2 x DEUTSCHLAND

Innerdeutsche Beziehungen 1972–1990

Herausgegeben von
Andreas H. Apelt, Robert Grünbaum und Jens Schöne

im Auftrag der Deutschen Gesellschaft e. V.,
des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

mitteldeutscher verlag

Titelbild: Der Bundesminister für besondere Aufgaben, Egon Bahr (2. v. l.) und DDR-Staatssekretär Michael Kohl (l.) stellen sich anlässlich des Notenaustausches zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Bonner Palais Schaumburg am 20. Juni 1973 den Fragen der Journalisten.

© Bundesregierung/Engelbert Reineke

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Nachdruck, auch auszugsweise verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Recht zur fotomechanischen und digitalen Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954621644

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeber

Bernd Faulenbach

Zur retrospektiven Beurteilung des deutsch-deutschen Verhältnisses 1972–1990

Fragen und Perspektiven

Hermann Wentker

1972 – Ein Schlüsseljahr für die innerdeutschen Beziehungen

Von der Entspannungspolitik zum Grundlagenvertrag im Kontext internationaler Politik

Podiumsdiskussion

Rainer Eppelmann, Hans Otto Bräutigam, Hans Modrow und Hermann Wentker

Moderation: Sven Felix Kellerhoff

Peter Maser

Zwei Staaten, zwei Kirchen?

Kirchen im geteilten Deutschland

Podiumsdiskussion

Stephan Bickhardt, Christoph Demke, Martin Kruse und Peter Maser

Moderation: Friederike Sittler

Rolf Steininger

Entspannung und Abrüstung im Kalten Krieg

Der KSZE-Prozess und seine Auswirkungen auf die innenpolitischen Situationenin Ost und West

Podiumsdiskussion

Gerhart R. Baum, Gerd Poppe, Andrzej Szynka und Rolf Steininger

Moderation: Peter Lange

Jens Schöne

Berlin 1987

Zwischen doppeltem Stadtjubiläum und Reagan Besuch

Podiumsdiskussion

Laurenz Demps, Eberhard Diepgen, John Christian Kornblum und Jens Schöne

Moderation: Harald Asel

Günther Heydemann

Politik des Dialogs

Das SED-SPD-Papier von 1987

Podiumsdiskussion

Erhard Eppler, Stephan Hilsberg, Dietmar Keller und Gesine Schwan

Moderation: Daniel Friedrich Sturm

Martin Sabrow

Der Pyrrhussieg

Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik 1987

Podiumsdiskussion

Claus-Jürgen Duisberg, Ulrike Poppe, Martin Sabrow und Hans Voß

Moderation: Jürgen Engert

Helmut Altrichter

Gekaufte Freiheit

Häftlingshandel zwischen DDR und BRD

Podiumsdiskussion

Helmut Altrichter, Jan Hoesch, Christian Richter und Jürgen Schmude

Moderation: Gabi Wuttke

Ulrich Herbert

Eine deutsche Nation?

Deutsch-deutsche Antworten

Podiumsdiskussion

Ulrich Herbert, Eckhard Jesse, Markus Meckel und Helga Schubert

Moderation: Hermann Rudolph

Endnoten

Kurzbiografien

Vorwort

Die Unterzeichnung des „Vertrags über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ am 21. Dezember 1972 im Ost-Berliner Haus der Ministerien war eine politische Sensation. Zum ersten Mal in der Geschichte des geteilten Deutschlands wurden die schwierigen Beziehungen der beiden Teilstaaten auf eine umfassende vertragliche Basis gestellt. Egon Bahr, der westdeutsche Verhandlungsführer, warnte jedoch vor allzu großen Erwartungen: „Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben – und das ist der Fortschritt.“ Sein Gegenpart, DDR-Staatssekretär Michael Kohl, erklärte daraufhin: „Wir geben uns keinen Illusionen hin, dass der Weg leicht sein wird. Aber der Vertrag kann eine entscheidende Wende zum Besseren einleiten.“ Ungeachtet dieser zurückhaltenden Bewertungen der Beteiligten: Zweifellos wurde an diesem Tag ein neues Kapitel der Deutschlandpolitik aufgeschlagen.

Bis heute werden der Grundlagenvertrag und die deutsch-deutsche Annäherungspolitik der 1970er- und 1980er-Jahre kontrovers diskutiert. Vor diesem Hintergrund initiierten die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR sowie die Deutsche Gesellschaft e. V. im Jahr 2012 eine achtteilige Veranstaltungsreihe mit dem Titel „2 × Deutschland. Innerdeutsche Beziehungen 1972–1990“. 40 Jahre nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags wurden die zentralen Entwicklungen im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Beziehungen bis zur Friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Einheit 1989/90 beleuchtet. Schließlich jährten sich 2012 weitere historische Daten, die exemplarische Bedeutung für diesen historischen Zeitabschnitt haben. Sie wurden im Rahmen der Veranstaltungsreihe gleichfalls auf ebenso anschauliche wie diskursive Weise unter die Lupe genommen:

 Nach der Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR beharrten dessen Mitglieder auf ihrem Bekenntnis zur „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland. Die Evangelische Kirche konnte sich auch in Zeiten der staatlichen Teilung lange ihren gesamtdeutschen Charakter bewahren.

 Im August 1975 unterzeichnete die DDR die KSZE-Schlussakte – für die Entspannungspolitik im Ost-West-Konflikt eine wichtige Station: Oppositionelle konnten sich nun gegenüber der sozialistischen Obrigkeit auf die humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen berufen.

 1987 war für Berlin ein ganz besonderes Jahr: Die Metropole beging – als geteilte Stadt – ihr 750-jähriges Jubiläum und der amerikanische Präsident Ronald Reagan hielt seine legendäre Rede vor dem Brandenburger Tor: „Mr Gorbachev, open this gate. Mr. Gorbachev, tear down this wall!“

 Ab 1984 trafen sich Vertreter aus SPD und SED zu gemeinsamen Gesprächen. Ihr Gedankenaustausch mündete im August 1987 in einem bis heute umstrittenen Dialogpapier mit dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“.

 Mit dem Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im September 1987 in der Bundesrepublik verbanden beide Seiten sehr unterschiedliche Erwartungen: Die DDR-Führung wertete den Empfang als Bestätigung für zwei unabhängige, souveräne deutsche Staaten; Bundeskanzler Helmut Kohl hingegen war vor allem daran gelegen, die deutsche Frage offenzuhalten und auf menschliche Erleichterungen für die DDR-Bürger hinzuwirken.

 Ebenso unterschiedlich fassten DDR und Bundesrepublik Deutschland den 26 Jahre lang betriebenen Häftlingsfreikauf auf: Für das Ministerium für Staatssicherheit handelte es sich um eine „politisch-operative Sondermaßnahme“, für den Westen waren es „besondere Bemühungen im humanitären Bereich“.

 Die Frage nach der deutschen Identität stand kontinuierlich im Brennpunkt der Nachkriegsgeschichte. Während der Zeit der Teilung hatten in der Bundesrepublik alle Regierungen an der Einheit der Nation festgehalten, während die DDR ab den 1970er-Jahren von der Existenz zweier deutscher Nationen ausging. Mit der Wiedervereinigung stellte sich die Identitätsfrage für die Bundesrepublik dann ganz neu.

In den acht Veranstaltungen diskutierten Historiker, Politiker, Sozialwissenschaftler und Zeitzeugen aus Ost und West über die wechselvolle Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen vor dem Hintergrund des europäischen und globalen Kontextes. Gefragt wurde danach, ob und auf welche Weise die verschiedenen Ereignisse zur innerdeutschen Annäherung beitrugen, welche Spielräume sich beide Staaten trotz der wachsamen Alliierten eröffneten, wie die internationale Politik das Geschehen beeinflusste und welche Folgen bis in unsere Gegenwart zu spüren sind. Im Mittelpunkt des Interesses stand immer wieder auch die Frage, wie sich die Menschen dies- und jenseits der Mauer mit dem Status quo des geteilten Landes arrangierten, ob der Glaube an die Einheit entgegen den Zeitläufen fortbestand und wie das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen über die Mauer hinweg erhalten blieb.

Die Gesprächsreihe „2 x Deutschland“ stieß auf großes öffentliches Interesse. Zu ihrem Erfolg trugen nicht nur die namhaften Historiker bei, die mit Fachvorträgen in die jeweiligen Themen einführten. Es waren auch die vielen Zeitzeugen auf den Podien, die das historische Geschehen seinerzeit als politische Akteure gestaltet oder auf andere Weise begleitet hatten und die Zuhörer nun an ihren Erlebnissen und Erfahrungen teilhaben ließen. Ihnen allen gilt der besondere Dank der Veranstalter für die ebenso kenntnisreichen wie erhellenden Beiträge.

Die Podiumsgespräche haben gezeigt, dass in vielen Fällen die Deutung der politisch-historischen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Die innerdeutsche Geschichte bewegt die Menschen nach wie vor. Der vorliegende Band will dazu beitragen, den öffentlichen Diskussionsprozess weiter zu befördern und die notwendige Debatte zu vertiefen.

Dr. Andreas H. Apelt

Deutsche Gesellschaft e. V.

Dr. Robert Grünbaum

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Dr. Jens Schöne

Berliner Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR

Bernd Faulenbach

Zur retrospektiven Beurteilung des deutschdeutschen Verhältnisses 1972–1990

Fragen und Perspektiven

40 Jahre nach Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und 22 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist es möglich, auf der Basis der neueren wissenschaftlichen Arbeit und der publizistischen Diskussion unter verschiedenen Perspektiven die deutsch-deutschen Beziehungen von den frühen 1970er-Jahren bis zur Umwälzung 1989/90 zu beleuchten. So kann man nach dem Zusammenhang zwischen den Ostverträgen, die 1970 bis 1973 abgeschlossen wurden, nicht zuletzt dem Grundlagenvertrag, auf der einen Seite und dem Sturz des SED-Regimes 1989 und dem Ende der anderen kommunistischen Regime sowie der deutschen Vereinigung und der Überwindung der deutschen Spaltung auf der anderen Seite fragen. Gunter Hofmann etwa hat die These vertreten, dass die große Zäsur 1989/90 ohne die von 1969 nicht zu verstehen sei.1 Konkret hieße dies, dass lange Linien vom Grundlagenvertrag zur Umwälzung 1989/90 zu ziehen wären. Doch sollte auch der Bewältigung konkreter Probleme der 1970er- und der 1980er-Jahre nachgegangen werden. Dabei ginge es um Wirtschaftsbeziehungen, Verkehrsfragen, Familienzusammenführung, Häftlingsaustausch, Sportbeziehungen oder auch um die gemeinsame Sicherheit – um nur einige eigengewichtige Komplexe des vielschichtigen deutsch-deutschen Verhältnisses jener Jahre zu nennen. Jedenfalls zeigen die Bände des Editionsprojektes Dokumente zur Deutschlandpolitik für die Zeit nach 1972 einen mühsamen deutsch-deutschen Alltag, der mit Fragen der inneren Entwicklung in beiden Staaten und ihren Gesellschaften ebenso verknüpft gewesen ist wie mit Fragen der internationalen Politik.2

Hinter diesen Fragen stecken auch methodische Probleme. Kann man die deutsch-deutsche Geschichte vorrangig in Zeitzeugengesprächen behandeln oder bedarf es nicht auch der breiten Auswertung der Aktenbestände der staatlichen Stellen wie der Vielzahl von Materialien etwa aus den Bereichen von Medien und Wissenschaft? Und generell ist auch an den Unterschied zu erinnern zwischen der retrospektiven Sicht, die schon weiß, wie die Sache ausgegangen ist, und der von den Historikern zu rekonstruierenden Situation der Zeitgenossen, die vor dem offenen Horizont der Zukunft dachten und handelten. Es ist ahistorisch, ihnen vorzuhalten, dass sie den weiteren Verlauf nicht kannten. Dass sich hinter dem Rücken der Zeitgenossen Entwicklungen vollziehen können, die die Zeitgenossen nicht mitbekommen, wie auch das Phänomen, dass Politik oft weitergehende oder andere Folgen hat als intendiert, ist bei Betrachtung des Themenfeldes ebenfalls in Rechnung zu stellen.

Einige Überlegungen zur Einordnung der Themen der hier dokumentierten Veranstaltungsreihe seien deshalb vorausgeschickt, und zwar zum Charakter des Grundlagenvertrages, zur Frage der Einheit der Nation, zu den bilateralen Beziehungen und ihren Rückwirkungen auf die jeweilige innere Struktur und politische Kultur, über die internationale Relevanz des deutsch-deutschen Verhältnisses sowie über die Bedeutung der Oppositionsbewegungen einerseits und des Reformkommunismus andererseits für die Umwälzung 1989/90. Es geht jeweils nur um einige grobe Linien, die Zusammenhänge aus der Sicht der neueren zeithistorischen Diskussion andeuten sollen.

Der Grundlagenvertrag und seine Folgen

Der Grundlagenvertrag, mit dem sich die erste Veranstaltung beschäftigt hat, ist im Kontext der von der sozial-liberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt begonnenen Neuen Ostpolitik ausgehandelt worden, die ihren Niederschlag in den Verträgen von Moskau, Warschau und Prag, im Vier-Mächte-Abkommen in Berlin und im Grundlagenvertrag gefunden hat.3 Brandt und seine Mitstreiter wollten das Verhältnis zur Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern entspannen und zu einem Modus Vivendi kommen. Das Motiv der Versöhnung spielte insbesondere bei den Verhandlungen mit Polen eine besondere Rolle. Es galt außerdem, die Verbindungen zwischen West-Berlin und dem Bund zu sichern und Entwicklungsmöglichkeiten für Berlin zu schaffen. Nicht zuletzt aber sollte das Verhältnis der beiden deutschen Staaten von einem Gegeneinander zu einem Miteinander umgestaltet werden, was auf menschliche Erleichterungen und auf Zusammenarbeit in möglichst vielen Bereichen zielte.4 In einem Prozess, in dem die verschiedenen Verhandlungen auf kunstvolle Weise miteinander verknüpft waren, wurde die Neue Ostpolitik in einer Weise vorangebracht, dass Bonn auf allen Ebenen – praktisch sogar bei den Berlin-Verhandlungen – als Akteur präsent war und zu steuern versuchte.

In den Verhandlungen mit der DDR-Führung, denen nach dem Scheitern der spektakulären deutsch-deutschen Gipfeltreffen in Erfurt und Kassel im Frühjahr 1970 zunächst der Moskauer Vertrag und auch der Verkehrsvertrag zwischen Bonn und Ost-Berlin vorgeschaltet waren, traten die gleichen Probleme wie bei den langen intensiven Verhandlungen mit der sowjetischen Führung im Hinblick auf die deutsche Frage auf. Ost-Berlin verfolgte vor allem sein Ziel, als souveräner Staat anerkannt zu werden und endlich den Durchbruch in der internationalen Politik zu schaffen. Zwar hatte Willy Brandt schon in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 von zwei Staaten in Deutschland gesprochen, die füreinander nicht Ausland seien, doch insistierte Egon Bahr für die Bundesregierung in den Verhandlungen auf der prinzipiellen Offenheit der deutschen Frage. In mühsamen Verhandlungen kam es auch hier wie beim Abschluss des Moskauer Vertrages zu einem Kompromiss, der den Grundlagenvertrag prägte.5

Der Grundlagenvertrag war wie der Moskauer Vertrag ein Gewaltverzichtsvertrag, der die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkannte. Keiner der beiden Staaten sollte den anderen vertreten und in seinem Namen handeln können. Dabei bekannten beide Seiten sich nicht nur zu den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen, sondern erklärten auch, Anträge auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen stellen zu wollen. Zweifellos wurden damit seitens der Bundesregierung die Hallstein-Doktrin und das Alleinvertretungsrecht endgültig aufgegeben und der Weg zur internationalen Anerkennung der DDR freigegeben.

Andererseits konnte sich die DDR-Führung in wichtigen Punkten nicht durchsetzen: Mit der Unterzeichnung wurde nicht nur – wie in Moskau – ein Brief der Bundesrepublik zur deutschen Einheit überreicht, sondern die Präambel nannte auch „unterschiedliche Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“, was auf die westdeutsche Option zur Wiederherstellung der deutschen Einheit verwies. Auch blieb man unterhalb der völkerrechtlichen Anerkennung, indem der Austausch von „ständigen Vertretungen“, nicht von Botschaften verabredet wurde und in der Staatsangehörigkeitsfrage Bonn an seiner Position einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit festhielt.

Der Vertrag enthielt insofern ein dynamisches Moment, als er die Grundlage für die in der Folgezeit zu realisierende „Normalisierung“ der Beziehungen durch die Regelung praktischer und humanitärer Fragen und für Abkommen in einer ganzen Reihe von Bereichen bilden sollte, und zwar für die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Verkehr, Rechtsverkehr, Post- und Fernmeldewesen, Gesundheitswesen, Kultur, Sport und Umweltschutz. Im Zusatzprotokoll wurde zudem eine Kommission zur Überprüfung der Grenze eingerichtet. Vereinbart wurde im Kontext des Abkommens auch die Zulassung und Akkreditierung westlicher Journalisten in der DDR, was für das SED-System zweifellos ein wesentliches Zugeständnis war.

Der Grundlagenvertrag begriff die deutsch-deutschen Beziehungen als Prozess, für den er einen Rahmen bilden sollte. Er war kein Endpunkt, sondern eher ein Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen, was auch darin zum Ausdruck kam, dass die feierliche Unterzeichnung durch die Unterhändler, nicht etwa durch die Regierungschefs, in Ost-Berlin vorgenommen wurde. Zur historischen Bedeutung ist festzustellen: Mit dem Vertrag war der Höhepunkt der Entfremdung zwischen der Bundesrepublik und der DDR überwunden.6

Die „Einheit der Nation“ in den 1970er- und 1980er-Jahren

Erklärtes Ziel der Neuen Ostpolitik war die Erhaltung der Einheit der Nation, deren Fortbestehen bereits beim Treffen von Brandt und Stoph in Erfurt 1970 eindrucksvoll sichtbar und hörbar geworden war. Diesem Ziel sollte auch der Grundlagenvertrag dienen, indem er in möglichst vielen Bereichen Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten ermöglichte.

Die Gegner des Vertrages in der Bundesrepublik wollten in dem Vertrag zwar eher einen Teilungsvertrag sehen. Die bayrische Staatsregierung rief deshalb das Bundesverfassungsgericht an, das die Verfassungsgemäßheit des Vertrages, der den Rahmen für die pragmatische Zusammenarbeit festlegte, attestierte, doch dabei bekräftigte, dass die Präambel des Grundgesetzes von den Verfassungsorganen fordere, den Wiedervereinigungsgedanken im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten.

Während die Bundesrepublik den Vertrag mit dem Gedanken der Erhaltung der Einheit der Nation zu verbinden suchte, unternahm die DDR-Führung gleichzeitig das Gegenteil. Für sie war die Intensivierung der Beziehungen zur Bundesrepublik der Anlass zu Abgrenzungsmaßnahmen gegenüber der Bundesrepublik, die u. a. ihren Ausdruck 1974 im „Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung“ fand, in dem die SED-Führung offiziell die Idee der deutschen Nation verabschiedete, in dem sie diese aus der Verfassung der DDR tilgte. Der Artikel 1 lautete bis dahin in der Fassung von 1968: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.“ Er wurde abgeändert in: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.“ Artikel 8 wurde sogar ersatzlos gestrichen, er hatte den Satz enthalten: „Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben […] die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschland, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus.“7

Die SED-Führung kämpfte auch in der Folgezeit gegen die Idee der Einheit der Nation, tat sie als Ausdruck reaktionärer Politik ab und wurde doch immer wieder mit der Frage nach deutschen Gemeinsamkeiten konfrontiert. Tatsächlich wurde durch die Ostverträge, insbesondere auch durch den Grundlagenvertrag und die Abkommen, die auf seiner Basis geschlossen wurden, der Trend einer immer weiteren Entfremdung der beiden deutschen Staaten gebrochen. Von nun an wuchsen wieder Kommunikation und Verbindungen – ungeachtet der Zweistaatlichkeit und aller Abgrenzungsbemühungen der DDR-Führung, wozu sowohl die Vielzahl neuer Kontakte als auch die modernen Medien beitrugen.

Von „Normalität“ waren die Beziehungen in den folgenden Jahren allerdings noch weit entfernt – wie besonders eindrucksvoll das Grenzregime der DDR zeigte, das nach wie vor Opfer forderte und das Verhältnis der beiden deutschen Staaten erheblich belastete. Auch Kanzler Helmut Schmidt und andere Politiker aus dem Regierungslager – keineswegs nur Oppositionspolitiker – geißelten wiederholt, insbesondere nach Zwischenfällen, den Schießbefehl an der Mauer und an der deutsch-deutschen Grenze und sprachen dieses Thema auch unmittelbar gegenüber Honecker an.

Trotz aller Abgrenzungsbemühungen der DDR und mancher Rückschläge begannen sich die – auch von Egon Bahr zunächst als „schlecht“ qualifizierten – Beziehungen allmählich zu intensivieren. Indikator für deren Intensivierung war zum Beispiel das Verhalten der sowjetischen Führung, die Anfang der 1970er-Jahre bei der DDR-Führung noch eine gewisse Flexibilität im Umgang mit der Bundesrepublik angemahnt hatte und deshalb in Bonn zeitweilig als potenzielle Hilfe betrachtet wurde, Zugeständnisse von Ost-Berlin im deutsch-deutschen Verhältnis zu erreichen. In Moskau waren jedoch bald Argwohn und Skepsis im Hinblick auf die deutsch-deutschen Beziehungen gewachsen. Im Mai 1978 besuchte der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko – auf der Rückreise von Bonn nach Moskau – Ost-Berlin, um Honecker und der SED-Führung in aller Form die Sorge des Kreml im Hinblick auf den großen Strom von West-Besuchern in der DDR, die zunehmende Ost-West-Kommunikation, die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik u. a. durch ansteigende Verschuldung und die Gefahr der ideologischen Erosion und des Vordringens nationaler Gedanken zu warnen.8 Gromyko sprach bezogen auf das vorhergehende Jahr von acht Millionen Besuchern aus der Bundesrepublik in der DDR, von 35 Millionen Telefon-Gesprächen, von 25 Millionen Briefen und 30 Millionen Päckchen. Gromyko und der Kreml sahen die Entstehung und Virulenz antisozialistischer nationaler Strömungen. Ein Teil der Bevölkerung sei schon vergiftet. Doch dürfe „die Seele“ des Landes nicht an den Westen verkauft werden. – Honecker verteidigte daraufhin die deutsch-deutsche Politik, die auch vom Kreml bejaht worden war; er behauptete, die politischen und ideologischen Implikationen der Politik im Griff zu haben und versicherte, die SED-Führung unterschätze keineswegs die Ziele des westdeutschen Imperialismus und werde wachsam den Sozialismus verteidigen.9 Schon bald sollte jedoch deutlich werden, dass die Sowjetunion offensichtlich nicht in der Lage war, der DDR bei ihren ökonomischen Problemen zu helfen.

Aufs Ganze gesehen mag man die Auswirkung der deutsch-deutschen Politik auf die nationale Frage seit 1972 partiell als ambivalent bezeichnen. Einerseits intensivierten sich die Beziehungen – ungeachtet auch des Regierungswechsels in Bonn 1982 – weiter, andererseits wirkte die normative Kraft der Zweistaatlichkeit weiter, wozu auch der vielfältig unternommene Versuch beitrug, die Folgen des Zweiten Weltkrieges historisch einzuordnen.10 So begannen breitere Strömungen in der Bundesrepublik die Idee der staatlichen Einheit der Nation zu relativieren. Im wissenschaftlichen Raum wurde über Bi-Nationalisierungsprozesse diskutiert. Ein postnationales Denken gewann hier an Boden.11 Dieses förderte die Annahme, dass nicht nur in der Bundesrepublik ein Verfassungspatriotismus entstanden sei, sondern sich auch ein analoges besonderes Staatsbewusstsein in der DDR herausgebildet haben müsse. Unterschätzt wurde dabei nicht nur die Attraktivität des Westens für beträchtliche Teile der DDR-Bevölkerung, sondern auch der Tatbestand, dass die universalistischen Prinzipien der Menschen- und Bürgerrechte in Krisensituationen die Staatsgrenzen relativieren konnten und diese sich zusammen mit anderen Interessen durchaus im Sinne einer Wiederkehr der Idee der Nation als Realisierung eigener Rechte und Wünsche materialisieren konnten. So war die Idee der Nation, die sich eben unterschiedlich definieren lässt, nicht so tot, wie viele meinten. Dies galt insbesondere für die DDR – auch wenn nur wenige aus den oppositionellen Gruppen der 1980er-Jahre ein vereinigtes Deutschland forderten und die nationale Frage auch hier nur eine nachgeordnete Rolle spielte.12

Helmut Kohl hatte in seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 lapidar erklärt: „Der deutsche Nationalstaat ist zerbrochen.“ Mit der doppelten Museumsgründung – der Gründung des Hauses der Geschichte in Bonn und des Deutschen Historischen Museums in Berlin – versuchte er, diesem Tatbestand Rechnung zu tragen. Die Wiedervereinigung spielte auch im Vokabular des Kanzlers Kohl während der 1980er-Jahre lange Zeit keine Rolle.13 Beim Besuch Honeckers in Bonn 1987 erschien in der Tischrede Kanzler Kohls die Wiederherstellung der staatlichen Einheit zwar immer noch als Leitbild. Doch entwickelte sich eine Renaissance der Idee der Wiederherstellung der Einheit nicht aus abstrakter nationaler Propaganda, sondern unterschwellig aus der Krise der DDR, die sich im Laufe der 1980er-Jahre verschärfte – auch durch die nicht erfüllten Hoffnungen nach Honeckers Bonn-Besuch, der äußerlich der Höhepunkt der Politik Honeckers und der SED war – und im Herbst 1989 in ihr finales Stadium trat, in dem breite Massen der Bevölkerung der DDR – weniger die Oppositionsgruppen, die teilweise eine reformierte DDR anstrebten – in der deutschen Vereinigung eine Lösungsperspektive für sich sahen, was von der Politik in Bonn, u. a. durch Kohls 10-Punkte-Plan, und dann auch von sich neu formierenden oppositionellen Kräften in der DDR, von der SDP und noch entschiedener von der Allianz für Deutschland, aufgegriffen wurde.14

Die Wirkungen der deutsch-deutschen Beziehungen auf das SED-System und auf die politische Kultur der Bundesrepublik

Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972 bis 1989 waren tatsächlich besonderer Art. Gewiss hatten beide Seiten Vorteile davon und doch war ihre Rolle unterschiedlich. Auf der einen Seite stand die deutlich größere und erfolgreichere Bundesrepublik mit einer parlamentarischen Demokratie, einer offenen Gesellschaft und einer sozialstaatlich begrenzten kapitalistischen Marktwirtschaft, auf der anderen Seite eine Parteidiktatur mit marxistisch-leninistischer Ideologie, einer durchherrschten, doch keineswegs hermetisch abschließbaren Organisationsgesellschaft und einer Zentralverwaltungswirtschaft, die zunehmend in eine Phase der Stagnation eintrat. Auf diesem Hintergrund sind die Asymmetrien, Spezifika und Schwierigkeiten im Verhältnis beider Gesellschaften zu sehen, die durch eine gemeinsame Geschichte, übergreifende Faktoren wie die Kirchen, insbesondere die Evangelische Kirche,15 verbunden waren und die – etwa in der internationalen Krise seit 1979 – durch ihre Regierungen feststellten, dass sie, ungeachtet aller Gegensätze, doch auch gemeinsame Interessen hatten.16

Insbesondere Helmut Schmidt und teilweise auch Erich Honecker, obgleich dessen Spielräume ungleich kleiner waren als die des westdeutschen Bundeskanzlers, haben in den Jahren 1979 bis 1982 versucht, das deutsch-deutsche Verhältnis von dem neuen Kalten Krieg abzukoppeln – Schmidt hat sich sogar bemüht, die mangelnde Sprachfähigkeit der Supermächte zu überwinden. Nach dem Regierungswechsel 1982 haben Außenminister Genscher, in Kontinuität zur Politik der vorhergehenden Regierung, und partiell auch Helmut Kohl versucht, diese Linie fortzusetzen.

Die Beziehungen waren freilich in den 1970er- und teilweise in den 1980er-Jahren durch ständige, außerordentlich zähe Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten geprägt. Verhandelt wurde eigentlich immer – und vielfach gab es dabei Stillstand und Rückschläge – über den Telefon- und Postverkehr, über Verkehrsfragen, etwa über den Straßenbau, zum Beispiel über den Bau einer Autobahn Berlin-Hamburg, über die Binnenschifffahrt, über den Reiseverkehr von West nach Ost und von Ost nach West, über Transitpauschalen, über Zahlungsverkehr, über Sportbeziehungen, über ein Kulturabkommen, über den Mindestumtausch bei Besuchen der DDR, über den Handel, den Freikauf von Häftlingen,17 die Familienzusammenführung und Ähnliches, über Swingregelungen und über die Gewährung von Krediten (und ihre Garantie durch die Bundesregierung).

Mehrfach wurden Pakete geschnürt, die Zugeständnisse beider Seiten verbanden. Die Bundesrepublik setzte ihre wirtschaftliche Stärke ein, um bei der DDR Zugeständnisse zu erreichen, bei humanitären Bemühungen, zur Ausweitung des Reiseverkehrs usw. Die Einfädelungen der Milliardenkredite durch Franz-Josef Strauß hatte insofern eine neue Qualität, als die DDR danach frei über Devisen verfügen konnte und dies nicht mit festen anderen Verabredungen verknüpft war. Allerdings wurden im zeitlichen Kontext die Selbstschussanlagen an der Grenze abgebaut, was als Zugeständnis an die Bundesrepublik zu betrachten ist. Zweifellos haben der Handel, die recht großzügige Honorierung von Leistungen (wie die Gewährung von Transit) oder die Milliardenkredite zur Stabilisierung der DDR und des SED-Regimes beigetragen, allerdings tendenziell auch zu wachsender Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik geführt.

Die DDR hatte ein besonderes Interesse an den wirtschaftlichen Beziehungen und an westlicher Valuta. Gleichzeitig versuchte sie, bestimmte Ziele durchzusetzen wie eine von der Bundesrepublik unabhängige Staatsbürgerschaft der DDR, die Aufstockung der besonderen Vertretungen zu Botschaften – die Anerkennungsfrage war auch nach dem Grundlagenvertrag für die DDR nicht erledigt –, die Auflösung der Erfassungsstelle in Salzgitter (die, auf Vorschlag von Willy Brandt eingerichtet, seit 1961 das Unrecht in der DDR zu dokumentieren suchte) und die Neufestlegung des Grenzverlaufs, insbesondere an der Elbe. Ihre Druckmittel waren Stellschrauben im Hinblick auf den Reiseverkehr, insbesondere die Höhe des Zwangsumtauschs samt Ausnahmeregelungen, Reiseerlaubnisse für DDR-Bürger u. a.

Problematisch für das SED-System war, dass die Bundesrepublik und ihre Gesellschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren immer stärker zur Referenzgesellschaft der DDR wurde, was Letztere in den Augen vieler DDR-Bürgerinnen und Bürger in schlechtem Licht erscheinen ließ. Eine gewisse Öffnung war zudem der Preis, den die DDR für die Entspannungspolitik und ihre internationale Anerkennung zahlen musste. Die West-Journalisten, die durchweg die Veränderungen durch den Grundlagenvertrag im deutsch-deutschen Verhältnis positiv einschätzten, berichteten professionell über die Verhältnisse, auch Probleme der DDR und der SED-Politik, was immer wieder zu Konflikten, zu Ausweisungen von West-Journalisten usw. führte.18 Politik und Gesellschaft der DDR ließen sich nicht mehr abschließen, was dann von der sich allmählich herausbildenden, zunächst noch sehr kleinen Opposition genutzt wurde. Der Ausbau der Staatssicherheit konnte auf die Dauer die frühere Abtrennung der DDR von der Kommunikation mit der Bundesrepublik nicht mehr wiederherstellen.

Mit der Neuen Ostpolitik, den Ostverträgen, dem Grundlagenvertrag und den Folgeabkommen verblasste das alte Feindbild Bundesrepublik immer weiter. Als in den 1980er-Jahren Kohl und Genscher die pragmatische Politik der sozial-liberalen Vorgängerregierung fortsetzten, hatten auch die CDU/ CSU und selbst der militante Antikommunist Franz-Josef Strauß als Feindbild ausgedient. Und die SPD-SED-Gespräche auf Parteiebene ließen erkennen, dass es auch in einer Zeit verschärfter sicherheitspolitischer Spannungen gemeinsame Interessen an der Abrüstung in Mitteleuropa gab, wie sie etwa in den Vorschlägen über eine chemie- oder eine atomwaffenfreie Zone deutlich wurden. Schließlich erklärte sich die SED im sogenannten Streitpapier, das die Grundwertekommission der SPD mit einer Kommission des ZK der SED ausgehandelt hatte, sogar bereit, angesichts gemeinsamer Sicherheitsinteressen den Streit der Ideologien bestimmten Regeln zu unterwerfen und dabei im eigenen Land die freie Diskussion zuzulassen, was sie freilich dann nicht durchhalten konnte.19

Für die Bundesrepublik hatte die Neue Ostpolitik keine vergleichbaren innenpolitischen Folgen. Die Neue Ostpolitik führte für einige Jahre zu einem gewissen Interesse im Westen an der DDR, doch war die DDR für die meisten Bürger nicht wirklich interessant. Lediglich kleine Minderheiten hatten in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren ein positiveres Bild der DDR, das dabei teilweise als Projektionsfläche linker Ideen fungierte. Allerdings waren die Beziehungen zur DDR im Bonner Politikbetrieb nicht unwichtig, wie die zahlreichen Politikerbesuche, gerade auch der Ministerpräsidenten bzw. Spitzenkandidaten auf der Länderebene in der DDR zeigen.20 Erich Honecker und die SED-Führung versuchten im Übrigen hier und da durchaus auf die Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, etwa zu Wahlkampfzeiten einzuwirken, wobei sie eine gewisse Tendenz hatten, die Kräfte zu unterstützen, die die Entspannungspolitik hauptsächlich trugen – die Sozialdemokraten. Doch entwickelte sich dann auch das Verhältnis zur Regierung Kohl-Genscher gut. So war der Besuch Honeckers in der Bundesrepublik 1987 für die DDR-Führung zweifellos ein großer Erfolg ihrer Politik gegenüber der Bundesrepublik.21 Realiter verdeckte er jedoch die innere Aushöhlung der SED-Diktatur, die in den 1970er-Jahren begonnen hatte.

Was die West-Arbeit der SED in der Bundesrepublik anging, so bedeutete die Veränderung der Beziehungen seit Anfang der 1970er-Jahre keinen Einschnitt. Die Bundesrepublik war immer eine offene Gesellschaft, die der SED und der Stasi Einflussmöglichkeiten gab. Die Abschwächung des traditionellen Antikommunismus und die Entstehung eines Anti-Antikommunismus schuf keine prinzipiell neue Konstellation, auch wenn kommunistische Gruppen zeitweilig einen gewissen Einfluss auf Teile der außerparlamentarischen Opposition und der Friedensbewegung gewannen. Hubertus Knabes These von der „unterwanderten Republik“ erscheint aufs Ganze gesehen – so die vorherrschende Einschätzung der Zeithistorie – überzogen.22 Zwar spielte die westdeutsche Friedensbewegung durch die Vernetzung verschiedener Alternativbewegungen bei der Herausbildung alternativer Milieus und der Formierung der Grünen als Partei eine Rolle, doch noch bedeutsamer war die unabhängige Friedensbewegung in der DDR, die geradezu als Nukleus der neuen Oppositionsbewegung betrachtet werden kann – sie sollte im Herbst 1989 in der DDR eine zentrale Rolle spielen.

Zur internationalen Dimension der deutsch-deutschen Politik

Eines der Motive für die Neue Ostpolitik war die seit Mitte der 1960er-Jahre erkennbare Notwendigkeit für die Bundesrepublik, sich den nach der Doppelkrise 1961/62 teilweise durchsetzenden Entspannungstendenzen anzupassen. Die Neue Ostpolitik war dann jedoch – so wird man die neuere Diskussion zusammenfassen können – mehr als eine bloße Anpassung. Sie wurde zu einer wesentlichen Komponente im Ost-West-Verhältnis. Die Politik der Bundesrepublik – auch wenn sie zunächst von der oppositionellen CDU/CSU heftigst bekämpft wurde – entwickelte sich zum wesentlichen Promotor der West-Ost-Verständigung, die das Verhältnis der Bundesrepublik zur Sowjetunion und zu den anderen Staaten des Warschauer Paktes erheblich verbesserte und zugleich auch das Gewicht der Bundesrepublik im Westen – ungeachtet ihrer nie zur Disposition stehenden Verankerung in der Europäischen Gemeinschaft und in der Nato – deutlich erhöht hat.23

Weithin unstrittig ist zudem, dass der KSZE-Prozess ohne die Neue Ostpolitik und die aus ihr resultierenden Verträge nahezu undenkbar war. Der KSZE-Prozess lässt sich geradezu als Multilateralisierung der Neuen Ostpolitik begreifen. Er hat zum Abbau von Feindbildern durch vertrauensbildende Maßnahmen beigetragen, wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert und – durch Verabschiedung des sogenannten Korbs III – die Geltung der Menschen- und Bürgerrechte zur gemeinsamen europäischen Grundlage erklärt, womit ein wesentlicher Referenzrahmen für oppositionelles Verhalten entstand.24 Auch wenn die Helsinki-Folgekonferenzen – angesichts der Eintrübung des Verhältnisses der Supermächte – nur bedingt erfolgreich waren, so ist doch mit der KSZE ein gesamteuropäischer Rahmen geschaffen worden, der das Denken über die Blöcke hinaus förderte und in den 1980er-Jahren verhinderte, dass die Verhältnisse der 1950er- und 1960er-Jahre in Europa wiederkehrten.

In den frühen 1980er-Jahren haben sich die beiden deutschen Staaten zwar ein Stück weit abgekoppelt von der bei den Supermächten erkennbaren Tendenz zur konfrontativen Politik. Doch gelang es Kanzler Helmut Schmidt nicht wirklich, den zunehmend unbeweglichen Breschnew und den neuen amerikanischen Präsidenten Reagan, der die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnet hatte und der These von der Führbarkeit eines atomaren Krieges in Europa nicht entschieden widersprach, zur Fortsetzung einer Politik der Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzungen und zur Verständigung über die Mittelstreckenwaffen zu bewegen – dafür reichte das Gewicht der Bundesrepublik letztlich nicht aus.25 Die Verhältnisse veränderten sich jedoch seit Mitte des Jahrzehnts mit dem Machtantritt Michail Gorbatschows wieder im Sinne eines Ausgleichs der Supermächte. Auch Reagan begann seine Politik zu modifizieren. Seine Berliner Rede von 1987 mit der Aufforderung an Gorbatschow, die Mauer niederzureißen, erschien allerdings vielen Zeitgenossen immer noch als reine Propaganda-Aktion. Doch ist die spätere These, dass Reagan den Abbau der Mauer erzwungen habe, letztlich – so jedenfalls die vorherrschende Sicht der Zeithistoriker – eine Legende.26 Zutreffend ist: Es entwickelten sich nun umfassende Abrüstungsgespräche, die zu einer doppelten Nulllösung bei den Mittelstreckenwaffen führten, wie von Kanzler Schmidt u. a. durch den Nato-Doppelbeschluss angestrebt.

Durch die Politik Gorbatschows, die die Breschnew-Doktrin aufgab, wurde nicht nur Entspannungspolitik in Europa wieder möglich, sondern begann auch eine neue Phase in Osteuropa, die teils reformkommunistische Strömungen, teils oppositionelle Bewegungen in den Vordergrund treten ließ. Beides spielte 1989/90 eine herausragende Rolle.

Die Entstehung von Oppositionsbewegungen und die Entspannungspolitik

Zweifellos veränderte die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre das Klima in Europa und erleichterte in Osteuropa die Entstehung von Dissidenz und Opposition. Diese gewannen auch deshalb an Einfluss, weil die Entwicklung der kommunistischen Regime stagnierte, ihre Länder in der technologischen Entwicklung zurückfielen (marxistisch gesprochen: Offensichtlich widersprach die Produktivkraftentwicklung den Produktionsverhältnissen), die Bindekraft der Ideologie abnahm und sich in den Gesellschaften selbstständiges Handeln zu regen begann. Ereignisse wie die Wahl des polnischen Kardinals Karol Wojtyla zum Papst förderten 1980/81 in Polen die Entstehung der Gewerkschaft Solidarność, einer Massenbewegung unabhängig von der kommunistischen Partei – ein unerhörter Vorgang.

Obgleich die Entspannungspolitik die Entstehung von Dissidenz und Opposition gefördert hatte, haben die Protagonisten dieser Ostpolitik die Dissidenten- und Oppositionsbewegung zurückhaltend, teilweise mit einiger Skepsis betrachtet.27 Dabei spielte eine gewisse Rolle, dass in dieser Bewegung keineswegs per se demokratische Haltungen vorherrschten, sondern auch manche rückwärtsgewandte und nationalistische Vorstellungen anzutreffen waren. Bezogen auf Solidarność war aus westlicher Perspektive freilich ungleich entscheidender die Furcht vor einer sowjetischen Intervention in Polen, vor einem möglichen Blutvergießen und einem damit verbundenen schweren Rückschlag für die Politik der Zusammenarbeit und Entspannung in Europa, von der insbesondere die beiden deutschen Staaten profitierten.

In der Erinnerung wirkten in diesem Zusammenhang die Erfahrungen des 17. Juni 1953, des Ungarn-Aufstandes 1956 und des Prager Frühlings 1968 nach, die alle durch Intervention sowjetischer Truppen beendet wurden. Derartige Geschehnisse konnte man nicht wollen. Andererseits war man – dies gilt auch für die Urheber der Neuen Ostpolitik – nicht bereit, sich mit den kommunistischen Systemen und ihrer Repressionspolitik abzufinden. Man hoffte deshalb auf eine Reform der kommunistischen Regime, auf ihre – wie es anfangs hieß – „Transformation“. In den 1970er- und 1980er-Jahren hegten Willy Brandt und andere sozialdemokratische Entspannungspolitiker zeitweilig die Hoffnung, dass der Eurokommunismus zum Wandel des Kommunismus insgesamt beitragen könne.28

In der DDR war aus der Sicht des Westens eine Solidarność vergleichbare Oppositionsbewegung in den 1980er-Jahren nicht erkennbar. Allerdings entstanden auch hier oppositionelle Gruppen im Kontext oder in Anlehnung an die Evangelische Kirche in der DDR, mit der vornehmlich einige Grüne und wenige Sozialdemokraten den Kontakt suchten. Die oppositionellen Gruppen, die sich schrittweise eine eigene Öffentlichkeit schufen, wurden im Westen zunächst nur bedingt als politischer Faktor wahrgenommen. Eine teilweise selbstständige Rolle spielte erkennbar die Evangelische Kirche in der DDR, die von den evangelischen Kirchen in Westdeutschland nach wie vor unterstützt wurde.29 An Synoden in der DDR nahmen einige westdeutsche Politiker mit protestantischem Hintergrund wie Erhard Eppler, Jürgen Schmude und Johannes Rau teil.

Dass sich aus der unabhängigen Friedensbewegung unter dem Dach der Kirche Gruppen entwickelten, die sich für die Realisierung von Bürgerrechten und ökologischen Zielen einsetzten, wurde durch die Berichterstattung der Westmedien, insbesondere anlässlich von Geschehnissen wie der Aktion gegen die Umweltpolitik der Zionskirche oder der Rosa-Luxemburg-Demonstration, durchaus bekannt; sie fanden jedoch vor dem Herbst 1989 keine große Beachtung und führten nicht zu einer grundlegenden Veränderung des DDR-Bildes. Allgemein wurde von einer Stabilität der DDR ausgegangen, auch wenn Botschaftsflüchtlinge und ähnliche Phänomene nachdenklich hätten stimmen müssen.

Die Umwälzung 1989/90 als ein multikausales Geschehen

Die Umwälzung in der DDR und in Ostmitteleuropa 1989/90 war zweifellos ein multikausales Geschehen, dessen konkrete sich teilweise überlagernde Teilprozesse hier nicht zu erörtern sind. Bei den tieferen Ursachen hat man sicherlich vorrangig die nicht nur wirtschaftlich bedingte Krise der kommunistischen Systeme zu nennen, die durch die Politik konservativer kommunistischer Regime verschärft wurde. Doch selbst die reformkommunistische Politik in Ungarn und in der Sowjetunion konnte die Krise keineswegs lösen – im Gegenteil, sie trug sogar ganz entscheidend zum Untergang der kommunistischen Systeme bei. Insofern spielte der Reformkommunismus, auf den die Protagonisten der Entspannungspolitik gehofft hatten, 1989/90 eine wesentliche – wenn auch nicht die erwartete – Rolle bei der meist evolutionären Überwindung der kommunistischen Systeme.

Die Oppositionsgruppen im Osten haben zweifellos von der Entspannungspolitik und dem Abbau von Feindbildern, von der Intensivierung der Kommunikation mit dem Westen und der Berichterstattung der West-Medien, profitiert. Auch die Adaption internationaler Protestformen ist mit zu sehen.30 Doch im Kern erwuchsen sie aus Prozessen und Entwicklungen in der DDR und den anderen osteuropäischen Ländern, wobei die Charta 77 und mehr noch Solidarność eine Vorbildfunktion für Teile der Opposition in der DDR hatten. Insgesamt gesehen ist der transnationale Charakter der Epochenwende hervorzuheben.31

Bedeutsam jedoch ist auch die internationale Konstellation, an deren Entstehung die Entspannungspolitik und nicht zuletzt die Neue Ostpolitik beteiligt waren. Gorbatschows Politik, die die kommunistischen Systeme in der DDR und in Ostmitteleuropa nicht mehr garantieren wollte und konnte, ist ohne die vorhergehende Entspannungspolitik kaum vorstellbar. Sie ließ in Verbindung mit der neuen Verständigung der Supermächte eine offene Situation entstehen, in der die Krise der kommunistischen Systeme und das Wirken oppositioneller Gruppen dem Selbstbestimmungswillen politische Räume verschaffte, in denen die Umwälzung und im deutschen Fall auch die Überwindung der Teilung möglich wurde. Die Lösung der deutschen Frage erschien lange unrealistisch, sie war jedoch durch die Neue Ostpolitik, durch Zusammenarbeit und menschliche Erleichterungen, in einem mühsamen Prozess nicht nur offengehalten, sondern auch entscheidend gefördert worden.

Hermann Wentker

1972 – Ein Schlüsseljahr für die innerdeutschen Beziehungen

Von der Entspannungspolitik zum Grundlagenvertrag im Kontext internationaler Politik

Die Unterzeichnung des Grundlagenvertrags am 21. Dezember 1972 war zweifellos für die innerdeutschen Beziehungen von zentraler Bedeutung. Damit endete eine Ära, in der keine offiziellen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten bestanden, da die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruchs eine Anerkennung der DDR ablehnte, die DDR hingegen auf einer solchen Anerkennung bestand. Da es ihr an innerer Legitimität mangelte – die Ostdeutschen hätten in ihrer großen Mehrheit der Bundesrepublik den Vorzug gegeben –, musste sie sich von dem westdeutschen Konkurrenten abgrenzen und auf der völkerrechtlichen Anerkennung bestehen. Wie konnte es vor diesem Hintergrund zum Grundlagenvertrag kommen? In welchen weltpolitischen und deutschlandpolitischen Kontext ist dieser einzuordnen? Und welche Bedeutung hatte er für die beiden deutschen Staaten und für die deutsch-deutschen Beziehungen?

Internationale und deutsch-deutsche Voraussetzungen

Die entscheidende Voraussetzung für den Grundlagenvertrag war der allmähliche Wandel der Weltpolitik von der Konfrontation zur Entspannung seit der Kuba-Krise. Damals hatten die amerikanische und die sowjetische Führung am Abgrund eines drohenden atomaren Schlagabtauschs gestanden und waren zu der Einsicht gekommen, dass trotz des weltanschaulichen und machtpolitischen Gegensatzes eine solche Situation nicht wieder eintreten dürfe. Beide Supermächte setzten daher in zunehmendem Maße auf Entspannung und waren darauf bedacht, beim Umgang mit Atomwaffen zu gemeinsamen Regeln zu gelangen und Krisenherde im hochgerüsteten Mitteleuropa zu entschärfen. Durch diese der allgemeinen Friedenswahrung dienende Politik sah die Bundesregierung freilich ihre auf Wiedervereinigung zielende Deutschlandpolitik gefährdet: Entspannung war für sie nur im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit denkbar. Indem die Erhaltung des Friedens nun Vorrang erhielt, sah sie nicht nur ihr Wiedervereinigungskonzept, sondern auch ihre Sicherheit bedroht, da eine Verständigung der Supermächte über ihren Kopf hinweg nicht mehr ausgeschlossen schien. Bonn stand daher in den 1960er-Jahren vor der schwierigen Aufgabe, sich einerseits an die Détente anzupassen, andererseits aber die Option auf Wiedervereinigung nicht aufzugeben.

Der DDR befand sich in einer schwierigeren Position als die Bundesrepublik. Denn sie verfügte aufgrund ihrer existenziellen Abhängigkeit von der Sowjetunion, ihrer gegenüber der Bundesrepublik schwächeren Wirtschaftskraft und mangelnden inneren Legitimität über ein weitaus geringeres Gewicht in der Weltpolitik. Zudem sah sie sich als ostdeutscher Teilstaat durch ihren westdeutschen Konkurrenten permanent herausgefordert und suchte ihr Heil in einem strikten Abgrenzungskurs. Durch Ostabhängigkeit auf der einen und Westabgrenzung auf der anderen Seite war der außenpolitische Handlungsspielraum Ost-Berlins sehr viel stärker eingeschränkt als der Bonns.1 Insbesondere die Aufrechterhaltung des ostdeutschen Abgrenzungskurses war gefährdet, wenn die Sowjetunion, von der sie existenziell abhing, die Konfrontation nicht nur mit den USA, sondern auch mit der Bundesrepublik aufgab.

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