MAGAZIN

für

Abenteuer-, Reise- und

Unterhaltungsliteratur

 

Kompendium Band 3

 

 

 

Herausgegeben von Thomas Ostwald

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © by Steve Mayer, 2022

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Rechte der im Innern abgebildeten Cover liegen bei den jeweiligen Rechteinhabern.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

MAGAZIN für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur 

Vorwort 

Gedanken zur Geschichte des phantastischen Reiseromans bis Jules Verne 

Auf Zelluloid und Papier – Die Abenteuer des Harry Piel 

Zu „Freuden und Leiden eines Vielgelesenen“: 

Ludwig Patsch zum Gedenken 

Der Mahdi 

Ich über mich 

Nicht nur Atala – Chateaubriand, Dichter und Politiker 

Männer hinter Masken 

Der Nestor der Karl-May-Forschung gestorben 

Die „Perle von Deidesheim“ 

„Abenteuer mit Schwert und Magie“ 

Der Schlesier „Sir John Retcliffe“ 

Das ‚sanfte‘ Abenteuer 

Die Menge lechzt nach Poesie, nach bewegtem Leben 

Dr. Jörg Weigand porträtiert: G.F. Unger 

Faksimile eines seltenen Gerstäcker-Textes 

Von Tarzan bis Rolf Torring 

Marginalien zur Sun-Koh-Neuausgabe 

Ernst F. Löhndorff 

Ergänzung zur Kurt Faber Bibliographie 

 

Das Buch

 

 

Als im Juli 1974 das erste Heft dieser Zeitschrift mit bibliographischen Angaben zu den Werken Karl Mays erschien, konnten wir an einen derartigen Erfolg nicht denken. Rasch war die erste, bescheidene Auflage vergriffen, ständige Neuauflagen mussten erfolgen. Das gab uns Mut, diese Zeitschrift weiter auszubauen, neben den rein bibliographischen Angaben folgten bald Artikel über die Autoren der Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur. Einen breiten Rahmen nahmen auch die ‚klassischen Heftromane‘ ein, insbesondere aus der Vorkriegszeit. Informationen über die Autoren, die Verlage und die verschiedenen Ausgaben gehörten bald regelmäßig zu den Themen.

Ende 1976 erfolgte dann die Umbenennung in „MAGAZIN für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur“. Für die Herausgeber war die ständige Mitarbeit zahlreicher Leser Ansporn, Niveau und Ausstattung der Zeitschrift ständig zu verbessern. Karl May – das Phänomen, das noch heute große Leserscharen begeistert, behielt im MAGAZIN stets Vorrang bei den Themen.

Dieses Kompendium ist eine leicht überarbeitete Neuauflage einzelner Ausgaben dieses Magazins, das zwischen 1974 und Anfang der 1990er Jahre erschien und teilweise antiquarisch kaum noch zu bekommen ist.

 

 

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MAGAZIN für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur

 

Band 3

 

Herausgegeben von Thomas Ostwald

 

 

Vorwort

 

Die vorliegende Auswahl meiner Zeitschrift „MAGAZIN für Abenteuer, Reise- und Unterhaltungsliteratur enthält einige der interessantesten Artikel aus der Frühzeit der Zeitschrift.

Als im Juli 1974 das erste Heft dieser Zeitschrift mit bibliographischen Angaben zu den Werken Karl Mays erschien, konnten wir an einen derartigen Erfolg nicht denken. Rasch war die erste, bescheidene Auflage vergriffen, ständige Neuauflagen mussten erfolgen. Das gab uns Mut, diese Zeitschrift weiter auszubauen, neben den rein bibliographischen Angaben folgten bald Artikel über die einzelnen Schriftsteller von Sammlern und Kennern der Materie. Mit zunehmender Abonnentenzahl konnte auch die technische Ausstattung verbessert werden, ein regelmäßiges Erscheinen war gesichert.

Ende 1976 erfolgte dann die Umbenennung in „MAGAZIN für Abenteuer, Reise und Unterhaltungsliteratur“, um den mehr und mehr als Kunden hinzukommenden Buchhandlungen eine Auslage in den Geschäftsräumen zu erleichtern. Aus der einstigen Kunden-Service-Zeitschrift war eine eigenständige Zeitschrift geworden, die dann durch das Presse-Grosso zu beziehen war. Für die Herausgeber war die ständige Mitarbeit zahlreicher Leser Ansporn, Niveau und Ausstattung der Zeitschrift ständig zu verbessern. Sollte dies nicht immer gelungen sein, bitten wir zu bedenken: keine Zeitschrift kann immer nur gute Artikel veröffentlichen. Dass wir nicht kritiklos neue Methoden in der Karl-May-Forschung hingenommen haben, hat uns nicht nur Freunde geschaffen, bringt uns aber auch nicht davon ab, sachliche Gegenartikel zu veröffentlichen. Karl May – das Phänomen, das noch heute große Leserscharen begeistert, wird in unserem Magazin immer eine Sonderstellung einnehmen. Die ständig neu hinzukommenden Abonnenten äußerten oft den Wunsch nach früheren Ausgaben unserer Zeitschrift. Mit diesem Sammelband wollen wir diesem Wunsch entsprechen – 1978 so wie auch heute mit der vorliegenden Auswahl.

Wir hatten das große Glück, einige der frühen Karl-May-Forscher wie Amand von Ocorozy, Rudolf Beissel, Ludwig Patsch oder Fritz Maschke erleben zu dürfen oder doch interessante Berichte aus ihren Forschungen zu erhalten, die sich zum Teil hier wiederfinden.

Aber auch umfangreiche Arbeiten über Armin O. Huber und Friedrich Armand Strubberg, über Heftromanserien und klassische Abenteuerromane wurden veröffentlicht und fanden in diesem Kompendium wieder ihre Aufnahme.

 

Thomas Ostwald, Braunschweig 2022

Gedanken zur Geschichte des phantastischen Reiseromans bis Jules Verne

 

Thomas Ostwald

 

Nach einem Kapitel aus dem Buch von Popp, Jules Verne

Mit freundlicher Genehmigung des Hartleben-Verlages

 

Zum Stichwort „phantastischer Reiseroman“ fallt dem Leser meistens Jules Verne ein, der die phantastische Reiseliteratur zu neuen Höhen und damit verbundenen Ehren geführt hat. Seine „voyages extraordinaires“ begeistern heute wie damals die Leser, und seine geschilderten „Erfindungen“ waren bekanntermaßen weit der Zeit voraus. Was hat sich der Altmeister der Science fiction nicht alles erdacht: U-Boot mit geheimnisvollem Antrieb (atomar?), Laserkanonen, Hubschrauber, Raketenflüge zum Mond, schwimmende künstliche Inseln, mechanisch gesteuert, das Fernsehen, rollende Gehsteige und etliches mehr. Elektrisches Licht ist in den meisten seiner Erzählungen schon eine Selbstverständlichkeit – und das zu einer Zeit, in der gerade die ersten Versuche mit Beleuchtungskörpern gemacht wurden. 1842 wurden in Paris die ersten Versuche zur Straßenbeleuchtung durch den Mechaniker Joseph Deleuil aufgestellt, zwei Jahre später beleuchtete er die Place de la Concorde, 1877 brannten die ersten Straßenlampen (Bogenlampen) in Paris, 1882 wurden der Potsdamer Platz und die Leipziger Straße in Berlin beleuchtet. Kein Wunder, dass eine ständig wachsende Leserschar begeistert jede Neuerscheinung des zu seiner Zeit beliebtesten französischen Schriftstellers aufnahm. Und doch finden sich die phantastischen Erfindungen nur in einem kleinen Teil seiner Erzählungen. Ende 1978 wird meine Jules-Verne-Biographie erscheinen, in der ich ausführlich auf Einzelheiten eingehe und auch jeweils die beschriebenen „Erfindungen“ in den technischen Rahmen der Zeit und der gegebenen realen Möglichkeiten stelle.

Wer aber waren die vielen Vorläufer, die mittlerweile – und meist zu Unrecht – im Schatten des „großen Meisters“ stehen? Abenteuer- und Reiseromane sind schon so alt wie die Literatur überhaupt, darf man wohl ohne Übertreibung behaupten. Zur Blütezeit des Rittertums, im 12. und 13. Jahrhundert, finden wir die Fahrten und Abenteuer tapferer Ritter in poetische Formen gekleidet. Erinnert sei hier nur an die Sagenkreise um Karl den Großen und seine Recken in Deutschland und um den keltischen König Artus und seine Ritter der Tafelrunde. Mit dem Niedergang des Rittertums nahmen sich Spott und Parodie dieser Dichtform an, so z. B. Rabelais (1533-1552) mit seinem großartigen Werk „Gargantua und Pantagruel“. Nur noch einmal lässt sich von einer Auferstehung des Ritterromans sprechen. Der von Spanien her kommende „Amadis von Gallien“ fand auch in Frankreich begeisterte Aufnahme – und auch sofort sein karikierendes Gegenstück: Cervantes „Don Quijote“.

Im 16. Jahrhundert erhielt der Reiseroman neue Impulse durch die zahlreichen Seefahrer- und Entdeckerberichte. Jetzt wurden Länder entdeckt, von denen bislang kein Dichter geträumt hatte, und sofort setzte die Phantasie ein, um die Realität mit bunten Traumbildern zu vermischen und so neue ferne Traumziele zu schaffen. Die Hoffnung der damaligen Menschen gipfelte in einem niemals zu verwirklichenden Utopia, dem Land, in dem Gerechtigkeit, Glück und ewiger Frieden währten. Tatsächlich fanden sich auch sofort durchaus ernst gemeinte Berichte über dieses „Utopia“ in der Literatur. Der Lordkanzler Thomas Morus berichtete 1517 in seinem lateinisch geschriebenen Buch „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“, dass der weitgereiste Raphael Hythlodee tatsächlich dieses Land gefunden hätte. Nach seiner Vorstellung würde weit draußen im Weltmeer eine Insel liegen, auf der Utopus, der ebenso tapfere wie einsichtige Feldherr, ein Reich gegründet hätte, das vollständig auf kommunistischer Grundlage beruht. Ausführlich schilderte Morus diesen Idealstaat, der sich von seinen Ideen her eng an Platons „Staat“ lehnt. Morus sollte nur zu bald erfahren, wie weit seine Welt noch von jenem phantastischen Utopia entfernt war: Er wurde 1535 hingerichtet. Sein Roman von der Insel Utopia (=Nirgendwo) war praktisch der erste sozialistische Staatsroman, der zugleich den vielen Nachfolgern und -ahmern den gemeinsamen Namen gab. Der bekannteste Nachfolger Morus’ wurde Thomas Campanella aus Kalabrien (1568-1639), ein Dominikaner, der aufgrund seiner freien Ansichten sehr unter der spanischen Inquisition zu leiden hatte. Campanella musste 26 Jahre im Kerker schmachten. Hier entstanden neben 40 zum größten Teil verlorengegangenen Werken seine „Civitas Solis“, 1623 in Frankfurt erschienen. Auch er schildert ähnlich Morus’ in seinem „Sonnenstaat“ einen Idealstaat. Aus seiner Staatsverfassung spricht deutlich die Sehnsucht des unschuldig Verfolgten. Sein Idealstaat lehnt sich ebenfalls an Platons Staat an, hat aber durch zahlreiche universale naturphilosophische Gedankengänge viele Denkanstöße vermittelt.

Campanella gehörte schon einer moderneren Zeit an: Kopernikus, Kepler und Galilei hatten der Auffassung widersprochen, dass sich alles um die Erde drehe und vielmehr alle Planeten unseres Systems um die Sonne in Bewegung angeordnet und damit das alte Ptolemäische Weltbild, das die Welt als Mittelpunkt der Schöpfung ansah, umgestoßen. Man kann sich nur schwer vorstellen, was diese kühnen Behauptungen für die Menschen damals bedeutet haben mussten. Bislang galt der Mensch als Krone der Schöpfung, die Erde war der Mittelpunkt des Alls. Jetzt sollten die anderen Planeten gleichberechtigt sein – war es da nicht möglich, dass dort ebenfalls ähnliche, vielleicht sogar überlegene Rassen existierten? So entstand zu dieser Zeit erstmals die Frage nach der Bewohnbarkeit der anderen Planeten und nach anderen Intelligenzen – eine Frage, auf die wir bis heute keine endgültige Antwort gefunden haben.

Damit fanden aber auch die Dichter wieder neue Impulse Für ihre Arbeiten. Wenn Leben auf anderen Planeten existierte – warum sollte nicht dort der ideale Staat herrschen? Welch unendliche Möglichkeiten boten sich jetzt der Phantasie! Es war ein englischer Bischof, der das irdische Paradies auf den Mond legte: John Wilkins in seinem 1638 erschienenen Werk „Entdeckung einer neuen Welt“. Nach seiner Vorstellung war der Mond genauso beschaffen wie unsere Erde, eine Ansicht, die auch Francis Godwin in seinem im gleichen Jahr erschienenen Werk „Der Mann im Monde“ vertrat.

Neben diesen fortschrittsgläubigen Schriftstellern herrschte natürlich auch in weiten Kreisen noch immer die Meinung vor, dass die Erde als einziger bewohnbarer Planet existiere, und dass das Universum nur ein getreues Spiegelbild der Erde und des irdischen Lebens sei. Diese Einstellung vertrat der Jesuitenpater A. Kircher 1656 in seinem Werk „Itinerarium extaticum“.

Der Pater schrieb praktisch ein Gegenstück zu Dantes „Inferno“. Er lässt sich durch alle Herrlichkeiten des Himmels führen und unternimmt eine Reise von einem Planeten zum anderen. Diese Planeten beschrieb er auch, jedoch nicht so, wie sie sich nach dem Stand der damaligen Wissenschaft befinden sollten, sondern so, wie sie nach den Lehren der Astrologie Einfluss auf das Schicksal der Menschen ausüben sollten. So ist bei ihm auf dem Merkur alles lebendig und quecksilbrig, auf der Venus alles lieblich und mild. Sanftes Rosenlicht überstrahlt alles und herrliche Wohlgerüche durchziehen die Luft. Auch auf dem Jupiter ist alles freundlich und hell, auf dem Unglückplanet Mars dagegen alles rau und kriegerisch, brennende Pechströme fließen durch das Land und hüllen es in dichten Rauch und Nebel ein. Den Saturn beschrieb er als weites, ödes Grab.

 

 

Natürlich musste eine derartige Darstellung auch wieder zur Nachahmung reizen. Cyrano de Bergerac (1619-1655) lässt seiner Phantasie in seinen Werken „Die Reise nach dem Mond“ (1656) und „Die Geschichte der Sonnenstaaten“ (1662) freien Lauf. Seine Romane wurden oft als Satiren bezeichnet, obwohl das nicht unbedingt und vorbehaltlos zutrifft. Nach seiner Meinung sind Mond und Sonne bewohnt – allerdings von Wesen, die wenig menschenähnlich sind. Sie laufen auf vier Beinen und ernähren sich nur vom Duft der Speisen. Der Mond wurde von ihnen als Sonnenkolonie besiedelt, denn auch sie kannten bereits Übervölkerungsprobleme aufgrund ihres hohen Lebensalters von über 1000 Jahren. Jeweils die weisesten von ihnen wurden auf die Erde geschickt, wo man sie als Orakel, Nymphen, Genien, Feen, Götter, Lemuren, Manen oder Phantome bezeichnete – in Bezug auf die Theorien der heutigen Zeit („Sie kamen von den Sternen“ usw.) sicherlich nicht uninteressant für uns. Die berühmtesten jedoch waren der Dämon des Sokrates und die Geister der anderen großen Geister, die uns aus der Geschichte bekannt sind …

Cyrano de Bergerac fabulierte zwar sehr frei, aber er griff zugleich in seinen Werken bestehende religiöse und philosophische Lehrmeinungen an. Swift und Voltaire schöpften aus seinen Werken zahlreiche Anregungen.

Als nächster wäre hier der Neffe des großen Corneille zu nennen: Bernard le Bocier de Fontenelle (1657-1757). Er war ständiger Sekretär an der Pariser Akademie und veröffentlichte zahlreiche historische, philosophische und poetische Werke. Er hielt die Planeten alle für bewohnt, wie er in seinen „Unterhaltungen über die Mehrheit der Welten“ (1686) darstellte. Die dort lebenden Menschen haben sich den jeweiligen Verhältnissen angepasst. Seiner Ansicht nach war es auf dem Merkur so heiß, dass die Flüsse aus geschmolzenem Metall bestanden. Die trotzdem dort lebenden Menschen können nur aufgrund der schnellen Rotation des Merkur, durch die Hitze und Kälte sehr schnell abwechseln, die furchtbaren Temperaturen ertragen. Ihr Leben ist jedoch ohne rechten Sinn, ähnlich dem der Bewohner der Venus, sie leben in den Tag hinein wie Kinder. Der Mars kommt bei de Fontenelle schlecht weg, es lohne sich überhaupt nicht, über ihn zu schreiben, und man wisse auch gar nichts von ihm. Weil Jupiter und Saturn so fern der Sonne lägen, wären sie sehr ungemütliche Wohnorte und die dort lebenden Menschen wegen der herrschenden Kälte so träge, dass sie ständig auf dem gleichen Fleck lebten. Auch sein Werk forderte wieder einen anderen Autor zur Satire heraus: Voltaire (1694-1778) verspottete ihn in seinem „Mikromegas“. Dieser Mikromegas ist ein riesenhafter Bewohner des Sirius, der aus seiner Heimat in ferne Welten zieht, um sie kennenzulernen und um zu studieren. Da er sich mit allen physikalischen Gesetzen bestens auskennt, kann er bald mit Kometen, bald mit Sonnenstrahlen reisen und zieht von Stern zu Stern. Dabei führt ihn seine Reise auch durch die Milchstraße in unser Sonnensystem bis zum Saturn. Hier macht er die Bekanntschaft des Zwergen, der als Sekretär an der Akademie angestellt ist und ein immenses Wissen hat. Beide streiten sich bald über die Beschaffenheit der Planeten, und schließlich nimmt ihn Mikromegas auf seiner Reise mit, um ihn zu bekehren. Zunächst führt sie die Reise auf die Ringe und die Monde des Jupiter, dann weiter zum Jupiter und Mars, schließlich landen sie auf der Erde, die ihnen sehr klein erscheint. Zunächst nehmen sie sogar an, sie wäre unbewohnt, dann aber entdecken sie durch Zufall die Menschen, die für sie so winzig sind, dass sie sie für Atome hielten. Verblüfft sind die beiden Weltraumreisenden jedoch über das Wissen dieser kleinen Wesen, die besonders in der Astronomie Bescheid wissen wollen. Als Mikromegas sie über das Wesen der Seele und die Denkvorgänge befragt, antworten ihm die Menschen nur mit allerlei Phrasen und gelehrten philosophischen Aussprüchen, ohne jedoch Konkretes zu wissen. Hohnlachend verlässt Mikromegas diese „vollkommenen Geschöpfe“ wieder.

 

 

Illustration von A. Kubin zu Poes ‚Hans Pfaals Mondfahrt‘

 

Der große Voltaire ist in seiner kurzen Geschichte auf die bekannten Tatsachen der Astronomie eingegangen und nutzte sie geschickt für seine Phantasie. Seine geistreiche Satire ist eine gekonnte Zukunftsgeschichte. Sie ist zugleich die letzte phantastische Reise nach fernen Welten aus dieser Zeit. Natürlich gab es noch zahlreiche wissenschaftlich gehaltene Abhandlungen über das Leben auf anderen Planeten, seit dem 17. Jahrhundert entstand eine Unzahl von Werken. Auch Kant hat sich philosophisch mit dieser Frage beschäftigt, und nach seiner Ansicht ist die Bewohnbarkeit der anderen Welten ein Postulat der reinen Vernunft, denn der Hauptzweck der Natur sei der, zur Betrachtung durch vernunftbegabte Wesen zu dienen, und daraus ergibt sich von selbst, dass die Natur möglichst viele vernünftige Wesen hervorbringt. Viele Dichter nahmen auch an, dass, wenn der Mensch wirklich die „Krone der Schöpfung“ wäre, doch auf .den zahlreichen anderen Planeten zumindest die abgeschiedenen Seelen leben könnten. Zu dieser Auffassung neigte auch Klopstock und A. von Haller sagte: „Die Sterne sind vielleicht ein Sitz verklärter Geister. Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tugend Meister.“

 

 

Immer wieder forderten die phantastischen Reisen auch Nachahmer und Spötter heraus. Im 17. Jahrhundert ist in Deutschland der Leipziger Student Christian Reuter zu erwähnen, der 1696 einen satirischen Reiseroman veröffentlichte: „Schelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande“. Sein Schelmuffsky schilderte dreist und frech die tollsten Lügenabenteuer seiner phantastischen Reisen in einer Art, wie sie erst von Münchhausen würdig fortgesetzt wurde. Die derb erzählten Abenteuer Schelmuffskys entstanden im Karzer der Leipziger Universität, wo Reuter für sein Lustspiel „L’Homnete Femme oder Die ehrliche Frau zu Plissine“ und die darin enthaltenen Verunglimpfungen seiner Wirtsleute büßte. Schelmuffky lügt so stark, trägt so dick auf, dass der satirische Zweck unverkennbar hervortritt: Reuter beabsichtigte die ganzen vorhandenen Reise- und Abenteuerromane und die Gläubigkeit der Leser ad absurdum zu führen. Sein Held erlebt zwar die tollsten Abenteuer, aber sein kleiner Vetter glaubt ihm doch nicht so recht, und so bricht er zu einer zweiten, unglaublichen Reise auf. Im 18. Jahrhundert geriet „Schelmuffsky“ zwar wieder in Vergessenheit, aber die Romantiker entdeckten und lobten ihn wieder neu. Achim von Arnim pries ihn sogar als einen „deutschen Donquichote“.

Zweihundert Jahre nach Thomas Morus versuchte noch einmal ein Engländer, mit seinen Schriften die Zustände in seinem Land zu ändern und seine Mitmenschen auf Missstände hinzuweisen. Es waren allerdings keine „idealen Staaten“, die Jonathan Swift (1667-1745) in seinen beißenden Satiren vorführte. Zunächst verfasste Swift zahlreiche Schmähschriften über politische, soziale und religiöse Missstände in England, ohne jedoch große Beachtung zu erlangen. Dann kam er auf die Idee, seinen Spott in einen phantasievollen Reiseroman zu kleiden, und so erschien im Jahre 1726 sein „Lemuel Gullivers Reisen zu verschiedenen weit entlegenen Völkern der Erde“. Doch hier tat er wieder fast zu viel des Guten: Er verpackte seine Satire, seinen oft schon bösen Spott so geschickt zwischen abenteuerlichen Erlebnissen, dass sein eigentliches Ziel bald vergessen wurde und nur noch die Reiseerlebnisse zählten – und auch aus diesem Grund existieren so zahlreiche Verstümmelungen seines „Gulliver“ als Kinderbücher. Seine Reisen zu den Zwergen und zu den Riesen, nach Lilliput und Brobdingnag, sind inzwischen weltweit populär geworden und beliebt. Wenig bekannt aber sind seine Erzählungen der Reisen nach Laputa, der fliegenden Insel der Naturforscher, die sich nur um ihre Naturwissenschaft kümmern und alles andere für Dummheiten erklären, sowie nach dem Lande der Houyhuhums, der edlen, philosophischen Pferde, die den Menschen für einen Affen halten, der nur die niedrigsten Dienste verrichten kann. Schon Gullivers Name ist ein Wortspiel von „gullible“ = leicht zu täuschen. Swift hat aber nicht nur Missstände in England mit seinem Gulliver aufdecken wollen, sondern zugleich auch die bestehenden phantastischen Reise- und Abenteuerromane mit seinem Werk ironisch nachahmen. Obwohl er natürlich nicht einfach nur eine Nachahmung schuf, gelingt ihm doch zugleich in gewisser Weise eine Satire auf die bekannte Literatur, und zeitweise sind Gullivers Inselabenteuer auch deutlich an Defoe erinnernd. „Die vier Reisen sind nach dem Prinzip der Steigerung angeordnet: Jede macht für Gulliver die Kategorie des Normalen fragwürdiger, jede stört ihn mehr aus seiner ‚anthropozentrischen Behaglichkeit‘ (P. Wolff-Windegg) auf … In Buch I (Die Reise nach Lilliput) finden sich die deutlichsten satirischen Seitenhiebe auf die zeitgenössische englische Politik: Der lilliputanische Schatzkanzler Flimnap etwa ist eine Karikatur des Whig-Politikers Robert Walpole …“

(Kindlers Literatur-Lexikon).

 

 

Erste Buchausgabe mit einem fiktiven Bild des angeblichen Verfassers

Lemuel Gulliver 1726

 

Wo sollte man aber nun eigentlich die beschriebenen „Wunderländer“ suchen, die z.B. Morus und Swift geschildert hatten? Nun, natürlich bleibt das der Phantasie des Lesers überlassen, zumal die Werke zu einer Zeit erschienen, in der noch weite Gebiete unerforscht waren und in jedem Jahr neue Reiseberichte veröffentlicht wurden, die von interessanten Ländern berichteten. So wurde es für den Dichter leicht, von den unglaubwürdigsten und erstaunlichsten Gegenden und Ländern mit größter Glaubwürdigkeit zu erzählen. Durch viele dieser phantastischen Schilderungen zieht sich jedoch seit Ptolemäus schon die Sage von einem rätselhaften Südland.

Man stellte sich oft vor, dass jenseits von Indien, Afrika und Amerika noch ein großer Erdteil existierte, eine riesige Landmasse, die zu den Kontinenten auf der nördlichen Erdhalbkugel das Gleichgewicht halten musste. Die Ausdehnung dieses Erdteils erreichte mitunter phantastische Ausmaße in der Vorstellungskraft der Schriftsteller. Einen Namen hatten viele schon dafür genannt: „Terra Australis incognita“.

Es sollte vom Kap der Stürme bis nach Indien und von dort bis zum Kap Hoorn und weiter nach Afrika reichen.

Im Jahre 1498 umfuhren die Portugiesen das „Kap der Stürme“ und hielten Ausschau nach dem geheimnisvollen Kontinent, ohne ihn jedoch entdecken zu können. Doch das bedeutete keineswegs das Ende der Legende. Jede neue Entdeckung im Indischen oder Pazifischen Ozean wurde sofort als Teil dieses Kontinents bezeichnet. Tatsächlich zeichneten phantasiebegabte Kartographen wie Johann Schöner (1515) und nach ihm Orontius Finäus (1531), später auch Merkator und Ortelius, ringförmig um den Südpol gelagert ein großes Land mit Flüssen und Seen. Dieses Land sollte unermesslich reich sein, alle Schätze der Welt waren dort zu finden. Als der Spanier Mendana auf einer der Inseln bei Neu-Guinea tatsächlich Gold fand, glaubte er, das Goldland Ophir des Königs Salomon entdeckt zu haben. Deshalb nannte er diese Inseln auch Salomon-Inseln. Im Jahre 1606 wurde auf einer der Hebriden-Inseln auch tatsächlich von dem „endlich entdeckten“ Südland feierlich Besitz ergriffen.

Doch die „Entdeckung“ des Südlandes sollte einzig und allein den Dichtern vorbehalten bleiben. Bereits 1676 erschien in Genf ein Buch von Gabriel Foigny in französischer Sprache: „Jakob Sadeurs Abenteuer bei der Entdeckungsreise nach der Terra Australis“. In diesem Werk schilderte der Autor das Südland und seine Bewohner, die staatlichen und religiösen Einrichtungen so ausführlich und geschickt, dass man seine Geschichte lange Zeit hindurch für Wahrheit hielt. In diese Gegenden verlegte auch Swift seine von Gulliver besuchten Länder, und das Land der Pferde sollte sogar ganz in der Nähe von Madagaskar liegen.

Nach diesen „Auswüchsen“ lenkte der phantastische Reiseroman allmählich wieder in ruhigere Bahnen ein, er blieb mehr auf dem Boden einer zumindest glaubwürdigeren „Realität“. Um diese Zeit entstanden nämlich die Robinson-Romane, die schließlich auch zu den phantastischen und seltsamen Reisen gehören. Unter dem Schlagwort „Robinson-Romane“ sind hier Werke zu verstehen, deren Helden entweder völlig allein oder nur in kleinerer Gesellschaft auf eine unbekannte und unbewohnte Insel verschlagen werden, wo sie den ganzen Kulturkampf der Menschheit noch einmal, aber für sich allein durchzukämpfen haben.

Genau genommen ist der erste Robinson, von dem die Literaturgeschichte berichtete, Grimmelshausens „Simplicissimus“. Grimmelshausen (1625-1676) schrieb Reise- und Abenteuergeschichten, denen man noch deutlich die Einwirkung der französischen Abenteuerromane anmerkt. Berühmt machte ihn sein „Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus“, der mit großem Interesse bei seinem Erscheinen 1668 aufgenommen wurde.

Nur kurz zur Erinnerung: Die Abenteuer des Simplicissimus, der als Landstörzer durch die Welt zieht, sind Abbilder aus der schweren Zeit des Dreißigjährigen Krieges und wohl teilweise nach eigenen Erlebnissen des Verfassers geschildert. Auch Simplicissimus erleidet bei einer Reise Schiffbruch und wird auf eine einsame Insel im Osten von Madagaskar verschlagen, also wieder im Bereich des geheimnisvollen Südlandes. Als Einsiedler beschließt er hier sein Leben, der erste Robinson.

Einen besonderen Platz in der Weltliteratur erhielt der Robinson-Roman natürlich durch Defoes „Robinson Crusoe“. Über die Tatsachen und Erlebnisse des Alexander Selkirk, die Defoe zu seinem Roman verarbeitete, hatte bereits Dr. Beissel in unserem Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur Nr. 11 und 12 berichtet. Daran schloss sich in der Nr. 13 ein Bericht über einen Besuch auf der Robinsoninsel an (heute in: Kompendium Band 1).

Wie bereits erwähnt, beruht der Hauptwert des Robinson darin, dass hier an einem Beispiel der ganze Kulturwerdegang der Menschheit geschildert wird. Deshalb hat auch Defoe zahlreiche Nachahmer gefunden, um das pädagogische Prinzip, das unleugbar in seinem Werk liegt, mehr oder weniger geschickt auszunützen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren mehr als hundert verschiedene Robinsonaden erschienen, deren Helden sowohl männlich wie auch weiblich waren, alle Nationalitäten vertraten und allen Konfessionen angehörten. Eine ausführliche Abhandlung über die Robinsonaden soll einmal zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Hier sollen nur die bekanntesten erwähnt werden: Campes „Robinson Crusoe der Jüngere“, Wiß’ „Der schweizerische Robinson“ sowie der „Türkische“-, „Jüdische“- und „Buchbinder-Robinson“.

Einen besonderen Höhepunkt der Robinsonaden bildete der 1731 erschienene Roman von Schnabel, „Die Insel Felsenburg“.

Ehe wir nun zu dem letzten Vorgänger des beliebten französischen Schriftstellers Jules Verne, Edgar Allan Poe, gelangen, sei hier noch ein kurzer Rückblick gestattet. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die schöne Literatur immer der Ausfluss der Zeitereignisse war und die Dichter stets das künstlerisch auswerten wollten, was ihnen im Leben begegnete. So konnten die Ritter- und Abenteuerromane nur zur Zeit des Rittertums entstehen. Wie die Erinnerung und das Andenken an große Zeiten die Ereignisse selbst überleben, so überdauern sie auch in der Literatur. Die Abenteuerromane sind seit jener Zeit unsterblich geworden. Sie haben nur ein neues Gesicht erhalten, je nach den neuen Ereignissen, die im Lauf der Zeit auftraten. Einen besonderen Faktor bildeten dabei zweifellos die Entdeckungen und Erfindungen in der Wissenschaft und Forschung. Auf diese Weise wurden phantastische Reiseschilderungen nach fremden Welten und kaum entdeckten Erdteilen möglich.

Das psychologische Moment spielte in all diesen Erzählungen zumeist eine sehr untergeordnete Rolle, denn große Seelenprobleme waren meistens nicht zu lösen – wenn auch die Sehnsucht nach fernen Ländern aus dem tiefsten Innern entstanden ist.

 

 

Titelseite und Frontispiz der Erstausgabe 1669 

 

Die Motive, die die Schriftsteller bewogen, den Leser auf die seltsamsten Reisen mitzunehmen, waren denkbar verschieden geartet. Ursprünglich veranlasste sie wohl lediglich ihre blühende Phantasie dazu, einmal die Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins vollständig zu vergessen und Zustände zu ersinnen, die einer absoluten Seligkeit möglichst nahe kamen. So wurden die unbesiegbaren Helden geschaffen, die allen Gefahren trotzten und überall, besonders in den schwierigsten Lagen Ehre und Ruhm gewannen. So entstanden auch die ersten Utopien.

Als sich der Horizont menschlichen Denkens durch die Forschungen auf allen Gebieten wesentlich erweiterte, übten bei der Gestaltung der utopischen Romane die Ergebnisse ihren besonderen Einfluss auch auf die Schriftsteller aus. Dadurch wurden diese Ergebnisse wieder einem größeren Kreis zugänglich gemacht. Selbst wenn es sich um ziemlich haltlose Theorien handelte, regten sie doch oft das Interesse an der Astronomie wieder an. Bei der heutigen Beurteilung müssen natürlich andere Maßstäbe gelten, deshalb muss man die frühen Utopien in ihrer Zeit sehen und beurteilen. Ein wesentliches Moment bei der Niederschrift einer Utopie waren sicherlich auch kirchliche und politische Zwänge, die für den Autor so unhaltbar gewesen sind, dass er sich mit seinem Werk in eine bessere Welt flüchtete oder sogar den Weg zu einer besseren Staatsform aufzeigen wollte.

In den Robinsonromanen kommt ein weiteres Motiv dazu, das pädagogische. Nicht nur unterhalten wollen diese Erzählungen von dem abgeschlossenen Leben einzelner Menschen, sie wollen vielmehr zeigen, wie der Mensch allmählich wurde, was er jetzt ist. Der auf den Kulturzustand der wilden Naturvölker zurückversetzte Mensch als Robinson muss sich ohne die modernen Hilfen mit den unvollkommensten Werkzeugen ganz allmählich wieder zu seinem früheren Lebensstandard emporarbeiten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnen wir einem Schriftsteller, der sich in vielen Dingen von seinen Vorgängern wesentlich unterschied. Edgar Allan Poes kurzes Leben (19.1.1807-7.10.1849) war ein ständiger Kampf zwischen Gut und Böse, wie er es in seiner Novelle „William Wilson“, einem Bild seiner eigenen Jugend, schildert. Obwohl er oft Gelegenheit geboten bekam zu einem ruhigen und sorgenfreien Leben, trieb ihn doch sein unruhiger Geist immer wieder erneut in Not und Unglück. Als er endlich durch seine Heirat glaubte, die wahre Ruhe im Familienglück zu finden, wurde ihm dieses durch neidisches Geschick auch wieder entrissen, so dass er krank an Leib und Seele schließlich zusammenbrach. Dieses Leben hat seine Werke stark geprägt, und trotz seines kranken Zustandes sind wirklich unsterbliche Romane entstanden.

Mit der französischen Revolution, die am Ende des 18. Jahrhunderts mit allem Althergebrachten aufräumte, brach auf allen Gebieten ein neues Leben an. Wissenschaft und Kunst schlugen neue, bis dahin unbekannte und unbegangene Bahnen ein und auch auf dem Gebiet der Literatur eröffneten sich völlig neue Wege. In Deutschland war es Goethe, mit dem man die Anfänge einer neuen Literatur datierte, in Frankreich schreibt man den Einfluss Balzac zu. In Amerika verstand es Poe, mit neuen Werten auf ganz eigene Art zu rechnen.

Rousseau hatte „Zurück zur Natur!“ gepredigt, und auf die Natur greift auch Poe in allen seinen Dichtungen zurück. Das soll jedoch nicht heißen, dass alles, was er schrieb, einen wahren, natürlichen Hintergrund haben musste. Vielmehr war das meiste derart phantastisch, dass es niemals Wirklichkeit sein konnte. Aber wie er erzählt, wie er die kleinsten Einzelheiten malt und schildert mit einer peinlichen Genauigkeit und mit einer Sicherheit, wie wir sie erst wieder bei Zola finden, das ist das natürliche, realistische in seinen Schöpfungen. Das beste Beispiel dafür ist wohl seine Novelle „Der Mann in der Menge“, wo er einen alten Mann schildert als „Verkörperung und Dämon des verbrecherischen Instinktes, der sich dagegen sträubt allein zu sein, der in der Menge danach trachtet, sich selbst zu entgehen“. Die Milieuschilderung, wie es Zola später nannte, zeugt von einer so sorgfältigen Beobachtung, wie man sie selbst bei dem großen Franzosen kaum ausgeprägter findet. Ähnlich realistische Schilderungen enthalten fast alle seine Novellen.

Keineswegs will ich hier die ganze Bedeutung Poes und seiner Werke ausführlich darstellen. Interessant sind nur die Erzählungen an dieser Stelle, die sich mit dem phantastischen Reiseroman beschäftigen und diejenigen, die auf Jules Verne starken Einfluss hatten.

Stand Poe auch in gewissem Sinne auf dem Boden der Wirklichkeit, so interessierten ihn doch die Dinge, die bereits der Wirklichkeit angehörten, nur sehr wenig. Es scheint hierin ein direkter Widerspruch zu liegen, und doch verhält es sich so. Über die neuesten Erfindungen seiner Zeit schrieb er keine einzige Novelle. Eisenbahn, Dampfschiff oder Telegraph nahm er als ganz selbstverständlich hin. Dagegen wurde seine Phantasie durch geheimnisvolle und rätselhafte Geschehnisse, Verbrechen, Funde, durch den Hypnotismus und die Luftfahrt ständig neu erregt. Hier gab es noch Probleme zu lösen, und Poe löste sie in seiner Phantasie mit erstaunlicher Schärfe. Dass er dabei nach unserem heutigen Wissen nicht immer auf dem Boden der Realität blieb, lag einmal an dem Stand der Kenntnisse seiner Zeit, zweitens aber auch in seinem Charakter, der zu gewagten Übertreibungen bereit war.

Von den phantastischen Reisen sollen uns hier in erster Linie Poes „aeronautische“ Novellen interessieren. Der Wirklichkeit am nächsten kommt er mit seiner Erzählung „Der Ballon-Schwindel“, in der er von einem lenkbaren Ballon berichtet, der von einem Orkan in 75 Stunden über den Atlantischen Ozean von Europa nach Amerika getrieben wird. Damals – etwa 1838 – wurde behauptet, dass, wenn auch der Ballon „Viktoria“ die Reise nicht wirklich gemacht habe, doch kein Grund vorliege, warum er dies nicht hätte tun können. Tatsächlich ist die Geschichte so realistisch geschrieben, dass sie, als sie in einer New Yorker Tageszeitung erschien, eine Zeitlang für wahr gehalten wurde.

In „Hans Pfaalls Mondfahrt“ nimmt Poe die alten Reisen nach fremden Himmelskörpern wieder auf, weiß ihnen aber durch die realistische Schilderung einen beträchtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. In dieser Geschichte geht es um folgendes: Ein von seinen Gläubigern hart bedrängter Blasebalgflicker aus Rotterdam, Hans Pfaall, baut sich, um damit seinen Verfolgern zu entgehen, einen Ballon. Mit ihm will er eine Reise zum Mond antreten. Er benutzt für die Ballonfüllung ein geheimnisvolles Gas, über das er lediglich verrät, dass es ein Bestandteil des Stickstoffes mit einer 37,4 mal geringeren Dichtigkeit als die des Wasserstoffes sei. Neben den zu der Zeit üblichen Geräten bei Ballonflügen nimmt er ,,einen der verbesserten Grimmschen Apparate zur Kondensierung der Luft“ mit. Nach der Vorstellung Poes ist eine Reise nach dem Mond vor allem an das Vorhandensein atmosphärischer Luft gebunden, die keine scharfe Grenze um die Erde bilden könne, sondern sich, wenn auch im Zustande unendlicher Verdünnung, durch den ganzen Weltraum kontinuierlich ausbreiten müsse. Zum Beweis für diese Theorie zieht er die bei Kometen beobachteten Erscheinungen heran, wie die allmähliche Verkürzung der großen Achsen der Bahn usw., die sich nur durch die Annahme eines das Weltall erfüllenden Mediums erklären lasse. Die Beweisführung Poes ist durchaus wissenschaftlich gehalten und erinnert in ihren Zügen an den Stil und die Art Jules Vernes.

 

 

Edgar Allan Poe und Jules Verne

 

Bei der Eigenheit des Gases, das den Ballon füllte, und das so viel Mal leichter als Wasserstoff war, und unter der Annahme, dass stets atmosphärische Luft das Universum erfüllt, musste der Ballon stets leichter sein als das ihn umgebende Medium, wenn man die Konzentration des Gases der der Umgebung anpasste. Dann aber musste er auch ständig aufwärts steigen, bis die Anziehungskraft des Mondes die der Erde übertraf. Damit war das Ziel der Reise, der Mond, in greifbare Nähe gerückt.

Den eigentlichen Aufstieg schildert Poe sehr realistisch, wobei er natürlich auf die Erfahrungen von Ballonfahrern, besonders auf Gay-Lussac und Biot zurückgriff. Dann, in einer Höhe von 17 Meilen, bringt Hans Pfaall den Luftkondisierungsapparat in Betrieb. Ein großer luftdichter Kautschuksack, der der Gondel vollkommen angepasst war, wurde in ihr ausgebreitet und auch über dem Tragring so verbunden, dass er das Innere der Gondel luftdicht verschloß. Nach den Seiten und nach unten besaß die Gummihülle dicke Glasfenster, die eine Beobachtung des Himmelsraumes gestatteten. Durch eine Öffnung wurde das luftdicht abgeschlossene Einsaugrohr des Kondensators geführt, die verbrauchte Luft durch ein Ventil nach außen befördert.

Der glücklichen Reise zum Mond stehen nun keine Hindernisse mehr im Weg. Hans Pfaall kommt an seinem Ziel ohne größere Schwierigkeiten an und findet dort eine erdähnliche Atmosphäre und menschenähnliche, intelligente Lebewesen vor. Von den weiteren Erlebnissen auf dem Mond erzählte Poe nur wenig, er hielt sich ebenso wie Jules Verne bei seiner „Mondreise“ zurück, da die Wissenschaft ja noch nicht über unsere heutigen Kenntnisse verfügte.

Die dritte „aeronautische“ Noyelle Poes, „Mellonata Tauta“, spielt im Jahre 2848. Es handelt sich dabei um die erste Zukunftsgeschichte in moderner Form. Eine Dame erzählt in Briefform ihre Erlebnisse in einem großen, lenkbaren Ballon, auf dem sie mit etwa 200 anderen Reisenden eine Vergnügungsreise unternimmt, die aber mit der Vernichtung des Ballons und dem Absturz ins Meer endet. Diese Novelle ist zugleich eine geistreiche Satire auf die alte und neuere Philosophie, auf die amerikanische Staatsverfassung und einige andere Dinge des damaligen Alltags. Sie enthält aber auch eine ganze Reihe astronomischer Belehrungen und erinnert damit wieder an Jules Vernes Werke.

Doch Poe hat sich nicht nur mit der Luft- und Raumfahrt beschäftigt. Auch andere wissenschaftliche Probleme reizten seine Phantasie. Zu erwähnen ist hier sein großer Roman „Die Abenteuer Gordon Pyms“, in dem er die alte Sage vom Süd-Kontinent wieder neu erstehen lässt. Nach zahlreichen Abenteuern gelangt der Held in ein rätselhaftes Land, das jenseits der Eismauern den Südpol umgibt. Hier leben völlig anders geartete Menschen mit einer eigenartigen Kultur. Gordon Pym ist von ihnen gefangen, es gelingt ihm aber später die Flucht. Unter geheimnisvollen Umständen verschwindet er jedoch tief im Süden des Landes. Jules Verne reizte dieses Thema besonders, zumal Poe nur einen sehr unbefriedigenden Romanabschluss bot. Er schrieb die Fortsetzung zu Poes Werk in seiner „Eissphinx“.

Auch Geheimschriften interessierten Poe besonders, und Verne teilte diese Eigenschaft mit ihm. Neben einer halb wissenschaftlichen, halb populären Abhandlung über Kryptogramme hat Poe auch seine Novelle „Der Goldkäfer“ auf einer Geheimschrift aufgebaut, die allerdings einen sehr einfachen Charakter trägt.

Zuletzt sollten noch Poes Kriminalgeschichten erwähnt werden, mit denen er ebenfalls zahlreiche Schriftsteller zu Nachahmungen anregte. Er war es, der den ersten, wissenschaftlich geschulten und logisch folgernden Detektiv in die Literatur einführte, „dem die Menschen ein Fenster mitten auf der Brust zu tragen schienen“, so durchschaute er ihre Gedanken.

Auf Zelluloid und Papier – Die Abenteuer des Harry Piel

 

Werner G. Schmidtke