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Fabio Volo

Lust auf dich

Roman

Aus dem Italienischen von
Peter Klöss

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2011 bei

Arnoldo Mondadori Editore, Mailand,

erschienenen Originalausgabe:

›Le prime luci del mattino‹

Copyright © 2011 by Arnoldo Mondadori

Editore S.p.A., Mailand

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2014 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration unter Verwendung

von Motiven von iStockphoto.com

Copyright © iStockphoto.com/

Diogenes Verlag Archiv

 

 

Den kleinen Aufmerksamkeiten

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24338 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60419 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] I’d rather be hated for who I am,

 than loved for who I am not.

Kurt Cobain

 

Und auf der Straße, Seit an Seit,

 sind wir viel mehr als nur zu zweit.

Mario Benedetti

 

 

 

 

 

 

[7] Und plötzlich schenkt das Leben dir unerwartete Augenblicke der Schönheit. Du hältst inne und wirst dir bewusst, dass ringsumher alles perfekt ist, das Geschenk eines Gottes, der weniger unaufmerksam ist als sonst. Alles wirkt wahrhaftig. Die Geburt eines neuen Lebens, das Heraufziehen einer Veränderung, etwas Tiefes oder einfach die Erwiderung eines bis dahin verborgenen, heimlichen Gefühls, das wir aus Scham still für uns behalten haben. Oder das Ende von etwas, das Ende eines Moments, einer schwierigen Phase, die man kaum noch ertragen hat. Wenn die Kurzatmigkeit endet und ein langer, tiefer Atemzug die Brust füllt und leert. In diesen Augenblicken fehlt mir nichts.

[8] 3. Januar

Ich misstraue mir total. Ich habe Angst, dass mein Leben ein einziges Missverständnis ist. Vielleicht bin ich gar nicht die Frau, die ich zu sein glaube.

Diese Gedanken sind mir heute Morgen durch den Kopf gegangen, nach dem Aufwachen, als ich mich zu erinnern versuchte, was ich geträumt hatte: Ein Sonntagnachmittag im Sommer, ich im T-Shirt, das mir fast bis zu den Knien reichte, hängte auf dem Balkon zum Innenhof Wäsche auf. Aus der Nachbarwohnung hörte ich, wie jemand am Waschbeckenrand einen Rasierer ausklopfte. Plötzlich trat aus der Balkontür gegenüber ein Mann und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte die nassen Haare nach hinten gekämmt und war nur mit einem Unterhemd und einer braunen Hose bekleidet. Er lächelte mir zu, wir grüßten uns: »Denk dran, heute Abend sind wir zum Essen verabredet.« Ich ging in die Wohnung, um ein Kleid auszusuchen.

Ich war aufgeregt, erregt und glücklich. Er empfing mich an der Tür, nahm mich bei der Hand und führte mich hinein. Es war die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin.

»Du hast hier mal gewohnt, weißt du noch?«

»Natürlich weiß ich das noch.«

Ich sah mich um: Alles war wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sogar die orangefarbene Uhr hing [9] noch an der Wand. Er stellte sich vor mich, nahm mein Gesicht in seine Hände, schnupperte an meinem Hals. Ich kriegte eine Gänsehaut. Als er mich auf die Lippen küssen wollte, klingelte es.

Ich hab geblinzelt und die Augen aufgemacht: Paolos Wecker. Ich wusste, dass er noch zweimal klingeln würde, im Abstand von zehn Minuten.

Der Traum war noch lebendig in mir: das Gefühl der Freiheit, die Aufregung wegen der Verabredung, das Erregende der Begegnung. Ich habe mich umgedreht und eine Zeitlang meinen Mann betrachtet, der noch schlief. Im Traum hatte ich nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass ich verheiratet bin und die Einladung vielleicht gar nicht annehmen könnte.

Ich bin ins Bad, habe geduscht und mich noch immer gefühlt wie die Frau im Traum. In letzter Zeit ist da eine innere Stimme, die mich verwirrt, meine Gewissheiten untergräbt, mich unsicher und unentschlossen macht, und da ist das, was ich heute Nacht im Traum empfunden habe, bestimmt nicht hilfreich.

Am Nachmittag ist mir wieder eingefallen, welches Kleid ich im Traum trug: Ich habe es letztes Jahr gekauft, aber nie angezogen, weil ich mir darin nicht mehr gefiel, als ich es zu Hause noch einmal anprobierte. Heute nach dem Abendessen habe ich es aus dem Kleiderschrank geholt, und wie ich es so betrachtete, habe ich mich gefragt, ob es wirklich am Kleid gelegen hat damals.

[10] 15. Januar

Wenn ich keinen Parkplatz finde, macht mir das nichts aus, weil ich in letzter Zeit oft und lange im Auto mit Carla telefoniere, nur damit ich nicht gleich nach Hause muss. So war es immer mit ihr, seit unserer Zeit im Gymnasium: Ich brauche ihr meine Stimmung nicht erst lang und breit zu erklären, sie muss nur meine Stimme hören und weiß schon Bescheid. Wenn ich dann aus dem Auto steige und nach Hause gehe, hoffe ich nur, dass er noch nicht da ist und ich eins dieser Viertelstündchen Alleinsein geschenkt kriege, die mir so guttun. Wenn ich weiß, dass er schon da ist, lasse ich mir Zeit. Zu Hause versuche ich dann, das Unbehagen zu verbergen, das ich mit mir herumtrage. So habe ich, ohne es zu wollen, gelernt zu schauspielern, mich zu verstellen, mich als jemand auszugeben, der ich nicht bin. Ich tu so, als wäre ich die Ehefrau, die ich gemäß meinen Vorstellungen sein müsste; als wäre ich noch die Frau, die ich als Frischverheiratete war und die ich jetzt nicht mehr sein kann. Nur um meine innere Unruhe und das Übermaß an Traurigkeit in mir zu verbergen. Wenn ich die Wohnungstür aufschließe, habe ich oft Angst, dass ich nichts mehr für ihn empfinde.

Deshalb hole ich vorher an der Schwelle tief Luft und setze eine Maske auf. An manchen Tagen denke ich, [11] merkt, dass ich mich verstelle, und sagt nur nichts. Vor lauter Verstellung weiß ich manchmal gar nicht mehr, wie ich wirklich bin.

Wie hat es so weit kommen können? Wo wir uns unserer Liebe doch so sicher waren. An den Tag, an dem wir geheiratet haben, erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre. Ich erinnere mich an die Vorbereitungen, an die Aufregung über den Schritt, den wir gemeinsam gehen wollten. Wie hatte ich mir diesen Tag herbeigesehnt! Ich hatte mir immer schon einen Mann an meiner Seite erträumt, immer. Ich musste nur den richtigen finden.

Schon bevor ich Paolo traf, war ich fest entschlossen gewesen zu heiraten. Nur mit einem Ehemann würde ich zur Frau werden, hatte ich mir eingebildet. Die Ehe war das Versprechen auf eine ruhige Zukunft, weil sie die Angst vor dem Alleinsein für immer verscheuchte. Deshalb waren wir bei der Heirat so glücklich, und nicht nur wir, auch alle Hochzeitsgäste. War das wirklich so, oder habe ich mein Leben vielleicht mit den Augen der anderen betrachtet?

Alles war rein und schneeweiß, wie die Laken des Ehebetts, in dem wir für den Rest unseres Lebens schlafen und miteinander schlafen würden.

Anfangs war ich so enthusiastisch, dass schon Kleinigkeiten mich glücklich machten, Einkaufen zum Beispiel: zwei bunte Frühstücksschalen, weiße Küchenhandtücher mit blauem Rand, ein Kissen fürs Sofa, neue Handtücher fürs Bad.

Vielleicht hat sich das nur in meinem Kopf abgespielt. Die meisten dieser Dinge haben wir kaum benutzt: Die Wok-Schale, die Champagnerkelche, die japanischen [12] Teetassen, der Topf für das Fondue bourguignonne sind praktisch noch neu.

Unsere Wohnung ist voller Kerzen, die nie gebrannt haben. Wie wir beide. Der Docht ist noch weiß.

Vor der Hochzeit habe ich mir das Leben mit Paolo haarklein ausgemalt. Wie wir uns abends unterhalten und ich ihm von meinem Tag erzähle, was ich erlebt hatte und gemeinsam mit ihm unternehmen wollte. Ich habe mir vorgestellt, wie wir Freunde zum Abendessen einladen und hinterher, wenn alle weg wären und wir den Tisch abräumten, noch ein wenig über sie tratschten. Und wie wir abends, allein zu Haus, unter einer Decke auf dem Sofa aneinandergekuschelt, einen Film guckten. Praktisch nichts von alledem ist eingetroffen. Geredet haben wir immer weniger, und irgendwann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es womöglich gar nicht nötig ist, viel miteinander zu reden, wenn man sich nur liebt. Je mehr Jahre vergehen, desto lieber schweigt man, als eine Unterhaltung zu führen, die einen nicht mehr interessiert.

Manche Themen sind mit der Zeit auch tabu geworden; aus Angst, zu viel zu sagen, haben wir fast gar nichts mehr gesagt. Manchmal frage ich mich, ob es nicht all diese ungesagten Dinge sind, die uns voneinander entfernt haben. Die Prioritäten und Dringlichkeiten haben sich so sehr verschoben, dass wir irgendwann vergessen haben, was wir uns ursprünglich einmal ersehnt hatten.

Meine Tage sind traurig geworden, ohne dass davon etwas durchscheint. Er verwechselt meine Traurigkeit mit Müdigkeit.

[13] Nichts überrascht mich mehr: weder Paolo noch das Leben noch ich selbst.

Ab wann hat die Zukunft, die ich mir vorstellte, zu verblassen begonnen? Wo sind die Träume vom Tag meiner Hochzeit hin?

Es gibt Schlimmeres als verschwundene Träume: die Unlust, überhaupt noch zu träumen. Wir sind langsam erloschen, eingeschlummert, ohne es auch nur zu merken. Erst haben wir die Zukunft ausgehöhlt, dann haben wir begonnen, dasselbe mit dem Alltag zu tun, der Gegenwart. Wenn man nicht kriegen kann, was man will, liebt man eben das, was man kriegen kann.

Mein Mann ist für mich wie ein Bruder geworden, und trotzdem schaffe ich es nicht, ihn zu verlassen. Ich sehe, was alles schiefläuft, aber ich bin blockiert. Ich träume davon, aufzuwachen und eine andere Frau zu sein, die ein anderes Leben führt. Doch dafür müsste ich alles aufgeben, und das bringe ich nicht fertig.

 

 

 

 

 

 

[14] Wenn ich diese Worte lese, empfinde ich unendliche Zärtlichkeit. Die Frau, die sie geschrieben hat, ist so zerbrechlich, dass es mich zutiefst berührt. Am liebsten würde ich zu ihr gehen, sie umarmen und beruhigen. Sie soll sich keine Sorgen machen, möchte ich ihr sagen, und dass die Dinge sich ändern und alles gut wird beziehungsweise dass alles gut geworden ist, auch wenn sie das noch nicht wissen kann. Sie weiß nicht, dass sie den richtigen Weg finden wird, um diese Situation hinter sich zu lassen; dass sie bald schon Antworten auf ihre Fragen bekommen wird. Sie weiß noch nicht, dass sie dabei ist, sich von allem zu befreien, das sie fesselt, gefangen hält, blockiert.

Das sind nicht einfach nur schöne Worte, die Mut machen sollen. Ich rede mir die Zukunft dieser Frau nicht rosig. Diese Zukunft ist meine Gegenwart.

Denn diese Frau bin ich gewesen, vor wenigen Jahren.

Könnte ich in der Zeit reisen, begäbe ich mich zu ihr, ich weiß ja noch, wie einsam sie war. Nicht um zu verhindern, dass sie die Erfahrungen macht, die heute zwischen uns liegen, und seien sie noch so schmerzlich, denn auch der Schmerz hat ihr dabei geholfen zu wachsen. Ich würde mich einfach nur neben sie setzen, damit sie meine Anwesenheit spürt.

[15] Ich hab sie sehr gern, die Frau, die ich mal gewesen bin. Obwohl zerbrechlich, war sie nie schwach; obwohl müde und erschöpft, hat sie nie aufgehört zu kämpfen. Sie hat sich gewehrt. Der Frau, die ich mal gewesen bin, verdanke ich viel: den Mut zum Irrtum, den Willen, mich den Dingen zu stellen, die Verantwortung für mich selbst anzunehmen, wie ich bin.

 

 

 

 

 

 

[16] Es wird der zweite Umzug meines Lebens. Oder der dritte, wenn ich den als Kind mitzähle, als ich sieben war und meine Eltern beschlossen, in eine andere Stadt zu ziehen. Damals habe ich nicht viel mitgeholfen, ich habe hauptsächlich geweint.

»Die neue Wohnung wird dir bestimmt gefallen, Elena… dein Zimmer ist größer, und es passen mehr Spielsachen rein«, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen.

»Ich will kein größeres Zimmer, ich will meins behalten, ich will hierbleiben!«

Die Umzugsleute gestern Nachmittag meinten, ich könne mich beruhigt zurücklehnen, sie würden sich um alles kümmern. Sie wollten wissen, wie sie die Sachen packen sollten, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollten nur die leeren Kartons bringen, ich würde alles selber erledigen.

Auch Carla hat ihre Hilfe angeboten. Aber ich habe mich entschlossen: Ich will alles allein machen.

Mit achtunddreißig bin ich dabei, mein Leben noch einmal einzupacken. Wie viele Kartons werde ich brauchen? In wie viele Kisten passt mein Leben?

Zwei Tage Zeit zum Packen, habe ich mir gesagt. Ich lasse es langsam angehen. Das wird ein langes, anstrengendes Wochenende, aber ich bin mir sicher, dass ich alles gepackt bekomme.

[17] Gestern Abend habe ich mit der Küche angefangen: Teller, Gläser, Schalen, Tassen. Heute und morgen erledige ich den Rest.

Ich habe mir einen Kaffee gemacht. Während ich ihn trinke, gehe ich durch die Zimmer. Der Anblick der Dinge, die bereitstehen, um eingepackt zu werden, die offenen Kisten, das Bewusstsein, zum letzten Mal durch diese Wohnung zu gehen – all das haut ganz schön rein.

Ich bin dabei, von hier fortzugehen. Und ich will das allein machen, in aller Stille. Ohne Eile will ich gehen, ganz bewusst, und mir vor Augen halten, was ich zurücklasse, voller Vorfreude auf das, was mich erwartet. Was immer es sein wird.

Ich versuche, die Gerüche, die Klänge, das Licht auf den Wänden einzufangen. Zum letzten Mal auf die Geräusche zu lauschen, die mein Dasein in dieser Wohnung begleitet haben. Deshalb wollte ich die Kisten allein packen: weil ich mein Leben ordentlich zusammenfalten möchte, indem ich jeden Gegenstand berühre und die Geschichte und die Erinnerungen, die er hervorruft, noch einmal durchlebe. Jede Erinnerung wird wie ein Wort in einer Erzählung sein.

Ich setze die Kaffeetasse ab und nehme ein paar Bücher aus dem Regal. Ich mag es, sie aufzuschlagen und all die Sätze zu sehen, die ich im Lauf der Jahre angestrichen habe. Zu entdecken, was mich beeindruckt hat, was ich empfunden, eigentlich gesucht habe.

Wie es zu dem Umzug gekommen ist, steht auf den Seiten meines Tagebuchs, es ist die Erzählung von der Frau, die ich einmal gewesen bin.

[18] 19. Januar

»Ich bin müde, ich hab’s satt, ich langweile mich, wir müssen mal wieder was unternehmen«, sage ich immer wieder, aber von ihm kommt keine Reaktion. Er benimmt sich, als wäre nichts passiert, als liefe alles wie geschmiert. Nur dass er nicht mehr versucht, mit mir zu schlafen: Er weiß, dass ich ihn abweisen würde, deshalb fragt er nicht mehr.

Wie soll man einen Mann begehren und lieben, der alles einfach so hinnimmt? Früher hätte er genau umgekehrt reagiert. Wäre zu mir gekommen und hätte mich gefragt, ob ich Lust auf Sex hätte. Ich weiß noch das eine Mal, als ich gerade Geschirr spülte und er aus heiterem Himmel gefragt hat: »Hast du Lust? Sollen wir rübergehen und miteinander schlafen?« Selbst wenn ich nicht gänzlich abgeneigt gewesen wäre, wäre mir bei dieser nüchternen Frage jegliche Lust vergangen. Je mehr er sich erniedrigt, je netter und unterwürfiger er ist, desto genervter und heftiger reagiere ich.

Es fällt mir immer schwerer, mit ihm zu schlafen. Früher war das Schlimme nicht die Sache an sich, sondern die Gespräche danach. Die Sache selbst hatten wir sowieso in ein paar Minuten erledigt. Sex ist nicht das Wesentliche, sage ich mir immer wieder. Nach all den Jahren kann unsere Beziehung sich auf andere Dinge stützen: [19] Zuneigung, Einverständnis, Vertrautheit wie mit sonst niemandem.

[20] 28. Januar

Urplötzlich habe ich unbändige Lust zu reisen, zu lachen, Spaß zu haben. Lust, eine neue Welt zu erleben, die anders ist als meine. Ich muss hoffen können. Ich muss lieben. Ich will keine Ausreden mehr dafür finden, dass ich nicht liebe.

Paolo ist das genaue Gegenteil: Er arbeitet, kommt nach Haus, isst, sieht fern und geht ins Bett. Es ist fast, als wäre er erloschen, er redet wenig, morgens wacht er mit demselben Gesicht auf, mit dem er abends eingeschlafen ist. Logisch, wo sich alles gleich bleibt in unserem Leben. Wenn wir heute nicht glücklich sind, werden wir es morgen auch nicht sein. Ich habe das Gefühl, als würde ich mein Leben verbrauchen, während ich auf etwas warte, das nie eintreffen wird.

Dieser Tage habe ich wieder mit ihm zu reden versucht, dass es so nicht weitergeht. Es sei jetzt nicht der richtige Moment dafür, hat er geantwortet. Wie immer: morgens, weil er gerade aufgewacht ist, abends, weil er einen schweren Tag hatte und wenigstens zu Hause mal seine Ruhe haben möchte; und später im Bett sagt er, dass er müde ist und lieber ein andermal darüber reden würde, weil er sich sonst zu sehr aufregt und nicht mehr einschlafen kann.

»Lass uns morgen drüber reden.«

[21] Nur dass dieses Morgen nie kommt. Wobei ich gar nicht so genau weiß, was ich sagen will. Auch ich habe Angst, gewisse Themen anzusprechen. Ich habe so fest an die Geschichte mit Paolo geglaubt, dass ich nicht einsehen will, dass ich mich geirrt habe. Es ist nicht leicht zuzugeben, dass all die Opfer, die Tränen und die unterdrückten Worte zu nichts geführt haben. Es ärgert mich wahnsinnig, dass ich es nicht geschafft habe, zu bekommen, was ich mir immer gewünscht habe, die Vorstellung, gescheitert zu sein. Ich höre ihn schon, den Satz: »Ausgerechnet ihr zwei, ihr wart doch so ein schönes Paar!«

Ich bin versucht, lieber den Verzicht zu wählen als die Niederlage, einfach so zu tun, als hätte das Leben uns nicht still und leise voneinander entfernt. Dann beginne ich mich zu fragen, ob nicht ich an allem schuld bin, vielleicht weil ich zu viel will, weil ich einem Traum von Perfektion hinterherjage, der nicht Wirklichkeit werden kann. Paolo ist ja eigentlich ein lieber Kerl, vielleicht muss ich nur lernen, weniger fordernd und dafür ein bisschen ausgeglichener zu sein, und mich besser anpassen. Wenn Paolo es so zufrieden ist, bin ich wohl diejenige, die falschliegt. Ihm scheint es zu genügen, dass ich da bin, wenn er abends die Tür aufschließt.

Das geht schon wieder vorbei, versuche ich mir einzureden. Nur eine kleine Krise. Du liebst nicht genug!, schelte ich mich und nehme mir fest vor, ihn mehr zu lieben, vielleicht kann sich ja alles wieder einrenken, wenn ich intensiver liebe. Ich versuche, all meine Energie darauf zu richten, diesen Traum wahrzumachen. Woher ich die Kraft nehme, weiß ich selbst nicht.

[22] Wenn die Zukunft weniger eine Hoffnung ist als eine Bedrohung, braucht man verdammt viel Energie, um sich eine Gegenwart zu erfinden.

Ich fange an, auf mein Verhalten, meine Handlungen, meine Worte zu achten. Ich schmiede neue Pläne: ein Wochenende, ein Abendessen, ein Rezept, eine neue Frisur. Ich möchte die Gewissheit, alles getan zu haben, was in meiner Macht lag. Um meine Ehe zu retten, habe ich sogar seltsame Phantasien entwickelt. Zum Beispiel stelle ich mir Paolo mit einer anderen Frau vor, male mir aus, dass er mich betrügt, nur damit ich noch etwas empfinde.

Eine Weile glaube ich daran und scheint alles zu funktionieren. Aber dann genügt eine Kleinigkeit, und die Zweifel brechen wieder über mich herein wie eine Riesenwelle. Letzten Samstag zum Beispiel bin ich aufgewacht und wollte frühstücken, in aller Ruhe: Butter, Marmelade, Orangensaft, Kaffee. Als ich in die Küche kam, hatte Paolo den kaputten Staubsauger auseinandergenommen, der ganze Tisch lag voller Einzelteile! Ich hab nichts gesagt, habe nur die Kaffeekanne aufgesetzt und bin zurück ins Schlafzimmer. Ich war genervt, hatte aber keine Lust auf eine Diskussion, deshalb bin ich im Bett geblieben. Kurz darauf ist er reingekommen und hat gefragt, ob ich wüsste, wo die Garantie für den Staubsauger ist. Er hat den Kleiderschrank geöffnet und in einer Kiste gewühlt. Dann ist er zurück in die Küche gegangen, ohne die Türen von Kleiderschrank und Zimmer zu schließen, und hat geräuschvoll weitergebosselt.

Da habe ich gedacht, dass dieses Leben nichts mehr für mich ist. Ich hab mich gefühlt wie dieser Staubsauger: [23] ein Haufen Einzelteile, die ich nicht mehr zusammenhalten kann.

So eine dumme Kleinigkeit reicht, dass ich mich woandershin wünsche. Ich erkenne mich nicht wieder: Ich war immer guter Laune, fröhlich, verständnisvoll; jetzt aber lege ich ein Verhalten an den Tag, für das ich mich schäme. Manchmal, wenn wir streiten, spüre ich, dass er recht hat und ich vielleicht übertreibe und eine richtige Nervensäge bin, doch es ist stärker als ich: Ich ertrage es einfach nicht mehr. Manchmal wache ich morgens schon schlechtgelaunt auf und muss sofort aus dem Bett, weil mich selbst die Bettdecke einengt. Früher ist mir das nie passiert. Ich habe Angst, dass ich eine böse Alte werde. Ich ertappe mich dabei, dass ich genau das tue, was ich bei meiner Mutter immer gehasst habe.

Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit ich da wieder rauskomme. Ich weiß auch nicht, ob ich all die Schwierigkeiten angehen will, zumal die praktischen, die automatisch auf mich zukämen, wenn ich mich trennen würde. All diese Unsicherheiten rauben mir die Energie und den inneren Antrieb. Ich frage mich, ob ich genug Kraft haben werde, um die Bindungen zu sprengen, die ich über so lange Zeit aufgebaut habe. Ich bin nicht in der Verfassung, all das anzugehen, was mich erwartet, wenn ich von hier wegginge.

Ich brauchte jemanden, der mir zuhört.

[24] 29. Januar

Heute war ein schwieriger Tag auf der Arbeit. Seit ich in der Firma zur Leiterin der Marketingabteilung befördert wurde, stehe ich plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Die tumbe Bosheit gewisser Leute macht mich sprachlos. Manchmal könnte ich sie alle auf den Mond schießen.

Federica hat mir erzählt, Binetti hätte auf meine Kosten Anspielungen gemacht. Ich hätte was mit dem Chef, hat er angedeutet, und nicht zum ersten Mal.

Beim Abendessen wollte ich mir Luft machen und habe Paolo erzählt, was passiert ist. Ich brauchte einen Vertrauten, wollte verstanden und beruhigt werden. Wie oft höre ich mir seine Probleme an, die er auf der Arbeit hat. Heute war ich mal dran. Aber Paolo hat mich gar nicht ausreden lassen: »Was soll ich da erst sagen?« Und dann fing er an, mir von seinem Tag zu erzählen, meinen Ärger mit seinem zu vergleichen. Ich könne mich nicht beschweren, meinte er, meine Probleme seien nichts im Vergleich zu dem, was er ertragen müsse.

Ich habe nichts erwidert. Ich hätte es so nötig gehabt, dass er mir dieses eine Mal zuhört und was Nettes sagt. Eine stumme Umarmung hätte genügt. Dabei hätte ich es doch wissen müssen. Er ist eben so und wird sich auch nicht ändern.

[25] 30. Januar

Als Federica heute Morgen ins Büro kam, war sie völlig neben der Spur. Sie hat erzählt, sie sei mit einem Typen ausgegangen, mit dem sie seit Tagen flirtet, und mit ihm im Bett gelandet. So ein Stehvermögen sei ihr noch nie untergekommen, hat sie gemeint. Nach dem Abendessen hätten sie angefangen, und gegen zwei Uhr hätte sie ihn um eine Pause bitten müssen. »Als ich in die Küche bin, um Wasser zu trinken, habe ich geschwankt, als hätte er mir die Hüfte ausgekugelt. Ich hab’s echt mit der Angst gekriegt.«

Wir haben herzhaft gelacht. »So was dürfte nicht frei rumlaufen. Den müssten sie irgendwie kennzeichnen, mit einer Marke oder mit einem Stempel auf dem Arm!« Federica bringt mich mit ihren Geschichten immer zum Lachen. Unsere Vertrautheit ist mit Sicherheit ein Grund dafür, dass ich gern zur Arbeit gehe.

Heute war wieder ein anstrengender Tag, doch die Sitzung ist gut verlaufen. Ich war in Höchstform: Ich habe tadellos durch die Präsentation geführt und alle Fragen, die kamen, problemlos beantworten können. Die Lancierung dieses neuen Produkts ist sehr wichtig, deshalb hat der Chef beschlossen, viel Geld in die Werbung zu stecken. Wir haben uns einer neuen Agentur anvertraut, die von Anfang an große Professionalität an den Tag gelegt hat. [26] Ich muss ehrlich sein: Federica hat mir sehr geholfen. Mittlerweile sind wir ein eingeschworenes Team, wir verstehen uns blind. Zwischendurch, in der Kaffeepause, hat sie mich gefragt, ob ich mitbekommen hätte, wie mich der Texter der Agentur angeschaut hat.

Also wirklich, als ob ich bei all der Anspannung während der Sitzung auch noch darauf achten könnte, wer mir da gegenübersitzt…

 

 

 

 

 

 

[27] Von wegen! Ich erinnere mich genau daran, wie er mich ansah, an dem Tag während der Sitzung. Wer weiß, warum ich mich selbst belog, als ich an diesem Abend ins Tagebuch schrieb. Vielleicht wollte ich die Lüge fortspinnen, die ich Federica aufgetischt hatte: »Also, ich hab nichts bemerkt. Aber ich glaube auch nicht, dass er mich auf die Art angesehen hat, wie du meinst. Wir haben uns einfach nur gegenübergesessen.«

»Du magst ja eine Top-Marketingleiterin sein, aber was diese Dinge angeht… Umso besser, dann schaut er vielleicht nicht mehr dich an, sondern mich. Ich wär heute Abend nämlich frei!«

Ich ging auf Toilette und bemerkte im Spiegel, dass mein Haar nicht in Ordnung war. Als die Sitzung weiterging, fiel mir auf, dass er mich tatsächlich häufig ansah und sogar anlächelte.

Er war ein schöner Mann, dunkles Haar mit grauen Stellen an den Koteletten, schwarze Augen. Hemd, Sakko und Krawatte saßen untadelig, ohne den Hauch einer Falte. Als er nach der Sitzung mit den Kollegen aufbrach, hat er sich als Letzter von mir verabschiedet. Er reichte mir die Hand und sah mir tief in die Augen. Das verwirrte mich. Diesen Blick fühlte ich noch stundenlang auf mir ruhen. Den ganzen Tag lang.

[28] Und als ich abends im Auto nach Hause fuhr und daran zurückdachte, stellte ich fest, dass ich lächelte, einfach so. Damals war ich es nicht gewohnt, dass man mich so ansah.

[29] 2. Februar

Sie sind sündhaft teuer, ich weiß, aber sie gefallen mir. Außerdem kaufe ich mir sonst nie was, und jetzt werde ich mir bestimmt eine ganze Weile lang nichts mehr kaufen. Ich habe mich sofort in sie verliebt, gleich als ich sie im Schaufenster sah, und sie sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Heute Morgen, als ich an der roten Ampel stand, habe ich eine junge Frau gesehen, die auch so welche trug. Da habe ich mich entschlossen. Nach der Arbeit bin ich in den Laden, um sie zu kaufen. Zu Hause habe ich sie sofort anprobiert. Sie stehen mir super. Ich bin zu Paolo ins andere Zimmer, um mich zu zeigen und zu erfahren, ob sie ihm gefallen. Ich hätte schon einen Schrank voller Schuhe und Stiefel und solle das Geld nicht so zum Fenster rauswerfen, meinte er. Außerdem finde er sie zu auffällig für mich. Das heißt, ich werde sie nur anziehen, wenn ich ohne ihn ausgehe.

Ich bin ins Schlafzimmer und habe mich ausgezogen. Was weiß er schon über solche Sachen? Als er von Geld anfing, habe ich sofort Reißaus genommen; hätte er mich gefragt, wie viel sie gekostet haben, hätte ich vermutlich gelogen. Oder nein: auf jeden Fall!

Ich habe mich ein bisschen gedreht, um die Schuhe zu betrachten. Meine neuen Hacken sind wunderschön. Das hab ich richtig gut gemacht.

[30] 3. Februar

Heute hat mich Federica wieder mal so richtig zum Lachen gebracht: Sie ist mit einem so tiefen Ausschnitt ins Büro gekommen, dass ich irgendwann nicht anders konnte und sie darauf angesprochen habe. Das sei Absicht, hat sie gesagt, sie hätte verschlafen und keine Zeit mehr gehabt, sich die Haare zu waschen. »Aber so merken es die Männer nicht, weil sie woandershin gucken.«

Tagsüber denke ich manchmal daran, wie der Mann mich angeschaut hat. Wie wir uns verabschiedet haben. In ein paar Tagen findet die nächste Sitzung statt.

 

 

 

 

 

 

[31] So viel Angst hatte ich vor dieser Begegnung, dass ich es nicht mal ins Tagebuch schrieb und sogar mir selbst gegenüber so tat, als hätte die Existenz dieses Mannes nichts in mir verändert.

Meine damalige Verwirrtheit schrieb ich ausschließlich jenem Blick und jenem Mann zu. Mit ein bisschen zeitlichem Abstand habe ich jedoch begriffen, dass meine Reaktion zum Teil auch damit zu tun hatte, dass ich mich schon seit so vielen Jahren nicht mehr als begehrenswert empfunden hatte. Wenn ich mich in jener Zeit überhaupt als Frau fühlen wollte, benötigte ich die Hilfe von Zwölf-Zentimeter-Absätzen, eines ausgeschnittenen Kleids und eines knallroten Lippenstifts. Auch heute ziehe ich diese Dinge manchmal noch an, doch ich habe gelernt, dass sie nur Accessoires sind: Eine Frau bin ich auch in Jeans und flachen Schuhen, ungeschminkt.

[32] 5. Februar

Alles glattgegangen heute. Mehr Sitzungen wird es nicht geben, nur noch die Unterzeichnung des Vertrags und das Abschlussbankett in London mit den Leuten von der Firmenzentrale. Und Schluss.

Das war einer der anstrengendsten Jobs, die ich je gemacht habe! Beim Gedanken an ihn muss ich immer lächeln, bis ich sein Bild wieder aus meinem Kopf verscheuche. Heute Morgen bin ich lange vor dem offenen Kleiderschrank gestanden, ich wusste nicht, was ich anziehen sollte.

Während der Sitzung habe ich mir alle Mühe gegeben, ihn nicht anzuschauen, um ihn nicht zu ermutigen, vor allem aber, um in mir selbst keine unsinnigen Gedanken aufkeimen zu lassen. Auf der Arbeit will ich es gar nicht erst zu potentiell peinlichen Situationen kommen lassen. Das fand ich immer schon lästig. Männer, die dich nicht wie einen Profi behandeln, kenne ich zur Genüge. Sie schauen dich nicht an, lassen dich nicht zu Wort kommen, und wenn doch, unterbrechen sie dich, ehe du fertig bist, oder sie lassen dich ausreden, und danach haben sie ein Lächeln im Gesicht, das zugleich Überlegenheit und Mitleid ausdrückt. Männer mit der oberflächlichen Gleichung »hübsch gleich doof« im Kopf. Die automatisch denken, eine Frau bekommt eine Führungsposition nur, weil sie mit jemandem gepennt hat. Wie dieser [33] Trottel von Binetti. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass ich auf direktem Weg Abteilungsleiterin geworden bin, ohne Umweg über irgendwelche Betten.

Wieso ist er dann trotz meiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit in mein Büro gekommen und hat das getan?

 

 

 

 

 

 

[34] Damals wusste ich praktisch nichts über ihn, doch meine Intuition sagte mir, dass er mich nicht ausnützen wollte. Allerdings konnte ich nicht sicher sein, dass er mich nicht zu verführen versuchte, um daraus Vorteile bei den Verhandlungen zu ziehen.

Ich wollte es zwar nicht mal mir selbst eingestehen, aber ich hoffte doch, dass seine Aufmerksamkeiten aufrichtig und ohne Hintergedanken wären.

In den Sitzungen sprach er wenig, mit warmer Stimme. Er gehörte zu jenen Männern, die fremde Blicke nicht fürchten. Er war sehr konkret: Die Punkte, auf die er hinwies, und die Kritik, die er vorbrachte, waren stets sachbezogen.

In der Pause, während alle im Nebenraum Kaffee tranken, ging ich an meinen Schreibtisch, um ein paar Unterlagen zu ordnen.

»Pause kann man das ja nicht nennen«, sagte er plötzlich in meinem Rücken.

Als ich seine Stimme hörte, wurde ich verlegen. Mein Gesicht wurde heiß. »Ach, ich brauche grad keinen Kaffee, und wenn ich mich jetzt gleich um die Angelegenheit hier kümmere, verlieren wir weniger Zeit.«

»Dann erwarten wir dich drüben.«

»Ja, ja, danke.«

[35] Er ging, und ich hatte Mühe, die Arbeit zu beenden, so unkonzentriert war ich auf einmal.

Ich weiß noch, dass ich den Rest der Sitzung über versucht habe, ganz cool zu wirken, als wäre nichts, obwohl ich es keineswegs war. Zum Glück musste ich nicht mehr viel reden. Meine Gelassenheit war aufgesetzt. Ich musste nicht mal mehr den Blick heben, um seine Augen auf mir zu spüren.

Am Ende der Sitzung merkte ich, dass er alles tat, um sich anzupirschen. Wieder verabschiedete er sich als Letzter von mir und sah mir dabei in die Augen. Ich schaute zu Boden und erwiderte den Gruß flüchtig. Bald wäre alles ausgestanden.

Als ich am Abend aus dem Büro ging, fand ich in meiner Manteltasche einen Zettel: Darauf standen sein Name und die Privatnummer. Mir wurde ganz heiß. Ich steckte den Zettel sofort in die Tasche zurück, als müsste ich ihn verheimlichen, als machte ich mich allein durch die Tatsache, dass ich ihn in der Hand hielt, eines Vergehens schuldig. Dann öffnete ich die Schreibtischschublade, die immer abgeschlossen ist, und warf den Zettel hinein. Obwohl ich allein im Büro war, fühlte ich mich beobachtet. Ich schloss ab und fuhr nach Hause.

[36] 6. Februar

Als ich heute Morgen ins Büro kam, habe ich sofort die Schublade geöffnet, um nachzusehen, ob es auch wirklich passiert ist, und – der Zettel hat noch da gelegen. Ich habe ihn lange angestarrt und dann zurückgelegt. Den ganzen Tag über kam es mir so vor, als wäre dort etwas Lebendiges eingeschlossen.

Mir gefällt, dass er nicht einfach auf seiner gedruckten Visitenkarte den Nachnamen durchgestrichen hat. Dass alles von Hand geschrieben ist.

Die Nummer werde ich nie anrufen. Nie im Leben. Das hab ich von Anfang an gewusst. Und doch habe ich es nicht über mich gebracht, den Zettel zu zerreißen. Er liegt noch immer da, in der Schublade.

Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, nicht mal mit Federica. Warum, weiß ich nicht. Mir war, als würde ich ihm Unrecht tun.

Nur Paolo habe ich es gesagt. Beim Abendessen habe ich ihm alles haargenau erzählt, allerdings so, als wäre es Federica passiert.

»Der macht das doch bestimmt immer so. Wie mein Bruder: Wenn solche Typen nur den Hauch einer Chance wittern, versuchen sie es sofort. An dich hat er sich wahrscheinlich nur deshalb nicht rangemacht, weil er den Ehering gesehen hat.«

[37] Darüber habe ich mich sehr geärgert. Weniger, weil Paolo so denkt, als wegen der Tatsache, dass dieser Mann in mir vielleicht eine leichte Beute sieht.

Ich freu mich schon auf Montag, dann werde ich den Zettel im Büro zerreißen.

[38] 9. Februar

Gute Neuigkeiten im Büro. Mir wurde ein neues Projekt anvertraut, das ich zusammen mit Federica umsetzen werde. Ich bin total happy.

Den Zettel mit der Nummer habe ich zerrissen. Ich geb zu, es ist mir nicht ganz leichtgefallen, aber schließlich habe ich eingesehen, dass es das einzig Richtige ist. Ich möchte nicht mehr darüber reden.