Nachtgefieder

Cover

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Nicole Seifert

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Umschlagabbildung: laif)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-463-40586-5 (3. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30591-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-30591-5

Fußnoten

Ich war ein Vogel

Mit zarter weißer Brust

Jemand zerschnitt meine Kehle

Darüber zu lachen

Weiß nicht

Übersetzung: Felicitas Mayall

Dieser Text ist rein fiktiv. Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen, Orten oder Ereignissen beruhen auf Zufällen und sind nicht beabsichtigt.

Für meine Freundinnen, deren Herzen

gebrochen wurden, und für ihr Wiederaufleben

Deine Küsse dunkeln, auf meinem Mund.

Du hast mich nicht mehr lieb.

 

Und wie du kamst –!

Blau vor Paradies;

 

Um deinen süßesten Brunnen

Gaukelte mein Herz.

 

Nun will ich es schminken,

Wie die Freudenmädchen

Die welke Rose ihrer Lende röten.

 

Unsere Augen sind halb geschlossen,

Wie sterbende Himmel –

 

Alt ist der Mond geworden.

Die Nacht wird nicht mehr wach.

 

Du erinnerst dich meiner kaum.

Wo soll ich mit meinem Herzen hin?

 

Else Lasker-Schüler

 

Il tempo invecchia in fretta

 

Antonio Tabucchi

OBWOHL ES LÄNGST dunkel war, trippelten noch immer Tauben zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts herum, der bis in die Fußgängerzone Richtung Karlsplatz hineinwucherte. Donatella Cipriani verabscheute diese Vögel, überall schienen sie zu sein, bevölkerten auch römische und Mailänder Winter- und Sommernächte, die Plätze von London, Paris, verpesteten den Markusplatz von Venedig und den Campo von Siena. Die Tauben passten sich den Menschen an, verloren ihre natürlichen Instinkte. Sie machten die Nacht zum Tag, schliefen dafür am Morgen länger, litten vermutlich unter Schlafmangel und wurden anfällig für Infektionskrankheiten – wie die Menschen. Sie vögelten sogar nachts, im Schein von Neonlampen. Auch das hatte Donatella Cipriani beobachtet, und es war ihr wie eine Perversion erschienen, ähnlich dem Nachtleben vieler Menschen. Wie ihr eigenes.

Sie ging sehr langsam, blieb immer wieder vor den großen Auslagen der Geschäfte stehen, die erst vor einer halben Stunde die Türen geschlossen hatten. Trotzdem waren kaum noch Menschen unterwegs, als hätte jemand sie weggezaubert. Nur die Tauben waren noch da. Mit aller Kraft konzentrierte sich Donatella Cipriani auf die Waren in den Schaufenstern, sah trotzdem durch sie hindurch auf etwas anderes, das hinter all diesen Lichtern und Weihnachtsdekorationen lag. Obwohl Nacht war, trug sie eine leicht getönte große Sonnenbrille. Ein breiter Seidenschal bedeckte ihr Haar, verhüllte auch ihren Mund.

Sie war sich nicht sicher, ob ihr Entschluss richtig war, und sie hatte Angst. Zweimal ging sie an der Abzweigung zum Polizeipräsidium vorbei. Beim ersten Mal lief sie weiter bis zum Karlstor, kehrte verwirrt um, studierte ein Filmplakat und wusste schon ein paar Minuten später nicht mehr, welchen Film es dargestellt hatte.

Unruhig kehrte sie zum Marienplatz zurück, fühlte sich vom Geklapper ihrer eigenen Absätze verfolgt und bemerkte, dass immer mehr Tauben wie Lappen von den Dächern fielen, dunkle, gurrende Tauben, denen die milden Winter und künstlich erhellten Nächte ein ewiger Frühling waren. Ohne nachzudenken, trat sie nach einem dickkehligen, buckelnden Täuberich, verfehlte ihn knapp. Er flatterte ein paar Meter, trippelte dann balzend weiter, als wäre nichts geschehen.

Sie rannte hinter ihm her, jagte ihn erneut hoch, blieb keuchend stehen und sah ihm nach, wie er sich auf einen Sims der Michaelskirche flüchtete und von dort auf sie herabstarrte. Der Sims war zu schmal für ihn, deshalb klebte er regelrecht an der Wand. Panisch, mit abgeknicktem Flügel, ab und zu flatternd das Gleichgewicht haltend. Seine Augen schienen rot zu glühen, doch das war vermutlich nur der Widerschein einer Leuchtreklame.

Ihr war heiß, und sie hätte gern einen Stein nach ihm geworfen, doch mitten in der Fußgängerzone gab es keine Steine.

«Was ham S’ denn gegen die arme Taub’n?», fragte ein Mann, der Donatella bei ihrer Attacke zugesehen hatte. Sie verstand ihn nicht, beachtete ihn nicht, ging schnell weiter. Es war dumm von ihr gewesen, nach der Taube zu treten und ihr nachzulaufen. Sie durfte nicht auffallen.

An der Abzweigung zur Ettstraße blieb sie stehen. Der Mann war ihr nicht gefolgt, doch er schaute ihr nach. Hell erleuchtet lag der Hof des Polizeipräsidiums vor ihr, die Gitterstäbe des hohen Zauns zeichneten sich scharf ab. Noch immer blickte der Mann in ihre Richtung. Deshalb lief sie weiter, näherte sich langsam dem Tor und den beiden jungen Polizisten, die dort Wache hielten. Das Tor war verschlossen. Donatella Cipriani ging bis zum Ende des riesigen Gebäudes und kehrte wieder um.

Vielleicht war sie gerade dabei, die größte Dummheit ihres Lebens zu machen. Vielleicht wäre es besser, in den nächsten Zug zu steigen und nach Mailand zu fahren. Oder nach Amsterdam oder Paris oder Hamburg. Aber es konnte auch sein, dass es günstiger war, um Einlass in dieses ein wenig furchterregende Gebäude zu bitten und zu tun, was sie sich vorgenommen hatte.

Niemand wusste von ihrem Plan, auch ihre Rechtsanwältin in Mailand nicht. In ihrer Heimat durfte keiner etwas erfahren, und dort würde sie auch niemals zur Polizei gehen. Aber hier in München könnte ihr Plan funktionieren. Sie musste nur all ihre Autorität und Überzeugungskraft einsetzen. Nichts durfte an die Öffentlichkeit dringen. Aber das läge im Interesse der Ermittler selbst. Wirklich? Machte sie sich auch nichts vor?

Donatella Cipriani legte zwei Finger seitlich an den Hals und spürte das heftige Pochen ihres Blutes. Sie musste ruhig bleiben. Ruhig und überlegen.

Sie brauchte einen Übersetzer – aber das war ein Mensch zu viel, einer, der versucht sein könnte, sich einen Batzen Geld zu verdienen. Ihr Deutsch war nicht gut, reichte gerade, um Kaffee zu bestellen. Sie müsste es mit Englisch versuchen, doch lieber wäre es ihr, diese heikle Angelegenheit in ihrer Muttersprache Italienisch zu erklären. Jedes einzelne Wort zählte. Nichts durfte schiefgehen.

Sie hoffte, einen Mann als Gegenüber zu bekommen; Männer wusste sie ganz gut zu lenken. Obwohl sie sich dessen inzwischen auch nicht mehr sicher war. Trotzdem könnte sie vielleicht eher auf die Solidarität einer Frau bauen. In ihrem speziellen Fall.

Sie fühlte sich zittrig. Das Risiko war so hoch. Ihre gesamte Existenz stand auf dem Spiel. Niemals würde Ricardo ihr einen Skandal verzeihen. Männer konnten sich in Italien bestimmte Skandale leisten – jedenfalls, wenn diese bewiesen, dass sie echte Männer waren. Es gehörte quasi zum guten Ton. Frauen konnten das nicht. Ganz besonders nicht als Ehefrauen von Männern, die in der Öffentlichkeit standen.

Plötzlich erschien Donatella Cipriani der eigene Plan völlig dilettantisch, geradezu lächerlich. Er konnte gar nicht funktionieren. Sie hatte sich nur selbst beruhigt mit diesem Plan. Es gab keinen Ausweg. Sie würde mit Ricardo reden müssen, und er würde sich blitzschnell von ihr trennen. Seine Fähigkeit, Abstand von gefährlichen Situationen zu halten, war berühmt. Er würde sie genauso fallenlassen, wie er andere hatte fallenlassen. Sie konnte sogar den Ausdruck seiner Augen vor sich sehen, dieses langsame Erkalten, dieses innerliche Zurücktreten, vor dem sich sogar seine engsten Mitarbeiter fürchteten.

Donatella umklammerte einen der eisernen Gitterstäbe und versuchte ruhig zu atmen. Sie musste hinein in diesen hellen Hof mit all seinen Scheinwerfern. Es gab keinen anderen Weg. Noch einmal schaute sie sich sorgfältig um. Niemand war zu sehen. Sie hatte es geschafft, jeden möglichen Verfolger abzuschütteln und in die Irre zu führen. Immerhin das. Entschlossen ging sie auf die wachhabenden Beamten zu.

«Ich muss sprechen mit Commissario!», sagte sie und war erstaunt, wie fest ihre Stimme klang. «I have to talk to an inspector, please!»

 

Zwei, drei Sekunden lang war sich Laura Gottberg nicht sicher, ob dies wirklich ihre eigene Küche sein konnte, ob es tatsächlich die vertrauten blauen Schränke waren, die sie selbst lackiert hatte, ob sie gerade ein duftendes Hühnchen aus dem Bratrohr genommen hatte, das in einer Soße aus Tomaten, schwarzen Oliven und Sardellen schwamm. Sie verharrte einfach, erstarrte in der Mitte dieser möglicherweise fremden Küche, hielt die Kasserolle mit dem Braten vor sich und versuchte zu begreifen, was ihr Sohn Luca gerade gesagt hatte.

Nur zwei, drei Sekunden lang, als hätte jemand ihren Lebensfilm angehalten. Dann stellte sie die Kasserolle auf dem Herd ab und drehte sich langsam zu Luca um.

Sie sah nur seinen Rücken. Mit einer Schulter lehnte er an der Balkontür, hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er war sehr groß und wirkte trotz des weiten Pullovers überschlank und schlaksig. Jetzt stieß er mit seinem rechten Turnschuh an die Balkontür und presste seine Stirn an die Scheibe.

«Es hat doch gar nichts mit dir zu tun!» Seine Stimme klang belegt, und er räusperte sich lange.

Laura nahm jetzt ihre Knie wahr, spürte eine ungewöhnliche Schwäche in ihren Beinen, die Füße waren irgendwie nicht da, wo sie hingehörten.

«Nein», murmelte sie und stützte sich mit beiden Händen auf der Anrichte ab.

«Es hat wirklich nichts mit dir zu tun, Mama!» Jetzt war seine Stimme lauter, als müsse er sich selbst davon überzeugen. Noch immer redete er mit der Balkontür, der Dunkelheit draußen und vielleicht mit ihrem Spiegelbild in der großen Glasscheibe. Er hatte sie die ganze Zeit beobachtet, obwohl er ihr den Rücken zuwandte. Auch das wurde Laura erst in diesem Augenblick bewusst.

Dabei hatte sich bis vor wenigen Minuten das Leben ganz wohlig angefühlt. Ein freier Tag lag hinter ihr, sie hatte mit Lust das Abendessen zubereitet und sich auf das gemeinsame Mahl mit Luca und Sofia gefreut. Später wollte sie ins Präsidium fahren und Papierkram aufarbeiten, Bereitschaftsdienst hatte sie ohnehin.

Was hatte Luca gesagt? Ohne Vorwarnung!

«Ich möchte eine Weile bei Papa wohnen. Natürlich werde ich öfter bei euch vorbeikommen.»

Laura hatte es die Sprache verschlagen und für kurze Zeit eine Art Realitätsverlust ausgelöst. Jetzt war sie wieder da, trotz der weichen Knie. Aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte, hatte nur wirre Gedanken, die zwischen Vernunft, Protest, Verzweiflung und Verständnis umherrasten.

Luca war immerhin siebzehn, längst konnte er seinen Aufenthaltsort selbst wählen, konnte entscheiden, ob er bei Vater oder Mutter leben wollte. Sie kannte das Gesetz. Schon seit einiger Zeit war er auf dem Weg. Wohin? Vor allem zu seiner Freundin. Aber das war nur Spiel gewesen. Innerlich war er schon länger unterwegs, raus ins eigene Leben. Gut so … hatte sie bisher gedacht.

Aber plötzlich ging es zu schnell. Er war noch nicht einmal mit der Schule fertig. Sie selbst hatte nie daran gezweifelt, dass er wenigstens bis zum Abitur bei ihr und Sofia bleiben würde. Trotz all der Anzeichen von Selbständigkeit. Noch knapp zwei Jahre, hatte sie gedacht. Und sie hatte sich vorgenommen, diese zwei Jahre besonders intensiv zu erleben.

Ronald, ihr Exmann, hatte nie auch nur angedeutet, dass er die Kinder auf Dauer übernehmen wollte. Selbst Luca hatte immer wieder gesagt, sein Vater sei zwar nett, aber ziemlich unzuverlässig. Wie kam er plötzlich auf die absurde Idee, zu ihm zu ziehen?

«Warum sagst du denn nichts?» Lucas Stimme klang jetzt ärgerlich und ein bisschen verzweifelt.

«Weil … weil ich überrascht bin. Das bedeutet eine große Veränderung, Luca.»

«Ich hab doch gesagt, dass ich trotzdem oft herkomme!»

«Ist schon okay. Aber könntest du mir ein bisschen Zeit geben, das zu verdauen?»

«Findest du es nicht normal, dass ich auch mal mit meinem Vater leben will? Es ist doch normal! Er ist genauso wichtig für mich wie du!»

Laura beobachtete, wie sich die knusprige braune Haut des Hähnchens zusammenzog und faltig wurde. «Wir sollten essen», murmelte sie.

«Ach, verdammt! Ich hab es gewusst! Deshalb hab ich bisher nichts gesagt! Ich wusste, dass du es nicht aushältst!» Luca stieß sich von der Balkontür ab und stand mit geballten Fäusten vor Laura, Tränen in den Augen. Oder irrte sie sich? Langsam löste sie ihren Blick vom Huhn und stellte sich ihrem Sohn.

«Ich halte es aus, Luca. Es tut weh, aber ich halte es aus. Wann willst du umziehen?»

«Tu doch nicht so heldenhaft! Mir fällt’s ja auch schwer. Aber es ist wichtig für mich!» Jetzt klang er trotzig.

«Ich fühl mich überhaupt nicht heldenhaft, Luca. Eher so, als würde die Zeit mich überholen und als hätte ich etwas Wichtiges übersehen. Komisches Gefühl.» Laura versuchte ein Lächeln, ließ es aber sofort, denn sie brachte nur eine Grimasse zustande.

«Ach, Mama …» Er streckte die Arme nach ihr aus. Laura wich ihm aus.

«Mach das jetzt nicht, Luca! Ich will nicht die Fassung verlieren!»

Als sie Sofias Schritte auf dem Flur hörten, wandten sie sich gleichzeitig von der Küchentür ab und senkten die Köpfe.

«Hab ich Hunger! Es riecht so gut. He, Luca, warum hast du den Tisch noch nicht gedeckt?» Sofia öffnete den blaulackierten Küchenschrank, nahm drei Teller heraus und knallte sie auf den Tisch. Dann hielt sie inne und atmete so hörbar ein, als prüfe sie die Luft wie ein sicherndes Tier.

«Is’ was?»

«Nein, was soll denn sein?» Laura schob die Kasserolle mit dem Huhn wieder ins Bratrohr und schaltete den Grill ein, um die knusprige Haut zu retten.

«Na ja, hier knistert’s irgendwie. Habt ihr gestritten?»

Laura schüttelte den Kopf, füllte eine Schüssel mit gedünsteten grünen Bohnen und eine zweite mit Polenta.

«Hier knistert überhaupt nichts!»

«Na, dann!» Mit einer Kopfbewegung warf Sofia ihr langes dunkles Haar zurück und zuckte die Achseln. «Ich hab jedenfalls Hunger und will jetzt essen! Kannst du vielleicht mal helfen, Luca? Zum Essen braucht man Besteck und zum Trinken Gläser!»

Schweigend löste sich Luca von der Balkontür und begann damit, die fehlenden Utensilien auf den Esstisch zu legen. Laura hoffte inständig, dass Sofia ab sofort den Mund halten würde, denn sie kannte die Fähigkeit ihrer Tochter, den Bruder zur Weißglut zu bringen, wenn sie gerade dazu aufgelegt war. Und Sofia hielt den Mund, als ahnte sie, dass Mutter und Bruder auf Sticheleien im Moment überempfindlich reagieren würden.

Kurz darauf saßen sie am Tisch, Laura zerteilte das Huhn, sie wünschten sich gegenseitig guten Appetit und begannen zu essen. Schweigend.

Irgendwann meinte Sofia, dass es ihr wunderbar schmecke, dass ihr aber bald die Bissen im Hals stecken bleiben würden, wenn sie nicht endlich damit herausrückten, was los sei.

«Luca möchte zu Ronald ziehen», sagte Laura leise und sah ihre Tochter an.

«Was?»

«Er hat es mir vor fünf Minuten gesagt.»

«Wieso denn das?»

«Weil ich einfach mal bei meinem Vater wohnen will! Ist denn das so unbegreiflich?»

«Aber wir wohnen doch immer mal wieder bei ihm. Mama ist ja in letzter Zeit ziemlich oft unterwegs!» Sofia ließ Messer und Gabel auf den Teller sinken.

«Genau deshalb! Immer mal wieder! Ich will nicht immer mal wieder bei Papa wohnen, sondern richtig, verstehst du? Ich will mehr von seiner Arbeit wissen und was er sonst so macht.»

«Hast du’s ihm schon gesagt?» Sofia starrte ihren Bruder noch immer ungläubig an.

«Ja, ich hab’s ihm schon gesagt, und er hat nichts dagegen!»

«Klingt nicht besonders begeistert …»

«Ach, hör doch auf, Sofi!»

«Ich hör ja schon auf.» Sofia senkte den Kopf und betrachtete nachdenklich das halb verzehrte Hühnerbein auf ihrem Teller. «Fehlt nur noch, dass jetzt das Telefon klingelt und Mama zu irgend’ner Leiche muss», murmelte sie, nahm das Hühnerbein in die Hand und biss ab. Hastig leerte sie ihren Teller und verschluckte sich dabei heftig.

«Wir werden das gemeinsam besprechen und eine Lösung finden», sagte Laura. «Es hat bisher immer eine friedliche Lösung gegeben und diesmal auch.»

Sofia sprang auf.

«Friedliche Lösung, dass ich nicht lache! Wisst ihr, was das bedeutet? Dass unsere Familie nochmal auseinanderkracht! Erst geht Papa, dann geht Luca! Wie bei den zehn kleinen Negerlein. Wenn du gehst, Luca, dann geh ich mit!» Sofia warf einen erschrockenen Blick auf ihre Mutter, rannte aus der Küche und knallte die Tür hinter sich zu.

Laura und Luca saßen wortlos und starrten auf ihre Teller.

«Willst du ihr nicht nachgehen?», fragte Luca nach einer Weile.

Laura schüttelte den Kopf. «Jetzt gerade ist mir nicht danach. Ich möchte lieber wissen, was du zu ihren Ideen sagst.»

«Ich will nicht, dass sie mitkommt, Mama! Ich würde gern mit meinem Vater allein sein. Wenn Sofia da ist, dann … es ist einfach anders, verstehst du? Sie ist ein Mädchen, und sie ist viel jünger!»

«Brauchst du ein Männerding?»

«Wie meinst du’n das?» Er warf ihr einen unsicheren Blick zu.

«So wie ich’s gesagt habe: ein Männerding! Das ist nichts Verwerfliches. Wenn du meinst, du brauchst es, dann mach es. Das mit Sofia werd ich schon schaukeln. Wir machen eben unser Frauending.»

«Bist du sicher, Mama?»

«Ziemlich.»

«Und du bist nicht sauer?»

«Weshalb sollte ich sauer sein? Es ist das falsche Wort, Luca. Ich bin erschrocken, verwirrt, auch traurig. Du bist verdammt schnell groß geworden. Hast du das eigentlich selbst mitbekommen? Oder hast du’s auch erst jetzt gemerkt?»

«Ach, Mama … hör auf! Mach’s mir doch nicht so schwer!»

«Mach ich doch gar nicht! Außerdem gehört das auch dazu, dass es dir schwerfällt. Meinst du, ich hatte keine Schuldgefühle, als ich von zu Hause ausgezogen bin? Du hättest mal deinen Großvater Emilio hören sollen, als ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt habe.»

«Ich kann ja wiederkommen.»

«Jetzt geh erst mal.»

Luca lächelte ein bisschen schief und aß weiter. Doch er sah nicht so aus, als schmecke er, was er in den Mund schob. Laura zwang sich ebenfalls dazu, ein paar Bissen zu essen. Sofia hat recht, dachte sie. Unsere Familie zerbröckelt, und ich kann nichts dagegen tun.

«Ich räum die Küche auf, Mama. Dann kannst du ja vielleicht mit Sofia reden.» Luca schob den Teller von sich.

«Ich dachte eigentlich, dass du mit ihr reden solltest. Ich will ja nicht ausziehen.»

Luca stand auf und warf die Hühnerknochen in den Mülleimer. «Ich glaub nicht, dass sie jetzt mit mir reden wird. Und ich weiß im Augenblick auch gar nicht, was ich ihr sagen soll. Ich fühl mich ein bisschen … irgendwie komisch …»

«… wie ein Verräter?»

«Ach, Mama!» Er schlug mit der Faust auf die Anrichte.

«Ist ja schon gut. War nur so eine Vermutung. Ich jedenfalls finde nicht, dass du ein Verräter bist. Wenn du deinen Vater brauchst, dann ist das eben so.»

«Warum sagst du dann so was?»

«Weil Sofia es wahrscheinlich so empfindet.»

«Aber es hat doch mit ihr nichts zu tun!»

«Bist du sicher?»

«Klar, ich mag Sofi!»

«Ich zweifle nicht daran. Aber wenn sie ein Bruder wäre, würdest du vielleicht nicht ausziehen. Zwei Frauen, ein Mann. Nicht einfach, was? Und deshalb bin ich auch nicht sauer! Alles klar?»

«Ja, nein, vielleicht. Ich hab keine Lust mehr, darüber zu reden!»

«Okay, ich muss sowieso bald zur Arbeit. Danke, dass du die Küche aufräumst.»

Luca füllte die Töpfe mit Wasser, räumte Teller und Besteck in die Spülmaschine.

«Es hat übrigens sehr gut geschmeckt», sagte er nach einer Weile.

«Danke.»

«Tut mir leid, dass ich das Abendessen versaut habe.»

«Jetzt fängst du wieder an. Vergiss es! Ich bin froh, dass du es gesagt hast.»

«Willst du nicht doch mit Sofi reden, Mama?»

Laura schüttelte den Kopf.

«Ich werde jetzt ins Dezernat fahren, und ich nehme an, dass Sofia durchaus mit dir reden wird, wenn ich weg bin.» Damit verließ Laura die Küche, blieb kurz vor der verschlossenen Tür zum Zimmer ihrer Tochter stehen und malte ein Herz in die Luft. Dann verbrachte sie fünf Minuten im Bad und betrachtete sich nachdenklich im Spiegel.

«Du hast es gewusst!», murmelte sie. «Du hast es sogar geübt: das Loslassen. Aber es hat fast nichts geholfen, was? Jetzt, wo es passiert!»

Sie schnitt sich selbst eine Grimasse, frischte dann ihr Make-up auf, kämmte ihr Haar und freute sich fast auf den Nachtdienst.

«WIR WOLLTEN Sie gerade anrufen, Frau Gottberg!» Dem jungen Polizisten in der Eingangshalle des Präsidiums war die Erleichterung anzusehen. «Gut, dass Sie heute Dienst haben.»

«Was ist los?» Laura stopfte den Autoschlüssel in die Seitentasche ihres kleinen Rucksacks.

Mit einer kaum merklichen Kopfbewegung wies der Polizist in Richtung der kunstledernen Sessel, die an der Wand aufgereiht standen wie im Wartezimmer eines Arztes. Lauras Blick folgte seiner Bewegung, wanderte kurz über die Frau, deren Haar und Gesicht von einem breiten schimmernden Schal verhüllt waren, über die eleganten hohen Stiefel, den weich fließenden schwarzen Mantel.

«Die Frau da», sagte er leise, «die will nur mit jemandem reden, der entweder sehr gut Englisch kann oder sehr gut Italienisch. Und sie will keinen Dolmetscher.»

«Und?»

«Die Kollegen vom Dienst behaupten alle, dass ihr Englisch nicht b’sonders gut ist. Italienisch kann überhaupt keiner. Deshalb wollt’ ich Sie g’rad anrufen.»

«Worum geht’s denn? Hat sie irgendwas gesagt?»

«Nein. Sie will nur mit einem Commissario reden, sonst geht sie wieder. Hat sie gesagt.»

«Auf Deutsch oder auf Englisch?»

«Gemischt.» Der junge Kollege rückte seinen Gürtel zurecht und runzelte verlegen die Stirn, während Laura ein Lächeln unterdrückte.

«Na gut, ich werd mit ihr reden. Wie lange wartet sie schon?»

«Seit einer halben Stunde.»

«Habt ihr sie kontrolliert?»

«Selbstverständlich, Frau Hauptkommissarin. Sie hat einen gültigen italienischen Reisepass und keine Bombe in der Tasche.» Er grinste.

«Okay, ich nehme sie rauf in mein Büro. Ruhiger Abend?»

«Bis jetzt schon.»

Laura nickte und trat langsam auf die Frau zu, die sehr aufrecht saß und die Arme verschränkt hatte. Nur ihre Augen waren sichtbar. Sehr dunkle, wachsame Augen, kräftig umrahmt mit schwarzem Kajalstift.

«Buona sera, Signora …», sagte Laura und betonte die Lücke nach Signora. Erst als die Frau diese Aufforderung, ihren Namen zu nennen, überging, stellte sich Laura als Commissaria Gottberg vor. «Wie kann ich Ihnen helfen?»

Die Frau stand schnell auf und trat sehr nahe an Laura heran. «Das wird sich herausstellen», erwiderte sie leise. «Können wir hier irgendwo ungestört reden? Ohne Zeugen, ohne abgehört zu werden?»

«In meinem Büro. Hier wird übrigens nur in besonderen Fällen abgehört, Signora. Die Dinge liegen bei uns noch etwas anders als in Italien. Kommen Sie.»

Unversehens verrutschte der seidene Schal der Unbekannten, gab für einen winzigen Augenblick ihren Mund frei, der fein geschwungen, aber ein bisschen zu klein und zu schmal war. Falls sie Lippenstift benutzte, dann eine so dezente Farbe, dass er nicht auffiel. Blitzschnell zog sie den Schal wieder vors Gesicht, wie einen Vorhang, der Einblick in ein Fenster verwehrt, und griff nach ihrer Handtasche.

Laura beschloss, den Aufzug zu nehmen; die kleine Kabine würde sie zumindest körperlich einander nahe bringen. Gemeinsam für eine kurze Zeit eingesperrt zu sein war manchmal hilfreich. Platzangst zeigte sich schnell, entlud sich bei manchem in einem Redeschwall, bei anderen in Schweißausbrüchen. Jede Art von Nervosität oder Unsicherheit wurde spürbar.

Doch die verhüllte Signora stand neben Laura in der Aufzugkabine, ohne zu schwitzen, ohne zu sprechen, schien auch nicht sonderlich nervös zu sein. Ihr Parfüm duftete frisch, nicht zu schwer, und sie musterte Laura so unverhohlen, dass diese es war, die sich unbehaglich fühlte. Nur mühsam widerstand Laura dem Impuls, Fragen zu stellen, um diesem bohrenden Blick auszuweichen. Als sie endlich den dritten Stock erreicht hatten, stieß sie erleichtert die Fahrstuhltür auf.

Sie ging voraus, vorbei an den nur durch Glasscheiben voneinander getrennten Büros, in denen hier und da ein Kollege am Schreibtisch saß. Schon nach zehn, und es war wirklich ein ruhiger Abend.

Nicht für mich, dachte Laura. Mir reicht schon Lucas neuer Lebensplan. Die geheimnisvolle Signora hätte ich nicht auch noch gebraucht.

Als sie die Tür zu ihrem eigenen Büro aufschloss, spürte sie – wie so oft – eine Art Triumphgefühl. Sie verteidigte diesen kleinen Raum mit seinen undurchsichtigen Wänden und dem Blick auf die Türme der Frauenkirche noch immer erfolgreich gegen alle Versuche ihrer Vorgesetzten, sie ebenfalls in eines der Aquarien auf der anderen Seite des Flurs zu versetzen.

«Bitte, nehmen Sie Platz.» Laura wies auf die Sitzgruppe am Fenster, zog ihre Lammfelljacke aus und hängte sie an den Garderobenständer neben der Tür. «Möchten Sie auch ablegen?»

Die Frau schüttelte den Kopf, blieb am Fenster stehen und betrachtete den mächtigen gotischen Dom mit seinen so ungewöhnlichen, runden Türmen.

«Allora!», sagte sie endlich und drehte sich zu Laura um. «Ich möchte mich nicht setzen. Bevor ich mit Ihnen reden kann, müssen wir einiges klarstellen. Falls ich Ihnen mein Anliegen schildere, muss darüber absolutes Stillschweigen vereinbart werden. Verstehen Sie mich?» Noch immer verhüllte sie die untere Hälfte ihres Gesichts.

«Sind Sie Muslima?» Der fordernde Ton der Frau machte Laura angriffslustig – auch das war mit Sicherheit eine Folge von Lucas Eröffnung.

«Ach, hören Sie auf! Solange Sie mir nicht versprechen, dass Sie kein Wort nach außen dringen lassen, so lange bin ich eben Muslima! Gar keine schlechte Idee!»

Ziemlich gut pariert, dachte Laura und wurde allmählich neugierig. «Bene!», sagte sie laut, «Sie haben gewonnen. Ich verspreche Ihnen, dass ich Stillschweigen bewahre, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich für Ihr Problem zuständig bin. Zwar bin ich Kriminalhauptkommissarin, aber ich arbeite im Morddezernat. Handelt es sich um Mord, Signora?»

Die Frau schloss kurz die Augen und atmete tief ein. «Nein, es handelt sich nicht um Mord. Höchstens im übertragenen Sinn. Vielleicht reicht es auch, wenn Sie mir einen Rat geben. Ich bin dringend auf guten Rat angewiesen, und außer Ihnen habe ich niemanden, an den ich mich wenden könnte.» Sie zog den Schal so unerwartet vom Gesicht, dass es Laura vorkam wie eine geplante Inszenierung in einem Theaterstück. Die Signora war eine hübsche Frau. Die stark geschminkten Augen erinnerten Laura an eine Katze, das dunkelblonde Haar fiel ihr in einer eleganten Welle halb in die Stirn. Sie strahlte etwas Mädchenhaftes aus, und gleichzeitig lag um ihren Mund eine gewisse Härte.

Mitte vierzig oder ein bisschen älter, gefärbtes Haar, dachte Laura. Oberschicht, Norditalienerin.

«Möchten Sie einen Kaffee, ein Glas Wasser?»

«Nein, danke. Warum sprechen Sie so gut Italienisch?» Auch ihre Stimme klang auf einmal mädchenhaft, sehr hell und ein bisschen vorwurfsvoll.

«Weil meine Mutter aus Florenz stammt.»

«Haben Sie Verbindungen nach Italien? Ich meine zur Polizei, zu den Medien?» Sie warf ihren Schal auf einen der Stühle, lockerte mit gespreizten Fingern ihr Haar. Ihre rotlackierten Nägel leuchteten.

«Nein», log Laura. «Nur zwei alte Tanten in Florenz, und die sind bereits gestorben.»

«Ist das ein Scherz?»

«Leider nicht.»

«Sind Sie sicher, dass wir nicht abgehört werden?» Jetzt strich die Frau an den Wänden entlang und betastete mit den Fingern die Türfalze.

«Ja, ich bin sicher! Könnten Sie sich allmählich entscheiden, ob Sie mir etwas erzählen wollen oder nicht? Ich habe nämlich noch andere Dinge zu tun!» Laura ließ sich in ihren bequemen Schreibtischsessel fallen und wippte mit der Lehne ein paarmal nach hinten.

«Ich werde Ihnen keine Namen nennen, auch meinen eigenen nicht. Ich werde Ihnen eine Situation schildern und Sie um Ihren Rat fragen. D’accordo?»

«Meinetwegen.»

Die Frau zog ihren Mantel aus, schaute sich zögernd um und legte ihn dann ebenfalls auf den Stuhl. Ihr schwarzer Pullover und die Jeans lagen sehr eng an ihrem Körper. Sie war zierlich, wirkte ohne Mantel plötzlich jünger, warf mit einer ungeduldigen Kopfbewegung die Welle zurück, die in ihre Stirn fiel. Noch immer setzte sie sich nicht, blieb stattdessen vor Lauras Schreibtisch stehen und stützte sich mit beiden Händen ab.

«Ich befinde mich in einer sehr unangenehmen Situation, die Sie als Frau und immerhin halbe Italienerin», sie lachte bitter auf, «sicher verstehen werden. Ich bin verheiratet, habe zwei beinahe erwachsene Kinder, einen erfolgreichen und sehr beschäftigten Mann, bin selbst nicht mittellos. Also, um es kurz zu machen: Wir leben in komfortablen Verhältnissen.» Jetzt klopfte sie mit beiden Händen leicht auf Lauras Schreibtisch, dabei blieb die Handfläche liegen, sie hob nur die Finger an und ließ sie wieder fallen. Plötzlich erschien sie ganz abwesend.

«Ja?» Laura beugte sich ein wenig vor.

«Sie müssen Geduld mit mir haben, Commissaria. Es fällt mir unendlich schwer, darüber zu sprechen.» Wieder wandte sie sich zum Fenster und starrte hinaus. Verstohlen schaute Laura auf ihre Armbanduhr. Gleich halb elf. Mit einem kurzen Blick streifte sie den Aktenberg auf der linken Seite des Schreibtisches und war nun doch ganz froh über diese ungewöhnliche Unterbrechung ihres Bereitschaftsdienstes.

«Ich habe einen Fehler gemacht, den ich nicht als solchen empfinde und der doch einer war.» Die helle Stimme der Frau klang bei diesem Satz rau, fast brüchig.

Sie hat eine Affäre, dachte Laura und hörte jetzt aufmerksam zu. Gleich wird sie mir gestehen, dass sie eine Affäre hat.

«Vor einem halben Jahr habe ich einen Mann kennengelernt. Wir haben uns ineinander verliebt. Er ist ebenfalls verheiratet, Engländer. Wir treffen uns nicht sehr oft. Er ist ja in einer ganz ähnlichen Situation wie ich. Deshalb haben wir München als Treffpunkt ausgesucht. Nicht England, nicht Italien, sondern München. Außerdem haben wir beide hier auch geschäftliche Verbindungen. Und es liegt weit genug weg von unserem täglichen Leben. Können Sie mir folgen?»

«Ich kann Ihnen folgen.» Laura dachte an ihren Geliebten in Siena, Commissario Angelo Guerrini. Auch ihn traf sie am liebsten weit weg von ihrem Alltag, obwohl sie nicht wirklich etwas verbergen musste.

«Wir haben wunderbare Tage miteinander verbracht. Manchmal auch nur ein paar Stunden, ehe er nach London zurückflog und ich nach Mailand. Ich fühlte mich ganz sicher. Aber ich war es nicht, wir waren es nicht.» Sie verstummte, wandte sich wieder zu Laura um und sah sie geradezu flehend an. «Irgendwer muss uns gefolgt sein, uns beschattet haben oder einen von uns erkannt haben. Vielleicht sogar ein Privatdetektiv oder einer von diesen verfluchten Paparazzi. Ich weiß es nicht!» Sie sprach jetzt schneller und schärfer. «Es fing vor zwei Monaten an. Jemand hat mir Fotos geschickt und Geld verlangt.» Sie presste die Handflächen gegeneinander und begann auf und ab zu gehen.

«Kompromittierende Fotos?»

«Ja.»

«Haben Sie bezahlt?»

«Ich habe bezahlt.»

«Wie viel?»

«Hunderttausend Euro.»

«Und dann?»

«Dann kamen neue Bilder, und sie verlangten noch mehr.»

«Das läuft meistens so.»

«Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie diese Bilder entstehen konnten! Wir haben uns nie im selben Hotel getroffen. Diese Bilder müssen im Zimmer entstanden sein, im Hotelzimmer! Es macht mich völlig verrückt, wenn ich mir vorstelle, dass jemand bei uns im Zimmer war oder irgendwo eine geheime Kamera eingebaut hatte. Es ist so würdelos, so gemein!» Sie schlug mit der Faust auf Lauras Schreibtisch.

«Weiß Ihr Freund von der Erpressung?»

«Beim ersten Brief habe ich ihm nichts gesagt. Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen macht … und ich hoffte, dass die Angelegenheit aus der Welt wäre.»

«Und dann?»

«Beim zweiten Brief habe ich es ihm erzählt. Ich musste ihn doch warnen. Er war entsetzt und verzweifelt. Für ihn bedeutete es, dass wir uns nicht mehr sehen durften.»

«Und? Haben Sie sich nicht mehr getroffen?»

Die Frau hob ihren Schal auf, legte ihn sich um die Schultern und ließ sich endlich auf einen der Stühle sinken.

«Wir haben es nicht ausgehalten.» Sie starrte auf den Boden.

«Wann haben Sie sich wiedergesehen?»

«Vor zwei Wochen.» Sie klang matt.

«In München?»

Sie schüttelte den Kopf, und die blonde Welle fiel über ihre Augen. «Wir trafen uns in Paris.»

Laura wartete.

«Vor drei Tagen habe ich wieder einen Brief bekommen.»

«Ja?»

«Mit Fotos von unserem Treffen in Paris. Ich kann es einfach nicht fassen! Niemand konnte von unserem Treffen wissen! Niemand!» Ihre Stimme überschlug sich.

«Hatten Sie beim zweiten Brief auch gezahlt?»

«Ich wollte es nicht, aber er hat mich angefleht, es zu tun. Er würde mir die Hälfte zurückzahlen, sobald er ein paar Papiere verkauft hätte.»

«Mhm.» Laura wippte mit ihrem Chefsessel. «Hat er?»

«Gestern hat er mir eine erste Rate von zehntausend gegeben.»

«Ach, Sie haben sich also wieder hier in München getroffen?»

«Wir waren nur gemeinsam essen und haben heute Mittag einen Spaziergang im Englischen Garten gemacht.»

«Und heute Abend?»

«Wir sehen uns erst morgen wieder zu einem letzten Brunch. Alles andere ist uns in dieser Situation zu riskant. Morgen Nachmittag fliege ich zurück.»

«Aha, und was machen Sie mit dem dritten Brief?»

«Deshalb bin ich hier. Ich brauche professionellen Rat.» Sie hob den Kopf und sah Laura an. Lag Angst in ihren Augen oder war es etwas anderes? Etwas Lauerndes, Abschätzendes, das nur ganz kurz aufschien?

«Wie viel haben Sie eigentlich beim zweiten Erpresserbrief bezahlt?»

«Zweihundertfünfzigtausend Euro.»

«Hübsche Steigerung. Wie hat die Übergabe stattgefunden?»

«Ich sollte das Geld zwei Stunden vor meinem Rückflug in einem Schließfach am Münchner Hauptbahnhof zurücklassen und den Schlüssel bei der Information abgeben. Für einen Herrn Meier.»

«Sehr originell. Und Sie sind nie auf die Idee gekommen, Ihren Rückflug zu stornieren und in der Nähe des Schließfachs zu warten?»

«Nein, Commissaria! Dazu hatte ich zu viel Angst. Ich war sicher, dass jemand mich beobachtet. Die wussten doch immer genau, wo ich war. Ich fühle mich ununterbrochen, als wäre ein Stalker hinter mir her.»

«Und trotzdem haben Sie sich ins Polizeipräsidium gewagt?»

«Ich arbeite seit Stunden daran, meine Verfolger abzuschütteln. Ich habe Taxis genommen und wieder gewechselt. Ich bin in die U-Bahn gestiegen und im letzten Moment wieder rausgesprungen. Ich war in überfüllten Kaufhäusern, fuhr mit einem Lift rauf und sofort mit dem anderen wieder runter, so lange, bis ich mich sicher fühlte. Diesmal konnte mir niemand folgen, Commissaria.»

Laura dachte kurz an winzige Ortungsgeräte, an Peiler, behielt diesen Einfall aber für sich.

«Bene», sagte sie stattdessen und strich mit einer Hand über die glatte Oberfläche ihres Schreibtisches. «Haben Sie vor, auch dieses Mal zu zahlen?»

«Nein.»

«Haben Sie Ihrem Freund von dem dritten Brief erzählt?»

«Heute beim Spaziergang. Er war außer sich!» Sie schluckte und biss sich auf die Unterlippe. «Wir werden uns nach dem Brunch morgen nicht mehr sehen. Es geht nicht anders.»

«War das seine Entscheidung oder Ihre?»

«Zuerst seine, doch dann haben wir es beide gemeinsam beschlossen. Wir sind sehr traurig darüber.» Sie schluchzte auf, ihre Schultern zuckten, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

«Was erwarten Sie jetzt von mir?» Laura lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, stand dann aber schnell auf, denn das war genau die Haltung, die ihr Vorgesetzter meistens einnahm, wenn er seine Macht demonstrieren wollte: Er lehnte sich in seinem großen Sessel zurück, reckte das Kinn ein bisschen nach oben und verschränkte die Arme vor der Brust. So wollte sie selbst nicht auftreten, aber das Benehmen der Signora in Kombination mit Lucas Plänen machte sie nervös und ärgerlich.

«Übrigens könnten Sie mir wirklich langsam Ihren Namen verraten, wenn Sie mich schon in alle Einzelheiten Ihrer Geschichte einweihen.» Laura fand, dass ihre Worte nicht besonders freundlich klangen. Aber so war ihr eben zumute.

Die Frau stand ebenfalls auf. Diesmal war sie es, die das Kinn reckte und Laura kühl musterte – nicht anders als zuvor im Fahrstuhl.

«Ich nenne meinen Namen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen!»

«Vorschlag? Ich dachte, Sie wollten einen Rat von mir.»

«Ja, ganz richtig. Einen Rat in Bezug auf meinen Vorschlag.»

«Ach so.» Die Selbstsicherheit der Unbekannten irritierte Laura. «Und wie sieht Ihr Vorschlag aus?»

«Ich werde wie bei den ersten Übergaben einen Koffer – allerdings ohne Geld – im Schließfach abstellen und den Schlüssel für Herrn Meier an der Information abgeben. Dann fliege ich ab, und Sie oder andere Polizisten in Zivil beobachten das Schließfach. Sie verhaften ihn, und dann wird ihm hier der Prozess gemacht. Ich werde unter Wahrung meiner Anonymität aussagen. Damit wäre dann diese unerträgliche Sache aus der Welt.»

«Klingt sehr einfach, Signora. Allerdings läuft es meistens nicht so, wie man sich das vorstellt. Welche Rolle soll übrigens Ihr Liebhaber in dieser Inszenierung spielen?»

Jetzt senkte sich das Kinn der Signora wieder, und sie schloss kurz die Augen. «Ich möchte nicht, dass er in diese Geschichte hineingezogen wird. Er ist ein wichtiges Mitglied der englischen Gesellschaft. Es ist vollkommen unnötig, dass sein Name genannt wird oder er als Zeuge aussagt. Schließlich habe ich die Erpresserbriefe bekommen, nicht er.»

«Wie edel von Ihnen. Haben Sie eigentlich jemals in Erwägung gezogen, dass Ihr Liebhaber in diese Erpressung verwickelt sein könnte?»

Die Signora fuhr auf.

«Wir können Sie es wagen! Niemals ist Benjamin in diese schreckliche Geschichte verwickelt! Er ist ein Gentleman, ein wunderbarer, feinfühliger, humorvoller Gentleman. Aber Polizisten müssen ja überall Verbrecher sehen. Wahrscheinlich halten Sie mich auch für eine Kriminelle, oder?! Wahrscheinlich denken Sie, dass ich nur Geld für die Mafia wasche, indem ich es per Schließfach an einen Herrn Meier übergebe. Ist es so, eh?»

Ihre Stimme war schrill geworden, und sie stampfte sogar mit dem Fuß auf.

Benjamin heißt er also, dachte Laura. Laut sagte sie: «Ich denke gar nichts, Signora. Ich wollte nur eine Frage stellen, die ich nicht ganz abwegig finde. Aber Sie haben diese Frage bereits überzeugend beantwortet.»

«Bene!» Die Frau atmete schwer, fasste sich dann aber wieder, erstaunlich schnell. «Was halten Sie von meinem Vorschlag?»

«Abgesehen davon, dass solche Aktionen nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen, ist er nicht schlecht. Aber ich werde die Angelegenheit an einen Kollegen weitergeben müssen.»

Jetzt presste die Frau beide Hände vor den Mund und starrte Laura mit aufgerissenen Augen an.

«Nein», flüsterte sie, «bitte nicht! Bitte helfen Sie mir, Commissaria. Ich kann diese Geschichte nur einmal erzählen. Sie sind eine Frau, Sie haben eine italienische Mutter. Sie müssen verstehen, dass meine Situation ausweglos ist, wenn etwas an die Öffentlichkeit gelangt. Mein Mann hat eine hohe Stellung in Italien … meine Kinder, sie würden in einen Abgrund stürzen … wenn sie … waren Sie noch nie verliebt, Commissaria? Waren Sie noch nie einsam und völlig bezaubert, weil ein anderer Mensch Sie gesehen hat, neu entdeckt hat, Ihnen neue Lebensfreude geschenkt hat?»

Doch, dachte Laura, all das! Perfekte Vorstellung. Alle Achtung. Trotzdem glaube ich nur die Hälfte dieser Erzählung. Ich kann verstehen, dass sie sich und ihre Stellung schützen will, aber es wird nicht leicht werden. Das sind genau die Geschichten, nach denen sämtliche Medien gieren, und es sind Geschichten, mit denen Informanten Geld machen können.

«Natürlich …», Laura räusperte sich, «ich kann mir das alles vorstellen. Deshalb werde ich versuchen, eine Lösung zu finden. Allerdings kann ich Ihnen erst morgen konkrete Antworten geben.»

«Erst morgen? Ich brauche diese Antworten jetzt! Morgen fliege ich zurück!»

«Aber erst am Nachmittag. Sie werden den Koffer also erst am Nachmittag zum Schließfach bringen. Sie müssen mir ein paar Stunden Zeit geben, um die Überwachung zu organisieren! Vergessen Sie nicht: Ich bin nicht zuständig für Ihren Fall!»

Mit geballten Fäusten stand die Signora vor Lauras Schreibtisch.

«Ich dachte immer, die Deutschen seien so tüchtig! Und jetzt brauchen Sie eine ganze Nacht, um die lächerliche Überwachung eines Schließfachs zu organisieren! Und dann behaupten Sie noch, dass Sie nicht zuständig sind! Sie sind Commissaria, verdammt! Was hindert Sie, als Commissaria zu handeln?»

«In Ihrem Fall ein Mord, Signora, vielmehr ein fehlender Mord.»

Die Italienerin presste die geballten Fäuste gegen ihre Brust und richtete den Blick zur Decke, und Laura fragte sich bei diesem Anblick, ob sie eigentlich Lust hatte, ihr zu helfen.

Jetzt griff die Signora nach Schal und Mantel, ließ beides zu Boden gleiten, sank dann selbst schluchzend in die Knie. «Bitte, Commissaria», wimmerte sie. «Er will diesmal fünfhunderttausend. Das kann ich nicht aufbringen ohne die Hilfe meines Mannes. Bitte!»

«Und Ihr Geliebter? Kann er auch nicht?»

«No, no, no! Sein Geld steckt vor allem in seinem Landbesitz in England. Das kann er nicht so einfach flüssigmachen! Außerdem will ich nicht weiterzahlen. Ich will, dass es aufhört!» Sie lag auf den Knien, schützte den Kopf mit beiden Armen, als erwarte sie Schläge.

«Kommen Sie, stehen Sie auf. Sie müssen nicht vor mir zusammenbrechen, Signora. Ich habe gesagt, dass ich versuchen werde, Ihnen zu helfen. Mehr kann ich nicht tun. Aber Sie können sich darauf verlassen! Ich gebe Ihnen meine private Handynummer, und Sie geben mir Ihre. Rufen Sie mich morgen um zehn Uhr an. Dann kann ich Ihnen sagen, ob es klappt, und wir werden die Einzelheiten besprechen. Und jetzt sagen Sie mir bitte Ihren Namen.»

Die Frau rappelte sich auf, suchte ihre Sachen zusammen, lehnte sich endlich an die Wand neben der Tür. Ihr Make-up war ein bisschen verschmiert, und sie bemühte sich sichtlich um Haltung.

«Donatella Cipriani», murmelte sie. «Wenn Sie meinen Namen irgendwem verraten, dann soll der Teufel Sie holen, Commissaria.»

 

Als Laura wieder allein war, dachte sie an das Gespräch mit ihrem Sohn Luca. Seine Pläne weckten in ihr mindestens so zwiespältige Gefühle wie der Auftritt von Donatella Cipriani, obwohl beide Entwicklungen ihr plausibel erschienen. Luca brauchte mehr männliche Vorbilder, völlig klar und trotzdem schmerzhaft. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass die Jungen bei den australischen Ureinwohnern ab einem gewissen Alter nicht mehr mit ihren Müttern sprechen durften, dass es ihnen sogar verboten war, ihre Mütter anzusehen. All das, um sie zu Männern zu machen.

«Wie diese Mütter wohl losgelassen haben», sagte sie leise vor sich hin. «Wahrscheinlich gab es für sie ein Trauerritual oder so was. Und was machen wir, die aufgeklärten, psychologisch durchtrainierten alleinerziehenden Mütter? Wir sind vernünftig, verständnisvoll. Weit und breit kein Trauerritual! Scheiße!»

Laura trat gegen ihren Papierkorb. Der knallte gegen die Seitenwand ihres Schreibtischs und fiel nicht einmal um. Es erfüllte sie mit tiefer Befriedigung, dass sie sich emotionale Entladungen erlauben konnte, ohne von Kollegen dabei beobachtet zu werden. Niemals würde sie in eines der Aquarien umziehen!

Sie griff nach dem Pappbecher voll Milchkaffee, den sie sich aus dem Automaten auf dem Zwischengang geholt hatte, nachdem sie Donatella Cipriani in ein Taxi gesetzt hatte. Ein Taxi, dessen Nummer sie notierte und dessen Fahrer seinen Ausweis vorzeigen musste und als dessen Ziel das Hilton-Hotel angegeben wurde. Vorsichtig schlürfte sie den schaumigen Kaffee, blieb kurz am Fenster stehen und schaute auf die beleuchteten Türme des Liebfrauendoms. Tauben flogen da oben herum, mitten in der Nacht. Seltsam. Wahrscheinlich lag es an den Scheinwerfern. Tauben mit Schlafstörung, dachte sie, setzte sich in ihren Ledersessel und fuhr ihren Computer hoch.

Nachdem die interne Suche unter dem Stichwort Cipriani nichts ergeben hatte, versuchte sie es bei Google. Da hatte sie ihn ziemlich schnell, den mutmaßlichen Ehemann: Ricardo Cipriani. Mailänder Unternehmer, Besitzer eines großen Baukonzerns, Mitglied der Lega Nord, jener rechtslastigen norditalienischen Partei, die immer wieder mit der Abspaltung des Nordens vom Süden drohte. Cipriani war Kandidat für einen Sitz im römischen Parlament.

Das Foto zeigte einen etwas bulligen Mann mit dichtem grauem Haar, kräftigem Kinn, durchdringendem Blick und dem Ansatz eines ironischen Lächelns. Er wirkte auf Laura wie jemand, den sie nicht gern zum Feind hätte.

Passt, dachte sie. Kein Wunder, dass die Signora ein bisschen nervös ist. Vielleicht ziehe ich die Sache mit Peter Baumann durch, obwohl es nicht in unsere Zuständigkeit fällt. Vielleicht rede ich mit dem Chef, vielleicht auch nicht.

Damit griff sie nach dem ersten Aktenordner und beschloss, spätestens um zwei Uhr morgens nach Hause zu fahren. Falls etwas passierte, konnte man sie immer noch aus dem Bett holen. Bei der niedrigen Rate an Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang in München lag die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet in dieser Nacht ein Mord geschehen würde, fast bei null.

DONATELLA CIPRIANI fuhr vom Polizeipräsidium direkt zu ihrem Hotel. Es war eine kurze Strecke, fast nur geradeaus über die Isarbrücke. Nebelschwaden stiegen vom Fluss auf, krochen in die Straßen und Gassen, verwischten die Lichter der Weihnachtsdekoration. Obwohl Donatella im warmen Taxi saß, spürte sie beinahe körperlich, dass der Nebel kalt und feucht war, und sehnte sich nach einem heißen Bad in ihrem Hotelzimmer. Sie war diesmal im Hilton abgestiegen, ihr Geliebter im Vier Jahreszeiten. Dieses Versteckspiel erschien ihr plötzlich lächerlich und unnütz.

Falls Ricardo sie beschatten ließ, hatte er ihre heimlichen Treffen trotzdem mitbekommen. Zwar konnte sie mehrere Geschäftstermine nachweisen, doch was bedeutete das angesichts der Rendezvous mit Benjamin Sutton. Ihre Gespräche mit den Geschäftspartnern waren nicht wirklich notwendig, und Ricardo wusste das.

Donatella war Möbeldesignerin und hatte ihr eigenes kleines Imperium aufgebaut. Aber es bröckelte. In China wurde billiger produziert, und die Chinesen betrieben eine geradezu schamlose Werkspionage.

Plötzlich kam ihr die verrückte Idee, dass ihr Ehemann Ricardo hinter dieser Erpressung stecken könnte. Ihm traute sie das durchaus zu. Er ließ sie für ihren Betrug bezahlen. Immer mehr, bis er sie finanziell ruiniert hätte und sie reumütig um Vergebung bitten würde. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur los sein. Donatella spürte heftigen Schwindel, konnte die vorübergleitenden Lichter der anderen Autos, der Straßenlaternen, Fenster und Leuchtreklamen nicht mehr ertragen.

Nein, Ricardo konnte nicht dahinterstecken, er durfte es nicht! Und sie selbst durfte die Nerven nicht verlieren. Immerhin hatte sie es geschafft, zur Polizei zu gehen und eine Kommissarin halbwegs zu überzeugen. Sie hatte ihre Verfolger abgehängt, dessen war sie sich sicher. Ein Etappenerfolg, immerhin! Jetzt musste sie warten und Ruhe bewahren.

Der dunkle Ziegelbau der Philharmonie am Gasteig tauchte vor dem Taxi auf, erschien ihr fast bedrohlich. Von hier waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Hotel. Sie versuchte, an die Nacht zu denken, die vor ihr lag, versuchte sie schon jetzt zu gestalten. Um diese Nacht zu überstehen, musste sie ihr Form und Inhalt geben.

Das Bad war ganz wichtig. Ein langes entspannendes Bad. Und dann irgendwas zu trinken, vielleicht bereits während des Bades. Keinen Wein, etwas Stärkeres. Whisky wäre angebracht. Normalerweise lehnte sie starke Getränke ab, doch heute Abend wäre Whisky wahrscheinlich genau das Richtige. Whisky würde sie müde machen. Dann könnte sie ins Bett gehen und noch ein bisschen fernsehen.

Stille würde sie nicht ertragen. Das wusste sie. Stille konnte sie überhaupt schlecht ertragen. Stille machte sie auch unter normalen Umständen unruhig und ängstlich.

Als der Wagen mit einem Ruck vor dem Portal des Hilton anhielt und ein Hoteldiener die Wagentür öffnete, schrak sie zusammen und hätte beinahe vergessen, den Fahrpreis zu bezahlen. Sie war schon mit einem Bein draußen, als der Fahrer protestierte.