer Ebene bewegt sich bislang nichts, was zu einer größeren Mitführungsrolle Chinas bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung führen könnte. Auch von der G8 bleibt China ausgeschlossen. Eine überzeugende Initiative seitens des Westens zur Aufnahme Chinas in den Klub, die über reine Lippenbekenntnisse hinausgeht, ist nicht in Sicht. Allein aus dem amerikanischen Thinktank wurden die Rufe nach einem Umdenken immer lauter. Von einer G2-Herrschaft im Sinne einer chinesisch-amerikanischen Führerschaft in Kooperation mit den »Zweiten Weltländern EU, Russland und Indien« (Fred Bergsten) oder einer G3-Konstruktion von Amerika, China und Europa (Parag Khanna)16 ist jetzt in akademischen Diskussionen die Rede. Aus dem europäischen Elitenkreis ist dagegen nichts Kreatives zu vernehmen. Noch herrscht kollektives Schweigen auf dem Kontinent – hoffentlich nicht zu lang. Eberhard Sandschneider bildet hier eine Ausnahme. Der Eindruck aber, Europa sei dem »friedlichen Aufstieg« Chinas intellektuell nicht gewachsen, muss durch kreatives und schnelles Handeln vermieden werden.

Dennoch können wir empirisch festhalten: Mit dem Aufstieg Chinas geht kein Niedergang des Westens einher. Im Gegenteil: Während China wächst, erstarkt auch der Westen. Die Entwicklung in der Branche der Supercomputer liefert ein typisches Beispiel für diese Logik, denn unlängst hat China den schnellsten Computer der Welt gebaut – einen Supercomputer mit einer »Rechenleistung von mehr als 33 Billiarden Rechenschritten in einer Sekunde. Das entspricht fast der doppelten Leistung der bisherigen Nummer eins der Liste«, konstatierte die FAZ im Sommer 2013.17

Auf den ersten Blick haben die Chinesen die Amerikaner, Europäer und Japaner von Platz eins verdrängt. Fragt man aber nach der Herkunft der Millionen Prozessoren und Chips, die in den chinesischen Supercomputern ticken, so stellt sich heraus, dass es westliche Unternehmen sind, die die Chinesen ausrüsten. Vereinfacht kann man sagen: Ohne Intel gibt es kein Tianhe und ohne Tianhe expandiert Intel nicht, weil China inzwischen der größte Computerhersteller der Welt geworden ist. Mehr als 60 Prozent der in den USA verkauften Computer wurden in China hergestellt, meistens bestückt mit Prozessoren und Chips von Intel. Die Geschichte vom Supercomputer lehrt uns, warum es in einer globalisierten Welt zwischen Großmächten kaum ein Nullsummenspiel gibt: Sie wachsen entweder zusammen oder gehen zusammen unter. Die Logik der Interdependenz hat schon längst eine Schicksalsgemeinschaft zwischen China und dem Westen begründet. Noch haben alle westlichen Industriestaaten von Chinas Aufstieg profitiert. Die Bücher von VW, Ford, BMW, der Bank of America, von BASF, Boeing, Airbus, Siemens oder Intel, aber auch die Haushaltsbücher der US-Regierungen und die Liste der Käufer der Staatsanleihen von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien dürften diese Tatsache ohne Weiteres bestätigen. Vor diesem Hintergrund erscheint die These vom Niedergang des Westens bestenfalls als Märchen und im schlimmsten Fall als übertriebene Angst vor China.

Es ist die Globalisierung mit ihren alles verflechtenden Wirkungen, die die Großmächte entmachtet. Alle mächtigen Nationen scheinen sich im »Niedergang« zu befinden, einschließlich des aufgestiegenen China. Und dieses Phänomen tritt seit Beginn des 21. Jahrhunderts intensiver denn je in Erscheinung. David Baldwin hat es bereits mit dem Begriff paradox of unrealized power18 angedeutet: die Entkopplung der internationalen Durchsetzungsfähigkeit der Staaten von den für sie verfügbaren Machtkapazitäten. Immer häufiger erweisen sich Staaten, die zweifellos über beeindruckende hard power beziehungsweise scheinbar ausreichende soft power verfügen, als unfähig, ihre Staatspräferenzen auf der internationalen Ebene durchzusetzen. Umgekehrt kommt es immer häufiger vor, dass Staaten trotz schwächerer Positionen im Hinblick auf die beiden klassischen Machtformen in der Lage sind, sich entweder gegen den Willen der vermeintlich mächtigeren Akteure durchzusetzen oder deren Zielsetzung zu unterminieren. Aber dieses Paradox darf nicht mit einem »Niedergang« bestimmter Mächte verwechselt werden, weil es flächendeckend alle »Großmächte« der Gegenwart betrifft.

Nehmen wir zuerst Europa unter die Lupe: Spätestens seit dem Scheitern der internationalen Klimakonferenz in Kopenhagen ist die Europäische Union von der Entkoppelung zwischen internationaler Durchsetzungsfähigkeit und verfügbaren Machtressourcen erkennbar betroffen. In vielen internationalen und globalen Angelegenheiten hat die Europäische Union zwar klare Präferenzen, kann sich jedoch nicht ohne Weiteres durchsetzen. Von der Gestaltung der Entwicklung in Afrika über den globalen Klimaschutz bis hin zu UN-Reform und Friedenssicherung im Nahen Osten: Häufig beobachten wir ein frustriertes Europa, das seine Präferenzen nicht erreichen kann und sogar fürchtet, von der Welt nicht »ernstgenommen zu werden«19. In der Tat prägt Europa das weltpolitische Geschehen der Gegenwart nicht in dem Maße, wie man es aufgrund seiner verfügbaren Machtressourcen erwarten könnte.

Immerhin stellt die Europäische Union mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 15.000 Milliarden US-Dollar die größte Volkswirtschaft dar,20 vor den USA mit 14.500 Milliarden und der Volksrepublik China mit etwa 9000 Milliarden US-Dollar. Ihr Anteil an globalen Exporten betrug 2009 16,2 Prozent, weit voraus den Exporten der Volksrepublik China (12,7 Prozent) und der USA (11,2 Prozent). Die Militärausgaben der EU-27 mit insgesamt 322 Milliarden US-Dollar beliefen sich zwar nur auf etwa die Hälfte der US-amerikanischen mit 663 Milliarden US-Dollar, übertrafen die chinesischen mit 98 Milliarden US-Dollar jedoch um mehr als das Dreifache. Auch der europäische Anteil an den Top 100 der besten Universitäten der Welt ist mit 24 weit größer als der chinesische mit nur 5, auch wenn die meisten Top-Universitäten, 53 von 100, in den Vereinigten Staaten angesiedelt sind. Von den Top-100-Unternehmen dagegen, gemessen am Umsatz im Jahr 2010, befinden sich 42 in Europa, 32 in Amerika und nur 5 in China. Nimmt man die angemeldeten Patente als Maßstab für die Stärke der Innovationskraft einer Region, so rangiert die Europäische Union hier auf dem ersten Platz: 2009 stammten 48.658 Patente aus den EU-27, 45.618 aus den USA und nur 7900 aus China.21

Basierend auf diesen statistischen Daten liegt die Europäische Union knapp vor den USA, ist aber um das Sechsfache stärker als die Volksrepublik China, wenn es um die Innovationsfähigkeit und das Kreationsvermögen der Unternehmen geht. Dass die Europäische Union als eine Wissensmacht über das größte Innovationspotenzial der Welt verfügt, ist zumindest nach diesen Datensätzen eine unumstrittene Tatsache. Auch im Hinblick auf zivilisatorische Anziehungskraft und systemische Vorbildfunktion, jene Fundamente der soft power, befinden sich die Europäische Union und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland an der Spitze der Welt. Nach einer repräsentativen Umfrage unter 29.000 Einwohnern in 28 Ländern, die durch die kanadische demoskopische Agentur GlobeScan im Jahre 2010 durchgeführt wurde, bewerten 53 Prozent der Befragten die Rolle der Europäischen Union in der Welt als »meist positiv«. Dabei hat Deutschland die beste Note unter den 28 bewerteten Staaten erhalten: 59 Prozent der Befragten betrachten die deutsche Rolle als »positiv«, deutlich vor den USA mit 46 Prozent und China mit 41 Prozent.22

Die Schwierigkeiten der Europäischen Union, sich auf globaler Ebene durchzusetzen, liegen offensichtlich nicht im Mangel an hard und soft power, sondern vermutlich in der fehlenden Fähigkeit, die verfügbaren Machtkapazitäten adäquat in politische Erfolge umzuwandeln. Oder anders ausgedrückt: Europa versteht es nicht, die vorhandene Hebelkraft zu erkennen, mit deren Hilfe sein Gewicht zur Geltung gebracht werden könnte.

Nicht nur die europäische Machtlosigkeit, sondern auch die prekären Situationen, die die Supermächte USA und China als Papiertiger erscheinen lassen, zeigen, wie stark die internationale Durchsetzungsfähigkeit der Staaten von den für sie verfügbaren Machtkapazitäten entkoppelt ist. Kein anderes Beispiel als der Nordkoreakonflikt könnte wohl das Puzzle »Machtkapazitäten versus Durchsetzungsfähigkeit« besser veranschaulichen: Weder die militärisch hoch überlegenen Amerikaner noch die wirtschaftlich übermächtigen Chinesen konnten ihre gemeinsame politische Präferenz für eine nuklearfreie Zone auf der koreanischen Halbinsel gegenüber dem in jeder Hinsicht unterlegenen Nordkorea bislang durchsetzen. Sowohl die hard als auch die soft power, die der Supermacht USA und der aufsteigenden Großmacht China zur Verfügung stehen, bleiben wirkungslos, wenn es darum geht, das Pariaregime in Pjöngjang zur Aufgabe seines Atomprogramms zu bewegen. Das gleiche Phänomen beobachten wir auch im Iran und in Afghanistan, wo das Machtverhältnis zwischen den Konfliktgegnern eine erhebliche Asymmetrie aufweist. Auch hier sind die scheinbar schwächeren Akteure trotz ihrer eindeutigen Unterlegenheit in der Lage, ihre Kontrahenten an der Erreichung ihrer Präferenzen zu hindern.