Allgemeine Staatslehre

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Alexander Thiele

Allgemeine Staatslehre

Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert
2. Auflage

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

Über Alexander Thiele

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der BSP Business and Law School in Berlin.

Copyright / Impressum

UTB Band 5381

ISBN print 978-3-8252-5814-6

e-ISBN EPUB 978-3-8463-5814-6

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

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Vorwort

Moderne Staatlichkeit befindet sich in stetem Wandel, sieht sich fortdauernd vor neue Herausforderungen gestellt. Selten hat sich das so eindrücklich gezeigt, wie in den zwei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage, in denen allein aufgrund der Coronapandemie zahlreiche Fragen staatlicher Organisation und Handlungsfähigkeit (Regierungssystem, Föderalismus, Exekutivlastigkeit, Parlamentsbeteiligung, Grundrechte) und der Legitimität von Herrschaftsordnungen in besonderer Weise auf die (politische und wissenschaftliche) Tagesordnung gerückt sind. Weltweit wurden die Gesellschaften in den Lockdown geschickt, Ausgangssperren verhängt und Kontaktverbote ausgesprochen. Der sich vermeintlich in Auflösung befindliche moderne Staat war zurück und zeigte mit großer Wucht, wozu er im Ausnahme- und Krisenfall (selbst gegenüber der scheinbar so autarken „Wirtschaft“) in der Lage ist. Dabei offenbarten sich zugleich Unterschiede im Umgang mit der Pandemie: Einerseits zwischen demokratischen und autokratischen Systemen, anderseits aber auch zwischen etablierten demokratischen Verfassungsstaaten, die auf diese Herausforderung mit eigenen Strategien reagierten – wobei in populistisch regierten Staaten eine Strategie bisweilen kaum erkennbar war (man denke an das Vorgehen Donald Trumps, Jair Bolsonaros, Boris Johnsons oder Narendra Modis, das, wie Adam Tooze festhält, teilweise schlicht auf Leugnung der Gefahren beruhte). Die Allgemeine Staatslehre hat die Aufgabe, diese aktuellen Entwicklungen bei ihrem ganzheitlichen Versuch, den Staat „in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion zu begreifen“ (Hermann Heller) aufzunehmen, ohne ihre historischen Wurzeln zu vernachlässigen oder in tagesaktuelle Nacherzählungen zu verfallen. Die Coronapandemie hat daher an zahlreichen Stellen Eingang in die zweite Auflage gefunden, zudem wurden weitere Aspekte aufgenommen oder eingehender behandelt (Digitalisierung, die Rolle von ExpertInnen, „Modern Monetary Theory“, die Funktion von Protest). Allgemeine Staatslehre ist – das bestätigt sich einmal mehr – ein dynamisches Lehr- und Forschungsfeld, das Erklärungsangebote für zahlreiche, auch jüngere Entwicklungen machen will und machen kann. Wie Martin Kriele treffend betont, ist damit zugleich jede Generation aufgerufen, ihre eigene Allgemeine Staatslehre zu verfassen. Ältere Werke werden dadurch nicht obsolet. Ihre grundlegenden Ergebnisse und Einsichten bleiben relevant – man denke an die bedeutenden Werke von Georg Jellinek, Hermann Heller, Hans Kelsen oder Herbert Krüger. Für die Beschreibung aktueller Problemlagen (Supranationalisierung, Digitalisierung, Populismus, Urbanisierung, Coronapandemie), ihre systematische Erfassung sowie für die Entwicklung von Lösungsangeboten können sie aber zwangsläufig weniger beitragen.

Vor diesem Hintergrund formuliert diese Einführung nach einer Verortung und generellen Rechtfertigung des Forschungsfeldes weiterhin zehn Fragen an eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet – das wäre auch gar nicht möglich. Gleichwohl geben die Antworten einen Überblick nicht nur über den Forschungsstand, sondern zeigen zugleich neue Aspekte auf, denen sich eine moderne und interdisziplinär ausgerichtete Allgemeine Staatslehre meines Erachtens widmen sollte. Sie wollen auf diesem Wege zum eigenen Weiterdenken und Vertiefen anregen. Das Buch richtet sich damit nicht nur an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die sich einen ersten Eindruck von der Materie verschaffen wollen. Es adressiert vielmehr auch diejenigen, denen es um eine intensivere Behandlung dieser Thematik geht. Die Fragen (und Antworten) bauen zwar aufeinander auf, müssen aber nicht am Stück und nacheinander gelesen werden. Sie können und sollen auch als Anregung für diejenigen dienen, die nach interessanten Forschungsprojekten suchen. Der Fußnotenapparat ist daher umfangreich, wurde für die zweite Auflage noch einmal um aktuelle Beiträge ergänzt und umfasst nicht nur (deutsche) rechtswissenschaftliche, sondern auch politik-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Literatur, um eine angemessene (erste) Vertiefung zu ermöglichen. Das Konzept unterscheidet sich dadurch partiell von anderen Lehrbüchern. Kritik ist damit ebenso erwartbar wie willkommen (Dank daher nicht zuletzt an Thomas Vesting für seine kritische Besprechung der ersten Auflage).

Auch für die zweite Auflage habe ich mich bei vielen Personen zu bedanken, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Das betrifft zunächst Jona Buhrke, Tabea Nalik, Victoria Kautzner, Johanna Kramer, Katharina Kriebel, Cederic Meier, Lara Schmidt, Karolin Schwarz, Clara Wolf und Felicitas Wolf. Sie haben das Manuskript nicht nur (mehrfach) Korrektur gelesen, sondern zudem wertvolle Hinweise zu seiner Verbesserung gegeben. Sarah Ehls hat wesentliche Impulse für das Design des Umschlagmotivs geliefert, das bei der zweiten Auflage unverändert geblieben ist. Pia Lange hat in unzähligen Gesprächen und mit ihren Anmerkungen und Anregungen erneut zum Gelingen beigetragen. Daniela Taudt vom Verlag Mohr Siebeck hat das Manuskript gemeinsam mit Rebekka Zech und Lisa Laux wie stets hervorragend betreut. Vielen Dank!

Gewidmet ist auch diese Auflage meinem viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Vor mittlerweile mehr als zwanzig Jahren saß ich an der Universität Göttingen erstmals in seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre und war von Anfang an fasziniert – nicht nur vom Thema, sondern insbesondere von den (historischen) Kenntnissen und der Belesenheit des Dozenten. Dass ich Jahre später ausgerechnet an seinem ehemaligen Schreibtisch ein einführendes Lehrbuch zur Allgemeinen Staatslehre verfassen würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

Berlin, im Dezember 2021Alexander Thiele

A. Begriff und Verortung
der Allgemeinen Staatslehre

„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“

Georg Jellinek [1]

 

„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“

Hans Peters [2]

Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, zur (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, zur Staats-, Politik- aber auch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?

Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine allgemeingültige Definition „dieses in die Jahre gekommenen Disziplinformats“[7] fehlt weiterhin, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt, Aufbau und Konzeption. Anders ausgedrückt: Allgemeine Staatslehre ist nicht gleich Allgemeine Staatslehre. Der Großteil der Lehrbücher – und das gilt gleichermaßen für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[8] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[9] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und es variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[10] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.

Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[11] was allerdings nicht zwingend als Defizit angesehen werden muss, sondern auch als wissenschaftliche Offenheit einer sich entwickelnden Programmatik im (globalen) Kontext interpretiert werden kann. Wichtiger als wissenschaftlicher Konsens, so ließe sich formulieren, ist dann die konstante Debatte über Begriff und Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre. Diese Debatte hält die Allgemeine Staatslehre am Leben; käme sie an ihr Ende, dürfte das das Ende der Allgemeinen Staatslehre in ihrer bisherigen „experimentellen“ Form sein.

Auf den folgenden Seiten soll vor diesem Hintergrund ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet und ein Vorschlag gemacht werden, was unter einer modernen Allgemeinen Staatslehre zu verstehen sein könnte, welche Aufgaben eine solche im 21. Jahrhundert sinnvollerweise (noch) wahrnehmen kann und an welchen Stellen sich konkreter Forschungsbedarf entdecken lässt. Anders formuliert: Es geht um die Beantwortung der an die Schiller’sche Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1789 anknüpfenden Frage: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Allgemeine Staatslehre?

Betrachtet man die bestehenden Vorstellungen von und Beschreibungen der Allgemeinen Staatslehre vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Gemeinsamkeiten herausschälen, die – bei allen Unterschieden im Detail und in der Gewichtung – das weitgehend konsentierte Fundament der Allgemeinen Staatslehre bilden. Sie werden im Folgenden skizziert (I–III) und liegen der knappen Definition zugrunde, die anschließend vorgeschlagen wird (IV).

Fußnoten

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 4.

H. Peters, in: Verwaltungsakademie Berlin, Gegenwartsfragen der Kommunalverwaltung, S. 139 (140).

Dazu etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.

Vgl. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9 f.

Eine entsprechende Disziplin findet sich allein im deutschsprachigen Raum (also in Deutschland, Österreich und der Schweiz), vgl. A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2). Siehe knapp zur historischen Entwicklung auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 5. Relativierend allerdings C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (359 f.).

Siehe auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15: „Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“

M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1, Rn. 5.

Vgl. etwa H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1: „Abstrakt-begriffliche Definitionen wären hier allerdings wenig fruchtbar.“

Ob das vor dem Hintergrund der im Jahr 2012 veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für das juristische Studium sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, gerade weil die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft geeignet ist, Erklärungsansätze für die vielfältigen globalen Entwicklungen anzubieten.

Das schließt Unterschiede im Detail und in den Schwerpunktsetzungen natürlich nicht aus. Gerade bei den klassischen Lehrbüchern „weiß“ man aber als LeserIn was einen erwartet. Und auch die Vorlesungen sind in diesen Bereichen zumindest inhaltlich ähnlich aufgebaut.

Siehe auch O. Lepsius, Besprechung von Thomas Vesting, Staatstheorie, JZ 2019, 991 (992): „Wie immer bei Staatslehren ist unklar, was eigentlich genau mit dem Erkenntnisgegenstand ‚Staat‘ erforscht werden soll.“

I. Der Staat als Gegenstand

Bei der Allgemeinen Staatslehre geht es erstens um eine Betrachtung des kulturellen, sozialen und normativen Phänomens „Staat“ beziehungsweise „Staatlichkeit“: „Der Untersuchungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre ist der Staat“, heißt es bei Burkhard Schöbener und Matthias Knauff[12] gleich zu Beginn ihres Werkes, für Georg Jellinek ist Aufgabe der Staatslehre „Erkenntnis der Erscheinung des Staates nach allen Richtungen seines Daseins“[13], Roman Herzog zählt die Staatslehre zu den Wissenschaften, „die sich mit dem Staat befassen“[14] und Hans Herbert von Arnim sowie Herbert Krüger streben gar die Entwicklung einer „Theorie des Staates an sich“[15] respektive eine „wahrhaft(e) Lehre vom Staate“[16] an. Zwar lehnt Hermann Heller eine Untersuchung des „Wesens“ des Staates insoweit ab, als eine solche vom Staat als eines „unveränderlichen Ding[s] mit zeiträumlich konstanten Merkmalen“[17] ausgeht. Gleichwohl will aber auch er „den Staat begreifen in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion.“[18]

Die Feststellung der Staatszentriertheit der Allgemeinen Staatslehre mag auf den ersten Blick banal erscheinen – wie sollte es bei einer Wissenschaft anders sein, die den Staat schon im Namen trägt? Gleichwohl geht mit ihr eine Begrenzung des zu behandelnden Gegenstandes einher, gerade im Vergleich zu den Wirtschafts-, Politik- sowie anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Diese können und müssen Teil einer Allgemeinen Staatslehre nur sein oder tragen zu dieser nur bei, soweit es um Fragestellungen geht, die in einer Nähebeziehung zum modernen Staat oder zur Staatlichkeit stehen. Diese Wissenschaften weisen zur Allgemeinen Staatslehre also Schnittmengen auf, überlappen sich mit dieser aber nicht vollständig. Welcher Art und wie konkret diese Nähebeziehung ausgestaltet sein muss, bleibt offen und lässt sich nicht abschließend angeben. Tatsächlich gibt es – wie Georg Jellinek treffend formuliert – kaum ein „Gebiet menschlicher Gemeintätigkeit, das nicht in Beziehungen zum Staate stünde“.[19] Hier dürfte ein Grund für die abweichenden Inhalte der Lehrbücher zur Allgemeinen Staatslehre und die divergierenden Forschungsfragen liegen. Welche Nähebeziehung als ausreichend, welche Berührungspunkte als unerheblich eingeordnet werden, wird nicht einheitlich beurteilt. An der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Allgemeinen Staatslehre von den anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ändert dieser Befund jedoch nichts, oder anders: Die Allgemeine Staatslehre geht nicht vollständig in diesen anderen Wissenschaften auf,[20] so wie auch diese nicht in der Allgemeinen Staatslehre aufgehen. Es ist vor diesem Hintergrund kein Widerspruch, wenn das zu skizzierende Forschungsprogramm auch gesellschaftliche Gruppierungen und Phänomene (etwa Gewerkschaften, internationale Unternehmen und Investmentfonds, Geschäftsbanken, Bürgerinitiativen [„Fridays for Future“] oder Rundfunk, Fernsehen und soziale Medien) in den Blick nimmt, solange zu jedem Zeitpunkt verdeutlicht wird, woraus sich – nach Ansicht des Verfassers – die spezifische Nähebeziehung zum Staat oder zum Phänomen Staatlichkeit ergibt.

Die Untersuchung des Staates erfolgt nicht nur empirisch betrachtend, sondern zugleich normativ bewertend; es geht mit Hans Herbert von Arnim darum, zu beschreiben, zu erklären, zu bewerten und zu kritisieren sowie um das Entwickeln von Verbesserungsvorschlägen.[21] Die Allgemeine Staatslehre ist Seins- und Sollenswissenschaft zugleich.[22] Die ausschließliche Beschreibung des Bestehenden, gewissermaßen der „staatlichen Tatsachen“, wäre zwar möglich. Und es steht außer Frage, dass mit der damit einhergehenden Systematisierung der weltweiten Staatenvielfalt und der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ein Mehrwert verbunden wäre. Die unterschiedlichen Formen moderner Staatlichkeit und die historisch-pfadabhängigen Wandlungsprozesse (nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent)[23] sind auch für ExpertInnen kaum noch zu überblicken. Der Staat ist nicht statisch, sondern „Prozess“,[24] mehr „atmende(s) Wesen als statische Konstruktion“,[25] was sich in der Coronapandemie in besonderer Weise gezeigt hat. Eine solche, rein beschreibende und ordnende Allgemeine Staatslehre verlöre aber ihren Charakter als kritische Wissenschaft, schrumpfte zur „positivistischen Begleitwissenschaft“ und wäre in einer solchermaßen faden und blutleeren Form nicht in der Lage, Impulse für die Entwicklung der Staaten zu liefern und Fehlentwicklungen zu thematisieren. Eine solche Allgemeine Staatslehre könnte mit jeder Ausprägung von Staatlichkeit leben – der Staat und die Staatenwelt wären wie sie sind: Der Hobbes’sche Leviathan mal mehr und mal weniger gebändigt, mal gewalttätig, mal schwach bis zur Bedeutungslosigkeit. Für eine neutrale Allgemeine Staatslehre stellten sich daran anknüpfende Fragen nicht. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Erosion des demokratischen Verfassungsstaates,[26] ja sogar die Entstehung neuartiger autoritärer Staatsformen wäre für sie lediglich Anlass zur Anpassung der gefundenen Ergebnisse aber niemals Ausgangspunkt für Kritik oder (lautstarke) Empörung. Eine solche Allgemeine Staatslehre aber kann es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) geben:[27] „Staatslehre muss auch kritisch sein“.[28] Ähnlich formuliert Herbert Krüger: „Eine Staatslehre lässt sich gewiss nicht ohne inneres Beteiligtsein schreiben, um von dem Sinn für Staatlichkeit und ihre Würde ganz zu schweigen.“[29] Wo Menschen gefoltert, Meinungen unterdrückt, JournalistInnen inhaftiert, Medien behindert und Oppositionelle gegängelt werden, darf eine moderne Allgemeine Staatslehre nicht in unparteiischer Lethargie, Langeweile und Beliebigkeit verharren. Auch die Auswirkungen des vorherrschenden Wirtschaftssystems auf den sozialen Zusammenhalt wird sie nicht unkommentiert lassen können. Allgemeine Staatslehre ist nicht wertneutral, ohne dass dazu Übereinstimmung in der Ausgestaltung des normativen Referenzmodells bestehen müsste, an dem die reale Staatenwelt gespiegelt wird. Es ist aber Aufgabe einer jeden Allgemeinen Staatslehre ein Referenzmodell anzubieten und zur Diskussion zu stellen.[30] Nach hier vertretener Ansicht kommt allein der (denationalisierte)[31] demokratische Verfassungsstaat[32] als Referenzmodell in diesem Sinne in Betracht.[33] Nur dieser geht von der gleichen (politischen) Freiheit aller – dem demokratischen Grundversprechen – sowie der unveräußerlichen Menschenwürde jedes Individuums unabhängig von Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung oder sexueller Orientierung aus.[34] Seine Struktur, Ausgestaltung und Charakteristika sollten daher auch im Forschungsprogramm der Allgemeinen Staatslehre im Zentrum stehen. Beide Ebenen – also die tatsächliche und die normative Ebene – gilt es freilich in der Darstellung durchgehend und deutlich erkennbar voneinander zu scheiden: „Stets sollte also klar sein, ob eine Aussage die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt oder sie kritisch bewertet und eine bessere Alternative vorschlägt, kurz, ob man von dem spricht, was ist, oder von dem, was sein soll.“[35]

Die Einigkeit im Hinblick auf ihren zentralen wissenschaftlichen Gegenstand – den Staat – darf nicht mit einer wissenschaftlichen Einigkeit hinsichtlich des zugrundeliegenden Staatsbegriffs verwechselt werden. Angesichts „der Mannigfaltigkeit, die der Staat darbietet“[36] ist dieser Befund nicht überraschend – „der Staat“ kann nicht nur auf unterschiedliche Weise betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Art definiert werden:[37] „Man kann sehr Verschiedenes als ‚Staat‘ bezeichnen.“[38] Tatsächlich bildet die Frage nach dem Wesen des modernen (neuzeitlichen) Staates und den diesen prägenden Merkmalen einen zentralen Diskussionspunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre.[39] Sie bleibt ein zentraler Forschungsbereich und dürfte es angesichts des steten Wandels von Staatlichkeit und neuartiger Herausforderungen (Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung) dauerhaft bleiben.[40] Auch die unten (und zuvor bereits an anderer Stelle)[41] präsentierten historischen Wesensmerkmale, die den modernen Staat der Neuzeit prägen und von vorherigen staatlichen (oder staatsähnlichen) Gemeinwesen unterscheiden, sind nur eine Momentaufnahme. „It may seem curious that so great and obvious a fact as the state should be the object of quite conflicting definitions, yet such is certainly the case.“[42] Auch insoweit ist es dem Verfasser überlassen, sich „seinen modernen Staat zu schaffen“ oder (in den Worten Egon Friedells) gerade im Hinblick auf die staatliche Entwicklungsgeschichte seine „Legende“ über den modernen Staat zu erzählen[43] und in den Diskurs einzupflegen – stets in kritischer Auseinandersetzung mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart vorzufindenden Vorschlägen, Ansätzen und Ideen.[44]

Fußnoten

B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1, Rn. 1.

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9.

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16.

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort, S. V.

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3.

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3. Ein solchermaßen statischer Staatsbegriff liegt freilich auch den Staatslehren Krügers und von Arnims nicht zugrunde.

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2.

Vgl. auch K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 23; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 121.

Siehe dazu M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, 2021.

G. F. Schuppert, Staat als Prozess, 2010.

M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, S. 127.

Siehe dazu etwa S. Levitsky/D. Ziblatt, How Democracies Die, 2018, Y. Mounk, The People vs. Democracy, 2018; A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Auflage 2018; A. Przeworski, Krisen der Demokratie, 2020; A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, 2021.

Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 34: „Die Staatslehre zumindest darf sich eines Schweigens gegenüber der Gegenwart nicht schuldig machen.“

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2. Siehe auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 4.

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. IX.

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 122.

Bei der Denationalisierung handelt es sich freilich um eine in die Zukunft gerichtete Forderung, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285 ff. Siehe auch unten bei Frage X.

Zur historischen Entwicklung A. Thiele, Der konstituierte Staat, 2021 sowie – aus deutscher Perspektive – H. Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, 2020.

Siehe dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 31 ff. Zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaates finden sich bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 235 ff. Siehe auch ders., Der konstituierte Staat, S. 92 ff.

Vgl. auch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 28 f.

R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 117 sowie H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 3 ff.

N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 14. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9: „Das bedeutet, dass sich auf die Frage, was eigentlich damit gemeint ist, wenn das Wort ‚Staat‘ verwendet wird, keine Antwort von selbst versteht.“

Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4 ff.

Aus der Perspektive der Bankenregulierung A. Busch, Staat und Globalisierung, 2003.

Siehe A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44 ff.

R. M. MacIver, The Modern State, S. 3.

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 32 ff., 37.

Dass es angesichts dieser Vielfalt an (historischen) Staatsbegriffen nicht zwingend erforderlich ist, stets eine völlig neue Definition anzubieten, versteht sich von selbst.

II. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft

Die Allgemeine Staatslehre ist zweitens eine interdisziplinäre Wissenschaft.[45] Dieser Umstand wurde bereits erwähnt und ergibt sich daraus, dass es der Allgemeinen Staatslehre um eine umfassende Beschreibung des Staates (der Staatlichkeit), des „gesamten politisch-administrativen Systems“[46] geht. Eine solche – anspruchsvolle[47] – Aufgabe verlangt, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen.[48] Andernfalls muss die Erfassung des Staates in seiner Gesamtheit scheitern: „Staatslehre ist heute interdisziplinär oder sie ist überhaupt nicht.“[49] Oder in den Worten von Christoph Möllers: „Die Allgemeine Staatslehre ist eine eigene Disziplin zur Zusammenführung anderer Disziplinen.“[50] Zu betonen ist freilich: In dieser Zusammenführung erschöpft sie sich nicht. Ohnehin ist auch eine solche Zusammenführung eine wissenschaftliche Leistung, die zu Ergebnissen führen kann, die über diejenigen der Einzelwissenschaften hinausgehen.[51] Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Allerdings ist mit dieser Feststellung der Interdisziplinarität noch nicht beantwortet, welche Wissenschaftsdisziplinen bei der Allgemeinen Staatslehre zusammenkommen (sollen) und mit welcher Methode, in welchem Umfang und mit welchem wissenschaftlichen Ziel eine solche Zusammenführung durchzuführen wäre. In der Forschungswelt besteht hier erneut keine Einigkeit, teilweise wird bestritten, dass die angestrebte Vereinigung zu einer „neuen wissenschaftlichen Form“[52] überhaupt gelingen kann. Das Ob und das Wie der methodenpluralistischen[53] Integration der verschiedenen Teilwissenschaften sind jedenfalls zu einem gewissen Umfang der Willkür und damit den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Verfassers überlassen – ein weiterer Grund, warum sich die Lehrbücher so deutlich voneinander unterscheiden. Wer sich neben der Rechtswissenschaft auch in der Ökonomie zu Hause fühlt, wird wirtschaftswissenschaftliche Aspekte stärker integrieren[54] als jemand, der vor allem an soziologischen Fragestellungen interessiert ist. Oftmals dürfte auch der Zufall eine Rolle spielen: Schon angesichts des Umfangs der Abhandlungen, die in dem erforderlichen Näheverhältnis zum modernen Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa, weil sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[55] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[56]

Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[57] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[58] Hinzu treten die politische Philosophie[59] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[60] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[61] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[62] anzusehen ist.[63] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im Zentrum stand)[64] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so, wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[65] Angesichts dieser doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[66] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[67] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung, zumindest aber Verwunderung sorgen dürfte.

Dieser interdisziplinäre Ansatz, bei dem normative und sozialwissenschaftliche Vorstellungen und Kontexte zusammenkommen, grenzt die Allgemeine Staatslehre vom (vergleichenden) Staatsrecht und vom (vergleichenden) Verfassungsrecht ab, denen die normativ-dogmatisch (rechtliche) Analyse einer bestimmten Staats- und Verfassungsordnung respektive der normative (rechtliche) Vergleich mehrerer Staats- und Verfassungsordnungen obliegt.[68] Die Allgemeine Staatslehre geht in diesen normativen Verfassungsvergleichswissenschaften nicht auf, die daher auch nicht an ihre Stelle treten können. Vergleichbar ist sie im anglo-amerikanischen Raum am ehesten mit der unter anderem von Ran Hirschl wiederbelebten Disziplin „Comparative Constitutionalism“,[69] die im anglo-amerikanischen Raum auch (aber nicht ausschließlich)[70] von RechtswissenschaftlerInnen betrieben wird.[71]

Fußnoten

Vgl. auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 16 ff.

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (158).

Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 10.

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

Dass die Zusammenführung gegenwärtig mehr oder weniger methodenfrei abläuft ist allerdings ein Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Siehe dazu sogleich.

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

Vgl. M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2.

In zahlreichen Lehrbüchern kommen ökonomische Aspekte, nicht zuletzt die Frage nach der Finanzierung des Staates, allerdings nur sehr verkürzt oder überhaupt nicht vor. Hier besteht zweifellos Forschungsbedarf aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre. Vor allem aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Entwicklungen – etwa zur Bewertung der Staatsverschuldung – werden allenfalls rudimentär zur Kenntnis genommen.

Zur Methodenkritik auch gleich noch unten.

Vgl. T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 36.

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 5.

Einführend dazu E. Özmen, Politische Philosophie, 2013.

Speziell zum historischen Staatsverständnis zuletzt auch G. Metzler, Der Staat der Historiker, 2019.

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 24 ff. Friedell spricht der Geschichtswissenschaft dabei im Ergebnis jede Wissenschaftlichkeit ab, aaO, S. 26: „Wir gelangen demnach zu dem Resultat: sobald die referierende Geschichtsschreibung versucht, eine Wissenschaft zu sein, hört sie auf objektiv zu sein, und sobald sie versucht, objektiv zu sein, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein.“ Diese Einschätzung wird hier nicht geteilt, sie sei aber zur nicht ernstgemeinten Provokation befreundeter HistorikerInnen gleichwohl zitiert.

„Staatswissenschaften“ bildet dann den Oberbegriff für alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Staat befassen.

Vgl. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16 ff.

Überblick dazu bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 236 ff.

Vgl. auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (358).

So etwa der Untertitel der Allgemeinen Staatslehre von Reinhard Zippelius, der allerdings nicht näher erläutert wird.

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (157).

Siehe beispielhaft etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010. Allerdings wird diese Entkontextualisierung und Fokussierung auf die (nationale) Dogmatik, die sich nicht zuletzt in der Zitierweise höchstrichterlicher Entscheidungen spiegelt, auch in der deutschen Rechtswissenschaft mittlerweile kritisch gesehen, vgl. O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793 ff. Siehe auch A. Thiele, Der konstituierte Staat, S. 369 sowie F. Gärditz, Verfassungsentwicklung und Verfassungsrechtswissenschaft, in: M. Herdegen/J. Masing/R. Poscher/F. Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 4, Rn. 63 f. Darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

R. Hirschl, Comparative Matters, 2014. Insgesamt herrscht im anglo-amerikanischen Raum bisweilen ein wenig Verwunderung über die gerade im deutschen Staatsrecht vorzufindende strikte Trennung der normativen von der sozial-politischen Sphäre, wie sie sich auch in den klassischen Lehrbüchern findet. Dort wird auch das allgemeine Staatsrecht stärker in einen interdisziplinären Kontext gebettet.

Ran Hirschl ist Politik- und kein Rechtswissenschaftler.

Vgl. auch J. Plebuch, Amerikanischer Weltdiskurs, Der Staat 60 (2021), 133 (133).

III. Über einen bestimmten Staat hinausreichendes Erkenntnisinteresse

Reicht das interdisziplinäre Erkenntnisinteresse einer „Staatslehre“ über das Wesen und die Struktur eines einzelnen Staates hinaus, handelt es sich drittens um eine Allgemeine Staatslehre; soll hingegen das Wesen eines bestimmten Staates oder einer sehr kleinen Staatengruppe beleuchtet werden, handelt es sich um eine „Besondere Staatslehre“.[72] Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, verfolgen jedoch unterschiedliche Zwecke. Eine Allgemeine Staatslehre zielt ihrer Idee nach darauf ab, Wesen und Charakter aller bestehenden Staaten zu ergründen. Sie wird sich daher der induktiven Methode bedienen und versuchen, vom Besonderen der individuellen Staaten auf das Allgemeine aller Staaten zu schließen. Der empirische „Staatenvergleich“ bildet ein zentrales Element einer jeden Allgemeinen Staatslehre. Das schließt eine deduktive Vorgehensweise nicht von vornherein aus. So ließen sich eventuell aus dem allgemeinen Wesen des Menschen abstrakte Hypothesen über das Zusammenleben im Staat entwickeln, die dann jeder staatlichen Gemeinschaft gemein sind oder sein müssten. Auch dieser Weg – den nicht zuletzt Karl Popper mit seiner Stückwerk-Sozialtechnik gewiss eingeschlagen oder bevorzugt hätte[73] – käme aber ohne den umfassenden Staatenvergleich zur anschließenden Verifizierung (beziehungsweise Falsifizierung) der Hypothesen nicht aus. Im Übrigen ist es bisher allenfalls rudimentär gelungen, aus dem Wesen des Menschen sinnvolle Annahmen zu formulieren, die sich als Grundlage einer umfassenden und halbwegs realitätsnahen (nicht-utopischen) Allgemeinen Staatslehre eignen würden.[74] Auch hier wird daher die induktive Methode als „Grundsatzmethode“ vorgeschlagen, die, das sei noch einmal betont, nicht ausschließt (sondern sogar verlangt), den empirisch ermittelten Befund einer normativen Kritik zu unterziehen.

Der theoretisch-universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Einschränkung und Modifikation. Angesichts der Vielzahl an Staaten – die Vereinten Nationen haben gegenwärtig 193 ordentliche Mitglieder – ist es zunächst unmöglich, eine umfassende Allgemeine Staatslehre zu verfassen, die sämtliche bestehenden modernen Staaten mit der gleichen wissenschaftlichen Tiefe durchdringen und analysieren könnte. Schon die Sprachbarriere ist hier nicht zu überwinden. Entsprechende Versuche hat es zwar durchaus gegeben, auch Georg Jellinek ist seine Maßstäbe setzende Allgemeine Staatslehre mit diesem Anspruch angegangen.[75] Er hat diesen aber schon wenige Seiten später wieder zurückgenommen, jedenfalls aber eingeschränkt.[76] Trotz ihres beeindruckenden Umfangs und ihrer analytischen Kraft handelt es sich in ihrem Kern „doch lediglich (um) eine Theorie des europäischen Staatstypus“,[77] die nicht zuletzt asiatischen, aber auch afrikanischen Erscheinungsformen von Staatlichkeit praktisch keinen Raum bietet. In der Regel beschränken sich die Verfasser einer Allgemeinen Staatslehre auch ausdrücklich auf die Beschreibung einer bestimmten Staatengruppe, die aus ihrer Sicht einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht. Herbert Krüger konzentriert sich in seinem monumentalen Werk auf den „modernen Staat“, Roman Herzog grenzt ein wenig weiter ein und behandelt den „modernen Staat demokratischer Prägung“[78], während sich Hermann Heller ausdrücklich auf den „Staat, wie er sich seit der Renaissance im abendländischen Kulturkreis ausgebildet hat“, fokussiert (womit letztlich wie bei Herbert Krüger der moderne Staat gemeint sein dürfte).[79] Einer solchermaßen auf eine Gruppe von Staaten begrenzten [80]