THERESE Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte

Hermann Schulz

THERESE
Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte

Ein deutsch-afrikanisches Leben

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Hermann Schulz

Hermann Schulz, geboren 1938 in Ostafrika, leitete von 1967 bis 2001 in Wuppertal den Peter Hammer Verlag. Reisen führten ihn in mehr als fünfzig Länder. Seit 1998 veröffentlichte er regelmäßig eigene Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Er wurde vom deutschen PEN-Zentrum mit der Hermann-Kesten-Medaille ausgezeichnet, erhielt den von-der-Heydt-Kulturpreis der Stadt Wuppertal und die Ehrendoktorwürde (Dr. h.c. phil.) der Bergischen Universität.

 

Von Hermann Schulz sind in der Reihe Hanser bisher erschienen:

»Auf dem Strom«

»Die Reise nach Ägypten«

Über das Buch

»Was weiß ich schon vom Leben in Afrika?!«

 

1900 wird in Wuppertal ein Kind geboren: Therese. Ihr Vater ist Chef einer Gruppe von Togoern, die auf Völkerschauen und Kolonialausstellungen auftreten. Um dem Säugling die strapaziösen Reisen zu ersparen, vertraut der Vater das kleine Mädchen Pflegeeltern an, die dem Kind ein Zuhause geben. Ihre Eltern reisen nach Russland und sind in den Wirren des Weltkrieges verschollen.

 

Als die Nazis die Macht übernehmen, muss Therese sich entscheiden: Soll sie in Deutschland bleiben, oder liegt ihre Zukunft in der Heimat ihrer Eltern  – einem Land, das sie nicht kennt und dessen Sprache sie nicht spricht?

Impressum

1. Auflage 2021

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Pauline Altmann, Berlin

Umschlagmotive: Collection Radauer; Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo; Fotosammlung Stadtarchiv Wuppertal

Wir danken dem Stadtarchiv Wuppertal / Zentrum für Stadtgeschichte und Industriekultur für die Nutzung der Anzeigenseite aus dem Generalanzeiger.

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43966-4 (epub)

ISBNder gedruckten Ausgabe 978-3-423-64086-2

ISBN (epub) 9783423439664

Dieser Roman spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals verwendete man Wörter und Begriffe, die heute nicht mehr gebraucht werden, weil sie unangemessen oder menschenverachtend sind.

Täglich sollte es bis 23 Uhr im Eden-Theater mehrere Vorstellungen geben; Eintritt 40Pfennig, Kinder die Hälfte.

Die letzte Anzeige erschien am 17. Dezember 1900.

Der Ort, heute ein Kino, war ein Varieté für Belustigungen aller Art und wurde von einem geschäftstüchtigen Kaufmann namens Ernst Knevels geführt. Ihm war es gelungen, die Togoer nach Elberfeld zu verpflichten; da waren die Afrikaner schon einige Jahre in Europa unterwegs.

Carl Hagenbeck in Hamburg hatte mit diesen »Völkerschauen« begonnen, andere Veranstalter stiegen in das lukrative Geschäft ein und führten dem deutschen Publikum Afrikaner, Eskimos, Menschen aus Fernost und Indianer aus Nordamerika vor. Die Veranstalter wollten Geld verdienen, für die Deutschen war die Zurschaustellung der Fremden, mit denen die Veranstalter Verträge oft über mehrere Jahre abgeschlossen hatten, eine Sensation.

Es wurde stillschweigend geduldet, dass Afrikaner und andere mit mehreren ihrer Frauen auf die Reise gingen. So war der evangelisch getaufte Nayo William, Oberhaupt der »Togo-Truppe« aus dem Togoer Ort Klein-Popo, mit seinen vier Frauen in Europa unterwegs, ohne dass jemand Anstoß daran genommen hätte.

Dass viele dieser Menschen wegen des ungewohnten Klimas, der fremden, oft mangelhaften Ernährung oder der schlechten Unterbringung starben, wurde möglichst geheim gehalten, ebenso, dass unterwegs Geborene auf die anstrengenden Reisen nur in Ausnahmefällen mitgenommen werden durften. Sie wurden in Pflegefamilien gegeben oder in Waisenhäusern untergebracht. Viele dieser Kinder bekamen ihre Eltern nie mehr oder erst nach Jahren zu Gesicht, wenn die Verträge ausgelaufen waren.

Ankunft unter einem Himmel,
der Schneefall erwarten ließ (1900)

Ein Schwarm verwilderter Brieftauben taumelte durch den Qualm der Lokomotive, sie verloren sich am grauen Himmel auf der Suche nach einem schützenden Dach oder Abfällen. Das schwarze Ungetüm hielt mit kreischenden Bremsen. Eine Tür des einzigen Waggons wurde geöffnet, Männer und Frauen stolperten die hohen Stufen zum Bahnsteig herunter. Sie schlugen sich wegen der Kälte Wolldecken um Schultern und Köpfe. Einige Männer wuchteten Ballen und Koffer auf den Bahnsteig oder warfen sie durch die Fenster. Zum Schutz der Passagiere oder der wenigen Bürger, die das ungewohnte Spektakel trotz der eisigen Kälte sehen wollten, hatten Schutzpolizisten in einigem Abstand Aufstellung genommen. Sie starrten, ebenso wie das Dutzend Neugierige aus der Stadt, auf die angekommenen Schwarzen.

Einige Frauen hatten sich auf die Gepäckbündel gehockt und zogen die Decken enger um ihre Schultern. Ein aufgeregter Weißer, ein kleiner dicker Kerl, schrie mit wedelnden Armen etwas in einer fremden Sprache und forderte vergeblich Aufmerksamkeit ein. Hinter dem Absperrband standen jetzt nur noch die Schutzmänner, die neugierigen Gaffer hatten sich bald davongemacht. Sie hatten von der Ankunft der Afrikaner durch die Tageszeitung erfahren, doch die Kälte hatte sie verscheucht, und es gab nicht viel zu sehen.

Die Lokomotive fuhr davon und nebelte den verloren wirkenden Haufen der Fremden noch einmal gehörig ein.

Der Weiße, der die Sprache der Afrikaner beherrschte, hatte es wohl aufgegeben, am Bahnhof Steinbeck Ordnung in das Chaos von Koffern, Bündeln und Menschenleibern zu schaffen. Er stellte sich noch einmal in Position:

»Vor dem Bahnhof stehen drei Lastwagen für euch! Gleich hier um die Ecke«, schrie er und gestikulierte zum Ausgang hin.

Ein Schwarzer, der ihn um Kopflänge überragte, legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich bin Nayo William«, sagte er auf Deutsch. »Für zwei von meinen Frauen brauche ich einen Personenwagen. Dassi ist schwanger, sie kann in ihrem Zustand nicht auf einen Lastwagen klettern«, verlangte er.

»Ja! Ja! Schon gut, Herr William! Am Ausgang steht mein Wagen, ein Personenwagen, ich komme gleich«, rief er lauter, als nötig gewesen wäre, und deutete wieder mit einer Hand in der Luft herum. »Alle anderen auf die Lastwagen!« Er klatschte ein paarmal in die Hände.

Die Hand des großen Schwarzen lag immer noch auf seiner Schulter.

»Ist der Veranstalter nicht mitgekommen?«, fragte er. »Oder sind Sie das?«

»Nein, nein!«, antwortete der Mann genervt. »Veranstalter ist Herr Knevels. Er bereitet im Theater alles vor. Um vier Uhr ist die erste Vorstellung, das wissen Sie ja!«

»Sind genug Strohsäcke oder Matratzen da? Und Wolldecken? Wir können nicht auf dem Boden schlafen, ist das klar?«

»Ja, ja«, sagte der Dicke und deutete hektisch mit der Hand in Richtung Bahnhofsvorplatz, »ich bin da nicht zuständig. Besprechen Sie alles mit Herrn Knevels! Ich bin hier wegen der Verständigung und nicht wegen irgendwelcher Strohsäcke!«

»Steht doch da, Bahnhof Steinbeck!«

»In unserem Vertrag steht nichts von Steinbeck!«

»Können Sie ja nicht wissen. Wir sind hier in Elberfeld, für den anderen Bahnhof haben wir keine Genehmigung bekommen. Wegen Menschenauflauf.«

Der Schwarze wandte sich ab und ging mit zwei Frauen zu dem Personenwagen, auf den der Weiße gezeigt hatte.

Nach und nach bewegten sich die Afrikaner, schleppten gelangweilt ihre Bündel und Koffer zu den Lastwagen. Es wurde nur wenig geredet, manchmal erklang ein Zuruf in der fremden Sprache, eine zänkische Bemerkung, ein Lachen. Es dauerte, bis alle die Wagen bestiegen hatten und über das vereiste Kopfsteinpflaster davonrumpelten, gefolgt von dem großen Personenwagen, in dem sich zwei Frauen und der große Schwarze, der sich als Nayo William vorgestellt hatte, zusammendrängten.

Bis zu einer Straße mit dem Namen Kipdorf waren es weniger als zehn Minuten Fahrt. Ein eisig kalter Tag mit dunklem Himmel, der Schneefall erwarten ließ.

Ein Pferd ist gestürzt

An den ersten Dezembertagen des Jahres 1900 hatten Schnee, Regen und Frost die Straßen mit einer dicken Eisschicht überzogen. Für Pferdefuhrwerke galt Kopfsteinpflaster auch bei solchem Wetter als einigermaßen sicher; da hätten die Pferdehufe besseren Halt, hieß es. Als gefährlicher galten die wenigen bereits asphaltierten Straßen, da würden auch Stollen unter den Hufen wenig helfen. Das Problem war in den Tageszeitungen ausführlich diskutiert worden.

An diesem Samstagmittag war der Fuhrmann Peter Kleinhans, ein eher schmächtiger Mann, mit Säcken voller Steinkohle und Briketts zu einigen Haushalten unterwegs. Im Winter hatte er reichlich zu tun. Sein Verdienst war gering, aber weniger schlecht als in den Sommermonaten, wenn er manchmal Bauern in der Ernte mit Pferd und Wagen aushelfen konnte. Er hatte vier Kinder und eine kranke Frau zu versorgen.

Mit den Einnahmen dieses Tages würde er Medikamente und Lebensmittel für das Wochenende einkaufen können. Vielleicht sogar eine Kanne Bier, wenn die Kunden bereit waren, sofort zu zahlen! Nichts anderes beschäftigte ihn auf seinem Weg.

Kleinhans führte das Pferd am Halfter und bog in die Straße mit Namen Kipdorf ein. Hundert Meter weiter, nach dem Postamt und unmittelbar vor dem Eden-Theater, verlor das Tier plötzlich den Halt, strampelte wild mit den Hufen, fiel zu Boden und wurde unglücklich zwischen den beiden Deichselarmen eingeklemmt.

Der schon betagte, magere Klepper gab einen wilden Schreckenston von sich, einen Schrei, er schnaufte, Kopf und Nüstern auf das eisige Pflaster gedrückt. Vergeblich versuchte er, den Kopf zu heben, sich aufzurichten. Seine Hufe scharrten auf dem Eis, die Hinterbeine schlugen hilflos durch die Luft und fanden keinen Halt. Kleinhans, kopflos von dem plötzlichen Unfall, versuchte, das Tier zu beruhigen, redete ihm gut zu, zerrte vergeblich am Halfter und stieß dabei Verwünschungen aus. Schließlich sah er sich nach Hilfe um. An den Fenstern der gegenüberliegenden Wohnhäuser zeigten sich neugierige Gesichter, meistens von Frauen. Keine Tür öffnete sich, niemand, um dem Mann mit dem gefallenen Pferd zu helfen.

Die Straße war menschenleer, wer ging schon ohne Not in die Kälte hinaus. Der Himmel eisgrau und bewegungslos.

Den Wohnhäusern und Geschäften gegenüber, aus dem Schatten des mächtigen Eingangs vom Eden-Theater, löste sich unerwartet eine große Gestalt. Ein schwarzer Mann mit einem Bündel auf dem Arm, das der Fuhrmann für ein Wäschebündel hielt. Er schien von der oberen Stufe herab das gefallene, immer noch jämmerlich schnaufende und zuckende Pferd und den hilflosen Fuhrmann zu betrachten.

Von den Schwarzen im Eden-Theater hatte Kleinhans in der Zeitung gelesen, aber noch nie einen Afrikaner leibhaftig gesehen. Vom Anblick des Fremden, der da aus dem Dunkeln auftauchte, war er nicht wenig erschreckt und starrte ihn an. Der Mann war europäisch gekleidet, hatte aber ein breites braunes Tuch um die Schultern geschlungen.

So, als sei der Schwarze zu einer Entscheidung gekommen, legte er sein Bündel vorsichtig auf den Absatz oberhalb der Stufen der steinernen Treppe, die frei war von Eis oder Schnee. Dann kam er eilig herab und stellte sich wortlos neben den Fuhrmann. Er überragte Kleinhans um mehr als einen Kopf. In aller Ruhe nahm er ihm die Zügel aus der Hand und begann, die Ketten, Stricke und Lederriemen zu lösen, mit denen das Pferd an die Karre geschirrt war. Dabei tätschelte er das Pferd und murmelte beruhigende Worte.

Kleinhans war ein wenig zurückgetreten; er begriff durchaus, was der Mann da vorhatte. Er selbst war in seiner Panik dazu nicht in der Lage gewesen.

Die Zügel hielt der Fremde bei seiner Arbeit locker in der rechten Hand und redete unablässig zu dem Tier. Jetzt stemmte er sich, zufrieden mit seinen Vorbereitungen, mit einer Schulter unter die schweren Deichselarme und wuchtete sie hoch. Ketten fielen klirrend auf das vereiste Pflaster.

Es schien, als hätten seine ganze Art und leisen Worte, die der Fuhrmann nicht verstand, eine beruhigende Wirkung auf das Tier. Von der Deichsel und dem Geschirr befreit, kam es, wenn auch mühsam, auf die Beine, zuerst mit den beiden vorderen Hufen, dann stand es zitternd und unsicher auf allen vieren. Es schnaufte, schüttelte den Kopf nach der Anstrengung, in den Augen noch etwas von dem Entsetzen der letzten Minuten. Aus seinem Maul liefen ein paar Fäden Speichel.

Der Schwarze tätschelte seinen Hals und besah sich seinen Zustand, immer noch dem Tier sanft zuredend. Außer ein paar bösen Schrammen an einem hinteren Bein fand er keine Verletzungen. Der Mann führte das Pferd mitten auf der leeren Straße einmal im Kreis, während er die Schritte des Tieres aufmerksam betrachtete, gab die Zügel dem Fuhrmann, lächelte ihm zu und sagte: »Nix Schlimmes passiert!« Er zeigte auf die Schrammen am hinteren Huf und sagte: »Pinkeln Sie auf die Wunde, dann heilt sie schnell.« Seine Stimme war tief, seine Aussprache ließ den Fremden erkennen.

Jetzt ging er wieder die Stufen des Theaters empor, nahm sein Bündel auf den Arm und blieb oben stehen. Der Fuhrmann führte das Pferd rückwärts vor den Wagen, befestigte Ketten und Stricke an den Deichselarmen und wandte sich von der Straße her an den Schwarzen.

»Verstehen Sie mich?«

»Wenn Sie langsam sprechen, verstehe ich alles.« Und er lächelte auf eine Art, die Kleinhans beruhigte, so als stünde da jemand, der zu einem Freund geworden war.

»Sie haben mir sehr geholfen!«, rief er die Stufen hinauf. Darauf sagte der Mann nichts. »Da muss ich mich ja wohl bedanken!« Der Mann nickte und lächelte dem Fuhrmann zu, ohne ein Wort zu sagen. Der fuhr fort: »Dann will ich mal los, die Kohle abliefern.« Mit einer Hand zeigte er erklärend auf sein Fuhrwerk. Er zögerte aber noch loszufahren, als sei er noch etwas schuldig. Er hätte sicher gern ein paar Fragen gestellt, zum Beispiel, was der Schwarze da für ein Bündel mit sich herumtrug. Und eine Menge anderer Fragen, die er nicht zu stellen wagte.

»Habt ihr da unten, wo Sie herkommen, auch Pferde?«, fragte er stattdessen. Jetzt lächelte der Schwarze breit, man sah eine Reihe weißer Zähne.

»Ich komme nicht von da unten«, sagte er. »Sie meinen sicher, ob es in Afrika auch Pferde gibt?« Kleinhans nickte eifrig. »Ja, da gibt es viele Pferde, schöne Pferde!«

Der Fuhrmann zögerte, weiterzufragen, wollte nichts Falsches sagen. Er hatte durchaus nicht überhört, dass es dem Schwarzen vielleicht nicht gefallen hatte, als er »von da unten« gesprochen hatte.

»Wollen Sie mit dem Wäschebündel in die Wäscherei am Rathausplatz? Dann könnte ich Sie hinbringen.«

Der Schwarze, sein Bündel auf dem Arm, kam noch einmal die Stufen herab und ging ganz nah an den Fuhrmann heran, der unsicher einen Schritt zurückwich.

»Sehen Sie! Das ist mein kleines Mädchen«, sagte er leise und sanft. Er schob die Tücher zur Seite, sodass der Fuhrmann das Gesicht eines schlafenden Säuglings sehen konnte. Wie er noch nie eines gesehen hatte. Nur einen Augenblick lang sah er das dunkle Gesicht mit den geschlossenen Augen, weil der Mann die Tücher wegen der Kälte gleich wieder über das Kind zog. Kleinhans hatte sich mit geöffnetem Mund über das Bündel gebeugt, als hätte er ein Wunder betrachtet, und suchte vergeblich nach Worten.

Zwei in Mäntel vermummte Gestalten näherten sich jetzt von der Morianstraße her, ein Mann und eine Krankenschwester oder Diakonisse mit weißer Haube. Sie begrüßten den Schwarzen mit Handschlag und einigen Worten, die der Fuhrmann nicht verstand. Er merkte, hier war er überflüssig geworden.

Er zog mit einem leisen »Hüh!« am Kopf des Pferdes und winkte verlegen dem Schwarzen zu, der seine freie Hand ebenfalls zum Abschied hob.

Kleinhans konnte noch wahrnehmen, dass ein kleiner, dicker Mann eilig die Stufen des Theaters hinunterstolperte und hinter der Dreiergruppe, der Schwarze mit seinem Kind in der Mitte, herlief. Vielleicht gehört er dazu, dachte er.

Er machte sich mit seinem Wagen auf den Weg zu seinen Kunden. Seine Gedanken gingen durcheinander. Dem Pferd auf die Wunde pinkeln? Wenn man mich beauftragt, die Kohle in die Keller zu schleppen, würde das ein zusätzlicher Verdienst sein, dachte er. Ein weiterer Vorteil wäre, dass ich die leeren Säcke sofort wieder mitnehmen könnte. Aber dann beschäftigte ihn viel stärker sein gerade überstandenes Abenteuer, das böse hätte enden können. Und dass es Unsinn war, dass Kopfsteinpflaster bei solchem Wetter weniger gefährlich sei als asphaltierte Straßen. Und dass es hoffentlich nicht mehr schneien würde! Dass er den Umweg über den Rathausplatz zur Wäscherei aus Dankbarkeit gern für den schwarzen Mann gemacht hätte. Aber der hätte sich mit seinem kleinen Kind auf den Kohlesäcken ja nur schmutzig gemacht! Dann beherrschte ihn nur noch ein Gefühl von Dankbarkeit, er lächelte kopfschüttelnd vor sich hin und murmelte: »Diese Neger …! Mit einem schwarzen Säugling in einem Bündel Wäsche! Wenn ich das meiner Frau erzähle …«

Wenn sein Pferd an diesem Tag wieder im Stall stand, würde er die Wunde mit seinem Urin einreiben, beschloss er. Denn der Mann hatte es ernst gemeint, der verstand was von Pferden!

Egal, ob das vielleicht mit Zauberei zu tun hatte! Was weiß man denn von denen da unten!

Das schwarze Kind

Fritz Hufnagel hatte zornig die Samstagszeitung beiseitegelegt und war dabei, seiner Frau Helene, die die Kaffeetafel für den bevorstehenden Besuch vorbereitete, den Grund seiner Empörung zu erklären. Gerade hatte er gelesen, dass der Rat der Stadt beschlossen hatte, einige der wichtigsten Straßen nicht zu asphaltieren, weil dann die Hufe der Pferde keinen Halt mehr finden und ständig stürzen würden.

»Das ist ja unglaublich, was sich diese Idioten im Rathaus ausdenken! An unsere Transportprobleme denken die nicht!«, schimpfte er vor sich hin. »Wahrscheinlich erwarten sie, dass unsere Lastwagen bis Düsseldorf auf Kopfsteinpflaster fahren!«

Helene galt als handfeste, tüchtige Hausfrau, auch wenn manche über ihre traditionelle Frömmigkeit lächelten. Mit ihrem Mann Fritz verband sie, seit sie sich auf einem Volksfest in Wülfrath kennengelernt hatten, eine liebevolle Beziehung; als die einzige Belastung empfanden beide, dass sie keine eigenen Kinder haben würden.

Er war mit seiner Tirade über den Rat der Stadt noch nicht zu Ende, als es schellte. Damit war das leidige Thema für viele Wochen erledigt. Mit den Gästen und den Nachrichten, die sie mitbrachten, würde sich ihr Leben verändern.

Das ahnte das Ehepaar aber nicht!

»Unser Besuch, Pastor Giebel«, sagte Helene, die in Gedanken nicht mit fallenden Pferden oder Transportproblemen seiner Firma beschäftigt war, sondern mit der Bewirtung der Gäste. Sie guckte noch einmal prüfend über den gedeckten Tisch und öffnete die Tür.

Mit Pfarrer Giebel kam die Gemeindeschwester Pauline in die Küche. Da standen bereits die Kaffeetassen und ein selbst gebackener Apfelkuchen bereit.

Heute hielt man sich nicht mit dem sonst üblichen Tischgebet oder langen Begrüßungsreden und dem Austausch von Alltagskram auf. Kaum hatten sie Platz genommen, kam der Pastor mit seinem Anliegen zur Sache.

»Es ist ein schwarzes Kind, ein Mädchen«, sagte er bedächtig. Er blickte einen Moment stumm auf die Tischdecke und rückte an seiner Tasse. Man konnte den Eindruck haben, dass er diese Nachricht ein wenig schuldbewusst vortrug, weil er Hufnagels früher hätte sagen können, dass es sich um ein afrikanisches Kind handelte. Gemeindeschwester Pauline trug wie immer ihre weiße Haube der Zehlendorfer Schwestern auf dem Kopf, die sie auch in den Räumen nicht ablegte.

Helene goss Kaffee ein und machte eine einladende Handbewegung auf den Kuchen. Dann saßen sich die vier schweigend gegenüber. Das Ehepaar musste die Nachricht erst verarbeiten. Auch Fritz, der sonst immer launige Bemerkungen zur Hand hatte, wirkte nachdenklich.

Hufnagels waren informiert, dass es um ein Pflegekind gehen würde, hatten aber bisher nichts Näheres erfahren.

»Schwarz?«, fragte Helene schließlich zögernd.

Der Pastor nickte.

»Der Vater, Herr William, hat darauf bestanden, Sie vorher kennenzulernen. Wenn Sie zustimmen, das Mädchen für ein paar Jahre zu versorgen.« Er machte eine Pause, hüstelte. »Die Gemeinde würde Ihnen etwas Geld dazugeben. Viel wird es nicht sein. Von den Eltern des Kindes können Sie wohl nicht viel erwarten.«

Helene sah, dass es in seinem Gesicht arbeitete, fand aber nicht heraus, ob er dem Vorschlag zustimmen würde.

Würde sich heute ihr Traum erfüllen? Warten und Hoffen, Beten und wieder Warten auf ein eigenes Kind hatten zwar ihre Liebe nicht zerstört, aber Helene war auf eine traurige Weise müde geworden. Manchmal saß sie nach dem Abendessen noch eine Stunde lang am Tisch. Sogar Fritz, der bei allen Gelegenheiten heitere Bemerkungen parat hatte und fast immer einen Ausweg wusste, konnte wenig gegen ihre Trauer ausrichten. Denn auch er vermisste ein Kind!

Fritz griff die Hand seiner Frau und lächelte sie an.

Vor wenigen Tagen hatte die Gemeindeschwester Therese angesprochen, ob sie bereit wären, für ein paar Jahre ein Kind aufzunehmen.

»Bis der Vertrag für die Truppe abgelaufen ist. Das muss ich nachsehen, Herr Hufnagel. Danach würde der Vater, Herr William, Therese wieder abholen und mit nach Afrika nehmen. Nach Togo, soweit ich weiß.«

»Was muss man denn da beachten, wenn es ein schwarzes Kind ist?«, fragte Helene. Sorge und Zweifel standen ihr ins Gesicht geschrieben. Was wusste man schon von schwarzen Kindern? Nicht viel mehr als die Hautfarbe.

»Da muss man nichts beachten«, mischte sich Schwester Pauline resolut ein. »Schwarze Kinder sind genau wie weiße! Da gibt es keinen Unterschied. Das hat mir Missionar Ellmann bestätigt, der viele Jahre in Afrika gelebt und gearbeitet hat. Seine Frau ist Hebamme und weiß gut Bescheid.«

»Und wann kommt dieser Vater? Er ist doch sicher auch schwarz, oder?« Helene spürte selbst, dass diese Bemerkung überflüssig war und errötete.

Helene fühlte sich etwas überrumpelt, während Fritz die Situation aufregend fand. Da wurde ihnen eine weitreichende Entscheidung abverlangt, die ihr Leben umkrempeln würde.

Die Tageszeitung vom 15. Dezember 1900 lag auf der Fensterbank und wurde an diesem Tag nicht mehr angerührt. Was der Kaiser proklamiert hatte, was die Räte der Rheinprovinz beschlossen hatten, welche Fabriken in Elberfeld oder Solingen gerade gute oder schlechte Geschäfte machten, welche Straßen man asphaltieren würde, wer geheiratet hatte und wer gestorben war, würde sie vorläufig nicht mehr interessieren. Schweigend saßen die vier noch eine Weile am Tisch. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören und das Geschrei der Kinder im Hinterhof, wo sie sich bei einer Schneeballschlacht vergnügten.

Bis Pastor Giebel aufstand.

»Wenn Sie einverstanden sind, hole ich jetzt den Vater, Herrn William. Er hat, wie gesagt, einen Übersetzer dabei. Den brauchen wir vielleicht, weil er die Veranstalter vertritt, wegen der Papiere und so.«

»Und was ist mit der Mutter? Ist die denn einverstanden?«, wollte Helene wissen.

Pastor Giebel stand schon in der Tür, er drehte sich noch einmal um.

»Auf eine solche anstrengende Reise von einer Stadt zur nächsten dürfen die Afrikaner Säuglinge und kleine Kinder nicht mitnehmen. Deshalb hat uns der Veranstalter gebeten, eine Pflegefamilie für Therese zu suchen.« Er zögerte noch einmal kurz und fuhr bedauernd fort: »Wenn wir keine Pflegefamilie finden, muss das Mädchen in ein Waisenhaus.«

Er hatte gerade die Tür hinter sich zugezogen, als Schwester Pauline das Wort ergriff.

»Sie wünschen sich doch schon lange von Herzen ein Kind, liebe Helene! Was soll der arme Vater denn machen? Er ist ein sehr ernsthafter Mann, hatte ich den Eindruck, und es fällt ihm und seiner Frau sicher nicht leicht, sich von der Neugeborenen zu trennen! Es ist ja nur für ein paar Jahre … Und Sie, liebe Helene, haben doch aus dem Krankenhaus Erfahrungen mit der Versorgung von kleinen Kindern, oder?«

Helene und Fritz hörten sich schweigend die beruhigenden Worte der Gemeindeschwester an. Helene drückte jetzt Fritz’ Hand, so als suche sie Kraft oder seine Zustimmung für die schwierige Entscheidung. Ihr Mann konnte seine freudige Aufregung nur mühsam verbergen.

Ein schwarzes Kind!

Fragen über Fragen türmten sich in Helenes Kopf. Sollten sie den Vater nach seiner Religion fragen? Aus welchem Land kamen sie noch mal? Wo lag denn dieses Togo, das der Pastor erwähnt hatte? War das nicht eine der deutschen Kolonien? Lebten da nicht Wilde? Dies und viel mehr wirbelte durch Helenes Kopf.

Aber stärker als alle Zweifel war da eine frohe Erwartung, die ihr Innerstes ausfüllte. Wenn Gott es so gefügt hatte, war es gut! Das dachte sie.

Für ihren Mann war es ein großartiges Abenteuer, das ihrem Leben einen Sinn geben würde. Für Helene würde es vielleicht das Ende ihrer ständigen Niedergeschlagenheit bedeuten.

Pastor Giebel kam in die Küche zurück, gefolgt von einem kleinen dicken Weißen im Anzug und mit einer lässig gebundenen Fliege am Hals; offenbar der Übersetzer oder der Veranstalter der Afrika-Schau, die im Eden-Theater gezeigt wurde. Davon hatten sie in der Zeitung gelesen, die Anzeige aber nicht beachtet. Und nun war ihnen Afrika so nahe gerückt!

Ein groß gewachsener Afrikaner mit breiten Schultern, europäisch gekleidet, folgte den beiden. Er trug ein Bündel im Arm. Sie blieben an der Tür stehen.

»Herr William möchte Sie kennenlernen und hat auch ein paar Fragen an Sie«, begann der Dicke, blickte auf den Afrikaner, und sie wechselten ein paar Worte in einer Sprache, die niemand im Raum verstand.

»Herr William möchte wissen, ob Sie bereit sind, seine Tochter für einige Jahre zu versorgen. Er könnte nicht viel dafür bezahlen, sagt er. Aber er möchte, dass es dem Kind gut geht. Und ob Sie ihm genug zu essen geben können. Und … Sie sollen es lieben!«

Helene Hufnagel war unsicher sitzen geblieben. Fritz stand auf und schüttelte lächelnd die Hand des Afrikaners. Den deutschen Begleiter beachtete er nicht.

»Ich hole Stühle von nebenan«, sagte er und schleppte zwei Stühle in die Küche.

Der kleine Dicke setzte sich, der Afrikaner blieb an der Tür stehen.

Wieder ein kurzer Wortwechsel zwischen dem Deutschen und dem großen schwarzen Mann, der zur Überraschung aller auf Deutsch das Wort ergriff.

»Ich hörte, dass Sie keine eigenen Kinder haben. Kann meine kleine Therese bei Ihnen bleiben? Bis mein Vertrag ausgelaufen ist?«

Fritz sah kurz seine Frau an und sagte: »Therese heißt das Mädchen? Die Kleine kann so lange bleiben wie nötig. Wir werden sie behandeln wie unser eigenes Kind. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«

Der Schwarze lächelte. Der kleine weiße Begleiter zupfte ihn am Ärmel und wollte sich einmischen. Aber der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen und wandte sich jetzt an Fritz.

»Das ist gut! Dann kann ich beruhigt auf Reisen gehen, bis wir Therese wieder abholen. Bei Ihnen ist sie gut aufgehoben, das weiß ich!«

»Wie sollen wir das mit der Religion machen?«, fragte Fritz. »Sie müssen wissen, meine Frau ist evangelisch und ziemlich fromm.«

Der Schwarze grinste: »Ich bin auch getauft, meine vier Frauen auch. Wir sind Christen.«

»Selbst wenn nicht, wäre es mir egal«, sagte Fritz.

Der Schwarze grinste, was niemand deuten konnte.

»An Essen und Kleidung soll es nicht fehlen. Helene hat viel auf der Kinderstation im Krankenhaus gearbeitet und weiß, wie man mit den Kleinen umgeht.«

Werde ich das Kind lieben können?, dachte Helene. Konnte sie das so leichthin jetzt und hier versprechen?

Der Dicke, der seinen Namen nicht genannt hatte, redete wieder ein paar Worte in der fremden Sprache mit dem Afrikaner. Für Hufnagels waren es nur seltsame Laute. Helene schossen wieder Fragen durch den Kopf. Wenn sie sie jetzt nicht stellte, wen sollte sie dann fragen? So, als hätte ihr Mann ihre Gedanken erraten, legte er einen Arm um ihre Schultern, um sie zu beruhigen.

»Jetzt hast du dein Kind!«, sagte er lächelnd. »Natürlich werden wir es lieben!«, flüsterte er ihr ins Ohr und lächelte zärtlich.

Das nahm ihr für den Moment alle Unsicherheit. Dankbar sah sie Fritz an. Sollte sie den Schwarzen nach der Mutter fragen?

Pastor Giebel warf ein: »Herr William lebt mit vier Frauen zusammen, das ist so üblich in seiner Heimat. Das sollten Sie wissen, liebe Helene! Daran sind wir hier nicht gewöhnt!«

»Und was sagt die Mutter von Therese dazu?«, fragte Helene.

»Keiner Mutter fällt es leicht, ein Neugeborenes wegzugeben, auch wenn es nur einige Jahre sind«, sagte der dicke Mann. »Aber auf der anstrengenden Reise können wir nicht erlauben, dass Kleinkinder dabei sind. Das ist im Vertrag mit den Afrikanern geregelt! Entweder kommen sie in ein Waisenhaus oder in eine Pflegefamilie. Wir müssen uns da an die Vorschriften und an den Vertrag halten, verstehen Sie?«

»Will Herr William das Kind gleich hierlassen?«, fragte Helene und bemühte sich, ihre innere Aufregung unter Kontrolle zu halten.

Die Frage hatte der Afrikaner verstanden, er kam zum Tisch und legte Helene das Kind auf den Schoß. Sein Gesicht war unbewegt. Er ging zur Tür zurück, wo er vorher gestanden hatte, und sagte ein paar Worte in seiner Sprache.

»Er sagt, er sei Ihnen dankbar für Ihre Güte. Und er sei sicher, dass sein Mädchen hier in guten Händen sei. Es sei für ihn nicht leicht, sich von Therese zu trennen, aber es ginge ja nicht anders.«

Fritz und Helene beugten sich über das Kind, das die Augen geschlossen hatte. Es war für beide ein besonderer Moment, als ihre Köpfe sich über dem Kind berührten, ein Augenblick von Innigkeit und starken zärtlichen Gefühlen, sodass Fritz Helene sanft im Nacken berührte.

Der dicke Weiße schien es eilig zu haben, auch Pastor Giebel und Schwester Pauline standen auf. Den Kuchen hatte niemand angerührt.

Wortlos, mit unbewegtem Gesicht ging der Afrikaner mit den deutschen Begleitern die Treppenstufen hinab. Helene, das Kind auf dem Arm, begleitete sie bis an die Haustür. Der Schneefall hatte wieder eingesetzt.

Der dicke Weiße wandte sich noch einmal an Helene.

»Ich habe ja Ihre Adresse, gnädige Frau. Wenn Sie Zeit haben, würde ich morgen wiederkommen und Ihnen die Papiere bringen.«

»Welche Papiere?«, fragte sie.

»Das Kind ist hier geboren. Deshalb müssen wir es hier dem Standesamt melden; die brauchen jetzt noch Ihre Adresse für all diesen Verwaltungskram. Sie wissen schon, Name des Vaters, seine Adresse in Togo und so. Im Geburtenregister ist das Mädchen schon eingetragen. Alles andere erledigen wir für Sie!«

Helene nickte, richtig verstanden hatte sie nicht, was der Mann gemeint haben könnte. Sie stellte keine Fragen, um sich nicht noch mehr zu verwirren. Für einen Tag reichten ihr die Aufregungen.

Keine Abschiedstränen. Haben Afrikaner keine Gefühle wie wir?, fragte sich Helene und versuchte, ihre eigenen Gefühle zu deuten. Oder verstehen wir ihre Gefühle vielleicht nicht? Der Mann hatte ihnen nicht einmal die Hand zum Abschied gegeben. Vielleicht war das in Afrika nicht üblich, dachte sie verwirrt. Aber sie war auch erleichtert. So konnte man nichts falsch machen. Sie war beruhigt, weil Fritz ihr seine Hand auf die Schulter legte und sie sanft zurück in die Küche führte. Doch beide wussten, dass sich gerade – und mit diesen Gesten – ihr Leben ganz und gar verändern würde.

Die Gemeindeschwester hatte, ohne ein Wort zu sagen, ein kleines Bündel zurückgelassen, das Helene und Fritz erst jetzt wahrnahmen. Fritz öffnete es. Zutage kamen eine Flasche mit Schnuller, eine Wundsalbe, Milchpulver, einige Windeln. Die Schwester hatte an die Erstversorgung gedacht, denn an dem Tag hatten die Geschäfte längst geschlossen.

Erste Versuche, Eltern zu sein

Sie setzten sich wieder an den Küchentisch, Helene hielt das Kind auf ihrem Schoß. Beide waren erleichtert, endlich allein zu sein. Mit dem Kind! Fritz saß Helene glücklich lächelnd gegenüber. Um etwas zu tun oder sich zu beruhigen, stopfte sie sich hastig ein Stück Kuchen in den Mund. Fritz betrachtete sie, er ahnte, wie verwirrt seine Frau sein musste. Wie kann ich ihr helfen?, überlegte er, was braucht sie? Darauf hatte er nur eine Antwort: Hier an ihrer Seite sein!

Helene schickte Fritz nach einem Bleistift und einem Blatt Papier. Sie wollte aufschreiben, was sie oder ihr Mann bei nächster Gelegenheit im Kaufhaus Tietz oder im Lebensmittelgeschäft nebenan besorgen sollte. Sie zog vorsichtig das leichte Tuch vom Gesicht des Kindes, um es zu betrachten. Das kleine Mädchen schlug plötzlich die Augen auf und sah Helene und Fritz an. Das war der Moment, den sie nie vergessen würden, beide dachten das Gleiche, ohne es auszusprechen. Schweigend verharrten sie ein oder zwei Minuten, vor sich das schöne dunkle, jetzt wache Gesicht mit den blanken Augen. Es schien, als würde die Kleine sie, ihre neuen Eltern, neugierig betrachten, aber den Blick konnten sie nicht wirklich deuten.

Helene begann, leise über die notwendigen Einkäufe vor sich hin zu reden.

Einen Kinderwagen, Windeln sind schon da, auch eine Milchflasche, Milch würden sie brauchen. Besser noch Milchpulver!

Noch mehr schrieb sie auf, strich einiges wieder, überlegte konzentriert.

Es war Samstag und die Geschäfte schon geschlossen. Was tun? Die Kleine wird schon nicht verhungern. Eine Flasche Milch stand auf der Fensterbank, sie müsste sie verdünnen, erinnerte sie sich.

Sie würde alles andere, was sie jetzt brauchten, am Montag selbst besorgen, wenn ihr Mann zur Arbeit war. Konnte sie das Kind für eine Stunde allein lassen? Das ging nicht! Was sollte sie tun? Bei Roses nebenan einen Kinderwagen leihen, das war die Lösung! Sie schickte ihren Mann zu den Nachbarn, um zu fragen. Er kam mit dem Kinderwagen und einigen Baby-Fläschchen zurück.

Aufgeregt und durcheinander hatte er den ahnungslosen Nachbarn etwas von einem Baby erzählt, und man würde ein paar Sachen brauchen, für den Übergang. Roses waren verblüfft, leicht verwirrt, stellten aber dem stotternden Fritz jetzt keine Fragen, sondern gaben ihm, was er verlangte.

Man würde schon erfahren, was sich bei ihren Nachbarn abspielte!

Am Montag würde Helene mit dem Kinderwagen in Ruhe losziehen können!

Helene fühlte sich glücklich und beschwingt, alle Angst und Bedrängnis waren abgefallen. Den Gedanken, dass es nur für einige Jahre sein würde, hatte sie schon vergessen.

Jetzt war dieses Baby bei ihnen, es war für das Paar Liebe auf den ersten Blick.

Das Kind blickte sie aus großen braunen Augen an, ohne einen Ton von sich zu geben.

Lag eine Frage in diesem Blick? Ich fange schon an zu spinnen, rief Helene sich zur Ordnung und versuchte, ihre Ruhe wiederzufinden.

Sie schob ihrem Mann das Kind auf den Schoß.

Helene ging ins Schlafzimmer und zerriss ein altes Betttuch, um einen Vorrat an Windeln zu haben. Wo würde das Mädchen schlafen? Sie würden ein Kinderbett brauchen, das kriegte man bei der Diakonie leihweise. Oder Fritz würde noch am Sonntag eines zimmern. Ein Laufstall? Nein, das wäre etwas für Ältere. Kindernahrung? Sie würde sich in der Küche des Hospitals noch einmal genau erkundigen. Vielleicht erst einmal Milchpulver und Wasser vermischen? Aufgeweichten Zwieback? Ihr schwirrte nun doch der Kopf, als Fritz mit dem Säugling ins Schlafzimmer kam und ihn auf ihr Bett legte und sie die Windel öffnete. Sie war trocken. Helene erleichtert.

Sah die Kleine aus wie alle Säuglinge in Afrika? Die Fußsohlen waren rosig, ebenso die Innenseiten ihrer Hände. Wie alt mochte das Baby sein? Vielleicht erst ein paar Tage, dachte sie. Auf dem Nabel klebte noch ein Pflaster. Die Kleine strampelte lebhaft mit den Beinen, als sei sie erleichtert, nicht mehr in Windeln eingezwängt zu sein. Wer hatte ihr den Namen Therese gegeben? War das auch ein afrikanischer Name?

Sorgfältig band sie die Windel wieder um den kleinen Körper und begann dabei zu sprechen und leise ein Kinderlied zu singen. Viel Zärtlichkeit legte sie in ihre Stimme, so gut es ihr in der Aufregung gelang. Sie bemerkte nicht, dass ihr Mann lächelnd in der Tür stand und ihr zusah.

Die Landsleute von da unten

Der deutsche Begleiter des Afrikaners kam nicht wie angekündigt am nächsten Tag, sondern erst am Nachmittag des folgenden Mittwochs, als Helene allein zu Hause war. Ihr wäre lieber gewesen, ihren Mann dabeizuhaben, sie fühlte sich ohne ihn angesichts der Tragweite der Verwaltungsangelegenheiten unsicher. Aber Fritz kam erst nach 18 Uhr von der Arbeit.

»Das war eine schlimme Warterei auf dem Amt«, klagte der Dicke, der sich jetzt als Heinrich Sander vorgestellt hatte. »Immer fehlte noch etwas, das die von mir wissen wollten. Der komplette Name des Vaters, Name der Mutter, ihr Wohnort, ihre Staatsangehörigkeit. Da habe ich einfach gesagt, diese Afrikaner aus Togo wären alles Deutsche. Wir werben sogar mit dem Satz ›Unsere Landsleute aus den deutschen Kolonien‹!« Der dicke Mann lachte. »Das wollte der Beamte nicht gelten lassen, Neger könnten keine Deutschen sein, sagte er. Das müsste er erst einmal prüfen, und ich sollte am nächsten Tag noch einmal hin, auch weil mir einige Angaben fehlten.«

Er zog aus einem Stapel Papiere ein Blatt hervor.

»Hier ist erst einmal die Geburtsurkunde. Voller Name Therese Akua Hufnagel.«

»Das Kind soll Hufnagel heißen? So wie wir?«

Sander stierte ratlos auf das Papier.

»Da muss ich morgen gleich noch mal nachfragen«, sagte er.

»Und was bedeutet Akua?«

»Das ist der zweite Name von Therese. Das machen diese Leute so, dass sie einen Namen dazusetzen, je nachdem, ob ein Mädchen geboren wurde, an welchem Wochentag und solche Sachen. Das kommt uns natürlich komisch vor, aber die da unten machen das so. Ihr Kind ist an einem Mittwoch geboren, sagte man mir. Deshalb heißt sie mit zweitem Vornamen Akua.«

»Stehen die Namen der Eltern hier nicht drauf?«, wollte Helene wissen.

»Die haben da nichts zu suchen, gnädige Frau! Wenn Sie es notieren wollen: Der Vater heißt William, Nayo William. Aber auch John Calvert steht hier irgendwo. Da kann ja kein Mensch durchblicken!«

»Und die Mutter? Steht deren Name auch irgendwo?« Helene zeigte auf die Papiere, die ihr Sander noch nicht gezeigt hatte. Er schob ihr den Packen Papier über den Küchentisch.

»Ich lass Ihnen das alles hier. Dann können Sie sich das mit Ihrem Mann in Ruhe durchsehen. Wichtig ist eigentlich nur die Eintragung bei unseren Behörden, die Geburtsurkunde. Die muss man immer aufheben! Für später. Wenn mal was passiert.«

»Ist unsere Therese denn nun Deutsche oder Togolesin?«

»Sie ist hier geboren, also ist sie Deutsche, bis auf Weiteres. Togolesin sagt man übrigens nicht. Das heißt Togoerin, wenn Sie es genau wissen wollen. Aber da kommt es nicht so drauf an. Manche sagen Togolesen. Wir sagen ja Chinesen zu denen aus China.« Der Mann wurde ungeduldig, zog seine Taschenuhr aus der Westentasche und erhob sich. »Wir sind noch für ein paar Tage im Eden-Theater. Fragen Sie nach Herrn Knevels oder nach mir. Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei … Aber besser, Sie kommen nicht mit dem Kind, das wäre für die Eltern ja nicht so schön. Falls Sie verstehen, was ich meine.«