CARLSEN-Newsletter
Tolle Lesetipps kostenlos per E-Mail!
www.carlsen.de

Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Veröffentlicht im Carlsen Verlag
Originalcopyright © Philip Pullman 1995 (Der Goldene Kompass) / 1997 (Das Magische Messer) / 2000 (Das Bernstein-Teleskop) / 2007 (Laternbilder)
Originalverlag: Scholastic Children’s Books Ltd., London
Originaltitel: »His Dark Materials: Northern Lights / The Subtle Knife / The Amber Spyglass«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgaben:
1996, 2002, 2007 / 1997, 2003, 2007 / 2001, 2003, 2007 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Aus dem Englischen von Andrea Kann, Wolfram Ströle und Reinhard Tiffert
Covergestaltung: formlabor unter Verwendung der Illustrationen von Dieter Wiesmüller
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92679-8

Alle Bücher im Internet unter
www.carlsen.de

Autorenbild, © Jerry Bauer

Philip Pullman wurde 1946 in Norwich, England geboren. Er wuchs in Rhodesien, Australien, London und Wales auf. Nach der Schule besuchte er das Exeter College in Oxford, wo er Englisch studierte und unterrichtete danach an verschiedenen Middle Schools. Jetzt lebt er mit seiner Frau in Oxford und arbeitet nebenberuflich als Literaturdozent am Westminster College. Er hat u.a. Bilderbücher, Theaterstücke und Thriller geschrieben.

Philip Pullman zählt zu den angelsächsischen Autoren, die sich über die Grenzen zwischen literarischen Gattungen ebenso souverän hinwegsetzen wie über die Verteilung der Literatur auf verschiedene Altersschubladen. Er will seine Leser geistreich unterhalten und bedient sich dazu des historischen, des Abenteuer- und des Kriminalromans ebenso wie der Fantasy. Nicht selten vermischt er deren Elemente, wie in seinen historischen Abenteuerromanen und in seiner Fantasy-Trilogie, die auch Freunde eiskalter Thriller für sich entdeckt haben. Für sein Gesamtwerk erhielt Philip Pullman den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis 2005.

Titelseite

  

In dieser wilden Kluft
Schoß der Natur, und wohl auch deren Grab
Nicht See, nicht Land, nicht Luft, nicht Feuer noch
Doch angelegt in einem Urgemisch
Auf alle diese hin, im Wirrwarr schwanger
Die so auf immer sich bekämpfen müssen
Wenn nicht des Schöpfers Allmacht sie bestimmt
Zum dunklen Rohstoff neu erschaffner Welten –
In diese Kluft hinaus am Höllenrand
Stand der wachsame Feind und überlegte
Ausschauend seine Reise eine Weile …

John Milton, Das verlorene Paradies, Zweites Buch

  

DER GOLDENE KOMPASS ist der erste Teil einer Geschichte in drei Bänden. Der erste Band spielt in einer Welt, die der unseren sehr ähnlich und doch ganz anders ist. Der zweite Band spielt in der Welt, die wir kennen. Der dritte Band bewegt sich zwischen diesen Welten.

I
Oxford

Kompass.jpeg

Eins

Kompass.jpeg

Die Karaffe

An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste aufgestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort samtgepolsterte Mahagonistühle.

Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im ganzen Saal zu hören.

»Das ist nicht der Ort für solche Späße«, flüsterte ihr Dæmon. »Reiß dich gefälligst zusammen.«

Lyras Dæmon Pantalaimon hatte die Gestalt einer dunkelbraunen Motte angenommen, um in dem dämmrigen Saal nicht aufzufallen.

»Die machen in der Küche so viel Krach, dass sie das gar nicht hören«, flüsterte Lyra zurück. »Und der Steward kommt erst beim ersten Klingeln. Mach keinen Aufstand.«

Trotzdem legte sie die Hand auf das Glas, und Pantalaimon flatterte voraus und durch die angelehnte Tür am hinteren Ende des Podiums, die zum Ruhezimmer führte. Kurz darauf tauchte er wieder auf.

»Das Zimmer ist leer«, flüsterte er. »Aber wir müssen uns beeilen.«

Gebückt rannte Lyra um den Tisch und durch die Tür ins Ruhezimmer. Dort richtete sie sich auf und sah sich um. Das einzige Licht kam vom offenen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte; gerade in diesem Augenblick rutschte ein Scheit nach unten und eine Fontäne von Funken stieg auf. Obwohl Lyra fast ihr ganzes Leben im College verbracht hatte, war sie noch nie im Ruhezimmer gewesen; nur Wissenschaftler und ihre Gäste durften es betreten, Frauen niemals. Nicht einmal die Putzfrauen durften hier sauber machen, sondern nur der Butler.

Pantalaimon setzte sich auf ihre Schulter.

»Zufrieden?«, flüsterte er. »Können wir wieder gehen?«

»Sei nicht albern! Ich will mich umsehen!«

Das Zimmer war geräumig und enthielt einen ovalen Tisch aus poliertem Rosenholz, auf dem verschiedene Karaffen und Gläser und eine silberne Rauchmühle mit einem Pfeifenständer standen. Die Anrichte daneben war mit einer kleinen Warmhalteplatte und einem Korb mit Mohnkapseln gedeckt.

»Die lassen es sich gutgehen, was, Pan?«, sagte Lyra leise.

Sie setzte sich in einen grünledernen Armsessel. Er war so tief, dass sie beinah darin lag. Sie setzte sich wieder auf, zog die Beine hoch und betrachtete die Porträts an den Wänden. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen düsteren Gestalten mit Roben und Bärten, die feierlich missbilligend aus ihren Rahmen auf sie herunterstarrten, um frühere Wissenschaftler.

»Worüber sie heute wohl reden werden?«, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen.

»Hinter den Sessel – schnell!«, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …

Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein Diener also.

Dann sagte eine tiefe Stimme: »Ist Lord Asriel schon eingetroffen?«

Das war der Rektor. Lyra hielt den Atem an. Sie sah, wie der Dæmon des Dieners hereintrottete – eine Hündin, wie bei Dienern üblich – und sich still zu seinen Füßen setzte. Dann kamen auch die Füße des Rektors in Sicht, in den abgenutzten schwarzen Schuhen, die er immer trug.

»Nein, Herr«, sagte der Butler. »Wir haben auch vom Luftdock nichts gehört.«

»Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Führe ihn gleich in den Speisesaal.«

»Sehr wohl, Herr.«

»Und hast du den speziellen Tokaier für ihn bereitgestellt?«

»Jawohl, Herr. Jahrgang 1898, wie Ihr befohlen habt. Seine Lordschaft schätzt ihn ganz besonders, wie ich mich erinnere.«

»Gut, dann geh jetzt, bitte.«

»Braucht Ihr die Lampe, Herr?«

»Ja, lass sie hier. Sieh während des Essens herein und kürze den Docht.«

Der Butler verbeugte sich leicht und ging, gehorsam gefolgt von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und bewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf der rechten Schulter niederließ.

Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt. Der vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel, ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun und sie wusste nie, wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament: Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber sie würde es schon überstehen.

Was sie dann sah, änderte freilich alles.

Der Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte, und verschloss die Karaffe wieder.

Sein Dæmon krächzte leise. Der Rektor antwortete mit gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.

»Hast du das gesehen, Pan?«, flüsterte Lyra.

»Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«

Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom anderen Ende des Saales.

»Die Klingel des Stewards!«, sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«

Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.

»Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür kannst du nicht raus …«

Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler. Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen war, und sie hatte damit gerechnet, dass ihr bis zur Klingel des Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.

Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in Kauf genommen oder gehofft unbemerkt über den belebten Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt und darum zögerte sie.

Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. Der Steward kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiss aus Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer gab es viele dunkle Ecken und er konnte immer unter einen Sessel schlüpfen.

Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die Hündin schien misstrauisch und sah sich um, als ob sie einen Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er hatte sie zweimal geschlagen.

Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr hereingekrochen.

»Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf mich!«

Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen. Offenbar kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal. Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.

»Ein Glück, dass ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«

»Du weißt nicht, ob es Gift ist.«

»Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, dass er den Butler hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen können. Außerdem weiß ich, dass etwas im Busch ist – etwas Politisches. Die Diener sprechen seit Tagen davon. Pan, wir können einen Mord verhindern!«

»So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört«, sagte Pantalaimon kurz. »Wie willst du denn stundenlang in diesem engen Schrank sitzen, ohne dich zu bewegen? Ich sehe draußen im Gang nach, ob die Luft rein ist.«

Er flog von ihrer Schulter auf und sie sah seinen kleinen Schatten vor dem hellen Spalt der Schranktür auftauchen.

»Gib dir keine Mühe, Pan, ich bleibe«, sagte sie. »Hier hängt noch ein Talar oder so etwas, den lege ich auf den Boden und mache es mir bequem. Ich muss sehen, was sie vorhaben.«

Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer hockenden Stellung und tastete nach Kleiderbügeln, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Der Schrank war größer, als sie angenommen hatte. Er enthielt verschiedene Talare und Überwürfe mit Kapuzen, von denen einige mit Pelz, die meisten aber mit Seide besetzt waren.

»Ob die alle dem Rektor gehören?«, flüsterte sie. »Vielleicht bekommt er solche komischen Kostüme, wenn ihm irgendwo ein Ehrendoktor verliehen wird, und bewahrt sie hier auf, damit er sich fein machen kann … Pan, glaubst du wirklich, dass im Wein kein Gift ist?«

»Nein«, sagte der Dæmon. »Ich glaube wie du, dass er vergiftet ist. Aber ich glaube auch, dass uns das nichts angeht. Und ich glaube, dich einzumischen wäre das dümmste aller dummen Dinge, die du in deinem Leben bisher angestellt hast. Es geht uns nichts an.«

»Sei nicht blöd«, sagte Lyra. »Ich kann doch nicht hier sitzen und zusehen, wie sie ihn vergiften!«

»Dann lass uns woanders hingehen.«

»Du bist ein Feigling, Pan.«

»Natürlich bin ich das. Darf ich fragen, was du tun willst? Willst du aus dem Schrank springen und seinen zitternden Fingern das Glas entreißen? Was hast du vor?«

»Ich habe noch gar nichts vor und du weißt das ganz genau«, schimpfte sie leise. »Aber ich habe gesehen, was der Rektor tat, und deshalb habe ich keine Wahl. Du weißt auch, was ein Gewissen ist. Wie kann ich ruhig in der Bibliothek oder sonst wo sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, was hier passiert? Däumchen drehe ich ganz bestimmt nicht, darauf kannst du dich verlassen.«

»Du wolltest das von Anfang an«, sagte er nach einer Pause. »Du wolltest dich hier verstecken und sehen, was passiert. Warum habe ich das nicht gleich gemerkt!«

»Also gut, zugegeben«, sagte sie. »Alle wissen, dass hier ein geheimes Treffen stattfinden soll, dass sie irgendein Ritual oder so was veranstalten. Und ich wollte einfach wissen, was es war.«

»Das geht dich nichts an! Wenn sie ihre kleinen Geheimnisse brauchen, lass sie ihnen doch und fühle dich darüber erhaben. Nur dumme Kinder verstecken sich und spionieren.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Jetzt hör auf zu meckern.«

Schweigend saßen sie eine Weile da, Lyra auf dem unbequemen harten Boden des Schrankes, Pantalaimon mit gekränkt zuckenden Fühlern auf einem Talar. In Lyras Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander und sie hätte sie nur zu gern ihrem Dæmon mitgeteilt, aber auch sie hatte ihren Stolz. Vielleicht sollte sie versuchen ihre Gedanken ohne Pantalaimons Hilfe zu sortieren.

Vor allem hatte sie Angst, allerdings nicht um sich selbst. Dass sie in der Klemme steckte, war nichts Neues, und sie war daran gewöhnt. Nein, diesmal hatte sie Angst um Lord Asriel und Angst vor dem, was hier vorging. Lord Asriel besuchte das College nicht oft, und dass er jetzt kam, in einer Zeit großer politischer Spannungen, bedeutete, dass er nicht nur mit einigen alten Freunden essen und trinken und rauchen wollte. Sie wusste, dass Lord Asriel und auch der Rektor Mitglieder des Kabinettsrates waren, der den Premierminister beriet, vielleicht hatte die Besprechung also damit etwas zu tun. Die Sitzungen des Rates fanden allerdings im Palast statt, nicht im Ruhezimmer von Jordan College.

Eine andere Sache war das Gerücht, das die Dienerschaft des College seit Tagen in Atem hielt. Es hieß, die Tataren hätten das Moskowiterreich überfallen und seien auf dem Vormarsch nach St. Petersburg im Norden, von wo aus sie die Herrschaft über die Ostsee an sich reißen und schließlich ganz Westeuropa erobern konnten. Und Lord Asriel war im hohen Norden gewesen: Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er gerade eine Expedition nach Lappland vorbereitet …

»Pan«, flüsterte sie.

»Ja?«

»Glaubst du, es wird Krieg geben?«

»Jetzt noch nicht. Lord Asriel wäre nicht zum Abendessen hier, wenn in den nächsten Wochen ein Krieg ausbrechen würde.«

»Stimmt. Aber später?«

»Pst! Jemand kommt.«

Lyra richtete sich auf und spähte durch den Türspalt. Es war der Butler, der den Docht der Lampe kürzen wollte, wie der Rektor ihm aufgetragen hatte. In Gemeinschaftsraum und Bibliothek hatte man anbarisches Licht installiert, aber im Ruhezimmer bevorzugten die Wissenschaftler die alten Naphthalampen mit ihrem weicheren Licht. Daran würde sich zu Lebzeiten des Rektors auch nichts ändern.

Der Butler stutzte den Docht und legte im Kamin ein Scheit nach. Dann horchte er sorgfältig an der Tür zum Saal und nahm sich eine Handvoll Tabakblätter aus der Rauchmühle.

Gerade hatte er den Deckel wieder geschlossen, als die Klinke der anderen Tür niedergedrückt wurde. Er fuhr zusammen und Lyra musste sich das Lachen verbeißen. Hastig stopfte sich der Butler die Blätter in die Tasche, dann wandte er sich dem Ankömmling zu.

»Lord Asriel!«, sagte er und ein kalter Schauer der Überraschung lief Lyra über den Rücken. Sie konnte ihren Onkel von ihrem Platz aus nicht sehen und musste gegen die Versuchung kämpfen, die Tür etwas weiter zu öffnen.

»Guten Abend, Wren«, sagte Lord Asriel. Lyra hörte seine raue Stimme immer mit einer Mischung aus Furcht und Freude. »Ich bin zu spät zum Essen eingetroffen. Ich werde hier warten.«

Dem Butler war sichtlich unbehaglich zu Mute. Gäste betraten den Ruheraum gewöhnlich nur auf Einladung des Rektors und Lord Asriel wusste das. Doch der Butler sah auch, dass Lord Asriel betont auf die Ausbuchtung in seiner Hosentasche blickte, und entschied, nicht zu protestieren.

»Soll ich den Rektor von Eurer Ankunft verständigen, Mylord?«

»Tun Sie das ruhig. Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Der Butler verbeugte sich und eilte hinaus und sein Dæmon trottete unterwürfig hinter ihm her. Lyras Onkel trat vor das Kaminfeuer, reckte die Arme und gähnte wie ein Löwe. Er trug Reisekleidung. In seiner Gegenwart spürte Lyra jedes Mal, wie sehr er sie einschüchterte. Unbemerkt aus dem Zimmer zu schleichen kam jetzt nicht mehr in Frage: Sie konnte nur bewegungslos ausharren und hoffen.

Lord Asriels Dæmon, eine Schneeleopardin, stand hinter ihm.

»Willst du die Bilder hier zeigen?«, fragte sie ruhig.

»Ja, das erregt weniger Aufsehen als ein Umzug in den Vortragssaal. Sie werden auch die Beweise sehen wollen. Ich lasse sie gleich vom Portier holen. Wir leben in schwierigen Zeiten, Stelmaria.«

»Du solltest ausruhen.«

Er streckte sich in einem Sessel aus und Lyra konnte sein Gesicht nicht mehr sehen.

»Ja, natürlich. Und ich sollte mich umziehen. Wahrscheinlich gibt es irgendeine alte Vorschrift, nach der sie mich zu einem Dutzend Flaschen verurteilen können, weil ich hier in diesen Kleidern auftauche. Ich sollte drei Tage lang schlafen. Bleibt nur die Tatsache, dass …«

Es klopfte und der Butler trat mit einem silbernen Tablett ein, auf dem eine Kaffeekanne und eine Tasse standen.

»Danke, Wren«, sagte Lord Asriel. »Ist das auf dem Tisch der Tokaier?«

»Der Rektor ließ ihn speziell für Euch heraufbringen, Mylord«, sagte der Butler. »Vom Achtundneunziger sind nur noch drei Dutzend Flaschen übrig.«

»Alle guten Dinge vergehen. Stellen Sie das Tablett hier neben mich. Ach so, sagen Sie bitte dem Portier, er soll die beiden Kisten heraufbringen lassen, die ich in seiner Loge abgestellt habe.«

»Hierher, Mylord?«

»Ja, hierher. Und ich brauche eine Leinwand und eine Projektionslampe, ebenfalls hierher und ebenfalls gleich.«

Es fehlte nicht viel und der Butler hätte vor Überraschung den Mund aufgerissen. Er konnte seine Frage oder seinen Protest kaum unterdrücken.

»Wren, Sie vergessen sich«, sagte Lord Asriel. »Stellen Sie keine Fragen; tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.«

»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Vielleicht sollte ich Mr Cawson sagen, was Ihr vorhabt, Mylord, oder er wird etwas erstaunt sein, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Gut, tun Sie das meinetwegen.«

Mr Cawson war der Steward und zwischen ihm und dem Butler bestand eine alte Rivalität. Zwar stand der Steward über dem Butler, doch hatte dieser mehr Gelegenheit, sich bei den Wissenschaftlern einzuschmeicheln, und nutzte das auch weidlich aus. Die Aussicht, dem Steward zeigen zu können, dass er über die Vorgänge im Ruhezimmer besser informiert war als dieser, erfüllte ihn mit Entzücken.

Er verbeugte sich und ging. Lyra sah, wie ihr Onkel sich eine Tasse Kaffee eingoss, sie in einem Zug leerte und sich noch eine Tasse einschenkte, die er langsamer trank. Gespannt überlegte sie, was in den Kisten sein mochte. Und eine Projektionslampe? Was hatte ihr Onkel den Wissenschaftlern zu zeigen, das so dringend und wichtig war?

Lord Asriel stand auf und wandte dem Feuer den Rücken zu. Sie konnte ihn jetzt von vorn sehen. Wie sehr er sich doch von dem feisten Butler oder den Wissenschaftlern mit ihren kraftlos hängenden Schultern unterschied. Lord Asriel war hochgewachsen und breitschultrig, er hatte ein wildes, dunkles Gesicht und Augen, die wie in ausgelassenem Gelächter blitzten und funkelten. Es war ein Gesicht, dem man gehorchte oder gegen das man kämpfte, doch kein Gesicht, dem man mit Herablassung oder Mitleid begegnen konnte. Seine Bewegungen waren kraftvoll und vollkommen beherrscht; wenn er ein Zimmer wie dieses betrat, glich er einem wilden Tier in einem zu kleinen Käfig.

In diesem Augenblick lag ein abwesender und besorgter Ausdruck auf seinem Gesicht. Sein Dæmon kam und lehnte den Kopf an seine Hüfte, und er sah sie mit seinen unergründlichen Augen an und wandte sich dann ab und ging zum Tisch. Lyra spürte, wie ihr Magen einen Satz machte, denn Lord Asriel hatte den Stöpsel aus der mit Tokaier gefüllten Karaffe gezogen und schenkte sich ein.

»Nein!«

Der leise Schrei war ihr entwischt, bevor sie ihn zurückhalten konnte. Lord Asriel fuhr herum.

»Wer ist da?«

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie stolperte aus dem Schrank, rannte zu ihrem Onkel und schlug ihm das Glas aus der Hand. Der Wein schwappte über und spritzte auf die Tischkante und den Teppich, dann fiel das Glas auf den Boden und zersprang. Lord Asriel packte sie grob am Handgelenk.

»Lyra! Was zum Teufel machst du hier?«

»Lass mich los und ich sage es dir!«

»Zuerst breche ich dir den Arm. Wie kannst du es wagen, hier einzudringen?«

»Ich hab dir gerade das Leben gerettet.«

Einen Augenblick lang schwiegen beide, das Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber wild entschlossen nicht zu schreien, ihr Onkel über sie gebeugt und mit finster gerunzelter Stirn.

»Was sagst du da?«, fragte er etwas ruhiger.

»Der Wein ist vergiftet«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe gesehen, wie der Rektor ein Pulver hineingeschüttet hat.«

Er ließ sie los. Sie sank zu Boden und Pantalaimon flatterte aufgeregt auf ihre Schulter. Ihr Onkel starrte mit unterdrückter Wut auf sie herunter und sie wagte nicht, ihm in die Augen zu schauen.

»Ich wollte nur wissen, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich weiß, ich hätte das Zimmer nicht betreten dürfen. Aber ich wollte wieder weg sein, bevor jemand kam, nur hörte ich dann den Rektor kommen und saß in der Falle. Der Kleiderschrank war das einzige Versteck. Und ich sah, wie er das Pulver in den Wein schüttete. Wenn ich nicht …«

An der Tür klopfte es.

»Das wird der Portier sein«, sagte Lord Asriel. »Zurück in den Schrank! Wenn ich das kleinste Geräusch höre, sorge ich dafür, dass du dir wünschst, tot zu sein.«

Sie rannte zum Schrank zurück, und sobald sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, rief Lord Asriel: »Herein!«

Es war der Portier, wie er gesagt hatte.

»Hierher, Mylord?«

Lyra sah den alten Mann zögernd auf der Schwelle stehen und hinter ihm war die Ecke einer großen Holzkiste.

»Ganz recht, Shuter«, sagte Lord Asriel. »Bringen Sie beide Kisten herein und stellen Sie sie neben den Tisch.«

Lyra entspannte sich ein wenig und spürte nun die Schmerzen in Schulter und Handgelenk. Sie waren so stark, dass sie hätte losheulen können, wenn sie zu den Mädchen gehört hätte, die heulten. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und bewegte den Arm vorsichtig, bis die Schmerzen etwas nachließen.

Plötzlich klirrte Glas und sie hörte das Gluckern auslaufender Flüssigkeit.

»Verdammt, Shuter, Sie alter Schussel! Sehen Sie, was Sie angestellt haben!«

Lyra presste das Auge an den Türspalt. Ihr Onkel hatte die Tokaierkaraffe vom Tisch gestoßen und tat jetzt so, als habe der Portier sie gestreift. Der Alte setzte die Kiste sorgfältig ab und wollte sich entschuldigen.

»Es tut mir aufrichtig leid, Mylord – ich muss dem Tisch näher gekommen sein, als ich dachte …«

»Holen Sie etwas zum Aufwischen. Schnell, ehe der Wein in den Teppich sickert.«

Der Portier eilte hinaus. Lord Asriel trat zum Schrank und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wenn du schon da drin bist, kannst du dich auch nützlich machen. Beobachte den Rektor genau, wenn er hereinkommt. Wenn du mir hinterher etwas Interessantes über ihn sagen kannst, sorge ich dafür, dass du nicht noch tiefer in den Schlamassel gerätst, in dem du steckst. Verstanden?«

»Jawohl, Onkel Asriel.«

»Sobald du ein einziges Geräusch machst, helfe ich dir nicht mehr. Du hast die Wahl.«

Er entfernte sich wieder und stand mit dem Rücken zum Feuer, als der Portier mit Besen und Schaufel für die Scherben, einer Schüssel und einem Wischlappen zurückkehrte.

»Ich kann nur noch einmal sagen, dass ich Euch aufrichtig um Verzeihung bitte, Mylord. Ich weiß nicht, wie …«

»Wischen Sie einfach nur auf.«

Als der Portier begann, den Teppich trocken zu reiben, klopfte es wieder. Diesmal waren es der Butler und Lord Asriels Diener, ein Mann namens Thorold. Zwischen sich trugen sie eine schwere Kiste aus poliertem Holz mit Messinggriffen. Als sie den Portier auf dem Boden knien sahen, blieben sie wie angewurzelt stehen.

»Ja, es war der Tokaier«, sagte Lord Asriel. »Jammerschade. Ist das die Projektionslampe? Baue sie doch bitte neben dem Schrank auf, Thorold. Die Leinwand kommt dann an die gegenüberliegende Wand.«

Lyra stellte fest, dass sie die Leinwand und alles, was auf ihr abgebildet war, durch den Spalt in der Schranktür sehen konnte, und sie überlegte, ob ihr Onkel die Stellung des Projektors absichtlich so gewählt hatte.

Während der Diener geräuschvoll die steife Leinwand ausrollte und in den Rahmen spannte, flüsterte sie: »Siehst du? Es hat sich doch gelohnt, zu kommen.«

»Vielleicht«, sagte Pantalaimon mit seiner piepsigen Nachtfalterstimme unnachgiebig. »Und vielleicht auch nicht.«

Am Feuer stehend schlürfte Lord Asriel den letzten Kaffee und sah düster zu, wie Thorold den Kasten mit dem Projektor öffnete, den Deckel von der Linse nahm und dann in den Ölbehälter sah.

»Es ist noch genug da, Mylord«, sagte er. »Soll ich einen Techniker kommen lassen, der das Gerät bedient?«

»Nein, das mache ich selbst. Danke, Thorold. Wren, ist man mit dem Abendessen schon fertig?«

»Ich glaube, fast, Mylord«, erwiderte der Butler. »Wenn ich Mr Cawson richtig verstanden habe, werden der Rektor und seine Gäste sich jetzt, da sie wissen, dass Ihr hier seid, beeilen. Soll ich das Kaffeetablett mitnehmen?«

»Ja.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Mit einer leichten Verbeugung nahm der Butler das Tablett und ging, gefolgt von Thorold, hinaus. Sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sah Lord Asriel zum Schrank. Lyra spürte die Macht seines Blickes beinahe körperlich, wie einen Pfeil oder einen Speer. Dann sah er wieder weg und sprach leise mit seinem Dæmon.

Lautlos glitt die Leopardin an seine Seite und setzte sich, wachsam, elegant und gefährlich. Sie ließ ihre grünen Augen durch den Raum schweifen, bevor sie sie, wie Lord Asriel seine schwarzen, auf die Tür zum Saal richtete, deren Klinke niedergedrückt wurde. Lyra konnte die Tür nicht sehen, hörte aber ein überraschtes Luftholen, als der erste Ankömmling eintrat.

»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ja, hier bin ich wieder. Bringen Sie Ihre Gäste herein, ich habe Ihnen etwas sehr Interessantes zu zeigen.«