image

Psychopharmaka. Wirkung, Nutzen, Gefahren

image

Haftungsausschluss

Stand des Wissens in diesem Ratgeber ist Mai 2020, wobei zu beachten ist, dass sich die Psychopharmaka-Forschung dynamisch entwickelt. Dieses Buch ersetzt den Besuch beim Arzt, bei der Ärztin nicht. Bitte besprechen Sie jede diagnostische oder therapeutische Folgerung mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags ist ausgeschlossen.

Beobachter-Edition

© 2020 Ringier Axel Springer Schweiz AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich

Lektorat: Christine Klingler Lüthi, Wädenswil

Infografik Seite 50: Andrea Klaiber, Anne Seeger

Umschlaggestaltung: Rebecca De Bautista

Umschlagfoto: iStock.com/FotografiaBasica

Fotos: iStock

Reihenkonzept: buchundgrafik.ch

Layout und Satz: Bruno Bolliger, Gudo

Herstellung: Bruno Bächtold

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN 978-3-03875-155-7
eISBN 978-3-03875-312-4

image

Zufrieden mit den Beobachter-Ratgebern?
Bewerten Sie unsere Ratgeber-Bücher im Shop:
www.beobachter.ch/shop

Mit dem Beobachter online in Kontakt:

image www.facebook.com/beobachtermagazin

image www.twitter.com/BeobachterRat

image www.instagram.com/beobachteredition

Inhalt

Vorwort

image Die 25 wichtigsten Fragen zu Psychopharmaka

1.Was sind Psychopharmaka?

2.Sollen gesunde Personen Psychopharmaka einnehmen?

3.Was sind die Sonnen- und Schattenseiten von Psychopharmaka?

4.Wirken Psychopharmaka?

5.Wer soll Psychopharmaka einnehmen?

6.Worin besteht die psychische Wirkung von Psychopharmaka?

7.Verändern Psychopharmaka die Persönlichkeit?

8.Wie wirken Psychopharmaka im Gehirn?

9.Was muss ich beachten, wenn ein Arzt mir ein Psychopharmakon verschreiben will?

10.Sollten Psychopharmaka in Psychotherapien eingesetzt werden? Wenn ja, zu welchem Zeitpunkt?

11.Wie geht mein Arzt vor, um ein wirksames Psychopharmakon zu finden?

12.Was ist die richtige Dosis?

13.Was ist bei der Einnahme mehrerer Medikamente zu berücksichtigen?

14.Kann die Wirkung von Psychopharmaka über die Zeit nachlassen?

15.Darf ich trotz Behandlung mit Psychopharmaka Auto fahren, klettern und tauchen?

16.Gibt es natürliche Psychopharmaka?

17.Sind Generika gleich gut wirksam wie Originalpräparate?

18.Machen Psychopharmaka abhängig?

19.Worauf müssen Frauen besonders achten?

20.Wie verlässlich sind die Patienten- und Fachinformationen zu Psychopharmaka?

21.Wie lange sollen Psychopharmaka eingenommen werden?

22.Was sind Vor- und Nachteile von Depotpräparaten?

23.Wie viel darf man vom Placeboeffekt erwarten?

24.Wo sind die Therapielücken in der Behandlung mit Psychopharmaka?

25.Was gibt es Neues bei den Psychopharmaka?

image Die Medikamentengruppen im Überblick

Antidepressiva

Was ist eine Depression?

Behandlung

Medikamente

Wirkmechanismen von Antidepressiva

Rückfallverhütung

Klassen von Antidepressiva

Auswahl nach Nebenwirkungen

Angstlöser (Tranquilizer, Anxiolytika)

Was ist eine Angststörung?

Behandlungsoptionen

Welche Angstlöser gibt es?

Wichtige Grundsätze bei der Behandlung

Ein Benzodiazepin auswählen

Eine neue pflanzliche Alternative

Schlafmittel

Was sind Schlafstörungen?

Was beinhaltet die Psychotherapie von Schlafstörungen?

Was sind Schlafmittel?

Schlaffördernde Antidepressiva

Schlaffördernde Antipsychotika

Benzodiazepin-Schlafmittel

Z-Schlafmittel

Natürliche Alternativen

Weitere Substanzen

Stimulanzien

Was ist ADHS?

Symptome

Anwendung von Stimulanzien und Nichtstimulanzien

Wirkmechanismen

Nebenwirkungen

Behandlungsstrategien bei Kindern und Erwachsenen

Stimulanzien

Nichtstimulanzien

Antipsychotika

Was ist eine Psychose?

Was ist Schizophrenie?

Symptome und Diagnose

Anwendungsbereiche von Antipsychotika

Entwicklung und Einteilung der Antipsychotika

Nebenwirkungen

Behandlung mit Antipsychotika

Einzelne atypische Antipsychotika im Überblick

Wechsel des Antipsychotikums

Stimmungsstabilisierer

Was sind bipolare Störungen?

Diagnose

Symptome der Manie und Hypomanie

Sowohl behandeln als auch vorbeugen

Wie werden bipolare Störungen medikamentös behandelt?

Einzelne Stimmungsstabilisierer im Überblick

Antidementiva

Was ist Demenz?

Diagnoseverfahren

Behandlung

Medikamente

Antidementiva

Können Demenzen verhindert werden?

Zukunft der Demenztherapie

Anhang

Liste der erwähnten Originalpräparate

Adressen und Links

Buchtipps und Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Als mich die Beobachter-Edition anfragte, ob ich Interesse hätte, einen Ratgeber über Psychopharmaka zu schreiben, war ich zuerst erstaunt. Sollte das vertiefte Wissen über Psychopharmaka nicht Experten vorbehalten sein? Ist es nicht gefährlich, eine breite Leserschaft in das Wissen über Anwendung, Tricks und Gefahren von Psychopharmaka einzuweihen? Ist es sinnvoll, Betroffenen und Angehörigen zu verraten, was die Packungsbeilage verschweigt und was ich nur dank jahrzehntelanger Erfahrung, dem Austausch mit internationalen Experten und dank meiner wissenschaftlichen Tätigkeit weiss?

Einer Patientin, die ich seit Jahren wegen einer schweren Angststörung behandle, erzählte ich von der Anfrage der Beobachter-Edition und meinen Gründen, dieses Angebot abzulehnen. Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und sagte mit lauter, klarer Stimme: «Herr Hasler, dieses Buch müssen Sie schreiben! Wir Patienten wollen das wissen! Sie kennen mich, ich vertraue den Ärzten, aber wir Betroffenen wollen uns selber schlaumachen können.» So bestimmt und klar hatte ich meine Patientin noch nie erlebt. Sie sprach sonst eher leise und zögerlich.

Diese spontane Reaktion überzeugte mich. Ich sah ein, dass die Zeit reif ist, den Trend der Kundenorientierung auch im Bereich der Psychopharmaka voranzutreiben und Menschen mit psychischen Krankheiten die Gelegenheit zu geben, ihre Behandlung kompetent zu beurteilen und zu beeinflussen.

Ich danke meiner Lektorin Christine Klingler Lüthi. Ohne ihren Druck, ihre Nachhaltigkeit und ihre klugen Fragen gäbe es diesen Ratgeber nicht. Ferner danke ich einer Reihe von hervorragenden Experten für ihre Anregungen, Korrekturen und kritischen Fragen: Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli, Dr. med. Kerstin Gabriel Felleiter, Dr. med. Stephan Goppel, Prof. Dr. med. Waldemar Greil, Prof. Dr. med. Thomas Müller, Prof. Dr. med. Egemen Savaskan, Dr. med. Patrik Stephan und PD Dr. med. Godehard Weniger.

Prof. Dr. med. Gregor Hasler

im Juni 2020

image

Die 25 wichtigsten Fragen zu Psychopharmaka

Dieses Kapitel greift die häufigsten Themen in Zusammenhang mit Psychopharmaka auf. Die Antworten auf die Fragen geben den aktuellen Stand des Wissens wieder und sind von Interesse für Menschen, die selber Psychopharmaka neh-men, aber auch für Angehörige, Fachpersonen und weitere Interessierte.

 

images

Psychopharmaka sind Medikamente, welche die psychische Verfassung beeinflussen und für die Behandlung psychischer Krankheiten eingesetzt werden. Das Wort hat seinen Ursprung im Altgriechischen: Psycho- bezieht sich auf die Seele, Pharmakon meint Heilmittel; Pharmaka ist der Plural von Pharmakon. Es gibt folgende Gruppen von Psychopharmaka:

imageAntidepressiva; sie hellen die Stimmung auf und können den Antrieb steigern. Mehr dazu ab Seite 126.

imageAngstlöser (Tranquilizer, Anxiolytika); sie beruhigen und wirken angstlösend. Mehr dazu ab Seite 146.

imageSchlafmittel (Hypnotika) sind Medikamente, die den Schlaf fördern. Mehr dazu ab Seite 153.

imageStimulanzien; sie verbessern die Konzentration und die Wachheit. Mehr dazu ab Seite 161.

imageAntipsychotika (früher Neuroleptika); sie wirken gegen Wahn und Sinnestäuschungen (Halluzinationen). Mehr dazu ab Seite 170.

imageStimmungsstabilisierer; sie gleichen Stimmungsschwankungen aus und verhindern depressive und manische Rückfälle. Mehr dazu ab Seite 190.

imageAntidementiva; sie werden bei Demenz eingesetzt, um das Fortschreiten der Krankheit zu verzögern.

image INFO Angstlöser waren früher die grosse Hoffnung für Menschen mit Angststörungen. Die Medikamente lösen Ängste schnell und verlässlich. Wegen ernsthafter Nebenwirkungen und dem Risiko einer Abhängigkeit sind sie aber bei Angststörungen nicht mehr erste Wahl.

Diese Einteilung in Gruppen kann Missverständnisse auslösen. Man könnte etwa meinen, dass man Antipsychotika nur bei Psychosen gibt und Antidepressiva nur bei Depressionen. Dies stimmt zwar, ist aber nicht die ganze Wahrheit. So sind zum Beispiel Antidepressiva und nicht Angstlöser die Medikamente erster Wahl bei Angststörungen. Oft fragen Angstpatienten und Angstpatientinnen, warum sie ein Antidepressivum empfohlen bekommen, da sie ja nie depressiv waren. Die Antwort ist einfach: Der Begriff Antidepressivum ist historisch zu verstehen; die Wirksamkeit der Medikamentengruppe wurde zuerst bei depressiven Patienten entdeckt. Inzwischen weiss man, dass diese Medikamente bei Angststörungen ebenfalls wirksam sind, sogar noch besser als bei Depressionen. Ferner helfen speziell einige ältere Antidepressiva bei chronischen Schmerzen, auch wenn der Patient nicht depressiv ist.

image INFO Möglicherweise kommen in Zukunft als neue Psycho-pharmaka-Klasse die Psychedelika dazu. Diese verstärken die Neuroplastizität und erlauben Einblicke in die Psyche, die man sonst nur durch jahrelanges Meditieren erreicht. Die therapeutische Wirkung dieser Substanzen wird intensiv beforscht (mehr dazu auf Seite 121).

Antipsychotika haben sich seit ihrer Entdeckung nicht nur bei Psychosen als wirksam erwiesen, sondern auch bei Manien und bei bestimmten Formen der Depression, selbst wenn die Patienten nie in ihrem Leben das geringste Anzeichen einer Psychose hatten. Zu Recht fragen Patientinnen und Patienten: «Warum muss ich ein Antipsychotikum schlucken, wenn ich gar keine Psychose habe?» Auch hier liegt der Grund in der veralteten Einteilung der Psychopharmaka.

image INFO Internationale Expertengruppen arbeiten an einer neuen Einteilung der Psychopharmaka (www.nbn2r.com). Da die Medikamente im deutschen Sprachraum derzeit offiziell noch nach der alten Einteilung benannt, zugelassen und verkauft werden, folgt dieses Buch der traditionellen Einteilung.

 

images

Diese Frage wird die Fachfrau mit Nein beantworten. Aber Psychopharmaka werden zunehmend als Neuroenhancer eingenommen, das heisst mit dem Ziel, die mentale Leistung gesunder Personen zu steigern. Mit Kaffee und Tee haben wir bereits ein paar hundert Jahre Erfahrung. Koffein ist eine erstaunliche Substanz: Sie verkürzt die Schlafdauer und verbessert die Wachheit.

image INFO Neue Studien bestätigen, dass Kaffee für die Gesundheit nicht generell schädlich ist. Erwachsene sollten aber nicht mehr als vier Tassen Kaffee trinken; das entspricht zirka drei Litern Coca-Cola. Schwarztee enthält ebenfalls Koffein, allerdings weniger als Kaffee. Kinder und Jugendliche vertragen deutlich weniger Koffein als Erwachsene.

Von der Einnahme von Stimulanzien rate ich klar ab. Es sind zu wenige Studien vorhanden, die eine Aussage über die Wirksamkeit und die langfristigen, potenziell negativen Folgen von Neuroenhancement erlauben würden. Auch bezüglich der Wirksamkeit herrscht Unklarheit. Ist die Wahrscheinlichkeit, eine Prüfung zu bestehen, höher bei Studentinnen und Studenten, die Stimulanzien einnehmen? Ich habe meine Zweifel.

image INFO Psychopharmaka haben immer den unerwünschten Effekt, dass sie die Erfahrung der Selbstwirksamkeit mindern, die für die Entwicklung der psychischen Widerstandskraft wichtig ist. Das gilt auch für Neuroenhancement, gerade bei jungen Menschen. Das heisst: Wenn ich eine Prüfung ohne medikamentöse Hilfe schaffe, entsteht in mir die bleibende Erwartung, dass ich auch in Zukunft unter Druck eine Bestleistung erbringen kann. Studien belegen, dass solche sogenannten Selbstwirksamkeitserwartungen zentral sind für die psychische Gesundheit und den persönlichen Erfolg. Andererseits können Psychopharmaka aber helfen, dass jemand eine Prüfung überhaupt besteht, was ihm oder ihr erlaubt, das eigene Potenzial auszuschöpfen, und so Gelegenheit bietet, neue Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen.

Es ist anzunehmen, dass Neuroenhancement in Industriegesellschaften zum wichtigen Faktor wird. Eine Umfrage der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Nature unter ihren Leserinnen und Lesern ergab, dass jeder Fünfte Medikamente aus nicht medizinischen Gründen einnahm, um Erinnerungsvermögen, Aufmerksamkeit und Konzentration zu verbessern. 80 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Umfrage waren der Meinung, dass gesunde Erwachsene Zugang zu entsprechenden Medikamenten haben sollten. Vermutlich wird es bald neue und effizientere Neuroenhancer geben, die helfen, das intellektuelle Potenzial noch besser auszuschöpfen.

Zusammengefasst: Grundsätzlich gibt es keinen Anlass und auch keine medizinische Empfehlung für gesunde Personen, Psychopharmaka einzunehmen.

Auf zwei wichtige Aspekte sei dennoch hingewiesen:

imagePsychopharmaka haben eine wichtige Funktion bei der Vorbeugung von Krankheitsschüben. Dies aber nur, wenn die Medikamente auch in den Lebensphasen eingenommen werden, in denen sich keine Symptome zeigen. Von aussen betrachtet kann so der – falsche – Eindruck entstehen, dass gesunde Menschen Psychopharmaka einnehmen.

imageEs gibt psychische Erkrankungen, die für Aussenstehende kaum bemerkbar oder sichtbar sind. Auch hier könnte der Eindruck entstehen, dass psychisch Gesunde Medikamente schlucken.

 

images

Wie fast jede Behandlungsmethode in der Medizin haben Psychopharmaka Wirkungen und Nebenwirkungen, Sonnen- und Schattenseiten. Das Verständnis für beide Seiten hilft, die Medikamente richtig einzusetzen.

Sonnenseiten

Psychopharmaka haben dazu beigetragen, dass heute wesentlich weniger Patienten in psychiatrischen Kliniken leben müssen als vor hundert Jahren. Das heisst: Mit Psychopharmaka sind viele Menschen mit schweren psychischen Krankheiten autonomer geworden. Ferner haben die Medikamente eine Abnahme der Suizidrate in den letzten Jahrzehnten bewirkt.

Schattenseiten

Die zunehmende Anwendung von Psychopharmaka in Medizin und Psychiatrie hat leider auch Schattenseiten. Mithilfe von Antipsychotika werden in Alters- und Pflegeheimen wegen der knappen Personalressourcen Menschen unnötig ruhiggestellt. Der falsche und fahrlässige Einsatz schlaffördernder Angstlöser wie Temesta®, Halcion® und Valium® kann bei Angstpatienten zu potenziell schweren Suchterkrankungen führen.

Psychopharmaka können zudem auf vielfältige Weise missbraucht werden. Hier ein paar Beispiele:

imageÜbermässige Beruhigung und Ruhigstellung in Kliniken und Heimen.

imageUnnötiger Einsatz von Schlafmitteln mit der Entwicklung einer Abhängigkeit, weil Schlafhygiene und psychotherapeutische Mass-nahmen nicht ausgeschöpft werden.

imageDepressive Symptome, die auf psychische oder soziale Schwierig-keiten hinweisen, werden mit Psychopharmaka unterdrückt, womit die Motivation fehlt, die psychosozialen Probleme anzugehen (siehe auch das Beispiel auf Seite 31).

imageLebenslustige und wilde Kinder werden vorschnell mit Stimulanzien behandelt, weil Eltern oder Lehrpersonen überfordert sind.

imagePsychopharmaka gegen Ängste verhindern nötige Konfrontationen mit normaler Angst.

imagePsychopharmakabehandlungen gründen auf rigiden Vorstellungen dessen, was «normal» ist, und können zu einer verstärkten Diskriminierung führen.

image INFO Die Schweiz hat zu keinem medizinischen Fachgebiet so viel beigetragen wie zur Psychopharmakologie. Das erste Antidepressivum wurde in Münsterlingen entdeckt. Die Angstlöser wurden in Basel entwickelt, ebenso Ritalin®. Der bis heute wirksamste antipsychotische Wirkstoff, nämlich Clozapin, wurde in Bern ausgedacht und hergestellt. Die Methadonbehandlung für Menschen mit schweren Suchtkrankheiten wurde in Zürich entwickelt. Der aktuell vielversprechendste Antikörper gegen Demenz stammt ebenfalls aus Zürich.

 

images

Bei Medikamenten, die stark und schnell wirken, bestehen kaum Zweifel an der Effektivität. Wer einmal einen Angstzustand in einem Flugzeug erlebte und von den Flugbegleitern ein Temesta® erhielt, weiss, dass es sich bei diesem Medikament um einen wirksamen Angstlöser handelt. Ähnliches gilt für die Wirkung von Schmerzmitteln wie Ponstan®, wenn man starke Zahnschmerzen hat. Ebenso bestreiten Angehörige von Menschen mit akuten Psychosen kaum, dass Antipsychotika psychotische Symptome wie Wahn, Halluzination und Erregung schnell und wirksam reduzieren.

Psychische Krankheiten sind aber mehr als akute Symptome. Vielfach sind Symptome milder, halten aber über längere Zeit an. Ein Burn-out mit Erschöpfung beispielsweise kann über Monate bestehen, obwohl der Betroffene seit Wochen nicht mehr arbeitet. Antidepressiva wirken nicht sofort, sondern brauchen Tage bis mehrere Wochen, bis ein Effekt allmählich spürbar ist. Solche verzögerten und langsamen Wirkungen sind nicht mehr so eindrücklich; als Einzelner kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um eine natürliche Besserung oder eben um die Wirkung des Antidepressivums handelt. Bei Medikamenten zur Rückfallverhütung, zum Beispiel Lithium bei der bipolaren Störung, geht es Monate bis Jahre, bis die Wirkung klinisch sichtbar wird (siehe dazu auch das Beispiel auf Seite 28). Für die Beurteilung dieser verzögerten und langfristigen Wirkungen sind wir auf Studien angewiesen.

Wirksamkeitsstudien

Um die Wirksamkeit von Psychopharmaka wissenschaftlich zu untersuchen, werden Studien durchgeführt. Dazu wird eine grosse Anzahl von Patientinnen und Patienten mit psychischen Beschwerden standardisiert untersucht und behandelt. In Psychopharmakastudien werden die aktuellen psychischen Symptome und Schwierigkeiten nach der immer gleichen Methode erhoben, einerseits durch Fragebögen, andererseits durch kurze Interviews mit einem Experten. Ferner wird die Wirkung einer Substanz mit einer anderen Substanz oder mit einem Placebo verglichen. Placebo meint in diesem Zusammenhang eine Pille oder Kapsel, die wie das echte Prüfmedikament aussieht, aber keinen Wirkstoff enthält (mehr zum Thema Placebo auf Seite 109). Weil solche Studien die Voraussetzung sind, dass ein Medikament zugelassen und von den Krankenkassen bezahlt wird, investiert die Pharmaindustrie hier viel Geld.

image INFO Die starke staatliche Regulierung der Pharmaindustrie hat den Vorteil, dass wir sehr viel über Psychopharmaka wissen. Der Nachteil besteht darin, dass die Entwicklung von Medikamenten teuer und langsam ist. Als Arzt erlebe ich dies aber nicht nur negativ, denn weil sich im Bereich der Psychopharmaka eher wenig ändert, habe ich hinsichtlich der Medikamente, die ich einsetze, eine jahrelange Erfahrung.

Nicht jede Wirkung, die in Studien belegt wird, bringt dem Patienten, der Patientin einen Nutzen. Angenommen ein Medikament führt dazu, dass eine Patientin mit Spinnenangst 1 % weniger schwitzt, wenn sie eine Spinne sieht, als wenn sie ein Placebo schluckt. Die Patientin wird diesen geringen Effekt nicht spüren und keinen Nutzen davon haben, nur schon, weil Schwitzen nicht besonders qualvoll ist. Die Einnahme des Medikaments und das Risiko von Nebenwirkungen lohnen sich demnach nicht. Deshalb hat man den Begriff der klinisch bedeutsamen Wirksamkeit eingeführt. Das heisst, ein Medikament muss nicht nur statistisch nachweisbar wirken, sondern die Wirkstärke muss zusätzlich so gross sein, dass sie dem Patienten etwas bringt. Dies ist für jeden Patienten anders. Wer einmal depressiv war, weiss, dass jeder Tag zählt und bereits eine Stimmungsaufhellung von 20 % die Lebensqualität verbessern kann. Im medizinischen Sinn meint klinisch bedeutsam, dass die Symptome um 50 % weniger ausgeprägt sind (engl. response) oder dass die Diagnosekriterien nicht mehr erfüllt sind (engl. remission). Im ökonomischen Sinn ist eine Behandlung bedeutsam, wenn sie eine positive Wirkung auf die Arbeitsfähigkeit hat.

image TIPPS Es ist wichtig, dass sich Patienten und ihre Angehörigen Gedanken dazu machen, was für sie ein bedeutsamer Behandlungseffekt ist. Ärzte sollten ihre Patienten über die realistisch zu erwartende Wirkung eines Psychopharmakons informieren. Folgende Fragen eignen sich, wenn Sie sich über Ihre Erwartungen an eine Therapie klar werden bzw. diese mit dem Arzt besprechen wollen:

Wie stark muss sich das Symptom verändern, damit ich die Veränderung als bedeutsam erachte? (Z.B. «Ich wache jede Nacht zirka fünfmal auf und habe jeweils Mühe, wieder einzuschlafen. Wenn ich nur noch einmal aufwachte, wäre dies ein deutlicher Fortschritt für mich.»)

Welche Veränderung in Bezug auf meine Arbeitsfähigkeit und Leistungsfähigkeit erwarte ich durch die Behandlung? (Z.B. «Ich kann mich nur vier Stunden pro Tag auf meine Arbeit konzentrieren, dann ist meine psychische Energie aufgebraucht. Falls ich sechs Stunden täglich arbeiten könnte, wäre dies ein deutlicher Vorteil»; «Ich kann jeden Tag zwei Seiten meiner Zeitung lesen und mir den Inhalt merken.»)

Welche Veränderung erwarte ich in Bezug auf meine private Situation? (Z.B. «Meine Kinder erleben mich als vergesslich, abwesend und unaufmerksam. Ich erwarte von der Therapie, dass meine Kinder eine deutliche Verbesserung meines Zustands erleben.»)

Klare Vorstellungen bezüglich des Behandlungserfolgs helfen, die individuelle Wirksamkeit von Psychopharmaka sachlich zu beurteilen.

image INFO Die Wirksamkeit von Psychopharmaka wird durch Journalistinnen und Experten kontrovers diskutiert und öffentlich deutlich häufiger infrage gestellt als diejenige von Medikamenten in anderen Fachgebieten, zum Beispiel Herz- oder Krebsmedikamente. Ursache dafür könnte die Stigmatisierung der Psychiatrie bzw. der Betroffenen («Sozialschmarotzer», «eingebildete Kranke») sein. Es lohnt sich deshalb, die Wirksamkeit von Psychopharmaka nüchtern und mit wissenschaftlichen Methoden mit derjenigen von Medikamenten anderer medizinischer Fachgebiete zu vergleichen. Ein Kriterium dafür ist die sogenannte Wirkstärke.

Die Wirkstärke: Was ist das?

Die Wirkstärke ist ein Mass, um verschiedene Therapien in Bezug auf ihre Wirkung zu vergleichen. Wirkstärke meint den standardisierten Unterschied zwischen mittlerer Placebo- und mittlerer Medikamentenwirkung. Es handelt sich demnach um ein statistisches Mass, das für die einzelne Patientin und den einzelnen Patienten wenig aussagekräftig ist. Allgemein gilt aber folgende Regel:

image0,2: geringe Wirkung

image0,5: mittlere Wirkung

image0,8: grosse Wirkung

image1,2: sehr grosse Wirkung

Rezeptpflichtige Medikamente haben im Durchschnitt eine Wirkstärke zwischen 0,3 und 0,4. Die Wirkung von Antidepressiva zur Behandlung der akuten Depression ist 0,3 bis 0,4, entspricht also genau der Wirkung eines durchschnittlichen Medikaments. Antipsychotika zur Behandlung einer akuten Psychose haben eine mittlere Wirkstärke von zirka 0,5, wirken also etwas stärker als der Durchschnitt. Allgemein fällt bei den Psychopharmaka auf, dass ihre Wirkung bei der Rückfallverhütung grösser ist als bei der Akutbehandlung: Antipsychotika verhüten psychotische Krisen mit einer Wirkstärke von 0,9; Antidepressiva beugen depressiven Phasen mit einer Stärke von 0,7 vor.

image INFO In der Allgemeinmedizin gibt es Medikamente mit extrem guter Wirkung. Als Psychiater kann ich bei solchen Erfolgen anderer Fächer nur staunen und mich mitfreuen: Moderne Medikamente gegen Hepatitis C haben eine Wirkstärke von 2,3. Magensäurehemmer verhüten gesundheitliche Probleme durch Magensäure (Reflux) mit einer Stärke von 1,4. Immerhin sind auch viele häufig verwendete allgemeinmedizinische Medikamente den Psychopharmaka in Sachen Wirkstärke deutlich unterlegen. Blutdrucksenker und Cholesterinsenker verhindern Herzinfarkte mit einer Wirkstärke von unter 0,2.

Leider gibt es noch keine wissenschaftlich verlässliche Methode, um Nebenwirkungen zwischen Medikamentengruppen zu vergleichen. Bestimmte Psychopharmaka würden bei einem solchen Vergleich vermutlich eher schlecht abschneiden. Gewisse Antipsychotika können Gewichtszunahme und Diabetes verursachen (siehe Seite 180); die langfristige Einnahme von Angstlösern kann zu einer schweren Abhängigkeit führen. Es sind eher solche Nebenwirkungen als die fehlende Wirkung, die eine kritische Sicht auf Psychopharmaka rechtfertigen.

 

images

Das ist eine schwierige Frage, und die Meinungen gehen stark auseinander. Die Forschung kann zwar zur Klärung dieser Frage beitragen, aber keine endgültige Antwort darauf liefern. Kulturelle Einflüsse und persönliche Vorlieben spielen bei der Therapiewahl eine wichtige Rolle. Der hohe Wert, den unsere Gesellschaft der Autonomie, der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit zuweist, ist ein entscheidender Faktor in der Erfolgsgeschichte der Psychopharmakologie.

Die Psychiatrie wird wie viele andere Lebensbereiche immer kundenorientierter. Psychiaterin und Patient entscheiden gemeinsam, ob der Einsatz von Psychopharmaka notwendig und gerechtfertigt ist. Die Tatsache, dass immer mehr Patientinnen und Patienten bei medizinischen Entscheidungen auf Augenhöhe mitbestimmen wollen, hat mich bewogen, diesen Ratgeber zu schreiben. Denn das Ideal des emanzipierten Patienten hat nur dann Erfolg, wenn dieser gut informiert ist.

Stellenwert der Psychotherapie

Meines Erachtens sollte die Grundhaltung eines Psychiaters, einer Psychiaterin immer psychotherapeutisch sein – und nicht biologisch oder pharmakologisch. Eine Depression als Serotoninmangel und eine Psychose als Dopaminüberschuss zu betrachten, wird der Problematik nicht gerecht. Psychische Krankheiten sind komplex und hängen von vielen psychischen, sozialen und biologischen Faktoren ab, die zusammenspielen. Als erster Schritt einer Therapie sollte die Ärztin den Patienten, seine psychischen Schwierigkeiten, seine körperliche Gesundheit, seine Biografie und seine soziale Situation als Ganzes erfassen und verstehen.

Allgemein gilt, dass Patientinnen und Patienten mit schweren psychischen Reaktionen und schweren psychischen Krankheiten besonders von Psychopharmaka profitieren können. Dies sollen die folgenden Beispiele veranschaulichen. Sie beruhen auf Erfahrungen mit realen Personen, sind aber so verändert, dass man die Betroffenen nicht identifizieren kann.

image DIE 23-JÄHRIGE ANNA HUBER erschien in Begleitung ihrer Mutter auf der Notfallstation. Vor einem halben Jahr war sie mit ihrem Freund nach Barcelona gezogen, um dort ein neues Leben aufzubauen. Sie wohnte weit ausserhalb des Stadtzentrums, und ihr Freund arbeitete sehr viel. Dies entsprach ihren Erwartungen nicht. Es kam zunehmend zu Konflikten, zuerst verbal, mit der Zeit auch körperlich mit Kratzen und Schlagen. Schliesslich trennte sie sich von ihm und zog in ein Studio im Zentrum der Stadt.

Allein am neuen Ort entwickelte Anna die Angst, dass fremde Menschen sich in ihren Computer einhackten und ihre E-Mails und Dokumente ausspionierten. Als ihr in der U-Bahn jemand das Portemonnaie aus der Tasche stahl, wurde ihre Angst wahnhaft. Sie war absolut sicher, dass kriminelle Menschen sich einen Spass daraus machten, sie zu verfolgen und ihr Leben zu ruinieren. Auf Anraten ihrer Mutter flog sie nach Hause zurück. Während des Flugs war sie felsenfest überzeugt, dass fremde Menschen sie begleiteten und in die Schweiz verfolgten. In ihrer panischen Angst begann sie zu schreien, angstverzerrte Grimassen zu schneiden und mit der Faust gegen das Fenster zu schlagen. Die Flugbegleiter gaben ihr ein starkes Beruhigungsmittel, was sie müde machte, die Wahngedanken und die tiefe Beunruhigung aber nicht besserten. Ihre Eltern holten sie am Flughafen ab und brachten sie auf die Notfallstation, wo ich ihr begegnete.

Anna war nicht bereit, sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie war sichtlich erregt, suchte Dinge in der Wand, beobachtete Steckdosen und studierte die Verkabelung meines Computers. «Sie sind schon hier. Reingehackt!», schrie sie plötzlich, war ausser sich, weinte und versuchte, das Internetkabel aus meinem Computer zu ziehen. Ihre Mutter hinderte sie daran: «Anna, es ist niemand hier. Beruhige dich. Setz dich zu uns.» Sie liess vom Computer ab, ging der Wand entlang und schlug verzweifelt auf das Fensterbrett: «Glaubt mir, sie sind hier!»

Ein geordnetes Gespräch war nicht möglich. Anna weigerte sich auch, eine Tablette eines Antipsychotikums einzunehmen. «Ich bin nicht krank», sagte sie. «Wir tun alles, um dich zu beschützen», beschwichtigte die Mutter sie. «Du musst aber auch deinen Teil dazu beitragen. Das Medikament hilft, dass du weniger nervös bist. So können wir dich besser beschützen.» Dieses Argument überzeugte Anna, und sie schluckte die Tablette.

Eine Stunde nach der Einnahme des Medikaments war Anna deutlich ruhiger und setzte sich zu uns an den Tisch. Wir konnten vernünftig mit ihr reden. «Ja, ich bin sehr aufgeregt und verzweifelt und brauche Hilfe. Aber das mit den Hackern habe ich nicht erfunden», sagte sie. Man spürte, dass die Hacker für sie nicht mehr so wichtig und bedrohlich waren, eher eine unangenehme Tatsache. Sie war bereit, eine Nacht in der Klinik zu verbringen. Seit einer Woche war es die erste Nacht, in der sie durchschlief. Am nächsten Tag konnte sie in Begleitung ihrer Mutter nach Hause gehen. Nach einer Woche wollte sie das Medikament nicht mehr einnehmen, auch nicht auf Zureden der Mutter. In der Nacht wachte sie auf und fühlte sich erneut von Verfolgern bedroht. Sie nahm selbständig eine Tablette des Antipsychotikums ein, um schlafen zu können. Nach einer Woche entschied sie, wieder nach Barcelona zu fliegen und ihre Pläne dort weiterzuverfolgen. «Keine Sorge, das Medikament nehme ich regelmässig ein, und ich werde mich bei Ihrem Kollegen in Barcelona melden», sagte sie bei unserer letzten Sitzung. Nach drei Monaten psychischer Stabilität begann mein spanischer Kollege, das Antipsychotikum langsam auszuschleichen. Der Verfolgungswahn kam nicht zurück, und Anna absolvierte mit Erfolg einen Kurs an einer Kunstakademie, bevor sie in die Schweiz zurückkehrte.

Das Antipsychotikum zeigte in diesem Beispiel einen durchschlagenden Effekt, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Die Angst löste sich deutlich. Das nervöse, unruhige und gelegentlich aggressive Verhalten legte sich, die Grimassen verschwanden. Der Schlaf besserte sich deutlich. Und es war wieder möglich, ein vernünftiges Gespräch mit der Patientin zu führen. Die Einsicht, dass sie an einer Krankheit litt und dafür behandelt werden musste, war schlagartig vorhanden. Da muss ich selbst als Psychiater sagen: Diese pharmakologische Wirkung ist unglaublich! Niemand in der Geschichte der Psychiatrie hat sich je vorgestellt, dass eine solch wirksame Behandlung akuter Psychosen möglich ist, dass Denken, Fühlen und Verhalten so massgebend beeinflusst werden können.

Vor der Entdeckung der Antipsychotika litten Patientinnen und Patienten wie Anna Tage und Wochen unter schrecklichsten Ängsten. Ratlose Ärzte und überforderte Pflegende sperrten sie in Isolierzimmer, steckten sie in Zwangsjacken, fixierten sie auf Betten, übergossen sie mit kaltem Wasser und spritzten ihnen Insulin und Malariaerreger als Schocktherapie. Wer vor sinnlosen Hirnoperationen verschont blieb, hatte Glück.

Annas Beispiel zeigt, dass Psychopharmaka in einem Akutzustand viel Leid ersparen können. Psychopharmaka können zusätzlich den Verlauf chronischer psychischer Krankheiten positiv beeinflussen. Ein zweites Beispiel soll dies veranschaulichen.

image MAX MÜLLER ERLEBTE IM ALTER VON 17 JAHREN einen schweren depressiven Zustand, der sechs Wochen dauerte. Er fühlte sich komplett gelähmt und blockiert. Jede kleine Arbeit empfand er als anstrengend. Er lag den ganzen Tag im Bett und schlief bis zu zwölf Stunden pro Tag. Trotzdem fühlte er sich erschöpft und niedergeschlagen. Er litt unter dem höchst unangenehmen Gefühl, keine Gefühle mehr zu haben. Die einzige Freude, die ihm blieb, war der Verzehr von Schokolade.

Mit 19 hatte er die zweite depressive Episode, die acht Wochen dauerte. Als er im Alter von 21 Jahren erneut depressiv wurde, verunsicherte ihn das sehr. Schule und Jus-Studium verzögerten sich. «Werden die Episoden immer häufiger und länger? Werde ich je normal arbeiten können? Eine Familie gründen?» Dies waren Fragen, die ihn quälten. Die Ärzte probierten verschiedene Antidepressiva aus. Diese zeigten jedoch keine Wirkung. Im Gegenteil, sie machten ihn noch nervöser und unruhiger. Gelegentlich dachte er daran, sich das Leben zu nehmen.

Im Alter von 27 Jahren wurde Max schliesslich manisch. Tausend Ideen gingen ihm durch den Kopf. Selbstzweifel und Sorgen waren mit einem Schlag verschwunden. Er war überzeugt, als Staranwalt und Schriftsteller schon bald sehr viel Geld zu verdienen und berühmt zu werden. Zur Vorbereitung auf seinen Erfolg kaufte er sich Prada-Schuhe und einen Anzug von Versace. Alles auf Kredit und mit gepumptem Geld. Dass er schon sehr bald das grosse Geld machen würde, war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche.

Seiner Freundin Maja erzählte er, dass er nun sieben Freundinnen habe. Sie solle stolz sein, eine davon zu sein, legte er ihr nahe. Sie war aber gar nicht stolz und machte Schluss. Dies traf ihn sehr. Eine solche Reaktion hätte er nie erwartet. Als sein bester Freund ihm sagte, dass er sein Geld sofort zurückhaben wolle, kam Max’ manisches Weltbild ins Wanken. Morgens war er für eine Stunde von Tatendrang beseelt. Eine Stunde später fühlte er sich verzweifelt, und Angst überkam ihn. Am Nachmittag fühlte er sich so müde, dass er sich ins Bett legte. Er war extrem ungeduldig: Jede Schlange an der Kasse, jeder verpasste Bus reizte ihn. Im Internet suchte er nach Methoden, sich das Leben zu nehmen. In seinem Angstzustand rief er verzweifelt Maja an. «Mit dir stimmt etwas nicht, Max. Wir sehen uns wieder, wenn du bereit bist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen», sagte sie ihm klar und gab ihm die Telefonnummer einer Psychiaterin. Zähneknirschend rief er an und vereinbarte einen Termin. Maja begleitete ihn.

Nach einer ausführlichen Befragung von Max und Maja stellte die Psychiaterin die Diagnose einer bipolaren Störung. Im Moment der Untersuchung war er in einem sogenannten gemischten Zustand, bei dem manische und depressive Symptome gemeinsam auftreten. Sie verschrieb ihm ein Antipsychotikum zur Beruhigung und sah ihn regelmässig zu stützenden Gesprächen. Dabei ging es ihr vor allem darum, ihn vor den Folgen der Manie zu schützen. Gemeinsam sperrten sie seine Kreditkarte. Nach drei Wochen klang der Akutzustand ab, Max wurde klarer und besonnener und war bereit, über seine Krankheit nachzudenken. Die Ärztin erklärte ihm die möglichen Ursachen und den Verlauf der bipolaren Störung sowie die therapeutischen Möglichkeiten. «Es ist leider so», sagte sie. «Nach den zwei schweren depressiven und der vollen manischen Episode, die Sie erlebt haben, ist das Risiko, dass Sie ohne Medikamente wieder schwer depressiv oder manisch werden, fast 100 %. Wie Sie selber erfahren haben, können die Folgen dieser Krankheitsphasen schwerwiegend sein. Betroffene verschulden sich, verlieren ihren Partner, verpassen ihre Ausbildung und riskieren ihre berufliche Karriere und finanzielle Unabhängigkeit. Es ist nicht verwunderlich, dass viele bipolare Menschen über Suizid nachdenken. Deshalb ist es sehr wichtig, die Krankheit ernst zu nehmen. Bei der klassischen bipolaren Störung ist Psychotherapie zentral, aber immer mit der Unterstützung von Medikamenten.»

Max war gar nicht begeistert, langfristig Psychopharmaka einnehmen zu müssen. Die Lektüre eines Ratgebers über bipolare Störungen und der Besuch einer Selbsthilfegruppe bestätigten aber die Empfehlung seiner Psychiaterin, eine Behandlung mit Lithium anzufangen. Lithium ist ein natürliches Salz, das sich als wirksam erwiesen hat, um depres-siven und manischen Episoden bei der bipolaren Störung vorzubeugen und das Suizidrisiko um 80 % zu senken. Es gibt bipolar Betroffene, die unter Lithium nie mehr krank werden. Max gehörte zu dieser Gruppe glücklicher Patienten, den sogenannten Lithium-Respondern. Er nahm täglich etwas Lithium ein und wurde ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Maja und er heirateten, und er wurde stolzer Vater einer Tochter. In der Freizeit begann er Kriminalromane zu schreiben, die eine ansehnliche Leserschaft fanden, was ihm grosse Freude bereitete.

Anlässlich einer Hüftoperation im Alter von 71 Jahren wurde im Spital ein Psychiater beigezogen, der die Notwendigkeit der Lithiumbehandlung neu beurteilen sollte. «Mit 27 Jahren waren Sie manisch und Sie nehmen immer noch Lithium?», fragte er erstaunt. «Viele junge Menschen haben Stimmungsschwankungen. Die psychischen Belastungen sind in diesem turbulenten Alter, in dem man nicht weiss, wer man ist und was man will, gross. Jetzt ist Ihre Situation eine ganz andere. Es geht Ihnen sehr gut, und es besteht kein bedeutender Stress. Ich schlage vor, die Lithiumtherapie zu beenden. Denn jede Therapie hat auch Nebenwirkungen.» Max leuchtete die Erklärung ein, und er nahm kein Lithium mehr. Er spürte keinen Unterschied und fragte sich, ob er das Medikament das ganze Leben lang vergebens eingenommen hatte.