Cover.jpg

Vorwort

»Ich kann nicht mehr«, klagte vor zehn Jahren eine Dreizehnjährige auf der Titelseite des »Spiegel« über den Schulstress, der krank macht. Im Mai 2021, während der Pandemie schläft eine siebzehnjährige Schülerin in den Nächten von Sonntag auf Montag nur noch unruhig; sie sieht ein Gebirge von Arbeitsblättern, Aufgaben und quälenden Fragen vor sich, dazu den massiven Zeitdruck, der bis zum Freitag auf ihr und ihren Freundinnen im Homeschooling lastet. Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychosomatischer Störungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht, wie eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit dokumentiert. Das »Ausbrennen« unternehmerischer Führungskräfte führt zu Produktions- und Imageverlusten. Jeder fünfte Arbeitnehmer leidet unter gesundheitlichen Stressfolgen, von Schlafstörungen bis zu Herzversagen, wie ein Münchener Institut für lösungsorientiertes Denken ermittelt hat. Auf den Gängen in Kliniken rasen die Krankenschwestern an den Kolleginnen vorbei, um ihre Patienten im Minutentakt zu pflegen.

Wer ist so mutig, die Zeiger der Uhr zu verkleben, um nicht wie Charlie Chaplin im Film »Moderne Zeiten« in das Räderwerk einer gigantischen Maschine zu geraten, die ihn zu verschlingen droht, bevor es »zwölf geschlagen hat«? Gibt es noch die Menschen, die sich nicht von den großen gesellschaftlichen und politischen Erzählungen jagen lassen – souveräne Frauen und Herren einer Zeit, die ihnen gehört? Weil ich vermute, dass hinreichend viele von ihnen dem Tempo-Virus widerstehen, und weil mich zahlreiche Anregungen dazu bewegt haben, wage ich es, die Reflexionen meines 2012 publizierten Buches nun zu überarbeiten, zu straffen und zu aktualisieren.

Die Kernhypothese des Buches skizziere ich so: Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts haben die Akteure der Finanzsphäre einen Megaschub gesellschaftlicher Beschleunigung angestoßen, den sie über die börsennotierten Unternehmen weiterleiten. Staatliche Organe lassen sich von dieser Welle der Beschleunigung mitreißen; sie hören bereitwillig auf die vermeintliche »Stimme der Finanzmärkte«, so dass die politischen Entscheidungen immer kurzatmiger und hektischer werden. Unter diesem dreifachen Druck sind die Arbeitsverhältnisse abhängig Beschäftigter entsichert worden. Die Kaskade der Beschleunigung trifft schließlich die privaten Haushalte, insbesondere die Frauen, nachdem die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Privatsphäre durchlässiger geworden ist.

Das erste Kapitel stellt die genannte Hypothese in den theoretischen Rahmen einer bedrohlichen Beschleunigung, die umfassend, makroperspektivisch angelegt ist und sich des schillernden Sprachspiels der Moderne bedient. Ihr stelle ich eine differenzierte Mikrosicht gegenüber, die statistische Erhebungen zur belastenden Rushhour-Situation von Frauen im Familienzyklus, bei der Hausaufgabenhilfe, in Teilzeitarbeit und im freiwilligen Engagement beschreibt. Psychische Erkrankungen, die zunehmen, Zeit- und Leistungsdruck am Arbeitsplatz sowie ein »Ausbrennen« verursachen schmerzliche Leidenserfahrungen. Gleichzeitig wird Entwarnung gemeldet, weil schnelle und langsame Lebensstile nach Ländern und Kulturen variieren. Nach Epochen wechseln kontinuierliche Stufenfolgen, Innovationsschübe, die nachfolgend abgefedert werden, oder Mega-Anstöße, die von der Digitalisierung zu erwarten sind, nachdem die Pandemie die Globalisierung verdrängt hat.

Im zweiten Kapitel versuche ich die skizzierte Hypothese argumentativ zu entfalten. Hegemoniale Finanzmärkte haben der Realwirtschaft einen Imperativ monetärer Beschleunigung aufgedrängt und eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst. Die Rettung der Banken hat den Staat mit hohen Schulden belastet, die Arbeitsverhältnisse entsichert, die solidarischen Sicherungssysteme deformiert und eine Spekulation gegen den Euro entfesselt. Nach dem Zerbrechen der Normalarbeitszeit ist eine individuelle Flexibilität entstanden, die den Männern, die in Vollzeit erwerbstätig sind, finanzielle Vorteile verschafft, während den in Teilzeit arbeitenden Frauen zugemutet wird, daheim unbezahlt Kinder zu betreuen, sich um Angehörige zu kümmern, bei den Hausaufgaben zu helfen, sich ehrenamtlich in der Kita zu engagieren und am Abend den Eindruck zu haben, sie seien vollerwerbstätig gewesen.

Das dritte Kapitel deutet die Zeit als ein gesellschaftliches Konstrukt. Sie kann nicht schlechthin einem inneren Bewusstsein zugerechnet werden, sondern ist eine soziale Tatsache, die zugleich mit Handlungsabläufen entsteht. In den ersten drei Abschnitten des Kapitels spielt die vertiefte Reflexion über die sogenannte Zeit eine beherrschende Rolle; im vierten und fünften Abschnitt wird der Handlungsbegriff dominant. Das einander Angleichen empirischer Handlungssequenzen (mit deren Zeitkomponente) tritt bezüglich der natürlichen Umwelt, der Gesellschaft und des individuellen Subjekts erkennbar in den Vordergrund.

Im vierten Kapitel werden die gesellschaftliche Ungleichheit, die sich in der Pandemie verschärft hat, sowie die spontane Solidarität mit den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine beleuchtet. Wolfgang Thierse hatte beobachtet, dass die Frage der Gerechtigkeit in die Gesellschaft zurückgekehrt sei. Aber was ist schon Gerechtigkeit? »Was die Mächtigen dafür halten«, antwortete ein Schüler des Sokrates auf dessen Frage. Die Gerechtigkeit als Gleichheitsvermutung zu behaupten, weckt politischen und bürgerlichen Widerstand, aber Gleichheit ist nicht Identität. Wer verhältnismäßige Gleichheit meint, nennt als Bezugspunkt: besondere Leistung, Ansehen, Sympathie, in »kopernikanischer« Wende jedoch: die sich selbst bestimmende individuelle Person, die jede andere als Gleiche respektiert. Wer Gerechtigkeit als »Recht auf Rechtfertigung« deutet, blickt auf das, was Menschen sind, nicht auf das, was sie haben. »Solidarität« unterscheidet persönliche Tugend von gesellschaftlicher Steuerungsform.

Das fünfte Kapitel erschließt Perspektiven eines gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs: zunächst einer persönlichen Umkehr des Lebensstils, dann strukturelle Umbauten der Finanzarchitektur, einer egalitären Unternehmensverfassung und sozialen Demokratie. Ein sozio-ökologischer Paradigmenwechsel gilt der Sanierung des blauen Planeten. Ideen einer innovativen Arbeitswelt bahnen den Weg in gelungenes Leben für Kinder, Frauen und Männer, eine faire Balance des Heranwachsens, der Erwerbsarbeit und Privatsphäre, der Halbtagsarbeit und atmender Lebensläufe.

Wie groß ist die Chance, dem Regime der Beschleunigung wirksam zu widerstehen? Dass es oft unendlich lange dauert, bis sich in einer demokratischen Gesellschaft irgendetwas bewegt, hat viele Jugendliche enttäuscht, die sich kritisch engagiert hatten. Umso überraschender sind die Aufbrüche, die sich in der Früh- und Spätphase um die Jahreswende 2021/22 abgezeichnet haben: die weltweite Bewegung Jugendlicher: »Fridays for future«; der Regierungswechsel und die zügige Bildung der Ampelkoalition; der entschlossene Widerstand der Ukraine gegen die verbrecherischen Zerstörungen der russischen Armee; die Bereitschaft der USA, NATO und EU, die Ukraine militärisch zu unterstützen, die großzügige Bereitschaft westlichen Länder, Geflüchtete Frauen und Kinder aus der Ukraine aufzunehmen. Diesen Aufbrüchen gingen zwei politische Kehrtwenden voraus – der Ausstieg aus der Atomenergie nach dem Reaktorunfall in Fukushima sowie die Covid-19-Pandemie, die selbstverständliche Arbeits- und Freizeitgewohnheiten außer Kraft gesetzt hat.

Dem Westend Verlag und insbesondere den Kolleginnen und Kollegen gilt mein besonderer Dank, da sie mich während der Überarbeitung des Buches sehr geduldig begleitet haben.

Friedhelm Hengsbach

Die Zeit gehört uns

Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung

Überarbeitete und erweiterte Neuauflage

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Taschenbuchausgabe 2022

ISBN: 978-3-86489-890-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Logo Westend Verlag

Ebook Edition

1 Atemlos beschleunigt

Ich blättere soeben in meinem Terminkalender von 2012, lange bevor die Corona-Pandemie sich wie Mehltau auf meinen Arbeitsalltag gelegt hat. Ich staune und erschrecke über die damals noch dichte Folge fast täglicher Bahnreisen, Vorträge, Podiumsgespräche und Interviews. Im Tagesablauf hatten sich viele Ereignisse ohne Unterbrechung aneinandergereiht. In der Frühe riss mich der Wecker aus dem Schlaf. Unmittelbar beim Aufwachen wusste ich nicht, wo ich war – im eigenen Zimmer oder in einem fremden Hotel? Erst als ich die Augen öffnete, fügten sich die Fragmente des vergangenen Abends wieder zusammen: Vortrag, Diskussion, angeregte Gespräche in einem Restaurant. Dann flink duschen, anziehen, frühstücken; während des Frühstücks hörte ich die Nachrichten, überflog die Schlagzeilen überregionaler Zeitungen, lief zum Bahnhof und erreichte den nächsten Zug gerade noch, bevor der Zugbegleiter abpfiff. Während der Fahrt sammelte ich die Anrufe und Nachrichten auf dem Handy. Ich bereitete den nächsten Auftritt vor – über ein anderes Thema, in einer anderen Stadt, vor einem anderen Publikum. Die nachdenklichen Gespräche und kritischen Einwände vom Vorabend waren abgetaucht. Ihnen nachzuspüren, verschob ich auf später. Es kam vor, dass Freundinnen und Freunde mich auf Erlebnisse ansprachen, die wir im Vorjahr gemeinsam geteilt hatten. Ich hatte dabei den Eindruck, dass sie mir Geschichten von fremden Leuten erzählten.

Beschleunigungsgesellschaft

Ein Freund hat mir das Bild einer Sonnenuhr geschickt. Sie steht in einem Park, umgeben von bunten Blumen mit der Inschrift: »Es ist immer später als Du denkst«. Solche Eingeständnisse werden mir von Freundinnen und Kollegen bestätigt. Auch sie fühlen sich in ihrem Alltag gehetzt, stolpern atemlos hinter sich her, sind immer zu spät dran. Häufig packt sie die Sorge, eine gegebene Zusage nicht einhalten zu können, eine Verabredung vergessen zu haben. Informationsfluten ersticken ein konzentriertes Arbeiten, ob im Home-Office oder im Großraumbüro. Zu unterscheiden zwischen dem, was bedeutsam ist und was belanglos, gelingt nicht. Eine Glückwunschkarte bleibt bis zum späten Abend ungeschrieben; sie erreicht die Freundin zum Geburtstag erst später, »nachträglich«. Die sportliche Regel lautet: »Immer schneller, immer höher, immer weiter!« Wer schneller ist, wird als der Bessere geehrt – nach welchem Maßstab? Der Bonner Theologe Hans-Joachim Höhn hat für das Zeitalter der Beschleunigung den Begriff: »kinetischer Imperativ« geprägt.

Wie wird dieser Imperativ subjektiv empfunden? E-Mails haben die Briefpost abgelöst, die gerade noch für Todesanzeigen verwendet wird. Das Mobiltelefon suggeriert, dass man/frau allzeit erreichbar und zu kommunizieren bereit ist. In den Betrieben wird die gleiche Arbeit mit weniger Personal in kürzerer Zeit bewältigt. Vormals saisonale Modezyklen sind radikal verkürzt worden. Berühmte Orchester präsentieren Musikwerke in höherem Tempo. Beethoven ließ die Sinfonie Nr. 3 (»Eroica«) in 60 Minuten spielen, Leonard Bernstein beschleunigte auf 49, Michael Gielen (1987) auf 43 Minuten. Das Redetempo der Radiosprecher hat sich merklich erhöht. Die Schnittfolge der Werbefilme in den Kinos verlangt von manchen Besuchern eine hohe Reaktionsfähigkeit. Wie schnell Fernsehserien abgesetzt werden, entscheidet nicht deren Qualität, sondern die kurzfristige Einschaltquote.

Die Wucht der Beschleunigung verschont nicht die alltägliche Lebenswelt. Kunden werden ungeduldig, sobald sich vor der Kasse im Supermarkt, vor dem Post- oder Bahnschalter Schlangen bilden. Patienten murren, wenn sie bei Ärzten oder bei Behörden eine Weile warten müssen. Handlungen, die in einer sinnvollen Reihe aufeinander folgen, werden möglichst gleichzeitig erledigt: ankleiden und telefonieren, essen und lesen oder fernsehen, Auto fahren und Musik hören. Viele reagieren spontan auf Impulse von außen und nicht auf das, was ihnen wichtig erscheint. Eilfertig rennen sie dorthin, wo gerade etwas brennt. Besorgte Mütter laufen aufgeregt zur Kinderärztin, um zu erfahren, ob das Kind auch zeitig genug zu krabbeln und zu laufen beginnt. Schon früh werden Kinder mit dem »Tempo«-Virus infiziert, sobald Eltern mahnen: »Mach schneller, beeil dich, wo bleibst du denn, wir wollen doch weg!«

Die alltägliche Erfahrung einer zunehmenden Beschleunigung, die zahlreiche Menschen bedrängt, hat in den vergangenen dreißig Jahren eine Flut sozialwissenschaftlicher Literatur entstehen lassen. Unter den Buchautoren ragt die monumentale Studie von Hartmut Rosa hervor, einem sehr belesenen und sprachlich gewandten Professor der Soziologie an der Universität Jena. In einem Buch von mehr als 500 Seiten hat er sich nicht lange damit aufgehalten, das angeblich unergründliche Rätsel der Zeit aufzuspüren. Vielmehr sucht er gesellschaftlich überschaubare Entwicklungen zu ergründen und sich auf den Leitbegriff der »Beschleunigung« zu konzentrieren. Deren Dynamik äußert sich in einer geschichtlichen Abfolge, die eine »ungeheure Erfahrung wachsender Beschleunigung« auslöst. Vielleicht gelingt es mir, einige Kernanliegen des Autors in Auszügen zu vermitteln: Hartmut Rosa unterscheidet drei Dimensionen sozialer Beschleunigung – den technischen Prozess der Produktion, des Transports und der Kommunikation, zudem das schnelle Tempo des Alltagslebens, schließlich einen relativ unscharf beschriebenen »sozialen Wandel«, der eine Art Gesamtheit etablierter Institutionen, Arbeitsorganisationen, Parteiprogramme, Beziehungsmuster und Orientierungen des Handelns rasch und radikal antreibt. Allerdings werden gegenüber der dreifachen Arena dynamischer Beschleunigung auch Prozesse der Verlangsamung erwähnt – etwa das begrenzte Vermögen der Ökosysteme, sich zu regenerieren, oder Unfälle, Naturkatastrophen, lästige Staus auf der Autobahn sowie Depressionen als Folge maßloser Arbeitsbelastung. Versuche, die Beschleunigung auszubremsen, erwecken indessen nur scheinbar den Eindruck, als würden beharrende und bewegende Kräfte sich wechselseitig ausbalancieren. Langsam reagierende Kräfte bilden keinen ernsthaften Gegentrend zur Dynamik der Beschleunigung. Anders seien jedoch die langsamen und berechenbaren Spielregeln politischer Steuerung und Rechtsetzung zu deuten. Gegen den Drang, alles »Ständige und Stehende« in Bewegung zu setzen, haben sich solche institutionellen Regeln durchaus als ein spannungsgeladenes Moment des »Stehenden und Beharrenden« behauptet. Über allen weit ausgreifenden Beschreibungen des Autors schwebt indessen ein wolkiger Leitstern der so genannten Moderne. Durch den scheint es sogar zu gelingen, behutsam die Ursachen sozialer Beschleunigung aufzuspüren. Eine der Ursachen sei ein sich selbst antreibender Prozess, der die drei Facetten sozialer Beschleunigung – Technik, Lebenstempo, sozialer Wandel – zirkulär steigert, so dass der interne Zirkel stetig mehr Beschleunigung erzeugt. Zudem werden drei externe Antriebsmotoren erwähnt, ein ökonomischer Motor der technischen Beschleunigung, ein kultureller Motor des Lebenstempos sowie ein sozialstruktureller Motor des sozialen Wandels. Außerdem treibt jeder Motor zugleich eine miteinander verflochtene Spirale der Beschleunigung an. Wenngleich der Autor eine vielseitige und stets zunehmende Dynamik sozialer Beschleunigung erschlossen hat, ist er den Paradoxien und Ambivalenzen sowie dem Verhältnis von Bruch und Kontinuität der sogenannten Moderne nicht ausgewichen. Kann es sein, dass der beschleunigte soziale Wandel im Verlauf moderner Entwicklung eine strukturelle und kulturelle Erstarrung, ein apokalyptisches Desaster ausgelöst hat, denen eine paradoxe Unbeweglichkeit der gesamten Gesellschaft gefolgt ist? Ist also die aktuelle Gegenwart pauschal und realistisch durch zwei gegenläufige »Zeiterfahrungen« kontaminiert – durch eine ungeheure Beschleunigung und zugleich eine gesellschaftliche Erstarrung »rasenden Stillstands?«

Leidenserfahrungen

Spekulativ wuchernde, pauschale Hypothesen, die entlang historisch fließender Markierungen weitschweifend entwickelt werden, geraten leicht in eine Falle; indem sie vorgeben, die alltägliche Lebenswelt real existierender Bevölkerungsgruppen erhellend zu beleuchten, während sie ihren Lichtstrahl eher auf akademisch gebildete Schichten richten. Deshalb will ich im folgenden Abschnitt vor allem jene Gruppen in den Blick nehmen, die von gesellschaftlichen Eliten am unteren Rand der Bevölkerung verortet werden.

Die Krankenkassen in Deutschland weisen mit unterschiedlichem Gewicht darauf hin, dass die Tage von Arbeitsunfähigkeit infolge psychischer Erkrankungen seit Jahrzehnten gestiegen sind. Der Jahreshöchststand wurde 2020 erreicht – vor allem bei stark belasteten Frauen. Als Ursache wurde der Zeit- und Leistungsdruck am Arbeitsplatz diagnostiziert, Stress, unregelmäßige Arbeitszeiten sowie solche von 45 Wochenstunden und mehr. Besonders betroffen sind Beschäftigte, die regelmäßig und einfühlsam auf Kundenwünsche zu reagieren haben, überdurchschnittlich Kolleginnen und Kollegen im Gastgewerbe sowie in Gesundheits-, Pflege- und Sozialdiensten. Fast die Hälfte der Arbeitnehmer ist während eines Jahres auch dann zur Arbeit gegangen, wenn sie sich »richtig krank fühlten«. Schülerinnen und Schüler sagen, dass sie während der Pandemie ständig einem hohen Leistungsdruck und überzogenen Prüfungsvorgaben ausgesetzt seien.

Das Phänomen des »Ausbrennens« verbreitet sich nach dem Urteil von Medizinern in der modernen Arbeitsgesellschaft wie eine Epidemie. Das Burn-out-Syndrom, ein »Zustand erschöpfter physischer und mentaler Ressourcen« kann Menschen aus allen Berufszweigen und Arbeitsfeldern treffen. Gehäuft tritt es bei Führungskräften in Unternehmen sowie in pädagogischen, sozialen und religiösen Einrichtungen auf. Zwar können diese Personen ihre Arbeitsinhalte und Arbeitszeiten im Rahmen von Zielvereinbarungen, die nach oben offen sind, relativ selbst bestimmen. Sie üben allerdings eine Tätigkeit aus, die den eigenen Talenten und Interessen entspricht. Sie identifizieren sich voll mit ihrem Beruf, so dass sie nach außen sehr zufrieden wirken. Sie stürzen sich enthusiastisch in die Arbeit, die sie voll ausfüllt, halten jede emotionale Entspannung für überflüssig. Falls sie der Partnerin oder der Familie einen kurzen Urlaub zugestehen, bleiben Telefon, Laptop und Handy in unmittelbarer Nähe. Mit einem vollen Terminkalender, einer Wochenarbeitszeit von 60–80 Stunden sowie ständigen Geschäftsreisen quer durch Europa stufen sie sich als eine öffentlich anerkannte, ranghohe Persönlichkeit ein. Nachdem ein Auftrag abgewickelt ist, hetzen sie ohne Unterbrechung zum nächsten, ohne sich eine schöpferische Pause zu gönnen. Die Signale des Körpers: Müdigkeit, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, werden verdrängt, bis sie in ein psychisches und mentales »Ausbrennen« fallen. Die innere Leere wird dann häufig durch Ersatzbefriedigungen überspielt, bis auch diese in eine leblose Apathie münden.

Entwarnung

Es ist wohl sinnvoll, allzu erregte und erregende Hypothesen von Sozialwissenschaftlern sowie Warnungen von Ärzteverbänden und Krankenkassen daraufhin zu überprüfen, ob deren Blickwinkel auf ein enges Milieu und eine hypersensible Wahrnehmung verengt oder ob eine umfassende gesellschaftliche Tatsache ermittelt worden ist. Ich werde mit Hinweisen auf statistische Erhebungen, globale Landkarten und säkulare Epochen versuchen, die pauschale Erregung über das gesteigerte Lebenstempo und die apokalyptischen Szenarien zu differenzieren und im Blick auf lebensweltliche Varianten zu relativieren.

Erhebungen

Das Statistische Bundesamt bietet alle zehn Jahre mit einer Zeitbudgeterhebung einen detaillierten Einblick in die Lebensverhältnisse von Menschen in Haushalten und Familien. Gemäß dieser Erhebungen hat sich das Zeitmuster von Frauen in den vergangenen zehn Jahren verändert, das der Männer blieb stabil. Frauen kürzen die Hausarbeit und soziale Aktivitäten, um ihre Erwerbstätigkeit auszuweiten. Ein Mehr an Betreuungszeit für Kinder unter 18 Jahren bedeutet indessen für Eltern, insbesondere für Mütter eine starke Herausforderung. Folglich meinen sowohl Männer als auch Frauen, dass die Zeit, die sie ihren Kindern widmen, nur zum Teil oder gar nicht ausreicht. Der gesellschaftspolitische Druck, die Erwerbsorientierung von Frauen zu intensivieren, verstärkt deren Sorge, jenen Erwartungen in der Haus- und Familienarbeit gerecht zu werden, für die sie zu wenig Zeit aufbringen.

Ein weiterer Beitrag hat die Zeitverwendung während der »Rushhour des Lebens« untersucht, die eng mit dem Familienzyklus zusammenhängt. Dieses Bild weist hin auf zeitliche Verdichtungen im Lebensverlauf von Familien, die der Enge des Berufsverkehrs in der S-Bahn gleicht. Viele Eltern mit zwei Kindern, deren jüngstes Kind keine drei Jahre alt ist, spüren diese Verdichtung des Lebens massiv. Die durchschnittliche Rushhour beginnt mit der Geburt des ersten Kindes und dauert bei Frauen bis zur Einschulung des zweiten Kindes. Die durchschnittliche Arbeitsbelastung der Eltern in der Rushhour beträgt jeweils bis zu 63 Wochenstunden. Zwar suchen beide im Zwei-Verdiener-Modell, wenn Mütter auch erwerbstätig sind und Väter sich an der Kinderbetreuung wie an der Hausarbeit beteiligen, Beruf und Familie miteinander zu kombinieren. Dennoch fühlen sich Frauen subjektiv stark unter Planungsstress, weil sie häufiger für die Koordination der unterschiedlichen Sphären zuständig sind. Für sie bedeutet ein unregelmäßiger Schlaf bei gleichzeitig hoher Arbeitsbelastung eine enorme Herausforderung. Falls Ehepartner vor der Geburt der Kinder an eine egalitäre Rollenverteilung gewöhnt waren, drängt sie die Rushhour in eine Schieflage ihrer Geschlechterbeziehung – der Vater als Hauptverdiener, die Mutter als Zuverdienerin, die finanziell vom vollerwerbstätigen Partner abhängig ist und Einbußen ihrer Rentenversicherung in Kauf nimmt.

Die folgende Erhebung der Zeitverwendung prüft das Ausmaß des freiwilligen gesellschaftlichen Engagements, ob Frauen in ihrem Engagement mit den Männern gleichgezogen oder gar auf der Überholspur angekommen sind. Zwar haben Frauen ihre Position in der Wissenschaft, Medizin und Politik beachtlich verbessert, allerdings weniger auf der Führungsebene der Konzerne. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit hat für Kitas, Schulen, Gewerkschaften, Parteien und ökosoziale Bewegungen elementare Bedeutung. Das euphorische Bild ist jedoch dadurch getrübt, dass sowohl Frauen wie Männer gegenwärtig weniger engagiert sind als vor zehn Jahren. Frauen sind besonders in den Bereichen Kirche/Religion, soziale Lebenswelt und Schule/Kindergarten engagiert; während der Familienphase entspricht dies eher dem traditionellen Rollenbild einer Hausfrau und Mutter. Männer dagegen ziehen Sport/Bewegung, Freizeit/Geselligkeit, ein Engagement in Politik/politischer Interessenvertretung vor. Im Vergleich zum Umfang vor zehn Jahren ist das aktuelle Engagement der Frauen und Männer eher auf kürzere Perioden angelegt, projektgebunden, episodenhaft, weniger kontinuierlich und weniger zeitaufwendig.

In einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes ist 2012/ 2013 das Verhältnis von unbezahlter Arbeit in privaten Haushalten und der bezahlten Erwerbsarbeit untersucht worden. Die akribische Ermittlung erzielte zwei Ergebnisse: Für die unbezahlte Arbeit privater Haushalte wurde 35 Prozent mehr an Zeit aufgewendet als für die bezahlte Erwerbsarbeit. Außerdem wurde eine Lücke regelmäßiger Berichterstattung offengelegt, dass nämlich die Leistungen der privaten Haushalte kein Bestandteil regelmäßiger Wirtschaftsberichterstattungen sind und deshalb für die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts keine Rolle spielen. Das jährlich ermittelte Bruttoinlandsprodukt gilt als ein Gradmesser des Gesamtwertes aller Güter, Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte nach Abzug aller Vorleistungen hergestellt wurden. Obwohl das BIP weder den Zeitaufwand noch den monetären Wert unbezahlter Hausarbeit erfasst, wird es im allgemeinen Sprachgebrauch mit der wirtschaftlichen Leistung der Volkswirtschaft, dem Wirtschaftswachstum und dem Wohlstand der Bevölkerung gleichgesetzt. In dem erwähnten Beitrag konnte sowohl der Zeitaufwand als auch der monetäre Wert der unbezahlten Hausarbeit im Kontext der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen präzise ermittelt werden.

Durch eine weitere Erhebung wurde geprüft, ob die elterliche Hilfe nach wie vor fester Bestandteil der Hausaufgabenbetreuung ist, ob sich in den letzten zehn Jahren vielleicht wegen des Angebots von Ganztagsschulen der Zeitaufwand der Eltern für ihre Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren verringert hat, und ob eine Hausaufgabenbetreuung gleichberechtigt auf den Schultern beider Eltern ruht. Die Schulgesetze und Verordnungen der Länder unterstellen, dass die Lehrkräfte die Hausaufgaben so formulieren, dass sie ohne außerschulische Hilfen bewältigt werden können, die Hausaufgaben also gemäß der schulischen Normen ohne Hilfe der Eltern zu schaffen seien. Das Dilemma, das einerseits zwischen der schulischen Hausaufgabenhilfe der Eltern als einer Menge unbezahlter Arbeit besteht, und der gesellschaftlichen Erwartung andererseits, dass die Väter voll (mit 86 Prozent,) die Frauen zum Teil (mit 16 Prozent) erwerbstätig sind, deckt die Studie eindeutig auf. Die Schulverwaltung wälzt einen Teil ihrer eigenen Aufgaben auf »die Eltern als Hilfslehrer« ab. Zudem ist erkennbar, wie sehr Mütter und Väter, die ihre Kinder von 7 bis 12 Jahren bei den Hausaufgaben unterstützen, in den ersten Schuljahren belastet sind. In der Hausaufgabenhilfe tragen Frauen im Vergleich zu den Männern seit zehn Jahren einen vierfachen Anteil. Mehr als die Hälfte der jungen Mütter duldet das »Ernährermodell« in geschlechtstypischer Arbeitsteilung als ihre Hauptaktivität zugunsten der Kinder. Aber die Annahme, dass die Bewältigung der Hausaufgaben ohne Hilfe der Eltern zu erledigen sei, ist in vielen Haushalten, erst recht während der Pandemie illusorisch. Die Lehrkräfte können die Ergebnisse ihres Unterrichts gar nicht überprüfen, weil sie nicht wissen, wie ihre Schülerinnen und Schüler die Hausaufgaben gemacht haben.

Landkarten

Im Bewusstsein der allgemeinen Überzeugung, dass das Tempo des Lebens allseits immer schneller geworden sei, sind der US-amerikanische Psychologe Norbert Levine und sein Forschungsteam der Frage nachgegangen, wieso das Phänomen rasender Beschleunigung an wechselnden Orten, in verschiedenen Regionen und Kulturen derart stark voneinander abweicht. Sie vergleichen das Lebenstempo in 31 verschiedenen Ländern der Welt. Mit der Auswahl größerer Städte nennen sie drei Indikatoren für das Lebenstempo: Erstens die Gehgeschwindigkeit zufällig ausgewählter Fußgänger über eine Entfernung von 20 Metern, an klaren Sommertagen, während der Hauptgeschäftszeiten auf ebenen, hinreichend leeren Straßen. Zweitens die Schnelligkeit, mit der ein Postangestellter eine Standardbriefmarke verkauft, nachdem ihm der Kaufwunsch auf einem Zettel vorgelegt wurde. Drittens die Präzision von Uhren an willkürlich ausgewählten zentralen Bankgebäuden einer Stadt, die mit der Telefonansage verglichen wurden.

Aus dem gewonnenen Datenmaterial wurden fünf Grundfaktoren ermittelt, die das Lebenstempo der Länder und Kulturen beeinflussen. Der wichtigste Grundfaktor für das Tempo eines Ortes ist die Wirtschaft. Die schnellsten Menschen sind in den reichen nordamerikanischen, nordeuropäischen und asiatischen Ländern anzutreffen, die langsamsten in Süd- und Mittelamerika sowie im Nahen Osten. Das wirtschaftliche Umfeld und das Lebenstempo verstärken sich wechselseitig. Auch die Subkulturen eines Landes grenzen sich voneinander ab. In den USA wird etwa das »Leben nach indianischer Zeit« vom Lebenstempo der Mehrheit der US-Amerikaner unterschieden und auch Afroamerikaner unterscheiden die »colored people´s time« von der »white people´s time«. Als zweiter Faktor eines schnelleren Lebenstempos wurde der Grad der Industrialisierung identifiziert. Zeitsparende Technik hat den Hygiene-, Mode- oder Mobilitätsstandard der Bevölkerung angehoben. Wachsender Zeitgewinn infolge höherer Arbeitsproduktivität wurde durch steigenden Konsum kompensiert. Am Ende der Tempo-Skala liegen die Stammesgesellschaften, in denen nur an zwei Wochentagen oder an vier Stunden pro Tag gearbeitet wird. Das Lebenstempo in Nachbarländern Afrikas weicht indessen stark voneinander ab: »Schnelle« Menschen eines Stammes verschwenden wenig Zeit für ein ausgedehntes Begrüßungsritual, während ein anderer Stamm 20 Minuten darauf verwendet, die Nachbarn von nebenan angemessen zu begrüßen. Der dritte Anhaltspunkt ist die Einwohnerzahl eines Ortes, der eine größere Aussagekraft als dem Industrialisierungsgrad zukommt. Levine verweist auf Untersuchungen, die bestätigen, dass Menschen in größeren Ortschaften schneller gehen als in kleineren. Auch Großstadtkinder bewegen sich in Supermärkten signifikant schneller als Kinder in Lebensmittelläden auf dem Land. Als vierter Faktor bestimmt das Klima das langsamere Lebenstempo zahlreicher Städte in den Tropen, etwa in Mexiko, Brasilien und Indonesien. Ob das wärmere Klima der Bevölkerung die Energie raubt, um hart arbeiten zu können, oder ob die Anstrengung unnötig ist, weil sie weniger Kleidung und Häuser brauchen, die vor Kälte schützen, blieb offen. Ein fünfter gewichtiger Faktor besteht in kulturellen Leitbildern, die sich grundsätzlich am Individuum und der Kernfamilie oder am Kollektiv und der Großfamilie orientieren. In einigen asiatischen Kulturen erstreckt sich die Familie auf das ganze Dorf oder den ganzen Stamm. Der soziale Zusammenhalt hat Vorrang vor einer Leistungsorientierung. Schnelligkeit oder Eile werden in solchen Kulturen als fehlender Anstand geächtet. Die Länderstudie belegt, dass stark individualistische Kulturen und ein schnelleres Lebenstempo einander korrelieren.

Den globalen Ländervergleich ergänzen Norbert Levine und sein Team durch eine Reflexion, die sich an die Beschreibung des Kulturfaktors anschließt. Unter der Überschrift: »Der Schlag der eigenen Trommel« machen sie auf große Tempounterschiede zwischen »langsamen« und »schnellen« Individuen aufmerksam, die am selben Ort, in derselben Region und im selben Land leben. Der Typ des tendenziell »schnellen« Menschen wird unter anderem durch folgende Merkmale gezeichnet: Er blickt ständig auf die Uhr, neigt zu hastigem Sprechen; sein Redefluss wird nicht durch Satzbau, Punkt oder Komma unterbrochen, sondern sobald ihm die Luft ausgeht. Hastig schlingt er sein Essen hinunter. Sein Fahrverhalten ist wenig sympathisch; bei stockendem Verkehr betätigt er nervös die Hupe. Ein paar Minuten in einer Schlange vor einem Schalter oder einer Kasse zu stehen, ist ihm eine psychische Qual.

Wie ist die Untersuchung von Norbert Levine und seinen Kollegen einzuschätzen? Die kreative Vorgehensweise und die nüchterne Beschreibung der Grundfaktoren, die für die jeweiligen Ortschaften, Regionen und Länder charakteristisch sind, legen nahe, dass schnelles und langsames Lebenstempo auf der Landkarte der Erde jeweils im Plural auftreten und ohne krankhaften Beigeschmack als gleichwertig beurteilt werden können. Beruhigend wirkt ebenfalls die Aussicht, dass jenes tendenziell schnelle Lebenstempo der nördlichen Hemisphäre durch das langsamere Tempo der südlichen Hemisphäre relativiert wird. Dieser ausgewogenen Sichtweise entspricht ein kritischer Ausblick auf den Charaktertyp des »schnellen« Menschen, dessen Skizze von Hinweisen begleitet ist, die drohende Krankheitsbilder ahnen lassen. Norbert Levine hat seine Landkarte der Zeit und die Typisierung des »schnellen« Menschen in die miteinander gekoppelten Tendenzen des wirtschaftlichen Wohlstands, der Bildung urbaner Konglomerate und der Individualisierung eingebettet. Diese bilden inzwischen den gemeinsamen Bestandteil einer epochalen Entwicklung, die in den westeuropäischen Ländern begonnen, sich imperial und global ausgebreitet hat und nun mit einer entfesselten kapitalistisch-wirtschaftlichen Dynamik die gesamte Landkarte der Erde zu überfluten droht. Er illustriert anschaulich, wie sich die mechanische Uhr und das Regime der Uhrzeit epochal ausgebreitet haben – und zwar sowohl als Instrument der allgemeinen Befreiung als auch asymmetrischer Machtausübung.

Epochen

Die öffentliche Erregung über die rasante Beschleunigung wirkt womöglich überzogen. Bereits ein oberflächlicher Blick in die Geschichte kann die endzeitliche Beschleunigungsrhetorik weitgehend entschärfen. Denn der geschichtliche Prozess der Beschleunigung lässt sich unaufgeregt in drei Perspektiven darstellen – als kontinuierliche Stufenfolge, als Schub mit nachfolgender Abfederung und als Mega-Anstoß mit weitgreifenden Interferenzen.

In der Perspektive einer Stufenfolge wurde das Phänomen der Beschleunigung in dem Moment wahrgenommen, als Menschen die Welt des Dorfes verließen. Mit dem Aufblühen der Städte, der wachsenden Bevölkerung, der vermehrten Arbeitsteilung und vor allem mit den Netzen, die zwischen den Städten geflochten wurden, begann eine weitere Stufe der Beschleunigung. Der Fernhandel, die Kaufleute und Handelsgesellschaften des Mittelalters waren deren treibende Kräfte. Sie unterhielten Niederlassungen über ganz Europa hinweg von Saragossa bis Krakau. Um die Zeitspanne zwischen Geschäftsabschluss, Lieferung und Zahlung zu verkürzen, ließen sie Wasser- und Landstraßen sowie schnelle Informationskanäle ausbauen. Mit dem Beginn der Neuzeit erweiterten Fabrikanten und Reisende die Gruppe der Kaufleute und Handelsgesellschaften. Indem sie damit begannen, Produktion, Verteilung und Transport der Güter als knappe und folglich kostbare Ressource zu kalkulieren, setzten sie Wasser- und Windmühlen als Energiequellen ein und kombinierten menschliche Arbeitskräfte mit mechanischen Webstühlen zur Textilherstellung und mit mechanischen Sägen zur Holzverarbeitung für den Schiffsbau. Die sich bildenden Nationalstaaten errichteten Netze von Kanälen, Brücken und befestigten Landstraßen. Städte wurden transportgerecht umgestaltet. Postkutschen verkehrten fahrplanmäßig. England und die USA begannen einen Wettlauf um das schnellste Schiff.

Ein erheblicher Schub an Beschleunigung ist durch die Industrialisierung entstanden. Die enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität ermöglichte industrielle Massenproduktion. Mit dem »Zeitalter der Kohle« stand neben der menschlichen Arbeitskraft die in Jahrmillionen gespeicherte fossile Energie zur Verfügung. Sie stellte mit dem Einsatz der Dampfmaschine feste und mobile Energiespender bereit. Der Bau und Betrieb der Eisenbahn verdrängte die herkömmlichen Transportmittel. Die Entdeckung der Elektrizität ermöglichte es, den alltäglichen Lebensrhythmus vom natürlichen Tageslicht zu lösen, während Telegraf, Fernschreiber und Telefon die weltweite Kommunikation verkürzten. Das Auto schließlich eröffnete den Familien eine unbeschränkte Mobilität. Der Hochleistungssport verwandelte sich in eine Kampfarena laufend übertroffener Rekorde.

Aber der Schub der Beschleunigung verlor an Dynamik, der bisherige Auftrieb wurde sortiert, gefiltert und entschleunigt. Das entfesselte Lebenstempo schien von einem langsameren Tempo abgelöst zu werden. Der forcierte Einsatz von Maschinen in der Textilverarbeitung provozierte eine stürmische Reaktion arbeitender Menschen, die genötigt waren, mit der Technik, die ihnen zunächst fremd war, umzugehen.

In der Folge wurde die destruktive Dynamik des industriellen Kapitalismus durch die Gegenmacht der Arbeiterbewegung und die Interventionen des Sozialstaats gezähmt. Der rücksichtslose Zugriff auf die natürliche Umwelt, die imperiale Form der so genannten Globalisierung sowie der entfesselte Finanzkapitalismus, der eine beispiellose weltweite Krise verursacht hat, werden derzeit dadurch ausgebremst, dass die internationale Gemeinschaft dabei ist, Vereinbarungen sowie nationale Selbstverpflichtungen zu treffen und Institutionen zu gründen, die ökonomischer und politischer Willkür verbindliche Schranken setzen. Im Lauf der Geschichte waren es oft Kriege, die aus überzogenen technischen und ökonomischen Machtansprüchen eine verheerende Zahl von Opfern verursacht haben. Anschließend kam es regelmäßig zu einer Verständigung, die allen Mitgliedern der Gesellschaft ein angemessenes Lebenstempo gewährleistet hat. Da beendete Kriege nur selten zu einer verspäteten Atempause genutzt wurden, ist es wohl erstrebenswert, vorweg für Unterbrechungen zu sorgen, um destruktive Wirkungen technischer und ökonomischer Beschleunigungsschübe möglichst überschaubar zu halten.

Ein Mega-Anstoß der Beschleunigung wird von der so genannten Digitalisierung erwartet, nachdem die Corona-Pandemie einen globalen Schock, eine bedrohliche Lähmung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kommunikation auslöste. Umso intensiver hat sich inmitten der Herrschaft des Corona-Virus diese schäumende Erzählung der Digitalisierung verbreitet und den bisherigen Mythos der Globalisierung einschließlich globaler Lieferketten verdrängt. Sie hält nicht nur in der Industrie, sondern auch in der verabschiedeten großen Koalition und besonders in der rot-grün-gelben Ampel- bzw. »Fortschrittskoalition« einen erhabenen Platz besetzt. Zuerst wurde ihr das Siegel einer vierten industriellen Revolution verliehen, die es gar nicht gibt; dann skizzierten abhängig Beschäftigte die bedrohliche Vision einer technisch beherrschten Welt ohne menschliche Arbeit; auch die politische »Anbetung« einer Superideologie wurde beschworen. Dennoch lässt sich ein nüchternes Verständnis der Digitalisierung begreifen, wenn an die evolutionäre Genialität der Menschheit erinnert wird, die Automaten und Roboter, Energie aus Wasserkraft, Kohle, Erdgas und Kernkraft sowie die elektronische und biologische Informationstechnik entdeckt, entwickelt und das Leben der Menschen erleichtert hat. Die abstrakte Reihenfolge war geschichtlich bereits im Dreiklang von Fernhandel, industriellem Kapitalismus und kommunikativer Verständigung verwirklicht, als Handelspartner Termingeschäfte mit Zinsaufschlag abschlossen, das kirchliche Zinsverbot aushebelten, Banken und Kreditinstitute sich der Geldschöpfung bedienten und den bargeldlosen Zahlungsverkehr einführten.

Resümee