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Wilhelm Leber

Aufeinander zugehen

Betrachtungen zur Versöhnung

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1. Auflage 2020

© 2020 Verlag Friedrich Bischoff GmbH, Neu-Isenburg

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Wolfgang Schuster

Layout und Satz: Bischoff Verlag, Neu-Isenburg

Umschlagbild: stock.adobe.com – © 53r610

Bilder im Innenteil: stock.adobe.com – © arenaphotouk (S. 9),

© Mario Hoesel (S. 9), © JaviJfotografo (S. 32),

© DragonImages (S. 59), © lorabarra (S. 85);

Oliver Rütten (S. 78); Marcel Felde (S. 95)

Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Die verwendeten Bibelzitate sind entnommen aus:

Lutherbibel, revidiert 2017

© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Best-Nr. 231 017

ISBN 978-3-943980-80-6
eISBN 978-3-945410-10-3

www.bischoff-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Vergebung

Was wir unter Vergebung verstehen

Gottes Gnade

Wie Vergebung gelingt

Was Vergebung auszeichnet

Vergebung in allgemeinen Konflikten

Versöhnung

Was wir unter Versöhnung verstehen

Versöhnung mit Gott

Versöhnung mit dem Nächsten

Wie Versöhnung gelingt

Wenn Versöhnung nicht mehr möglich ist

Versöhnung in der Partnerschaft

Versöhnung in der Gemeinde

Konflikte in einer Gemeinschaft

Wege zur Versöhnung

Umgang mit ehemaligen Mitgliedern

Versöhnung mit der Apostolischen Gemeinschaft

Die Entstehung der Versöhnungserklärung

Schlussfolgerungen

Mitarbeit in der Ökumene

Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wir beten es gemeinsam in jedem Gottesdienst, das „Unser Vater“. Darin enthalten ist die Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Bei dieser Bitte möchte ich einen Moment stehenbleiben. Was beten wir da eigentlich? Sicherlich haben wir eine Vorstellung davon, was Vergebung bedeutet. Aber wenn man sich näher damit befasst, stellen sich Fragen: Wie gelangen wir zur Vergebung? Wie weit geht Vergebung? Woran erkennt man, dass wir wirklich vergeben haben? In welchem Verhältnis stehen Vergebung und Versöhnung zueinander?

Bei der Beschäftigung mit diesen Fragen habe ich festgestellt, dass die Thematik viel umfänglicher ist, als ich zuvor dachte. Mir ist bewusst, dass Lücken bleiben. Aber ich habe die Hoffnung, Impulse geben zu können.

Geh hin und versöhne dich mit deinem Bruder.

aus Matthäus 5,24

Vergebung

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Was wir unter Vergebung verstehen

Die folgende Erklärung ist einfach, trifft aber das Wesentliche: „Vergeben“ bedeutet nichts weiter als „weggeben“, und zwar Groll, Ärger, Enttäuschung, Bitterkeit, Rachegedanken und -gefühle, Wunsch nach Vergeltung, Hass, kurzum: alle negativen Gedanken und Gefühle gegenüber dem Anderen.

Manchmal spricht man davon, dass jemand dem Anderen etwas „nachträgt“. Das ist die gegenteilige Haltung. Der Begriff des Nachtragens verdeutlicht in anschaulicher Weise, um was es geht: Man trägt dem Anderen etwas hinterher, lässt nicht los, hält fest an dem Geschehenen. Zu vergeben bedeutet „nicht nachtragend“ zu sein.

Es gibt in unserer Sprache Worte, die eine ähnliche Bedeutung haben wie „Vergebung“, nämlich „Verzeihung“ und „Versöhnung“. Während Verzeihung und Vergebung gleichgesetzt werden können, geht die Bedeutung von Versöhnung darüber hinaus. Vergebung ist nämlich die innere Angelegenheit eines jeden Einzelnen. Ich vergebe meinem Gegenüber, das ist meine ureigene Entscheidung. Sie ist unabhängig davon, wie jener sich verhält. Versöhnung dagegen umfasst auch mein Gegenüber. Versöhnung bedeutet die Überwindung einer Kluft zwischen zwei Parteien, die Wiederherstellung eines unbelasteten Verhältnisses. Es ist einleuchtend, dass Versöhnung nur dann möglich ist, wenn der Andere dazu bereit ist. Es kann nicht zur Versöhnung kommen, solange mein Gegenüber sie ablehnt.

Versöhnung ist mehr als Vergebung. Aber ohne Vergebung gibt es keine Versöhnung.

Gottes Gnade

Grundlegend für Christen ist die Erkenntnis, dass Gott gnädig ist. Er vergibt begangene Sünden. Schon im Alten Testament kommt dieser Gedanke immer wieder zum Vorschein. Beispielsweise rief Mose nach 2. Mose 34,6 und 7 aus: „Herr, Herr, Gott … von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde …“

Im Neuen Testament zeigt sich die ganze Fülle göttlicher Liebe und Gnade in Jesus Christus. Der Gedanke der Vergebung spielt in seinem Wirken eine große Rolle. Eindrucksvoll bestätigte Jesus seine Vollmacht zur Vergebung der Sünden, als ein Gelähmter auf einem Bett liegend vor ihn gebracht wurde. Jesus wandte sich den anwesenden Schriftgelehrten zu, die nicht an seine göttliche Macht glaubten: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim!“ (Matthäus 9,6). Und so geschah es.

Nach seiner Auferstehung übertrug Jesus seinen Aposteln die Vollmacht, in seinem Namen die Vergebung der Sünden zu verkündigen (Johannes 20,23).

Auch wenn Gottes Gnade unfassbar groß ist, so bleibt die Vergebung doch an eine besondere Voraussetzung gebunden. Das kommt deutlich in dem Gebet „Unser Vater“ zum Ausdruck, wenn wir bitten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Unsere eigene Bereitschaft zur Vergebung muss am Anfang stehen. Jesus unterstrich dies noch, indem er hinzusetzte: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Matthäus 6,14.15).

Das bedeutet: Wer die Gnade Gottes erfahren möchte, muss zwangsläufig seinen Mitmenschen ihre Verfehlungen vergeben.

Wie Vergebung gelingt

Verfehlungen

Im Gebet „Unser Vater“ bitten wir um die Vergebung unserer Schuld. Schuld vor Gott entsteht durch die Sünde, also die Übertretung der göttlichen Gebote. Demzufolge verstehen wir auch unter Verfehlungen sündhafte Verhaltensweisen. Maßstab sind die von Mose verkündeten Zehn Gebote (2. Mose 20) oder das von Jesus herausgestellte Doppelgebot der Liebe (Matthäus 22,37–39).

Im Alltag können Verfehlungen unserer Mitmenschen ganz unterschiedlich sein. Da wird ein verletzendes Wort gesprochen, eine unwahre Behauptung aufgestellt, eine Zusage nicht eingehalten. Ein weiteres Beispiel: In der Gemeinde übersieht uns jemand, lässt uns links liegen, nimmt uns nicht wahr. Wir empfinden ein solches Verhalten als lieblos. Das alles mögen auf den ersten Blick Kleinigkeiten sein. Aber die Erfahrung lehrt, dass dadurch Missstimmungen entstehen und Konflikte ausgelöst werden können.

Wenn uns jemand um eigener Vorteile willen täuscht oder betrügt, dann empfindet man das als erhebliche Verfehlung. Oder denken wir an Untreue in der Partnerschaft und Ehe. Da wird die Beziehung gefährdet; ein solches Verhalten kann weitreichende Auswirkungen haben.

Schließlich kann es sein, dass jemand uns bewusst und vorsätzlich Schaden zufügt. Es mag dahingestellt sein, welche Motive dahinterstehen. Das Verhältnis mit dem Betreffenden wird zutiefst gestört.

Diese grobe Aufzählung macht bereits deutlich, wie vielfältig Verfehlungen sein können. In unserer Sicht auf unsere Mitmenschen ist oftmals nicht eine einzelne Verfehlung bedeutsam, das Bild wird vielmehr geprägt durch die Aneinanderreihung gleichartiger Erfahrungen. Wenn jemand es immer wieder mit der Wahrheit nicht so genau nimmt oder eine Zusage nicht einhält, dann ist man nicht mehr bereit, ein solches Verhalten hinzunehmen. Wir reagieren verärgert oder enttäuscht. Übersieht uns jemand immer wieder oder lässt uns links liegen, dann vermuten wir dahinter eine Absicht. Das Verhältnis wird belastet.

Sich Zeit nehmen