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Banana Yoshimoto

Der See

Roman

Aus dem Japanischen von
Thomas Eggenberg

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2005 bei

Foil Co., Ltd., Tokyo,

erschienenen Originalausgabe: ›Mizuumi‹

Copyright © 2005 by Banana Yoshimoto

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2014 im Diogenes Verlag

Die deutschen Übersetzungsrechte

mit der Genehmigung von Banana Yoshimoto,

unter Vermittlung von Zipango, S.L.

Umschlagfoto von Hauke Dressler (Ausschnitt)

Copyright © Hauke Dressler / LOOK-foto

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24320 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60423 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

 

 

 

[5] In jener Nacht, als Nakajima zum ersten Mal bei mir blieb, träumte ich von meiner verstorbenen Mutter. Vielleicht, weil ich lange nicht mehr mit jemandem im selben Zimmer geschlafen hatte?

Das letzte Mal war es in Mamas Krankenzimmer gewesen, zusammen mit Papa.

Wenn ich aufwachte, war ich erleichtert, dass Mama noch atmete. Dann fiel ich wieder in meinen Dämmerschlaf. Der Fußboden war für ein Krankenhaus ungewöhnlich schmutzig. Während draußen im Flur die Schritte geschäftiger Krankenschwestern hallten, blieb mein Blick an den Staubflocken hängen, die sich in immer den gleichen Ecken sammeln. Ich war umgeben von sterbenskranken Menschen. Aber eigenartig, dachte ich, hier fühle ich mich geborgener als draußen.

Für Menschen, die ganz am Ende angelangt sind, hat ein Ort wie dieser auf seine Art etwas Tröstliches.

 Seit ihrem Tod hatte ich erstmals von Mama geträumt.

[6] Bisher war sie in meinen Träumen nur flüchtig und schemenhaft aufgetaucht, doch diesmal war es wie ein richtiges Wiedersehen nach langer, langer Zeit.

Bei einer Toten klingt das vielleicht komisch, aber so empfand ich es.

Meine Mutter – das waren zwei Seelen in einer Brust. Es kam mir wirklich vor, als gingen bei ihr zwei vollkommen verschiedene Wesen ein und aus.

Einerseits war sie eine fröhliche, den Verlockungen des Hier und Jetzt zugetane lebenserfahrene Frau, der man nichts vormachen konnte; andererseits konnte sie sehr zart und zerbrechlich sein, wie eine Blume, die beim geringsten Lufthauch hin- und herschwang und zu knicken drohte.

Ihre fragile Seite verbarg Mama jedoch meistens. Sie zeigte sich lieber als temperamentvolle Frau, die gerne ihre Gäste verwöhnte. Zahlreiche Liebschaften, Komplimente und überhaupt das Gefühl, geschätzt zu werden – das war sozusagen der Nährboden, auf dem ihr offenes, großherziges Wesen gedieh.

Mama hatte mich zur Welt gebracht, ohne Papa zu heiraten.

Papa war der Chef einer kleinen Handelsfirma in einer kleinen Stadt in der Nähe von Tōkyō, während Mama, die zwar keine Schönheitskönigin, aber [7] schon ziemlich hübsch war, im Vergnügungsviertel derselben Kleinstadt eine Bar für die gehobene Kundschaft führte.

Ein Kollege hatte ihn eines Abends dorthin eingeladen, und es verschlug ihm den Atem – es war Liebe auf den ersten Blick. Auch Mama war von Papa angetan. So sehr, dass sie nach der Arbeit nicht direkt nach Hause, sondern mit Papa in ein koreanisches Restaurant ging, wo die beiden in ausgelassener Stimmung ein Gericht nach dem andern bestellten. Am nächsten und übernächsten Abend kam Papa wieder in Mamas Lokal, und dann jeden Abend, auch bei Regen und Schnee. Zwei Monate später waren die beiden ein unzertrennliches Liebespaar. Wenn man bedenkt, wie sie sich kennengelernt hatten, war das doch ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung.

Als ich sie fragte, warum sie denn damals so gelacht hätten, sagten Mama und Papa wie aus einem Mund: »In jene Kneipe hatte sich offenbar noch nie ein Japaner verirrt. Wir entdeckten sie durch Zufall, als wir spätnachts durch die Straßen streiften, in der Hoffnung, noch etwas zu essen zu finden. Die Speisekarte konnten wir nicht lesen, also bestellten wir aufs Geratewohl, und da bekamen wir Sachen serviert, die ich noch nie gesehen hatte, extrem scharf, und auch mit der Menge hatten wir nicht [8] gerechnet… Es war lustig, wir amüsierten uns bestens.«

In Wahrheit wird es aber wohl etwas anderes gewesen sein. Ich denke, sie waren einfach deshalb so vergnügt, weil sie wie durch ein Wunder miteinander in diesem Lokal saßen und ihr Glück nicht fassen konnten. Ihrem gesellschaftlichen Ansehen mochte die Beziehung nicht gerade förderlich gewesen sein, doch in meinen Augen waren sie ein reizendes Paar. Sie stritten sich zwar oft, aber immer nur wegen Kleinigkeiten, wie Kinder.

Da Mama unbedingt ein Kind haben wollte, ging es nicht lange, bis sie mit mir schwanger war. Offiziell geheiratet haben Mama und Papa aber nie – was ungewöhnlich ist, denn Papa hatte weder eine Frau noch sonst ein Kind. Bis heute ist das so geblieben.

Papas Verwandtschaft stemmte sich mit allen Mitteln gegen seine Beziehung zu Mama, aber Papa stand zu ihr, und so blieb ich, was ich von Anfang an war: ein uneheliches Kind.

Anders als viele denken mögen, fühlte ich mich dabei keineswegs unglücklich, denn Papa war oft bei uns zu Hause und kümmerte sich sehr um mich.

Aber ich kann nicht verhehlen, dass mir die ganze Situation dennoch sehr zu schaffen machte.

Die Stadt, die familiären Umstände – alles war [9] mir zuwider. Ich hätte am liebsten einfach nur vergessen, wer und wo ich war. So kam mir sogar Mamas Tod entgegen: Ich brauchte nie wieder in jene Stadt zurückzukehren. Oder allenfalls, um Papa zu besuchen. Das Apartment, in dem ich mit Mama gewohnt hatte, drohte zum Zankapfel der Verwandtschaft zu werden. Deshalb verkaufte Papa es schnell und überwies mir das Geld auf mein Bankkonto. Es kam mir vor wie eine Art Schmerzensgeld, was mir überhaupt nicht behagte, aber es war zugleich auch Mamas Erbe. Mit dem Verkauf der Wohnung waren alle meine Spuren getilgt, meine Verbindungen zu jener Stadt gekappt. Ich trauerte meiner Vergangenheit nicht nach.

Wenn ich Mama tagsüber in ihrer schummrigen Bar besuchte, wirkte alles eher trostlos und schal, vom Vorabend hing noch immer der Geruch von Tabak und Alkohol in der Luft. Auch Mamas elegante Kleider, die immer frisch aus der Reinigung kamen, sahen bei Tag auf einmal schäbig aus.

Die ganze Stadt fühlte sich so an.

Selbst jetzt, wo ich fast dreißig bin, ist das nicht anders.

Mit den Jahren bin ich Mama immer ähnlicher geworden. Das letzte Mal, als ich Papa traf, schaute er mich wie hypnotisiert an. Tränen traten ihm in die Augen.

[10] »Es sollte doch erst so richtig beginnen und schön werden, unser Leben im Alter… Wir wollten zusammen da- und dorthin fahren, sogar eine Weltreise machen… Hätten wir gewusst, was auf uns zukommt, wären wir nicht so verdammt zögerlich gewesen, ich hätte nicht immer wieder meine Arbeit vorgeschoben oder Mama ihre Bar. Wir hätten einfach losziehen müssen, ohne Wenn und Aber.«

Papa war ein geselliger und trinkfreudiger Mensch, der früher bestimmt ein ausschweifendes Leben geführt hatte, aber ich glaube, seit er mit Mama zusammen war, hatte er sich nie mehr an eine andere Frau herangemacht.

Besessen von der Vorstellung, ein rechter Kerl müsse eben so sein, spielt er zwar gern den Frauenhelden, aber der Schein trügt; in Wahrheit ist er ein bäurischer, noch dazu glatzköpfiger Typ aus der Provinz, an dem man beim besten Willen nichts Aufregendes finden kann. Absolut uncool. Ein echter Frauenheld würde sich angesichts dieser tolpatschigen und unfreiwillig komischen Erscheinung kringeln.

Papa war der Sohn eines begüterten Grundbesitzers, und die Familie ging selbstverständlich davon aus, dass er die Geschäfte seines Vaters fortführte. Obwohl er sich davon beengt fühlte, hatte er offenbar nie versucht, aus diesem Leben voller Zwänge [11] und Pflichten auszubrechen. Als er die Handelsfirma übernahm, gab er sich Mühe, wenigstens der Form nach alles so zu machen, wie man es von ihm erwartete. Das spürte jeder, der ihn sah.

Ich glaube, Mama war in seinem Leben die einzige Blume, die den Duft von Freiheit verströmte.

Papa achtete stets darauf, alles Störende von seiner gemeinsamen Welt mit Mama fernzuhalten. Wenn er von der Arbeit zurückkehrte, erwachten seine Lebensgeister: Er reparierte das Hausdach oder kümmerte sich um den Garten, ging mit Mama essen, half mir bei den Hausaufgaben, brachte mein Fahrrad wieder auf Vordermann – als wäre dieses private Dasein seine wahre Bestimmung, sein wahres Glück.

Aber die beiden hatten nicht das Bedürfnis, der Provinzstadt den Rücken zu kehren und anderswo ein unbeschwertes, neues Leben aufzubauen, das ihnen alle Freiheiten ließ. Nein, sie blieben da, und gerade in diesem hartnäckigen Ausharren bestand der eigentliche Sinn ihrer Beziehung.

Jetzt fürchtet sich Papa wohl am meisten davor, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will und die Beziehung abbricht, ein für allemal.

Na ja, wahrscheinlich fürchtet er sich nicht wirklich, sondern denkt nur mit einem gewissen Unbehagen an diese Möglichkeit. Dass er vielleicht eines [12] Tages von mir hören muss: »Unsere Familiennamen waren ja schon immer verschieden, und von heute an sehe ich es auch so. Das heißt, wir sind zwei Fremde, die nichts miteinander zu tun haben.«

Hin und wieder lässt Papa ohne besonderen Anlass Geld auf mein Bankkonto überweisen, oder er schickt mir Lebensmittel. Dann rufe ich ihn jeweils an und bedanke mich. Und merke an seiner Art zu reden, wie sehr ihn die Angelegenheit beschäftigt.

»Du bist doch schließlich meine leibliche Tochter, oder etwa nicht?«, sagt er wie beschwörend.

Ich nehme das Geld ja gerne an, allerdings habe ich Papa gegenüber noch nie deutlich gesagt, dass unsere Beziehung auch in Zukunft so sein wird wie bisher; ich sehe keinen Anlass, das zum Thema zu machen. Papa wird immer mein Papa bleiben, auch wenn er sich – anders als ich – wegen seiner Anflüge von schlechtem Gewissen viele Gedanken über unsere Beziehung macht.

Im Notfall würde ich Papa sogar noch um mehr Unterstützung bitten. Wenn er mir allerdings mit einer größeren Anschaffung helfen würde, bestünde die Gefahr, dass irgendwelche selbsternannten Freunde davon Wind bekommen und plötzlich bei mir aufkreuzen, um zu sehen, was es Neues gibt. Nein danke, lieber nicht.

Alles, was mich mit jener Stadt verband, war mir [13] lästig. Ich wollte so wenig wie möglich damit zu tun haben.

Papa und Mama dagegen waren wie mit Fußketten an die Stadt gefesselt.

Aus diesem Grund war mir vor allem eines wichtig: jederzeit abhauen zu können. Es wäre fatal gewesen, wenn ich mich in einen netten Jungen verliebt hätte, der womöglich auf die Idee gekommen wäre, ein prunkvolles Hochzeitsfest auszurichten, und wenn ich dann auch noch schwanger geworden wäre. So dachte ich damals, und während meine Schulkameradinnen sich munter drauflosverliebten, bewahrte ich, ungeachtet der Märchenhochzeiten in meinen Träumen, einen kühlen Kopf. Und kaum hatte ich die Oberschule hinter mir, zog ich fluchtartig von zu Hause aus, unter dem Vorwand, in Tōkyō studieren zu wollen.

Ich spürte es mit meinem ganzen Körper, leise, aber untrüglich: wie es ist, wenn man geschnitten wird. Ich war zwar Tochter einer lokalen Größe, letztlich aber doch nur das uneheliche Kind einer Bardame. Dieses Bewusstsein prägte mich stark.

Nachdem ich in Tōkyō eine Kunststudentin unter vielen geworden war, fühlte ich mich leicht und befreit, als wäre ich aus großer Tiefe wieder an die Oberfläche getaucht, um Luft zu holen.

[14] Ich werde mein Leben lang nicht vergessen, wie all diese von schamloser Neugier und Neid getriebenen Leute mit aufgesetzter Trauermiene in den Sarg meiner Mutter lugten und nur der Form halber schwarze Trauerkleidung trugen. Ich wäre damals zu allem bereit gewesen, sogar zu einem Strip, um diese vor Verlogenheit triefende Atmosphäre zu zerstören.

Doch all diese falschen Blicke konnten Mamas Körper nichts anhaben, unbehelligt davon wurde er im Feuer geläutert. Nie hätte ich gedacht, dass man so erleichtert sein kann, wenn die eigene Mutter von den Flammen verzehrt wird. Mamas Kleidung, ihre Schönheit im ewigen Schlaf, die fürstliche Trauerfeier, für die Papa keinen Aufwand gescheut hatte – die Neugier der versammelten Gäste wurde mit Sicherheit hinreichend befriedigt.

Als nächste Angehörige begrüßte ich die Gäste, versuchte zu lächeln, wischte mir hie und da eine Träne aus den Augen, und meine wahren Gefühle – Spott und Verachtung, die in meinem Herzen brodelten – nahm niemand wahr.

Wie sollten all diese Leute, die sich so krampfhaft darum bemühten, Mamas Leben außerhalb der gesellschaftlichen Norm am Ende doch noch ins Korsett der Angepassten zu zwängen, wie sollten diese Leute ein reines, unverdorbenes Herz verstehen können?

[15] Zum Glück waren da auch ein paar Frauen aus der Nachbarschaft und die wenigen Freundinnen von Mama, die aufrichtig um sie trauerten; sie trösteten mich und tranken mit mir zusammen einen warmen Tee. Das Leben hat immer auch seine schönen Momente. Wenn etwas Furchtbares passiert, empfindet man solche Momente umso intensiver. So ist es leider. Ohne dass ein Wort nötig gewesen wäre, sagten mir die Augen dieser Frauen: »Wir wissen schon um deinen Kummer.«

Dennoch, als ich Papa sah, wie er sich schluchzend an den Sarg klammerte, dachte ich: Verdammt. Während es für Papa nichts anderes gab als Mama, dachte ich unruhig und zerstreut an tausenderlei Dinge.

Angesichts dieser großen, einmaligen Liebe (was allerdings nur die beiden so sahen) wirkte ich wie ein kleines, durch den Tod seiner Mutter verängstigtes Kind. Vielleicht zeigte sich darin aber auch nur der Unterschied zwischen einem liebenden Mann und einer Tochter.

Ach ja, meine Mama, die mir in jener Nacht im Traum erschien, war zart wie eine Blume gewesen. Meine geliebte Mama, verschämt hinter einer Wolke tanzender Blütenblätter.

Sie sagte es kurz vor ihrem Ende, im [16] Krankenzimmer, wo ich neben ihr wachte. Kraft zum Aufstehen hatte sie schon lange nicht mehr, aber sie lag gern halbaufgerichtet im Bett. Ein mir vertrauter Anblick, und so sah ich sie auch im Traum.

Ein angenehmes Lüftchen wehte zum Fenster herein, das Licht flimmerte, und in ihrem mädchenhaften rosa Pyjama sah Mama aus, als wäre sie in einen zauberhaften Schleier gehüllt. Die Blumen am Bett schienen sich in Mamas strahlendem Licht aufzulösen.

Es war so intensiv, dass ich wegschauen musste und den Staub auf dem Fensterrahmen fixierte.

Da sagte Mama: »Also, Chihiro-chan, wenn du nur einmal etwas falsch machst, dann wirst du, so wie ich, dein ganzes Leben lang keine Ruhe mehr finden, wirst immer wie auf Nadeln sitzen. Gereizt sein, aufbrausen, herumschimpfen – und das heißt letztlich nichts anderes, als dass man sich von anderen abhängig fühlt, dass man nicht frei ist.«

Genau, in Wahrheit war Mama nämlich keine Frau, die sich gern mit Leuten stritt, bei ihren Stammgästen aber demütig den Kopf neigte, um das Geschäft nicht zu verderben; die Papa am Telefon heftige Vorwürfe machte, weil er wegen der Arbeit nicht in die Bar kommen konnte, und sagte: »Was kann ich auch anderes erwarten, ich bin ja nicht mal deine rechtmäßige Ehefrau«, und sich dann mit ihrem [17] Schicksal arrangierte – nein, so war sie nicht. Mama war in Wahrheit keine keck leuchtende Feldblume, sondern vielmehr ein Pflänzchen, das still und leise, von niemandem außer Vögeln oder Gemsen beäugt, auf einem hohen Felsen blühte. Ein fast unsichtbares, ungemein zartes Geschöpf.

Papa ist das sicher nicht verborgen geblieben, dachte ich. Auf seine Weise wird er das wahre Wesen von Mama schon erkannt haben.

Wenn Mama unbeschwert mit Papa zusammen war, wirkte sie wie ein kleines, unschuldiges Mädchen. Ihr beide wart wie Kinder. Aber die Welt draußen hat euch nicht in Ruhe gelassen… Und ihr selbst hattet nicht den Mut oder die Kraft, ihr den Rücken zu kehren und nur füreinander da zu sein… Das ersehnte Leben habt ihr immer wieder aufgeschoben und stattdessen eines gelebt, das ihr gar nicht wolltet. Und auf einmal war es zu spät.

Obwohl ich das nur für mich dachte – im Traum ist ja alles möglich –, nickte Mama. Und sagte: »Natürlich hab ich es mir anders gewünscht. In Wahrheit sind mir Schminke und Schönheitsoperationen zuwider, ich hasse Krankenhäuser, hasse Frauen, die sich operieren lassen, um hübscher auszusehen. Es war eine Qual. Wenn die Leute davon schwärmen, meint man irgendwann, es auch tun zu müssen. Deshalb hab ich es getan. Nur deshalb. Ich hatte jedes [18] Mal Bammel davor und habe versucht, meine Angst zu überspielen. Das Herz hat mir weh getan.

Ich wollte zu Papa ja gar nicht immer so giftig sein. Ich hatte Angst, er würde weggehen, und hab mich verzweifelt an ihn geklammert. Ich wusste schon, dass ich auch anders hätte reagieren können als mit meiner ewigen Wut, aber… Plötzlich merkt man, es geht nicht mehr anders, es gibt kein Zurück. Die Angst schürt noch mehr Angst, das Getue wird immer theatralischer, weil es mehr Wirkung zeigt… Ich konnte mich selber nicht mehr stoppen. Und in dieser Verfassung bin ich dann leider gestorben.

Übrigens, wenn man von hier aus das große Ganze überblickt, wird einem vieles klar. Nicht dass man jetzt dies und jenes bereut, sondern dass es völlig unnötig war, sich Sorgen zu machen. Das fällt einem dann wie Schuppen von den Augen. Deshalb…«

Was Mama »hier« nannte – war das der Himmel, das Paradies? Existiert das Paradies wirklich?, fragte ich mich, doch Mama lächelte nur bedeutungsvoll und fuhr fort: »Deine eitle Mama hat sich vor viel zu vielen Dingen gefürchtet, ich musste mich irgendwie schützen und tat es auf meine Weise. Ich konnte nicht anders, verstehst du? Aber du darfst nicht den gleichen Fehler machen. Halte deinen Bauchnabel warm, bewahre Ruhe und Gelassenheit, [19] damit das Blut dir nicht in den Kopf steigt, versuch einfach, wie eine Blume zu leben. Das ist dein gutes Recht. Das schaffst du ganz bestimmt, ja?«

Mamas Augen strahlten. Stimmt, hat sie das nicht früher, in meiner Kindheit zu mir gesagt? Halte deinen Bauchnabel warm… Als die Erinnerung in mir hochstieg, wie Mama mich jedes Mal, wenn ich beim Schlafen die Decke weggestrampelt hatte und halbentblößt dalag, mit diesen Worten wieder zudeckte, kamen mir sogar im Traum die Tränen.

O ja, schlaftrunken und mit schweren Augenlidern hatte ich oft mitten in der Nacht gespürt, wie Mama mir zärtlich über den Bauchnabel strich, während sie meinen verrutschten Pyjama zurechtzupfte und die Decke bis unter mein Kinn zog.

Liebe ist, wenn jemand denkt: Ich möchte diesen Menschen berühren, möchte ihm Gutes tun. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Auf falsche Liebe reagiert mein Körper nicht, ich kann mich auf ihn verlassen. Sollte »gute Erziehung« letztlich nicht genau das bewirken?

Mama, wie gern würde ich dich noch einmal sehen. Dich berühren, dich riechen…

Sogar dieses Lokal, das tagsüber so schal wirkte… Jetzt, wo es nicht mehr existiert, denke ich mit Wehmut daran zurück.

Auch wenn es alles andere als ein heimeliger Ort [20] war – es war das Nest, in dem ich flügge geworden bin. Mamas ureigener Geruch durchströmte hier alles. Klar, diese Welt war bedrückend, aber irgendwie auch behaglich. Allerdings dauerte es dann nicht sehr lange, bis ich ausflog… Obwohl ich doch noch ein junges Vögelchen war, das den Schutz seiner Eltern brauchte.

Im Traum wurden Schmerz und Trauer und das Gefühl von Hilflosigkeit immer größer, drohten mich zu erdrücken. Als ich aus dem Schlaf schreckte, liefen Tränen über meine Wangen.

Verwirrt schaute ich mich um – und sah Nakajima neben mir liegen. Er schlief tief und fest. Ein nackter Arm auf der Tatamimatte. Bei dem Anblick fröstelte es mich. Ich richtete die Decke so, dass sie auch seinen Arm bedeckte.

Die Wirklichkeit hatte mich wieder, und schon war der Traum nicht mehr so schlimm. Mama ruhte friedlich und still in meinem Herzen, während jene Stadt, in der ich aufgewachsen war, nicht die geringste Sehnsucht in mir zu wecken vermochte.

Warum habe ich mich nur im Traum plötzlich wieder wie als Kind gefühlt?, dachte ich irritiert. Wahrscheinlich gibt es irgendwo in mir einen wunden Punkt, der noch immer an der Vergangenheit hängt, sie nicht vergessen kann oder will… Die Frage nach dem Warum machte mir bewusst, wie [21] sehr ich bereits wieder in der Gegenwart angekommen war.

Nur den Ort, der jetzt nicht mehr existiert, vermisse ich ein wenig. Möchte manchmal dahin zurück, möchte wieder Kind sein… Die Erinnerung lässt einen nicht los.

Sonntagmorgen. Dieses stille Glück, während eine seichte Fernsehshow auf dem Bildschirm flimmert, Papa vor sich hin döst und Mama in der Küche Leckereien aus aller Welt für den Brunch zubereitet – wenn ich jetzt daran zurückdenke: Wie zauberhaft waren doch diese müßigen, friedlichen Momente… Die beiden hatten dann etwas ungemein Zartes, es fühlte sich an, als würden sie, erschöpft vom Alltag, ihre Seelen baumeln lassen. Und ich, noch ein Kind, lag einfach in meinem Bett und genoss die wunderbare Stimmung.

Um das noch einmal erleben zu können, würde ich sogar in jene Stadt zurückkehren.

Da bemerkte ich wieder den schlafenden Nakajima neben mir. Nanu? Warum ist er hier? Wenn es ein Traum ist, dann nur nicht aufwachen!

Ach so, jetzt kam es mir in den Sinn. Nakajima wollte doch über Nacht bei mir bleiben…

Langsam kehrte die Erinnerung zurück.

Als mir auch unser Sex in den Sinn kam, leidenschaftlich und todernst, war es mir fast ein wenig [22] peinlich. So wie wir hier in unseren Pyjamas nebeneinanderschliefen, hätte man meinen können, es wäre nichts zwischen uns gewesen. Ich hatte das Gefühl, schon ewig mit ihm zusammen zu sein; dennoch überraschte mich Nakajimas Anwesenheit. Ich war verwirrt und spürte zugleich eine große Ruhe. Seltsam. Hatte ich vielleicht deswegen Mama im Traum gesehen?

Dass ein so eigenartiger Mensch bei mir übernachtete, war doch ziemlich ungewöhnlich.

Ich hatte gedacht, Nakajima würde es kaum längere Zeit mit jemandem im selben Zimmer oder in derselben Wohnung aushalten. Zwar hatte ich schon ein Mädchen bei ihm gesehen, das möglicherweise seine Freundin war, aber es sah nicht so aus, als wären die beiden fest zusammen.

Am Abend zuvor hatte Nakajima unter Tränen gesagt, wenn er es jetzt nicht tue, dann würde er vielleicht sein ganzes Leben lang unfähig sein, mit jemandem Sex zu haben. Ach komm, übertreib doch nicht, entgegnete ich, trotzdem bekam ich Mitleid mit ihm und wurde selbst ganz traurig und sanftmütig.

Und was geschah dann? Haben wir es am Ende wirklich gemacht? Oder doch nicht?

Wir hatten nicht getrunken, dennoch konnte ich mich nur lückenhaft erinnern. Was auch immer, [23] sagte ich mir, ist doch egal. Hauptsache, er ist noch da.

Dann sah ich im Geist plötzlich wieder Mutter vor mir.

Ach, was für ein trauriger, aber schöner Traum, dachte ich.

Es war jene Mama, die ich so gern sehen wollte, die sich mir aber nur selten zeigte.

Mama war stolz gewesen, hatte immer geradeheraus ihre Meinung gesagt und mit ihrem Lachen alles weggefegt; daher passierte es auch mir, dass ich Mutters andere, verborgene Natur beinahe vergaß. Denn als ich noch klein war, wenn manchmal ein sanftes, zärtliches Lächeln über ihr Gesicht huschte, wenn wir in unserem Futon die kalten Füße aneinander wärmten oder in ausgelassener Stimmung einen Morgenspaziergang machten und unsere Spuren im unberührten, tiefen Schnee hinterließen – in solchen Momenten offenbarte sich Mamas wahres Wesen, sie erschien mir wie ein kleines Mädchen, das in Wahrheit gar nie groß geworden war und für immer so bleiben würde.

Gedankenverloren schaute ich zu, wie sich in dem dunklen Zimmer Nakajimas Brust hob und senkte, und je länger ich schaute, desto gelöster, entspannter fühlte ich mich, als würde ich hypnotisiert.

[24] Nakajima, Nakajima… wie sonderbar er doch aussah.

Seine länglichen Nasenlöcher, die sehr zarten Handgelenke und feingliedrigen Finger, der weitgeöffnete Mund, der Nacken, der in mir das Gefühl von Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit weckte, die kindlichen Pausbacken, das glatte Haar, das ihm so weit ins Gesicht fiel, dass sich die schmalen Augen mit den langen Wimpern darunter zu verstecken schienen – all das musste man einfach mögen. Und ich dachte, wenn irgendwann der Tag kommen sollte, an dem Nakajima zu atmen aufhört und sich in einen Stern verwandelt (der Gedanke ist nichts Ungewöhnliches, aber hier passt er perfekt; ja die Vorstellung, dass er zu einem Stern wird, passt fast zu gut, wenn ich bedenke, wie weit er sich vom Trubel des Lebens entfernt hat), wird meine Seele sicher bei Nakajima sein. Ich fühlte dabei weniger Liebe, sondern vielmehr eine Art Verwunderung, vermischt mit Erschrecken. Deshalb schaute ich ihn nur an, ohne innerlich ganz mit ihm eins werden zu können.

Auch heute ist er da, ist nicht weggegangen. Und meine Gefühle ihm gegenüber sind auch heute nicht anders!

Jeder Tag mit Nakajima, diesem rätselhaften Nakajima, von dem ich mich unwiderstehlich angezogen fühlte, war frisch und neu. Durch ihn war mein [25] Leben aus den Fugen geraten. Vorher war ich immer nur mit mir beschäftigt gewesen. Hatte mit aller Kraft versucht, meinen Weg zu finden; hatte eine Idealvorstellung meiner Zukunft im Kopf, der ich mich Schritt für Schritt annäherte; hatte mich darauf konzentriert, von jener Stadt wegzukommen – je weiter, desto besser – und ja keine Wurzeln zu schlagen. Doch Nakajima war so stark, dass es mich umhaute und ich seinem Bann nicht mehr entkam.

Für uns existierte die Zeit nicht. Wir waren vom Rest der Welt isoliert. Ich hatte das Gefühl, als wären wir vollkommen aus der Zeit gefallen, alterslos.

Manchmal dachte ich sogar: Ist das vielleicht das Glück?

Die Zeit steht still. Ohne ein Verlangen nach sonst etwas zu spüren, ruhten meine Augen auf Nakajima. Ja, ich fühlte mich wirklich glücklich. Wunschlos glücklich.

Ich hatte ein relativ gewöhnliches Leben hinter mir. Das heißt, in einer Provinzstadt, wo jede Kleinigkeit zu Geschichten und Gerüchten führt, reichte es schon, ein uneheliches Kind zu sein. Dabei war ich doch ein Mensch wie jeder andere auch.

Im Gegensatz zu Nakajima. Kein Wunder, dass seine Art mich manchmal überforderte und der Reflex, die Flucht zu ergreifen, meine Beziehung zu ihm stets mitprägte.

[26] In seiner Vergangenheit musste er etwas Schreckliches erlebt haben, doch wir hatten nie darüber gesprochen.