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Wiesław Myśliwski

Der helle Horizont

Roman

 

Aus dem Polnischen von
Roswitha Matwin-Buschmann

 

Mit einem Vorwort von
Olga Mannheimer

 

 

 

btb

Die polnische Originalausgabe erschien 1997

unter dem Titel »Widnokrą

bei Warszawskie Wydawnictwo Literackie MUZA S. A., Warszawa

 

 

 

btb Bücher erscheinen im Goldmann Verlag,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House

 

1. Auflage

Copyright for the text Wiesław Myśliwski

Copyright © der polnischen Ausgabe

by MUZA S.A. Warszawa 1996, 1997

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-0101 7-1

www.btb-verlag.de

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

FÜR GRZEGORZ, MEINEN SOHN

VORWORT

Ein Mann macht sich eines Tages auf, ans Ende der Welt zu gehen. Wo die Erde aufhört, da will er nach oben steigen, immer höher, bis alles zu sehen ist: das Dorf, die Kühe, die Kinder, sein ganzes Universum. Diese Vision eines alten Hirten, dem die Weisheit der Narren gegeben ist, taucht in der Mitte von Wiesław Myśliwskis Roman auf, als Chiffre seines literarischen Begehrens, mit einem Blick die Welt zu umgreifen und ihre Ordnung zu erkennen. Der Horizont – titelgebende Metapher und Leitmotiv des Romans – ist der Streifen, der im konkreten Sinne das Blickfeld, im übertragenen Sinn die erfassbare Erfahrung eines Lebens umschließt. Dieser Streifen, wo »Himmel und Erde zusammenstoßen«, materialisiert die Grenze der Erkenntnis, ebenso verlockend wie unerreichbar: Wie der Horizont rückt sie ab um jeden Schritt, den man auf sie zugeht. Piotr, der Ich-Erzähler des Romans, bewegt sich zwischen dem Wissen um menschliche Begrenzung und dem Drang, sie zu überwinden. Er nähert sich dem Geheimnis, das hinter den Dingen liegt, indem er diese von verschiedenen Seiten aus genau betrachtet und ins Verhältnis zueinander setzt. Das besondere an Piotr ist nicht sein Leben – es ähnelt dem vieler Polen, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren aufgewachsen sind –, sondern die Art, wie er dessen Zusammenhänge in den Blick nimmt.

Der helle Horizont, im Original 1996 erschienen, spielt zu einer Zeit, die zu den schmerzlichsten Kapiteln polnischer Geschichte zählt. Nach dem deutschen Überfall und dem Vorstoß der Roten Armee im September 1939 fand sich Polen – wie schon zum Ende des 18. Jahrhunderts – wieder zwischen Großmächten aufgeteilt. Die Folgen waren Vertreibung und Verschleppung, Ausmerzung der Eliten und die Verknechtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Gegen die gewaltsame Unterdrückungspolitik der Besatzer formierte sich Gegenwehr aus zwei Richtungen: Eine in ihren Grundzügen bürgerlich-nationale Organisation (mit Anbindung an die polnische Exilregierung in London) errichtete während der Okkupation einen regelrechten Untergrundstaat, mit eigener Verwaltung, Bildungseinrichtungen und bewaffneten Einheiten. Diese »Heimatarmee« initiierte 1944 den Warschauer Aufstand. Ihr Gegenstück war die »Volksarmee«, die aus den kommunistischen, mit der Sowjetunion verbündeten Kreisen hervorging. Da die Führer beider Widerstandsbewegungen die Regierungsbefugnis über ein befreites Polen anstrebten, kam es in der letzten Kriegsphase zwischen diesen Kräften förmlich zum Bürgerkrieg, der sich weit über das Jahr 1945 hinauszog.

Die Befreiung von der deutschen Besatzung durch die Rote Armee, die – vor den Toren der Stadt – dem Niedermetzeln des Warschauer Aufstands tatenlos zugesehen hatte, war nicht das Ende allen Leids. Die sowjetischen Truppen marschierten in ein verwüstetes, innerlich zerrüttetes Polen ein, das sechs Millionen Menschen (davon drei Millionen polnische Juden) verloren und durch die Grenzverschiebungen ein Fünftel seines Territoriums eingebüßt hatte. Die Um- und Aussiedlungen trieben Massen von obdachlos Gewordenen durchs Land; vielerorts wurden innenpolitische Auseinandersetzungen blutig ausgetragen. Schließlich gelang es den Kommunisten, die Macht an sich zu reißen, was Polen de facto unter sowjetische Herrschaft brachte: Staats-, Parteiführung und der gewaltige Sicherheitsapparat erhielten ihre Weisungen aus Moskau, das auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Gleichschaltung der Gesellschaft drängte. Mit fortschreitender Stalinisierung gipfelte der »Kampf gegen die Reaktion« in brutalem Terror. Er zielte vorrangig auf ehemalige Vertreter des Untergrundstaates und Soldaten der »Heimatarmee«. Einige, die den Kampf gegen die Besatzer überstanden hatten, wurden zum Tod, viele andere zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. In der Volksrepublik waren ohnmächtige Wut und Angst vor dem sowjetischen Diktator überall spürbar.

Diese Epoche gewaltsamer Umbrüche hat in Polens kollektivem Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen. Besatzung, Frontkämpfe, Deportationen – auch im hellen Horizont klingt die blindwütige Gewalt der Geschichte an. Doch die Figuren erleben sie aus der Ferne, ohne eine Spur patriotischer Anteilnahme. Der Ausgang einer Schlacht beschäftigt sie weniger als der Gedanke, »noch was zu ernten, wenn nicht fürs Brot, so wenigstens für die Aussaat«. Im Dengeln der Sense (die hier zum Symbol der Hoffnung wird) während der kurzen Waffenruhe an der nahen Front artikuliert sich beiläufig eine Weltanschauung. Sie stellt das Leben, im schlichten Sinn von Überdauern, über heroische Ideale. Den Weltkrieg nehmen die Bauern nur unmittelbar wahr und sie begegnen ihm so pragmatisch wie allen übrigen Plagen des Seins. Erschüttert werden sie einzig von Ereignissen, die sie persönlich erleben und die manchmal, wenn man sie von außen betrachtet, eher lächerlich als dramatisch wirken. So etwa das seinem Hund ausgeschlagene Auge, das Piotrs Onkel so peinigt, dass er deswegen erwägt, »sich zu den Partisanen zu melden«. Oder der Verlust eines Schuhs, über den Piotrs Mutter auf der Flucht bitterlich klagt, während ringsum die Welt zusammenbricht. Doch aus der Klage über diesen einen Verlust, der das Ausmaß des Ausdrückbaren nicht überschreitet, läßt sich alle Not der Unbehaustheit heraushören. »Diese Stelle«, so ein polnischer Kritiker, »enthält mehr Wahrheit über das Jahr 1945, als ganze Sammlungen historischer Abhandlungen.« Nicht zuletzt verdeutlicht diese Episode was Myśliwski bei der Wahl seines Erzählmaterials leitet: Er geht davon aus, dass das Leben aus Alltäglichkeiten besteht. Daher stellt er Zwischenfälle, private Konflikte, profane Sorgen und Sehnsüchte in den Vordergrund. In der Tiefe aber reflektieren seine Geschichten menschliche Bestrebungen und Widersprüche mit der Kraft eines Mythos.

Wiesław Myśliwski begreift sich nicht als Chronist einer tragischen Epoche. Sein Interesse gilt weniger historischen oder gesellschaftlichen Prozessen, als vielmehr der einzelnen Existenz. Deshalb konzentriert er sich auf die unmittelbare Umwelt seiner Figuren, die wir aus nächster Nähe sehen, während das Zeitgeschehen im Hintergrund bleibt. Nicht die Okkupation, der Bürgerkrieg oder der Stalinismus haben Piotr zu dem gemacht, der er ist. Sein Daseinsgefühl verdankt sich charakteristischen Gesten, den zwischen den Worten vernehmbaren Emotionen und den Erfahrungen des Alltags.

Dieses in der polnischen Tradition (welche die Generationsbegriffe in der Regel aus politischen Aufständen ableitet) untypische Verständnis von Identitätsbildung wird im Roman vielfach gespiegelt – so auch in dessen Zeitstruktur: Er folgt nicht einer linearen Handlung, sondern fächert die Episoden in freier Abfolge auf, die das spontane Erinnern imitiert. Wie gegenwärtig ein Ereignis erscheint, hängt nicht von Chronologie oder historischer Tragweite ab, ausschlaggebend ist seine emotionale Gewichtung. Piotrs Lebensrückblick baut sich aus weitgespannten Erinnerungsbögen auf, die auf solche Schlüsselerlebnisse gestützt sind. Diese Bögen greifen ineinander, wobei die Erzählung in eine andere Zeitebene kippt, und zwar so abrupt, dass sich verschiedene Altersphasen übereinander- schieben. Wir sehen das Geschehen stets mit Piotrs Augen, doch immer wieder in einem anderen Licht. Der Blickwinkel wechselt mit den Altersstufen und macht jeweils neue Aspekte sichtbar. Durch die Überlagerung verschiedener Zeit- und Erkenntnisschichten bekommt der Leser Einblick in die seelische Wirklichkeit des Ich-Erzählers und in seinen Reifeprozess. In diesem Konstruktionsprinzip spiegelt sich darüber hinaus eine der Grundlagen von Myśliwskis Prosa: das Empfinden der Zeit als ewiger Kreislauf. Seine Zeitauffassung sieht der Autor als Teil des bäuerlichen Erbes, dem er nach eigener Aussage die erzählerischen Ressourcen verdankt.

Wiesław Myśliwski wurde 1932 in Dwikozy geboren, einem weltentrückten Dorf im Südosten Polens. Er wuchs im Armenviertel von Sandomir auf; die Stadt wird erkennbar im namenlosen Schauplatz seines Romans, durch den die Rote Armee auf ihrem Weg nach Berlin marschiert. Die Parallelen zu seiner Biographie sind offensichtlich. Wie sein Erzähler hat der Autor die bäuerliche Heimat früh hinter sich gelassen und den Vater kurz nach Kriegsende verloren. Nach dem Studium der Polonistik an der Katholischen Universität in Lublin wurde er mit 26 Jahren Lektor in einem Warschauer Verlag und später Chefredakteur einer Kulturzeitschrift. Der Debütroman Der nackte Garten, den er 1967 veröffentlichte, hat die Kritik durch Tiefe und virtuose Sprache begeistert. Jedes seiner folgenden Bücher geriet zum Literaturereignis; so auch Der helle Horizont, 1997 mit dem Nike-Preis – dem wichtigsten polnischen Literaturpreis –gewürdigt. Beim Publikum wie bei den Kritikern gleichermaßen beliebt, hat Myśliwski das Schreiben nie als Beruf betrachtet. Es ist ihm vielmehr ein Akt der Selbsterforschung. Sein Œuvre beschränkt sich auf drei Theaterstücke, einige Hörspiele und vier Romane, die von manchen Kritikern der sogenannten bäuerlichen Strömung zugerechnet werden, nach Ansicht anderer den Rahmen dieses Genres sprengen. Der öffentlichkeitsscheue Autor blieb immer abseits von poetischen Schulen, Moden und Ideologien. Der – polnischen Schriftstellern traditionell zugewiesenen – Rolle als »Gewissen der Nation« hat er beharrlich widerstanden. Er erhob keine politische oder soziale Anklage; unter den Kommunisten, da regimekritisches Engagement mit literarischer Qualität notwendig verbunden wurde, hielt er sich als einer von ganz wenigen aus den Auseinandersetzungen der Zeit heraus. Diese Distanz läßt sich aus den Quellen seines Schreibens erklären. Myśliwski schöpft seine Themen aus dem Gedächtnis und aus der Vorstellungskraft. Als seine wichtigste Prägung nennt er die Kindheitsjahre auf dem großelterlichen Bauernhof, wohin sich die Familie vor dem Krieg flüchtete. Dort begegnete er mehreren Generationen polnischer Kleinbauern, deren Erzählungen sich in seine Erinnerung eingebrannt haben.

Der helle Horizont spielt im eingegrenzten Raum des Dorfes und am Rande des Stadtlebens. Wie der deutsche Gefreite in diesem Roman, der die Bauern so beharrlich fotografiert, dass sie am Ende nicht wissen, »sind sie noch auf der Welt, oder bloß noch auf diesem Bild«, ist Myśliwski leidenschaftlich bestrebt, dieses Universum in all seinen Aspekten und Schattierungen festzuhalten. Die Genauigkeit seines Blicks und seines Gehörs verleiht den Figuren eine ungewöhnliche Präsenz. In der Realität Polens fest verankert, bildet der Roman dennoch viel mehr als eine Epoche oder ein Milieu ab.

Was den Autor fasziniert, sind nicht die Spezifika ländlicher Sitten oder kleinstädtischer Mentalitäten – es sind die universellen Kategorien der Seele.

Der großväterliche Bauernhof markiert den Mittelpunkt von Piotrs Erinnerungswelt, weil sich darin eine Existenzerfahrung bündelt. Darauf gehen seine Wahrnehmungen und Empfindungen zurück, aus denen sein Erkenntnisvermögen erwachsen ist. Indem er die Dinge des Alltags ungemein intensiv erlebt, kann Piotr sehen, was hinter ihnen steht. So baut Myśliwski aus den Zeitgeschehnissen den Erzählrahmen, in den er seine zeitlosen Themen spannt: wie Bewusstsein und Gefühle entstehen, welche Kräfte das Leben eines Menschen bestimmen, was seine Beziehung ist zu den anderen, zur Natur, zum Glauben.

Der Autor geht die Fragen nach den letzten Dingen ohne Scheu an. Seine Figuren behandeln den Tod, die Bestimmung oder Gott mit derselben Vertrautheit wie die Dinge das täglichen Lebens. Möglicherweise ist das der Standpunkt, von dem aus sich erkennen lässt, was die Welt zusammenhält: Dass Gewichtiges und Alltägliches einander so nahe sind wie Himmel und Erde. Am Horizont stoßen sie zusammen.

OLGA MANNHEIMER

PROLOG

Das kleine, schmächtige Männlein da auf dem Foto, mit den weit aufgesperrten Augen, in dem zu großen Gabardinemantel, wie erdrückt von dem zu großen Hut – das ist mein Vater. Daneben, im dunkelblauen Matrosenanzug, in kurzen Hosen, die weiße Matrosenmütze auf dem Kopf, in Sandalen und Kniestrümpfen – das bin ich. Mutter ist nicht mit drauf. Dann ist wohl Sonntag. Sonst wär ich auch nicht im Matrosenanzug.

Die Mutter macht, scheints, das Mittag, was sollte sie anderes tun an diesem sonnigen Sonntag im Sommer, wie er da zu sehen ist auf dem sonnendurchleuchteten Foto. Sie rührt was im Topf, rückt was zurecht auf den Feuerstellen, legt Scheite nach, walkt den Nudelteig und klagt dabei, diese Pötte, ewig nur diese Pötte, wofür hat der Herrgott sie so gestraft, nicht mal am Sonntag ein Spaziergang. Sie sind sonntags immer spazieren gegangen, einen Fuchs hat sie gehabt, Hut, Handtasche, Handschuhe, Schuhe, alles im gleichen Farbton, eine Dame ist sie gewesen, umgedreht haben sie sich nach ihr, und nun ist sie die Küchenmagd. Vielleicht streitet sie sich mit Tante Marta, wir wohnen nämlich alle auf einem Haufen, bei den Großeltern, es braucht nicht viel, und fertig ist der Streit.

Nicht bloß dich, nicht bloß dich, beschwichtigt Tante Jadwinia, so gut sie kann, denn Tante Jadwinia holte gern für jeden die Sterne vom Himmel, und es schmerzt sie, wenn jemanden was schmerzt, uns alle hat er gestraft. Da, die Schweine, beringt sind sie, angeblich sinds deine, du fütterst sie, rackerst dich ab, von den Kartoffeln spürst du die Hände kaum noch, das frisst wie nur was, aber schlachten darfst du das nicht. Wart, ich tu ihnen bloß was in den Trog, dann helf ich dir.

Dafür lässt Tante Marta der Mutter kein Wort durchgehn. Eine Dame! Seht sie euch an, die Dame! Was hat dich denn hergetrieben? In deiner Stadt hätteste solln hockenbleiben, wenn dirs dort so gut ging. Und einen Fuchs, den kann ich auch haben, denke du bloß nicht. Legt der Władek halt Schlingen aus, der Kaźmierczak kriegt ihn zum Gerben, und schon hab ich einen. Legste welche aus, Władziu?

Onkel Władek wird regelrecht fuchtig bei dem Fuchs. Hast du Deibel von Weib den Verstand verlorn? Und wo willste rumlaufen in deinem Fuchs? Im Dorfe? Damit sich der Gendarm an dich hängt, wo du den Fuchs her hast, und mich kriegen se am Arsch? Oder die Leute sich das Maul zerfetzen, bereichert hättn wer uns, wenns geht noch an den Juden? Herrgottnochmal! Is die nich närrisch? Jede Minute kann einer dran sein, und die – einen Fuchs! Nach einem Fuchs giepert es die! Und er lässt seiner Wut freien Lauf und äfft die Tante weiter nach. Einen Fuchs! Einen Fuchs! Legste Schlingen aus, Władziu? Verfluchtige! Dass man sich krummlegt für die Ärzte, da dran denkt se nich! Dass man sich das Letzte aus den Rippen schneidet für die Medizin, da dran nich! Aber einen Fuchs! Geh und fang einen Fuchs für die!

Tante Martas Augen laufen an wie Glas, stumm setzt sie sich auf die Bank unterm Fenster und nimmt sich den Wandbehang vor. Sich regen bringt Segen. Sticken tuste, am Sonntag? sagt die Großmutter überm Rosenkranz. Am Sonntag is es Sünde. Und der Onkel Władek kann ihr noch lange den Fuchs nicht verzeihen. Einen Fuchs! Einen Fuchs!

Erst muss der Großvater sich aufs Knie klatschen, wie es seine Art ist, und dazwischenfahren. Biste stille! Und dann fängt er sanft, nunmehr aus der Höhe seines Alters, selbst von den Füchsen an, so als wüsste allein er alles über sie. Tja die Füchse, irgendwie lassen die sich heuer nich blicken. Rebhühner, Hasen ein paar. Die Füchse haben sich, scheints, verzogen. Wegen dem Krieg oder was? Vorhersagen über die Füchse gibts keene nich. Über die Rebhühner ja. Verschwinden die Rebhühner, verschwinden die Juden. Nich mal, dass der Fuchs wem ein Huhn gerissen hat, hörste mehr. Und früher verging kein Tag. Wenn nich ein Huhn, dann eine Gans, eine Ente. Und die Baue sind eingefallen, keine Spur, dass se da ein und aus gehn. Vielleicht eine Seuche? Aber den Fuchs nich jetze, im Sommer. Jetze is das Plunder, keen Pelz nich. Der haart dir im Nu aus, Martuś. Erscht im Winter. Im Winter wird er dichter. Und das Haar dicker, länger, glänzend. Dann hält er Jahre. Bloß, für die Schlinge musste Stahldraht haben. Aufm Boden liegt nochn Stücke. Und auf die Schliche musste ihm kommen. Aber bis zum Winter is es noch hin, oha!

Wenn aber Sonntag ist, dann gibt es zu Mittag einen Hahn. Den stolzen, karmesinroten, mit dem Purpurkamm. Eben ist er über den Hof spaziert, ich seh ihn noch, wie er sich aus der Hühnerschar die gesprenkelte Glucke aussucht, zu ihr flattert, die andern Hennen beiseitefegend, und sie, die Gefügige – hopp! – zu Boden drückt, worauf er sich schüttelt und weiterstolziert. Das Blut tropft noch aus seinem Hals und zeichnet eine Spur vom Hackklotz bis in die Stube, als ihn Onkel Stefan in seiner Riesenpranke an den Beinen anbringt und wie zu sich selber sagt, zappel nich so, Ungetüm, du bist doch tot. Aber als er auf der Schwelle stehenbleibt, spreizt der Hahn wieder die Flügel, als wollte er sich damit gegen den Türrahmen stemmen. Halt ihn fest, du bespritzt mir noch die Wände mit Blut, schreit Tante Jadwinia, die sind grad erst geweißt. Ich sag ihm ja, er soll nich so zappeln. Was sagst du ihm?! Was sagst du ihm?! Du hast ihm den Kopf abgehackt und sagst ihm was! Der Onkel schleudert den Hahn wütend in den Zuber.

Oh, ein großer Hahn, was ein großer Hahn, Großvater beugt sich über den Zuber, und als hörte der Hahn, dass Großvater ihn lobt, beginnt er sich erneut zu spreizen. Erst als ihm Tante Jadwinia kochendes Wasser aus dem Teekessel übergießt, sackt er zusammen, erschlafft, und das ist seine Ewige Ruhe. Und die Tante bindet sich das Vortuch vor, rückt sich den Schemel zurecht. Zuerst reiß ihm den Schwanz aus, mahnt der Großvater. Und die Tante reißt ihm mit der ganzen Hand den Schwanz aus. Geht und will den Schwanz in den Herd werfen. Es sieht aus, als trüge sie ein Flammenbündel, um das Haus vor Feuer zu schützen. Schon greift sie sich den Schürhaken, schon hebt sie die Ofenringe an. Ich ruf, Tante, schmeiß nicht, ich mach mir einen Federschmuck draus! Dann bin ich ein Indianer! Die Tante zögert, da, nimm, aber trockne ihn ordentlich ab. Was gibste ihm den? Großvater verhehlt sein Missbehagen nicht, willste, dass uns noch mal das Haus abbrennt? Und woraus macht er sich den Federschmuck, wo er ein Indianer sein will? Pfaue gibts bei uns nich. Aberglaube das, brennt doch kein Haus ab wegen dem Schwanz. Seht da, sie möcht mit dem Feuer spielen.

Die Tante dreht den Hahn auf den Rücken, auf den Bauch, rupft ihn, dass die Federn knirschen. Mutter sagt, lass gut sein, ich werd allein mit ihm fertig, und du zieh dich an für die Kirche, du willst zur Messe und schaffst es nicht mal zum Hochamt. Ich schaffs schon, die Tante sputet sich, dass ihr das Kopftuch in den Nacken rutscht und das Haar, nicht mehr gebändigt, wie eine schwarze Wolke das Gesicht verdeckt, und wenn ich mich was verspäte, der Herrgott merkts nich. Er hängt nich am Kreuz und passt auf, wer zu spät kommt.

Reich ist die Haarpracht der Tante. Nicht schön, nicht dicht, nein reich. Sogar reich und reich, sagt die alte Smykowa, die Nachbarin. Was haste nicht für eine reich und reiche Haarpracht, Jadwinia, was ist die doch reich und reich. Gott hat dir kein Kind geschenkt, dafür hat er dir Haare geschenkt für dein goldnes Herz. Andre haben nich mal das. Der Onkel Stefan streicht der Tante manchmal übers Haar, wenns keiner sieht, und er sagt nichts. Aber die Tante weiß, was er sagen will, und jeden Samstag wäscht sie ihr Haar. Sobald es zu regnen anfängt, stellt sie den Eimer unter die Traufe und fängt für diese Wäsche das Regenwasser auf. Selbst vom Feld rennt sie herbei, sowie es regnet, um es aufzufangen. Mengen von diesem Regenwasser stehn in dem Blechfass an der Wand und in dem andern, dem Eichenfass, und in dem Kessel, denn an Regenwasser darfs nicht fehlen für die Haarwäsche am Samstag.

Drum geht die Tante samstags nicht mehr mit aufs Feld, und jeder bringt dafür Verständnis auf. Auch wenn Onkel Stefan, für alle Fälle, jeden Samstagmorgen daran erinnert, Jadwinia bleibt also dann hier, sie muss ihr Haar waschen. Der Großvater als einziger, nicht dass er was dagegen hätte, er mag die Tante, der kann sich nie genug wundern, dass das jeden Samstag so geht. In der Erntezeit, tja, das schon, da gibts Staub, aber jetzt die Arbeit is gar nich so staubig. Die Läuse wäschste auch so nich raus, die kann man nur rauskämmen. Was denn für Läuse, Vater? Onkel Stefan ist empört. Was für Läuse? Na, was wohl für welche? Läuse eben. Sie hatten immer Läuse in den Haaren. Jetzt hat man keine mehr? Ach, Vater, Vater, Tante Jadwinia versucht, die Läuse in Gelächter zu verkehren, ich würd mich eher zu Tode schämen. Ich bleib da, weil das Haus ein bisschen hergerichtet werden muss für Sonntag, gewaschen muss werden, gefegt, Mittag gekocht. Und die Tante bleibt, um ihre Haarpracht zu waschen.

Zuerst reibt sie das Haar mit Petroleum ein. Damit es Glanz bekommt und nicht ausfällt. Dann steht sie, entblößt bis zur Taille, über der Waschschüssel, die Brüste berühren das Wasser fast, denn auch die Brüste der Tante sind eine reich und reiche Pracht. Sie sprängen wohl aus der Schüssel, wenn sie sie beide zugleich eintauchte. Sie streben auseinander, weil sie es so eng zusammen haben. Diese Brüste trägt die Tante durch die Stube spazieren, wenn sie sich Heißes aus dem Schaff nachgießt und wenn sie nach der ersten Wäsche das Seifenwasser vom Flur in den Hof schwappt und wenn sie Holz im Herd nachlegt, bloß manchmal hält sie sie mit einer Hand fest, damit sie nicht hüpfen. Aber sie muss sich ja vor niemandem schämen, alle sind auf dem Feld, ich hab die Kühe rausgetrieben, und nur der Herr Jesus im Garten ist allein mit der Tante, aber der schaut die Tante auch nicht an, denn er betet und richtet den Blick in die Höhe. Also hat die Tante nicht mal die Türe abgesperrt, wer soll schon kommen, die nächsten Nachbarn sind ebenso auf dem Feld, und auf dem Feld sind auch die weiter entfernten, das ganze Dorf ist auf dem Feld. Über die Waschschüssel gebeugt, hat die Tante den Kopf voller Schaum, und die Hände, in diesen Schaum getaucht, rubbeln, als hätte sie die Haarpracht einen Monat nicht gewaschen, und die Brüste baumeln unter ihr wie zwei Glocken im Takt zur Bewegung der Hände. Sie sieht nicht, hört nicht, hat Augen und Ohren mit Schaum verstopft, dazu noch das Rumpeln und Rubbeln der Hände an ihrem Kopf, als sie plötzlich stutzt. So wie sie da über der Waschschüssel steht, die Hände in den Haaren, erstarrt sie. Is da wer? Halb fragend, halb bang, denn sie hat niemanden die Tür öffnen hören. Und der Onkel Stefan nimmt mit seinen großen Händen diese Brüste der Tante auf, die über der Schüssel baumeln, so als nähme er zwei Welpen von ihrem Lager auf. Die Tante tut verwundert. Du bist nich mit aufs Feld? Ich bin zurück, weil ich die Wetzsteine vergessen hab. Komm. Was fällt dir ein? Siehst du nich, ich bin beim Haare waschen? Und wenn jemand kommt? Ja und?! Für lange? Er kann auch kurz kommen. Soll er nur. Es is nich mit einer Fremden, es is mit der eignen. Wart, ich spül nur noch. Dreh den Schlüssel um. Wozu? Komm. Und er rafft den Rock der Tante hoch, setzt sie sich auf den Schoß, und sie wiegen sich. Mal um Mal fährt die Tante überm Schoß des Onkels auf und nieder, auf und nieder, und sie stöhnt, oh, Gott, oh, Stefuś. Und immer schneller, oh, Gott, oh, Stefuś. Immer fester umfasst der Onkel die Brüste der Tante, so dass der Schaum aus Tantes Haaren durch die ganze Stube spritzt. Dann gibt die Tante einen leisen Seufzer von sich und hängt schlaff in des Onkels Armen, und der Onkel drückt den Kopf an ihre Schulter. So sitzen sie eine Weile, reglos. Vielleicht beschenkt uns Gott diesmal, Stefuś. Nu ja, vielleicht.

Der Duft der Brühe erfüllt schon die Stube, als der Großvater und Onkel Władek als letzte vom Hochamt heimkommen. Oh, das riecht, und wie das riecht, der Großvater schnuppert, kaum hat er den Fuß über der Schwelle, lüstern. Tja, ein alter Hahn, der riecht halt, Onkel Władek hat immer ein Widerwort, schon gar beim Großvater. Vielleicht kriecht der Groll bei jeder Gelegenheit so aus ihm raus, weil ihm der Großvater angeblich die Tante Marta als Frau zugeschanzt hat. Bloß das Fleisch, das wern wer morgen essen, bis das gar is. Ich hab ja gesagt, den andern schlachten, den Gesprenkelten, der is was kleiner, aber nich so abgejachert. Aber das riecht, hoho, das riecht, wiederholt Großvater mit Nachdruck.

Im gleichen Moment, wie sich selber tadelnd, weil der Geruch des Weihrauchs vom Hochamt sich noch nicht gelegt hat und ihn der Geruch der Brühe schon gieprig macht, setzt er hinzu, na, das war heut mal eine kluge Predigt vom Pfarrer, eine kluge Predigt, na. Das is ein Redner, ha. So klug wieder nich, Onkel Władek hat sichtlich Lust, sich mit Großvater anzulegen. Der sabbelt, was ihm grade einkommt. Und ewig macht er einem Angst, als gäbs nich schon genug davon, auch ohne ihn. Höllenqualen, nischt wie Höllenqualen. Klug war se, Großvater bleibt dabei. Für Vater muss alles klug sein, was der Priester sagt. Aber auch die Priester reden oft verquer. War das etwa nich klug gesagt, du Aussatz, dass es so viel Unheil gibt in der Welt? Ich weiß auch ohne den, wie viel. Große Weisheit mir das.

Sie haben sich weit voneinander hingesetzt, Onkel Władek an den Tisch, der Großvater auf die Fensterbank. Und während es scheint, als warteten sie nur noch, wann der Hahn endlich gar ist, fangen sie wieder von dieser Predigt an. Der Großvater, ha, wie klug die war, der Onkel Władek, so klug nun auch nich. Der Großvater, dass man dank dem Pfarrer Gottes Wort wenigstens noch am Sonntag hören kann. Der Onkel Władek, was Gott zu sagen hatte, hat er gesagt und is gestorben, die Priester reden ihr eignes. Wie soll Gott durch den Priester wollen sprechen, Vater, dazu einen, der nich mehr weiß, wie viel fürn Begräbnis, ne Trauung, ne Taufe nehmen, zu was die Weihnachtsgabe da is? Gott hat den Lazarus vom Tode erweckt, und hat er was genommen? Er hat Wasser in Wein verwandelt, wie die nischt zu trinken hatten, und hat er was genommen? Sie haben Gottes Wort gegen Menschenwort eingetauscht und reden immer noch von Gott. Wenn Gott einem Menschen was sagen will, sagt ers ihm selber, mal durch die Gedanken, mal aufm Feld, mal sogar im Suff, trink nich, los, geh heim zu Weib und Kind. Großvater aber quittiert das alles mit einem Fauchen, du Aussatz du! Und schließlich klatscht er sich aufs Knie, du Antichrist! Und der Onkel verstummt, denn wenn sich der Großvater aufs Knie klatscht, ist nicht mit ihm zu spaßen.

Stille tritt ein, gespannt wie eine Feder, nicht rausgehen kann man und nicht drinbleiben bei so einer Stille. Und obwohl keiner die Stube verlässt, ist es, als seien sie alle verschwunden, und nur der Großvater sitzt, böse, ergrimmt gegen den Onkel Władek wegen der Predigt des Pfarrers, auf der Fensterbank, als warte er, ob nicht einer kommt. Doch nicht lange, da spießt die Mutter die Gabel in den kochenden Hahn und verkündet, wir können essen. Und im selben Augenblick wandern die Augen des Großvaters, in denen die Wut auf den Onkel abflaut, zur Großmutter. Obwohl man meinen könnte, die Großmutter ist nicht in der Stube, denn keiner hat bemerkt, wann sie herein ist, keiner hat es nur mit einem Wort bezeugt, also kniet sie vielleicht noch irgendwo dort in der menschenleeren Kirche, im Halbdunkel, denn Seweryn, der Kirchendiener, hat die Kerzen längst gelöscht, vielleicht weilt sie auch gar nicht auf Erden.

Doch mit einmal tritt die Großmutter heraus aus dem Nichtsein und hockt im entferntesten Winkel der Stube, bei der großen alten Truhe mit den grünbraunen Mustern, gekrümmt überm Rosenkranz. Denn was besagt das schon, dass sie zur Frühmette war und zum Hochamt, und am Nachmittag geht sie noch zur Vesper, der Gebete sind nie genug, zumal die Familie groß ist, und außer der Familie gibts noch das Haus, das Viehzeug, die Scheune, die Ställe, den Obstgarten, die Felder, das Dorf, wie viele Gebete braucht es da.

Leg vor, drängelt der Großvater, weil die Großmutter noch diesen Rosenkranz in den Händen hält. Und nun übernimmt die Großmutter ihre Rolle, die ihr gewissermaßen seit Jahrhunderten auf den Leib geschrieben ist. Mit einem tiefen Seufzer erhebt sich die Großmutter, geht zur Kredenz und holt die Blechteller raus. Wenn man nicht wüsste, dass Mittagszeit ist, das Scheppern der Teller brächte es einem in Erinnerung. Diese Teller sind wie Scheibchen von einem ausgebleichten Himmel, nicht blau, nicht grau, und auf dem Grund eines jeden prangt eine große rote Blume mit einem schwarzen Auge in der Mitte, gesäumt von einem Kranz aus kleineren Blümchen, ebenso roten mit schwarzen Äuglein. Sie sind alt, was man an den abgestoßenen Stellen sieht. Einer hat sogar schon ein Loch, und Großmutter hat es mit einem Läppchen ausgestopft. Von dem Teller will keiner essen, drum stellt sie ihn auf ihren Platz. Es war schon lange kein Drahtbinder mehr im Dorfe, der täts löten oder nieten, also hält die Großmutter immerfort Ausschau nach ihm. Der Teller is gut, wo haste heut noch solche Teller, denn alle verlangen von ihr, sie soll ihn wegwerfen.

Die Großmutter hat die Teller als Brautschatz mitbekommen, als sie den Großvater geheiratet hat, drum nimmt sie die Teller vor allen so in Schutz, und mit ihr tut das manchmal auch der Großvater. Besonders vor der Mutter. Denn Mutter zieht fast bei jedem Essen über die Teller her, schon schandbar so zu essen, wie bei den Ärmlichsten, wie konnten sie bloß in all den Jahren keine aus Porzellan anschaffen, von porzellanenen essen die Leute jetzt. Aber die Großmutter und der Großvater sind gegen porzellanene, wie viele von diesen porzellanenen lägen schon in Scherben, und die hier halten und halten. Hat die Haushälterin vom Pfarrer nicht gesagt, schwupp, rutscht einem der aus der Hand, zum Beispiel beim Abtrocknen, und futsch ist er. Und die hier halten und halten. Ja man weiß nicht mal, von was so einer zerspringt. Und die hier halten und halten.

Die Großmutter hat die Teller aufgestellt und macht sich ans Teilen des Hahns, mit Ernst und Überlegung, die der Gerechtigkeit geziemen. Dem einen Schenkel, dem den zweiten, dem die halbe Brust, dem andern die andre halbe, dort der Bürzel, hier ein Flügel, der zweite Flügel, der Hals, es sind zu wenig Flügel, zu wenig Schenkel, so nimmt sie hier was weg, tut dort noch was drauf, bettet um, zwackt ab, tauscht aus, fügt hinzu, halbiert, und sie meditiert, so groß ist der Hahn ihr vorgekommen, so groß, wie er auf dem Hof herumstolziert ist, und nichts da zum Teilen.

Die Tanten verfolgen wie die Eulen, ob sie ihre Männer nicht benachteiligt, und tauschen wenigstens mit den Augen größere gegen kleinere Stücke, kleinere gegen größere aus, und vielleicht geht der Großmutter deshalb das Teilen so langsam von der Hand. Zumal auch die Onkel nicht gleichgültig sind, sondern angespannt den Teller des andern abschätzen, keiner schleift auch nur mit dem Schuh über den Boden.

Bloß der Großvater ist gelassen, er hat einen Schenkel sicher, nicht weil die Großmutter, sondern weil eine gerechtere Gerechtigkeit es so will, wer weiß, vielleicht die des Herrgotts, der ihm zusammen mit dem Boden auch diesen Schenkel von jedem Sonntagshahn vermacht hat. Und so blickt er gleichwie aus der Höhe dieser Gerechtigkeit auf die Teller herab und korrigiert von Zeit zu Zeit die Gerechtigkeit der Großmutter. Leg dem Stefan noch was drauf. Warum bei Marta so knausrig? Jadwinia den Flügel, nich ihm. Der hat schon den Hals, das langt.

Die Mutter hingegen kommt der Großmutter zuvor, sie misst sich selbst Gerechtigkeit zu. Sie nimmt Leber, Magen, Kopf und Beine und sagt, das reicht ihr, sie hat sich beim Kochen schon sattgerochen, worin ihr alle verständnisvoll beipflichten.

Sie bittet höchstens, dass die Großmutter, statt ihr, mir oder dem Vater noch was gibt, oder sie fragt nur, sicherheitshalber, ob das für mich ist oder für den Vater, und wirft, was uns Großmutters Gerechtigkeit beschert, zurück in die Brühe, damit es warm ist, wenn wir heimkommen, denn wir sind nicht da. Wir sind spazieren. So hat der Vater gesagt: nach dem Hochamt gehen Piotruś und ich spazieren. Das Wetter ist schön heut. Geht ruhig. Er ist in seinem Matrosenanzug, solln sie ihn sehn. Aber dass ihr mir zum Mittag zurück seid.

Doch der Vater hat nicht vor, zu Mittag zurück zu sein, denn er hasst dieses Teilen des Hahns, und er würde am liebsten gar nicht essen. Die Mutter sagt also unnötig, um uns zu entschuldigen, vielleicht auch, um die Unruhe zu bannen, die sie quält, wir hätten zum Mittag zurück sein wollen, und jetzt bleiben wir irgendwie aus. Was ohnehin keinem auffällt, nur der Großvater sagt, hätt noch was kochen können, der Hahn, is noch was zäh. Darauf Onkel Władek, für ihn is er grade richtig, er hats nich gern, wenns Fleisch vom Knochen fällt, und der Großvater soll sich Zähne einpassen lassen, bei ihm is immer alles noch was zäh, die Mohrrüben noch was zäh, die Petersilie noch was zäh.

Sie haben jedoch keine Lust, weiter zu streiten, der Großvater nicht und der Onkel Władek nicht, sie sind zahm geworden über dem Hahn, sogar sagen sie selten was, nur mal so, wie nebenbei, wozu sprechen und Worte vergeuden, wenn einer isst. Reden und essen, zu viel auf einmal, das geht nicht zusammen, man weiß nicht, redet man oder isst man, außerdem, Essen ist auch eine Sprache.

Eigentlich sind sie fertig mit essen, vom Hahn sind nur die Knochen übrig, doch irgendwie wärs schade, vom Tisch aufzustehn, einen Hahn hats nicht alle Tage, nicht einmal jeden Sonntag. Also nagen sie die Knochen ab, die restlichen Knorpel, Sehnen, zerbeißen, zermalmen sie, zutschen sie aus. Onkel Stefan sagt, das Beste steckt in den Knochen, und er zerkracht den dicksten zwischen seinen starken, gesunden Zähnen. Und wenn er zutscht, ists, als ob er pfeift. Und auch der Großvater, der seinen Schenkelknochen mit dem Messer gespalten hat, mit den paar alten Stummeln käm er nicht dagegen an, mümmelt ihn jetzt auf jede erdenkliche Weise und gibt zu, ja, das Beste. In den Knochen ist mal der reine Geschmack, sagt Tante Jadwinia und nuckelt ganz zart, doch sie hat auch die zartesten Knöchlein abgekriegt, höchstens die Rippchen oder die vom Flügel. Dafür zutscht Onkel Władek so, dass sich Gruben in seinen Backen bilden, und am lautesten von allen. Denn für ihn hat jeder Knochen seinen eigenen Geschmack, der vom Schenkel einen, einen andern der vom Flügel, der vom Hals, und das Beste is der Kopf, sagt er, aber den Kopf hat diesmal die Mutter. Übrigens kann er auch ohne Zutschen zutschen, dann schiebt er den Knochen bloß im Maul hin und her, bis seine Spucke ihn in einen Span verwandelt. Doch wenn er den Großvater ärgern will, zutscht er, dass mans durch die ganze Stube hört.

Kannst du Krätze nich leiser, so ein Gezutsche verträgt der Großvater nicht. Nicht, weil er selbst nicht so kann, nein, alles, was abweicht, stört den Einklang in der Familie, drum muss jeder so zutschen, dass es zusammenpasst, freilich auf seine Art und je nach dem Knochen, der ihm zuteil wurde. Man weiß ja, ein Knochen gleicht dem andern nicht, auch nicht bei einem Hahn. Es gibt Knochen, Knöchel, Knöchelchen, aber all das hat an dem Hahn mal zusammengepasst, drum müssen die Zutschlaute, wiewohl verschieden, zusammenklingen, als ob der Hahn krähte. Ich könnte im Dunkeln unterscheiden, da zutscht Onkel Stefan und da der Großvater, Onkel Władek, Tante Jadwinia, Tante Marta, die Großmutter.

Nur die Mutter zutscht nicht. Eine Städtische is aus dir geworden, ja, eine Städtische, sagt Onkel Stefan, sogar das Knochenzutschen haste verlernt. Vor deiner Hochzeit, da hastes gekonnt. All die Jahre, wo du hier bei uns gewohnt hast, haben wir se ausgezutscht, weißte noch? So schnell vergisste nich, was de mal gekonnt hast, und von den ersten Zähnen an. Und mitleidig gucken sie zu, wie die Mutter die Knöchelchen vom Kopf, von den Beinen mit dem Messer abschabt, dabei genügte es, sie zwischen die Zähne zu nehmen und sie auszulutschen. Um den besten Geschmack bringste dich, bedauert sie der Onkel. Sie lutschen das leer, es wird kein Hund mehr davon satt.

Ich bin mit dem Vater nach Zieleniec unterwegs, vielleicht auch zum Tiefen Weg oder zum Jungfernberg. Das ist kaum auszumachen auf dem Foto. Seine Ränder lassen uns eng zusammenrücken. Vaters linker Ellenbogen ist sogar abgeschnitten. Und unter unsern Füßen ist ein Weg nur zu erahnen, wir enden fast an den Schuhspitzen. Die Stiefel des Vaters sind wohl schwarz, obgleich sie grau aussehen. Meine Sandalen müssten braun sein. Mutter hat oft gesagt, für einen Jungen in meinem Alter ist Braun am hübschesten. Nun, und es ist Krieg, es gibt kein anderes Leder, nur schwarzes und braunes. Doch aus dem Grau des Fotos lässt sich schwer erraten, ob sie tatsächlich braun sind. Nicht mal die dichten Blätter an dem Zweig, der seitlich, über unsern Köpfen, ein Stück ins Bild ragt, können das Grau durchstoßen, obgleich sie bestimmt strotzen vor Grün. Und auch die hügeligen Felder hinter unsern Köpfen und irgendwelche Bäume, geschrumpft auf Gräsergröße, und die Himmelsfetzchen in der Höhe, all das ist überzogen von Grau. Und ich und der Vater ebenso, obwohl wir in der hellen Sonne stehen an diesem Sonntag im Sommer. Das sieht man am Schatten des Zweigs auf uns und am Schatten der Hutkrempe auf Vaters Gesicht.

Wir halten uns an der Hand und sehen vor uns hin, ins Leere. Der Vater mit seinen weit aufgesperrten Augen, ich, gegen die Sonne blinzelnd. Seine Augen sind auf dem Bild das Deutlichste, allein sie treten heraus aus seinem Grau. Als sammle sich nur in ihnen alles Licht der Sonne, um ihnen ihre natürliche Farbe zurückzugeben, nicht dem Laub, nicht dem Himmel, sondern diesen weit aufgesperrten Augen meines Vaters. Doch welche Farbe haben sie eigentlich, braun, blau, schwarz? Schauten sie sorglos, erschöpft oder lächelnd, vielleicht ließe sich leichter sagen: sie sind braun, blau oder schwarz. Auch nach mir kann ich nicht gehen, um auf die Farbe seiner Augen zu schließen. Ich hab die Augen vom Großvater, so hieß es jedenfalls, die Augen hast du vom Großvater, da, sogar dein linkes Lid zuckt so.

Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob Vaters Augen auch wirklich sehen. Wäre nicht diese strahlende Sommersonne um uns herum, man könnte sagen, sie flehen um Helle in einem sie umgebenden Dunkel. Vielleicht aber erblicken sie in der Helle dieser Sonne soeben etwas, das sich dem menschlichen Auge nur in einer Art Hellsicht offenbart, und das sie, bestürzt, nicht wahrhaben wollen. Und so hat der Fotograf es festgehalten.

Wo kam der Fotograf her, an jenem sonnigen Sonntag im Sommer, zu Mittag, auf unserm Weg? Und wer mag das gewesen sein, keiner im Dorf hatte doch einen Fotoapparat? Wollte einer ein Bild von sich machen lassen, musste er in die Stadt. Tja und einmal im Jahr, zu St. Vinzenz, zur Kirmes, da kam ein Fotograf. Doch der machte nur Fotos in diesem ausgestanzten Herzen, in der Ulanenuniform und auf dem Kamel in der Wüste, in Beduinentracht. Nur die drei Tafeln führte er mit sich, angeblich noch aus Vorkriegszeiten. Man steckte den Kopf durch, und man hatte das Bild, das man haben wollte, in dem Herzen, in der Ulanenuniform oder auf dem Kamel in der Wüste, in Beduinentracht. Onkel Władek besaß alle drei. Wenn er und der Großvater sich stritten, und der Großvater wusste dem Onkel gar nicht mehr beizukommen, hielt er ihm diese Fotos vor. Aufm Kamel, du Aussatz. Als Ulan, du Aussatz. Wie eine Jungfer in einem Herzen, du Aussatz. Na, is der etwan nich kariert im Koppe?

Bloß, konnte der Onkel was dafür, dass keiner im Dorf einen Apparat besaß, denn wegen einem Foto in die Stadt fahren, das hätte der Onkel nie getan, wenn er fuhr, dann nur zum Jahrmarkt. Außerdem ging er gern auf die Kirmes.

Onkel Stefan dagegen ging nicht gern zur Kirmes, aber wenn er die Tante Jadwinia im Sonntagsstaat sah, hielt es ihn nicht, er musste sagen, jetzt, Jadwinia, müsste man nur noch ein Bild von dir machen. Schade, dass keiner im Dorf einen Apparat hat. Worauf die Mutter zuweilen seufzend einwarf, tja, wenn der Krieg nicht wär, hätte der Piotruś auch einen Fotoapparat, von uns allen würd er eins machen.

Einen Apparat besaß als einziger der Gefreite1 Hanke von der Wache. Doch sonntags sah man ihn nie mit diesem Apparat. Obwohl der Sonntag geradezu geschaffen war für Fotos. Vielleicht hatte Gott den Menschen den Sonntag sogar darum zum Geschenk gemacht, damit sie sich, herausgeputzt, gewaschen, gekämmt, das eine Mal pro Woche darboten, wie sie sein könnten, nicht wie sie waren. Und manch einer hätte sich bestimmt ohne Zwang, aus freien Stücken, sogar von Hanke fotografieren lassen, denn sie hatten nichts gegen das Fotografieren. Doch wenn sich der Hanke sonntags im Dorf zeigte, dann nur mit der Pistolentasche am Koppel.

1 im Original deutsch 

Dafür ging man an einem gewöhnlichen Wochentag nicht durchs Dorf, ohne auf den Hanke zu stoßen, wie er, den Apparat vor der Brust, oft vom frühen Morgen an, Jagd machte auf Menschen wie der Teufel auf Seelen und knipste. Knips. Knips. War das sein Dienst, oder war es seine Gier? Denn er verschonte keinen, nicht Jung, nicht Alt, nicht Mann, nicht Weib, nicht Kind.

Die blanke Angst brach über das Dorf herein, wenn der Hanke mit dem Apparat auftauchte. Die Mütter zerrten die Kinder ins Haus, rafften die trocknenden Töpfe vom Zaun, die trocknenden Lumpen von der Leine, denn der ging hin und knipste, Gott bewahre, auch das noch. Wenn einer seine Kuh raustrieb, drehte er um. Wer auf dem Ackerwagen saß, hieb auf das Pferd ein und suchte das Weite, und war es zu spät und der Hanke gleich da, ließ er Pferd, Wagen, Peitsche sein und stolperte auf den nächsten Hof oder verkroch sich im nächsten Gebüsch. Saß einer auf der Bank vor seiner Kate, husch hinein wie ein Hase. Und selbst wer im Sonntagsstaat war, weil er grad zum Pfarrer wollte, eine Hochzeit bestellen oder ein Begräbnis, oder zur Starostei in die Stadt oder zum Gericht aufbrach, ging dem Hanke aus dem Weg. Denn der Hanke traf nicht gern wen, der an einem gewöhnlichen Wochentag im Sonntagsstaat war. So einen konnte er nach den Papieren fragen, herunterputzen, ja auf die Wache mitschleifen.

Denn Hanke machte nicht irgendwelche Fotos. Hanke hatte seine eigene Welt, wie ein echter Künstler, nur fehlte den Dorfleuten dafür der Sinn. Vor allem die ärmlich Gekleideten, Zerlumpten, Barfüßigen, Missgestalteten, Zahnlosen spürte er auf für seine Welt, Gesichter wie Wurzeln, wie die Rinde alter Weiden, wie von der Sonne verbrannte Erde. Oh, dann strahlte er über beide Backen und sagte in einem fort, sehr gut, sehr gut, wunderbar2. Und knips. Und keiner durfte sich auch nur das Haar glattstreichen oder das Kopftuch rücken oder das Hemd in die Hose stopfen oder die Knöpfe schließen, zu schweigen davon, dass einer in die Kate lief, um sich ein bisschen herzurichten. Hatte er sich jemanden geschnappt, musste der bleiben wie er war, und knips. Manchmal postierte er ihn vor einem alten Zaun, einer verfallenen Kate, unter einem verdorrten Baum, und knips. Manchmal sollte einer, der zahnlos war, breit grienen, einer musste die Mütze oder den Hut abnehmen, ja, die Schuhe ausziehen, manchmal musste einer auf der Schwelle hocken oder auf einem Stein und nachdenklich dreinschaun, dann dachte er über das Leben nach. Und er wiederholte sein sehr gut, sehr gut. Und knips. Oder es kam einer mit seinem Bündel vom Feld, den hielt er an, und knips. Oder mit der Sichel, der Sense, dem Rechen, mit einem Bund Garbenbänder, knips. Oh, sehr gut, sehr gut. Wunderbar. Und traf er einen Betrunkenen, dann folgte er ihm und knipste ihn von allen Seiten, von weitem, von nahem, dicht vor der Visage, fast kroch er in ihn hinein mit seinem Apparat, und der Betrunkene grinste noch blöd, er dachte wohl nicht, dass der Gefreite Hanke ihn fotografierte, sondern dass er dem Herrgott so gefiel.

im Original deutsch

Sehr gut. Sehr gut. Wunderbar.

Und gleich führte er sie hinaus in den Hof, in die Sonne. Zuerst prüfte er lange, wo die Sonne stand, dann rückte er sie, je nach der Sonne, hierhin und dorthin. Und dauernd war es noch nicht recht, und dauernd rückte und rückte er sie weiter. Denn er wollte, dass auch die Kate mit draufkam, die Seite mit der Latte, und noch die Scheune, die Ställe, der Zaun, die Hundehütte, dass die ganze Welt mit draufkam. So hetzte er sie manchmal, dass sie kaum noch die Beine hochbekamen, hin und her über den Hof, der doch wahrlich nicht groß war.

Und war er mit ihnen endlich an einer Stelle angelangt, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, dann zauste er sie noch, rupfte und zupfte an ihren Kleidern, schob die da nach hinten, die dort nach vorn, tauschte die einen gegen die anderen aus, befahl denen, sich hinzuhocken, jenen, zusammenzurücken, anderen, sich groß zu machen und noch anderen, sich platt auf die Erde zu legen. Oder einer von den Töchtern oder Schwiegertöchtern, die Brust aus der Bluse zu holen und zu tun, als säuge sie ein in ein Tuch gewickeltes Balg auf ihrem Arm. Denn bei den Madej s gab es zwar Bälger die Menge, bloß waren die fast alle schon ausgewachsen. Und oftmals beschimpfte er sie noch, dass sie sich wie Tölpel anstellten und seine Gedanken nicht errieten.

sehr gut,

weg3

im Original deutsch

Er lächelte uns von weitem entgegen wie alten Bekannten, und während er näherkam, schlug sein Lächeln fast um in Dankbarkeit. Der Vater in diesem Gabardinemantel, den er sogar im Sommer, wenn es nicht allzu heiß war, immer trug, den Hut auf dem Kopf, ich in dem Matrosenanzug, wie mussten wir uns unterscheiden von seiner alltäglichen Welt, wie rührend nichtig wirken gegen das, was er sonst fotografierte. Vielleicht fragte er uns, wohin wir gingen. Und als der Vater erwiderte, wir gingen spazieren, belustigte ihn das, denn er kam eben zurück von seinem Spaziergang. Spazieren, spazieren4 wiederholte er lachend. Und das musste ihn noch mehr bestärken in der Überzeugung, so was wie wir, genau so etwas brauche er, denn ein Wort wie spazieren hatte er schon lange nicht mehr gehört, ein so verantwortungsloses, sorgloses Wort.

im Original deutsch

Natürlich war ich mir nicht bewusst, was der Moment einmal für mich bedeuten würde. Vielleicht verdross es mich sogar, dass uns jemand anhielt wegen einem albernen Foto. Drum bin ich mir nicht sicher, ob es der Gefreite Hanke war, obwohl mir niemand anders einfällt, wer sollte es auch gewesen sein? Im Dorf besaß ja keiner einen Apparat. Deshalb würde ich, wenn das wahrscheinlich wäre, sagen, das Foto hat niemand gemacht, es hat sich, wie das mit Fotos so zu gehen pflegt, nur nach Jahren unter anderen angefunden. Doch nach Vaters weit aufgesperrten Augen zu urteilen, kann es der Gefreite Hanke gewesen sein, denn so blickt man nicht, wenn jemand ein Bild von einem macht. Der Fotograf sagt ja zu uns, bitte recht freundlich, ehe er knipst. Und falls er das vergisst, dann weiß man, man lächelt in den Apparat, denn dieser kurze Augenblick ist unumkehrbar.

Gefreite