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Wieland Freund, geboren 1969, lebt mit seiner Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm unter anderem »Krakonos« (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis), »Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts«, »Wecke niemals einen Schrat!«, die drei Bände um »Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün« sowie zuletzt »Nemi und der Hehmann«.

Sabine Mielke, geboren 1967 in Berlin, arbeitete zunächst als Werbetechnikerin, studierte Kunst an der Hochschule der Künste Berlin und entschied dann 2011, sich als freie Illustratorin unter dem Namen »Juniemond« selbstständig zu machen. Sie lebt mit ihren drei Hunden in Berlin.

Wer auf der Bieleburg zu Hause ist:

Krispin

Ein kleiner, schwarzer Kater, der weder weiß, wer er ist, noch, was aus ihm werden soll.

Kleiner Hühnchen

Krispins beste Freundin. Sehr mutig und vielleicht ein bisschen verrückt. Heißt so, weil sie viel kleiner als alle anderen Hühner auf der Bieleburg ist, sie hält diesen Zustand aber für vorübergehend, weil sie ein Drache werden will – und dann ganz anders heißen wird.

Hillebingel

Der Stallkobold der Bieleburg. Unsichtbar für ihre menschlichen Bewohner. Krispins Beschützer.

Trusch

Eine alte Hündin. Hillebingels Gefährtin. Wie alle Tiere kann sie Geister sehen.

Die Habergeiß

Herrin der Geister auf der Bieleburg. Ungeduldig, manchmal übellaunig. Wohnhaft unter dem Dach des Turms. Hat Flügel, kann aber wahrscheinlich nicht fliegen.

Medardus

Der Herr der Bieleburg, wenn auch nicht ihrer Geister. Ein äußerst abergläubischer Zauberer, der insbesondere schwarze Katzen fürchtet.

Friedel

Ein stolzer schwarzer Hahn, mit dem Medardus ganz besondere Pläne hat.

Der Famulus Makel

Medardus’ ungeschickter Schüler. Kann wie sein Meister keine Geister sehen. Liest Medardus regelmäßig aus dem Buch der Gefahren vor.

Stoffel

Der faule Stallknecht der Bieleburg, der nicht einmal weiß, dass meistens Hillebingel seine Arbeit macht.

Agnes & Ursel

Die Magd und die Köchin auf der Bieleburg. Zuweilen müssen beide in finsterer Nacht schwarze Kater jagen.

Affra, Elle, Eva & Agatha

Hennen. Machen beim Eierlegen nicht so ein Theater wie Friedel.

Die Erdglucke

Ein Geisterhuhn. Leuchtet, wenn es ihr gefällt. Sagt vor lauter Weisheit niemals auch nur ein einziges Wort.

Die Fischin

Wohnt im Burggraben, wo sie ihre Runden schwimmt. Ein äußerst geheimnisvolles Wesen, vielleicht das geheimnisvollste von allen.

Zelter

Ein schimmerndes Geisterpferd, von dem kein Mensch auch nur weiß, dass es im Stall der Bieleburg steht.

Irmel

Die einzige Kuh der Bieleburg. Kein Geist, weshalb nicht nur Hillebingel sie füttert.

Boso, Änlin & Els

Ein immer verdreckter Eber, der die meiste Zeit am Misthaufen verbringt, sowie die beiden Sauen, die die meiste Zeit mit Boso verbringen.

Der Bussekater

Ein großer, schwarzer Kater, der allenfalls nachts zu sehen ist. Manche glauben, er bringe den Tod.

Das erste Kapitel, in dem das schlimmste Tier der Welt auftaucht

Hillebingel saß rittlings auf dem Dach des Turms. Er hielt die Nase in den Wind und sah den Abend nahen, der wie ein großer, schwarzer Vogel über die Salzwiesen kam. In den Hof der Bieleburg fielen die Schatten ein wie Krähen auf ein abgeerntetes Feld.

Der Kobold sprang auf die Füße. Für die, die ihn sehen konnten – Geister, Tiere und einige wenige Menschen –, war er nicht größer als ein Kind.

Er streckte die dünnen Arme und beugte die auf den Ziegeln steif gewordenen Knie. Dann schob er sich die Mütze mit dem langen Zipfel zurecht, der ihm wie ein Zopf über den Rücken fiel, und warf einen scharfen Blick in den Hof. Denn dort unten erschien in diesem Augenblick Trusch, schlappohrig, triefäugig, das glatte, felsengraue Fell schon weiß gestichelt. Es war Zeit für ihre gemeinsame Runde um die Burg. Die große Hündin hob den Kopf und Hillebingel spürte ihren bernsteingelben Blick.

Der Kobold schlitterte über die Ziegel. Einen Fußbreit vor der Dachkante sprang er ab und wirbelte durch die Luft. Für einen Augenblick wurde sein Mützenzipfel gerade wie ein Besenstiel. Dann landete Hillebingel auf dem verwitterten Strohdach des Stalls.

Er strich sich den Mützenzipfel zurück und sah Stoffel, den Stallknecht, aus der Küche kommen. In seinen Holzschuhen schlurfte Stoffel über den Hof auf den Misthaufen zu, um die Schweine in den Stall zu treiben. Und da schnauften auch der Zauberer Medardus und sein Famulus Makel den kurzen, aber steilen Torweg herauf. Hillebingel seufzte: Der Herr der Bieleburg hatte die Bieleburg betreten.

»SCHWEIN VON RECHTS!«

Vor lauter Schreck ließ der Famulus Makel die auf den Salzwiesen gesammelten Kräuter fallen. Milchkrautrüben, Schuppenmiere und derber Dreizack, die eigentlich in den Kräuterschrank gehört hätten, fielen in den Dreck.

»SCHWEIN VON RECHTS!«, brüllte der Famulus wieder, das Gesicht so rot wie eine Hagebutte.

Hillebingel blies die Backen auf. Schweine von rechts brachten Unglück, so wie zu klein geratene Hühnereier oder Montage, die auf den Ersten eines Monats fielen. Zumindest Medardus glaubte fest daran. In seiner Wunderkammer verwahrte er ein Buch, das über alles, was Pech brachte, Auskunft gab. Das Buch hieß Das Buch der Gefahren.

Der Herr der Bieleburg stand augenblicklich stocksteif, die spitzen Ellbogen angewinkelt und an den mageren Körper gepresst, so als wolle er sich, wenn schon nicht unsichtbar, dann wenigstens so klein wie möglich machen. Sein schütterer, beinahe farbloser Kinnbart bebte.

»Weg! Weg!«, geiferte Medardus. »Schafft das Vieh fort! Schafft es fort! Aus meinen Augen!« Er hatte den Hals verdreht, damit sein Blick keinesfalls auf den von rechts herantrottenden Boso fiel, den prachtvollen, ewig verdreckten Eber der Bieleburg.

Boso kam immer näher, während der Famulus Makel in seinem Ungeschick auch noch ausglitt, stürzte und bäuchlings im Dreck zu gar nichts mehr nutze war.

»Vertreib das Schwein, Stoffel!«, rief Makel, atemlos vom unerwarteten Sturz, dem auf seinen Holzschuhen heranklappernden Stallknecht zu.

Hillebingel konnte nicht länger zusehen. Mit einem großen Satz und ein paar kleinen Sprüngen erreichte er Stoffel in der Mitte des Hofs. Er fasste ihn an der schwieligen Hand und zog ihn mit unsichtbarer Koboldkraft vorwärts. Und wie so oft wusste Stoffel gar nicht, wie ihm geschah: Als Stallkobold machte Hillebingel oft Stoffels Arbeit – er fütterte die Hühner oder melkte die Kuh –, aber Stoffel glaubte jedes Mal, das alles selbst erledigt zu haben. Rätselhafterweise war ihm nur jedes Mal entfallen, wann und wie.

»Boso!«, flüsterte Hillebingel dem Eber zu, ohne dass Stoffel es hätte hören können.

Der Eber hob den schweren Kopf.

»Zurück zum Misthaufen, mein Freund«, sagte Hillebingel.

Und weil Stoffel im selben Augenblick »Kusch!« rief und mit den Händen wedelte, sah es wirklich so aus, als würde der Stallknecht und nicht der Stallkobold den Unglück bringenden Eber verscheuchen. Boso machte kehrt und hielt wieder auf den Misthaufen zu.

Medardus ließ die Arme sinken, der unnütze Famulus rappelte sich auf, und Stoffel strahlte über das ganze Gesicht, auch wenn Medardus kein Wort des Dankes über die Lippen kam. Stattdessen sah der Herr der Bieleburg einfach an Stoffel vorbei und heftete den Blick auf Friedel, den glänzend schwarzen Hahn, der gerade über den dampfenden Gipfel des Misthaufens spazierte.

»Pass Er mir auf den Hahn auf, Knecht!«, zischte Medardus. »Dem Hahn darf nichts geschehen.« Und mit diesen Worten ließ er Stoffel stehen, um mit raschelndem Zauberergewand quer über den Hof der Bieleburg auf den Palas zuzuhalten, in dem sowohl seine Wohnung als auch die Wunderkammer untergebracht waren. Der unsichtbare Hillebingel sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Weg.

»Schwein von rechts«, brummte Trusch, als der Kobold die alte Hündin erreichte, und schickte dem davoneilenden Medardus einen verächtlichen Blick hinterher.

Hillebingel zuckte bloß die Achseln. »Vergessen wir das«, sagte er zu Trusch. »Fertig?«, fragte er dann.

»Fertig«, brummte Trusch.

Und also schwang sich der Kobold auf ihren Rücken, als wäre die Hündin ein Pferd.

Hillebingel und Trusch machten das jeden Abend so, ganz gleich, wie der Tag verlaufen war. Wenn die Dunkelheit hereinbrach, umrundeten sie die Burg. Trusch tapste dann über die dicken Bohlen der Brücke, und der Kobold ritt auf ihr, die Hände im dichten, glatten Fell der alten Hündin vergraben.

Nach der Brücke wandte sich Trusch stets nach rechts und folgte dem schmalen Pfad am Burggraben entlang. Hillebingel schaute dann meist aufs Wasser – schweigsam, weil man, wenn man aufs Wasser schaut, ja meistens schweigsam wird.

Es war schon vor Wochen Herbst geworden, fast stand der Winter vor der Tür, und die alten Bäume, die den Karrenweg zu den Wiesen säumten, hatten fast all ihre Blätter verloren. Nur da und dort hing noch ein einzelnes Blatt im Gewirr der Zweige und trotzte der Zeit, aber bald würden die klammen Finger des Wetters auch nach diesem greifen und es welk und braun zurück zur Erde schicken.

»Nicht mehr lang und es gibt Frost«, sagte Hillebingel und zog die schmalen Schultern hoch.

»Der November kommt«, brummte Trusch mit ihrer tiefen, heiseren Stimme. »Ich spür den Schnee schon in den Knochen.«

Am nordöstlichen Ende des Burggrabens hielten sie kurz inne und sahen zu, wie der Bodennebel über die Wiesen kroch. Dann bogen sie scharf rechts ab und erreichten die Ostseite der Burg. Jenseits des Grabens konnten sie im Dämmerlicht die Rückseite des Stallgebäudes sehen, die krummen, mit der Zeit schwarz gewordenen Balken und das hell gekalkte Fachwerk. Daneben erhob sich der einsame Turm der Bieleburg, auf dessen Dach Hillebingel eben noch gehockt hatte. Der Turm ragte ein Stück weit über den Graben, sodass es aussah, als hätte man ihn auf das Wasser gebaut.

Hillebingel atmete tief ein. Die Mühsal des Tages fiel von ihm ab und auch der Aufruhr um ein Schwein, das von der falschen Seite gekommen war.

Trusch schnaufte befreit. Den Kobold auf ihrem Rücken spürte sie kaum. Ihre Schritte wurden länger.

Das Wasser im Burggraben kräuselte sich. Im Herbst war es schwarz und unergründlich. Die Fische standen in der schwachen Strömung still, nur ihre Königin, die Fischin, schien an diesem Abend besonders ruhelos zu sein. Kaum nämlich, dass Hillebingel und Trusch die Ostseite der Burg erreicht hatten, blubberte und gluckerte es im Graben, so als würde dort unten auf dem schwarzen Grund gepflügt.

Die große Hündin blieb stehen, der Kobold beugte sich über den Hundehals. Er sah genau zwischen Truschs Ohren hindurch ins aufgewühlte Wasser. Das Laub, das eben noch still auf dem Graben dahingetrieben war, kreiste auf einmal im Rund eines Strudels. Die Blätter wurden schneller und schneller und plötzlich riss das Wasser rauschend auf.

Ein Schweif aus Tropfen peitschte Kobold und Hund und dann landete ein patschnasser Sack vor Truschs breiten Pfoten. Es war ein gewöhnlicher Strohsack, dunkel vor Nässe und am Kragen fest verschnürt, und für einen Augenblick war die Hündin zu verblüfft, um an dem Strohsack zu schnuppern, und Hillebingel zu erstaunt, um mehr als »Zum Puck!« zu sagen. Das war ein alter Koboldruf.

Die Fischin hatte ihr Werk getan. Sie hatte den Sack aus dem Wasser geschleudert und zog jetzt im Graben weiter. Und hätten die Hündin und der Kobold nicht auf den Sack gestarrt, sie hätten die lange Welle der Fischin am Wachturm vorüberschwappen sehen.

Der Strohsack hatte zu zappeln begonnen. Trusch blinzelte ungläubig. Hillebingel rieb sich das Grabenwasser aus den Augen. Schließlich saß der Kobold kurz entschlossen ab. Stand er neben Trusch, reichte er der großen Hündin bis zu den Lefzen.

Der Strohsack strampelte jetzt. Die nasse, grobe Leinwand warf Beulen und Falten. Es floss auch immer mehr Wasser heraus, sodass Trusch und Hillebingel, ohnehin schon nass vom Tropfenschweif, auch noch in einer Pfütze standen.

Hillebingel zog sich die Mütze mit dem langen Zipfel vom Kopf und wrang sie aus. Die feuchten Haare standen ihm zu Berge.

»Trusch«, sagte er endlich. »Was meinst du? Lebt der Sack oder lebt etwas darin?«

Trusch schnupperte mit ihrer großen, schwarzen Nase, die nun noch etwas feuchter war als sonst. »Der Sack ist ein Sack«, sagte sie. »Benutz deine Finger!«

Hillebingel war nicht ganz wohl dabei, aber er hockte sich hin und fing an, den Sack aufzuschnüren. Der nasse Strick ließ sich nur schwierig lösen. Immerhin hatte es im Sack zu zappeln aufgehört. Aber auch das war dem Kobold unheimlich.

Hillebingel warf einen sichernden Blick über die Schulter, dann arbeitete er schnell, pulte den Knoten auf und legte den feuchten Strick zur Seite. Vor ihm lag nun der flache Sack, umgeben von seiner eigenen Pfütze. Groß war, was sich darin verbarg, nicht.

»Worauf wartest du?«, fragte Trusch, mit tief hängenden Ohren über den Sack gebeugt. »Du fürchtest dich doch nicht etwa?«

Natürlich fürchtete Hillebingel sich. Es kam nicht alle Tage vor, dass die Fischin einen Strohsack aus dem Graben schleuderte. Und steckten nicht in den meisten Säcken, die Menschen im Wasser versenkten, Tierkinder, die niemand haben wollte? Wurden in Säcken wie diesen nicht kleine Hunde ertränkt?

Endlich langte Hillebingel in den Sack. Die feuchte Leinwand strich kalt über seinen Handrücken, dann stießen seine Fingerspitzen gegen etwas Weiches und schließlich schlossen sich seine Finger um ein nasses Bündel Fell!

Hillebingel zog den Arm zurück. Von seiner Hand hing ein kleiner Kater, pechschwarz, triefnass und leblos.

»Oh, verdammt!«, rief Trusch, auf einmal schrecklich wütend. Dann fuhr ihre große Nase auf den kleinen Kater hinab, den Hillebingel gerade erst ins Gras seitab des Pfads gebettet hatte.

»Lebt er?« Hillebingel fuhrwerkte schon wieder mit dem dünnen Arm im Sack herum. Aber da war kein zweites Kätzchen. Der Sack war leer.

Trusch schnaufte. »Er atmet«, sagte sie dann. »Gerade so.« Mit ihrer langen, rauen Zunge fing sie an, den kleinen Kater trocken zu lecken. »Ist das Medardus gewesen, der ihn ins Wasser geworfen hat?«, fragte sie.

Hillebingel erhob sich. Er wischte sich die nassen Hände an seinem Hemdchen ab, bückte sich nach seiner Mütze und setzte sie wieder auf. »Es ist ein schwarzer Kater ...«, sagte er.

»Na und?«, sagte Trusch. »Sollen die etwa nicht leben?«

Der Kater war jetzt halbwegs trocken. Er lag auf der Seite und hatte die Augen geschlossen, aber er atmete ruhig. Seine kleine Flanke hob und senkte sich.

Trusch sah über den Graben hinweg zur Burg hinüber. »Er muss ins Stroh«, sagte sie. »Er braucht es warm.«

Hillebingel stand bloß da und tropfte. Er wollte gar nicht wissen, was in Medardus’ Buch der Gefahren über schwarze Kater stand. Waren sie nicht Teufelstiere, die direkt aus der Hölle kamen? Waren sie für einen wie Medardus nicht das schlimmste Tier der Welt? Allein schon von schwarzen Katzen zu träumen, galt als böses Vorzeichen. Glück hingegen brachten schwarze Katzen nur, wenn man sich ihren steifen Kadaver bei Mondschein über die linke Schulter warf.

Hillebingel seufzte tief. Niemals, dachte er, würde Medardus einen schwarzen Kater in seiner Nähe dulden. Seinem Schicksal überlassen konnten sie den Kleinen allerdings auch nicht. Und mittlerweile war es Nacht genug, um einen schwarzen Kater heimlich in die Bieleburg zu schmuggeln.

Das zweite Kapitel,in dem Krispin zu sich kommt

Krispin lag in einer Krippe, die Krippe stand in einem Stall, und einen Augenblick lang kam es ihm so vor, als wäre er gerade erst zur Welt gekommen.

Ihm war kalt. Aber langsam wurde ihm wärmer.

Er hatte die Augen geschlossen. Aber die Gerüche waren unverkennbar. Er roch das Heu, in dem er lag und das ihn in den Rücken pikste. Er roch eine Kuh, Schweine und ein paar Hühner. Er roch trockenes Stroh und feuchte Wände, in die der Herbst gekrochen war.

Außerdem hörte er Stimmen.

»Herrgott!«, sagte jemand ganz in seiner Nähe. »Dann ist er halt ein schwarzer Kater! Na und?«

Danach erhoben sich entferntere Stimmen, eine nach der anderen.

»Medardus fürchtet sich vor schwarzen Katern.«

»Medardus glaubt, sie kommen aus der Hölle.«

»Medardus schlägt den Kleinen tot.«

Krispin schlug die Augen auf. Der Stall war in einen warmen Schein getaucht. Von den Dachbalken über ihm baumelten zahllose Bündel aus getrockneten Kräutern, Würzwische aus Klette, Alfsrankel und Wulawei.

Die Stimmen stritten unablässig weiter.

»Wenn er ihn entdeckt, ist es mit der Ruhe vorbei.«

»Bestimmt lässt er den Stall ausräuchern.«

»Wahrscheinlich brennt er den Stall gleich ab!«

Krispin verstand kein Wort, aber er fing an, sich zu rühren. Seine Glieder waren ganz steif, aber er stemmte sich auf die Pfoten. Er machte einen Buckel. Er streckte er sich. Doch dann fingen seine Beine so schlimm zu zittern an, dass er zurück ins Heu plumpste und dort verwundert sitzen blieb.

Mit großen Augen schaute er über den Krippenrand. Ein Kobold mit überlangem Mützenzipfel wandte ihm den Rücken zu. In den Buchten am anderen Ende der Stallgasse standen eine wiederkäuende Kuh und ein unwirklich schimmerndes weißes Pferd. Im Gang über der Jauchrinne drängten sich einige Schweine, von denen eines ein großer, schlammbespritzter Eber war.

Davor hatte sich eine Reihe Hühner aufgebaut. Eine große, weiße Henne führte das Wort, aber es gab auch drei braune Hennen, einen stolzen schwarzen Hahn und ein winziges weißes Hühnchen, das aussah wie gerupft. Es war diese viel zu klein geratene junge Henne, die ihn zuerst bemerkte.

»Schaut doch! Er ist wach!«, krähte sie, und im nächsten Augenblick verstummten die Stimmen und alle starrten Krispin an: der Kobold mit dem langen Mützenzipfel, die Kuh, der leuchtende Schimmel, die Schweine und die Hühner. Sogar das Licht im Stall wurde heller. Krispin kniff die Augen zu. Ihm war ein wenig schwindelig. Wie kam er nur hierher?

Als er die Augen wieder aufsperrte, beugte sich der Kobold über ihn.

»Na?«, sagte das runde Koboldgesicht. »Fühlst du dich ein wenig besser?«

Krispin wusste nicht, wie er sich fühlte. Er schwieg und glotzte den Kobold an. Er hatte dieses Gesicht schon mal gesehen. Er kannte diese Mütze und das struppige Haar, das unter dem Mützensaum hervorwucherte. Und auch diese Stimme war ihm seltsam vertraut, ohne dass er hätte sagen können, woher. Er sah, dachte er dann, auch den leuchtenden Schimmel nicht zum ersten Mal. Er wusste sogar ganz sicher, dass dieser Schimmel ein Geisterpferd war.

»Willkommen auf der Bieleburg«, sagte der Kobold jetzt. »Du hast ein bisschen geschlafen.«

Krispin starrte ihn ungläubig an. Er rang sich zu einem schwachen Nicken durch, auch wenn er keinen Moment glaubte, nur ein bisschen geschlafen zu haben. Seinem Gefühl nach mussten es Jahre gewesen sein. Vielleicht war er auch nie zuvor wach gewesen. Konnte das sein?

»Ich bin Hillebingel«, sagte der Kobold. »Ich bin der Stallkobold hier.« Er legte sich die flache Hand auf die Brust. »Und wer bist du?« Mit der anderen Hand zeigte er auf Krispin.

Krispins Zunge fühlte sich pelzig an. Sein Mund war plötzlich wie ausgedorrt. In seinem Hals saß ein Pfropfen. Er brachte keinen Ton heraus.

»Sag, hast du einen Namen?«

»Krispin!« Mehr als dass er seinen Namen sagte, atmete Krispin ihn aus. Halb klang es wie ein Seufzer und halb wie ein Pfiff. Er war Krispin. Es war das Einzige, was er ganz sicher wusste.

»Krispin.« Hillebingel strahlte ihn an. Dann streckte der Kobold den Rücken durch und drehte sich zur versammelten Stallgemeinschaft um, zur Kuh und dem Geisterpferd, zu den Hühnern und den Schweinen. »Habt ihr gehört?«, sagte er laut. »Das ist Krispin. Wollt ihr ihn nicht willkommen heißen?«

Ein leises Gemurmel kam auf, wie Wind, der mit dem Herbstlaub raschelt. Krispin senkte den Blick. Er hatte nicht das Gefühl, hier willkommen zu sein. Eher schien es ihm so, als würden diese Tiere ihn fürchten. Doch wie war das möglich? Grund, sich zu fürchten, hatte doch er.

Wie war er nur hierhergeraten?

Was um Himmels willen sollte er hier?

»Krispin, schau her. Ich will dir alle vorstellen.« Die Stimme des Kobolds riss Krispin aus seinen Gedanken. Er sah wieder auf und sein Blick folgte der schmalen Hand des Kobolds, der reihum auf die umstehenden Tiere wies.

»Das ist Affra.« Hillebingel zeigte auf die große, weiße Henne. »Und das sind Elle, Eva und Agatha.« Der Kobold zeigte auf die drei braunen Hühner. »Die Kleine daneben wird Kleiner Hühnchen gerufen und den schwarzen Hahn dort nennen wir Friedel. Und wenn du dich umschaust …«

Krispin schaute sich um.

»… siehst du dort die Erdglucke leuchten.«

Tatsächlich sah Krispin nun zum ersten Mal die Quelle des Lichts, das den Stall in diesen eigentümlich warmen Schein tauchte. Der Schein ging von einem nur schemenhaft erkennbaren Wesen aus, das dort klein und unscheinbar im Stroh hockte.

»Erdglucken leuchten, wenn ihnen danach ist«, erklärte Hillebingel. »Und sie sagen niemals ein Wort.« Er zuckte mit den Achseln und legte den runden Koboldkopf ein wenig schief, so als fände er das komisch.

Krispin erschien es wie das Normalste von der Welt. Er wunderte sich über die Erdglucke so wenig wie über die Würzwische im Gebälk und dass sie nach Klette, Alfsrankel und Wulawei rochen.

»Boso«, fuhr Hillebingel fort und zeigte auf den mächtigen Eber, »erkennst du daran, dass er niemals sauber ist, und die beiden Sauen heißen Änlin und Els. Die Kuh heißt Irmel, und der große Schimmel dort hört auf den Namen …«

»… Zelter«, vollendete Krispin den Satz. Er wusste weder, warum er das sagte, noch, woher er es wusste. Er wusste es bloß. Es war ihm einfach rausgerutscht.

Hillebingel starrte ihn mit offenem Mund an. »Ihr kennt euch?«, brachte er schließlich heraus.

Plötzlich war es so still im Stall, dass man das Gebälk knacken hörte.

Krispin senkte voller Reue den Blick. Er kannte Zelter nicht, aber er kannte seinen Namen. Wie sollte er das jetzt erklären?

»Krispin?«

Krispin sah nicht auf. Er starrte ins Stroh der Krippe. Er machte vorsichtshalber sogar die Augen zu. Er schämte sich, auch wenn er nicht recht wusste, wofür.

»Zelter?«, sagte Hillebingel.

In der Hoffnung, dass sich die Blicke der Umstehenden jetzt auf den leuchtenden Schimmel richteten, sperrte Krispin die Augen wieder auf.

Das Geisterpferd schnaubte. »Ich habe diesen Kater noch nie gesehen.«

»Vielleicht ist er ja auch ein Geist!«, rief Affra, die weiße Henne. »He, bist du ein Geist, kleiner Kater?«

Krispin blieb die Antwort erspart, denn in diesem Moment schwang quietschend das Stalltor auf.

Die kalte Nacht schwappte durch das offene Tor in den Stall, und als hätte es ihnen eine unhörbare Stimme befohlen, wandten alle Tiere sich um.

Krispin reckte den Hals und lugte wieder über den Krippenrand.

Im Tor stand ein großer, komischer Vogel, buckelig und schmutzig gelb, mit einem einschüchternden Schnabel, lang und gerade wie ein Schwert. Im schmalen Vogelkopf darüber glühten zwei Echsenaugen, und Krispin kam es vor, als setzten diese Augen ihn in Brand. Schnell sah er woandershin und entdeckte hinter dem großen Vogel eine noch größere Hündin mit Schlappohren und dunklem, grau gestichelten Fell.

Trusch, schoss es ihm durch den Kopf. Das war der Name der Hündin.

Die Habergeiß, dachte er. Die Habergeiß, das war der Vogel. Er wusste es, aber er wusste nicht, woher.

Die Habergeiß stellte bedrohlich die Flügel auf. Ihr Gefieder schien weniger aus Federn als aus altem, staubigem Stroh zu sein. Ihre Krallenfüße waren mit wuchernden, schmutzigen Haarbüscheln bewachsen, und als sie auf die Stallgasse schlurfte, zog sie einen dünnen, befiederten Schwanz hinter sich her.

Die Hühner und Schweine wichen respektvoll zurück. Nur Hillebingel blieb vor Krispins Krippe stehen und drückte stolz den Rücken durch.

»Hillebingel«, sagte die Habergeiß mit durchdringender, meckernder Stimme und stellte dabei die staubig gelben Flügel noch ein Stückchen weiter auf, so als wollte sie den Kobold darunter begraben. »Trusch hat mir alles erzählt.«

»Tja«, sagte Hillebingel und zuckte mit den schmalen Schultern. »Ein Notfall, wie man sieht.« Mit dem Kinn deutete er auf Krispin und warf ihm dabei ein verlegenes Lächeln zu.

Mit einem wenig eleganten Hüpfer setzte die Habergeiß über die Jauchrinne. Sie schlurfte durchs Stroh an der Erdglucke vorbei, zuckte mürrisch mit dem Flügel, damit der Kobold endlich Platz machte, und baute sich schließlich vor der Krippe auf.

Dann schraubte sie ihren dünnen Hals in die Höhe und richtete ihren Schnabel auf Krispin, als wäre ihr Schnabel wirklich ein Schwert.

Nun sprach die Habergeiß, aber sie sprach nicht mit ihm. »Auf dem fernen Meer, wo niemand von euch je gewesen ist«, sagte sie, »glauben die Schiffer, dass es Sturm gibt, wenn man eine Katze ins Meer wirft.«

Was sollte das jetzt bedeuten? Krispin hielt ganz still. Er wagte kaum zu atmen.

»Im Meer war er ja nun nicht«, sagte Hillebingel.

Die Habergeiß raschelte mit ihrem seltsamen Gefieder. Vorwurfsvoll drehte sie sich zu Hillebingel um. »Ich träume manchmal von einem schwarzen Kater«, sagte sie. »Es ist einer dieser Albträume, die mich in Gewitternächten heimsuchen.«

Gemurmel bei den Tieren ringsum: Hühnergetuschel, Schweinegebrumm, ein kurzes Muhen der Kuh.

»Wir alle träumen in Gewitternächten schlecht«, brummte Trusch, die Hündin, am Tor.

»Mag sein. Und doch glaube ich nicht, dass es etwas Gutes bedeutet«, sagte die Habergeiß.

»Zurückbringen können wir ihn jedenfalls nicht«, sagte Hillebingel.

Krispins Blicke huschten hin und her. Vom Kobold zu den Schweinen und Hühnern in der Stallgasse, von der Stallgasse zu Trusch am Tor und von Trusch zur Habergeiß vor seiner Krippe.

»Nein.« Die Habergeiß sprach plötzlich leiser. »Wer eine Katze ins Meer wirft, erntet Sturm«, sagte sie wieder. »Das Problem ist, wir werden so oder so Sturm ernten.«

»Oh ja, oh ja«, rief Zelter hinten in seiner Bucht.

»Ganz sicher«, sagte die weiße Affra.

Trusch sagte: »Niemand hat ihn gesehen. Wir könnten ihn versteckt halten.«

»Hm«, kam es von den Hühnern.

»Hm«, brummte der Eber.

»Einen kleinen Kater versteckt halten?«, sagte die Habergeiß und Krispin spürte wieder ihren brennenden Blick. »Er könnte, wenn er erst keine Angst mehr hat, ein sehr lebendiger kleiner Kater werden. Hillebingel müsste ihn hüten wie die Mütze voller Flöhe auf seinem Kopf.«

Krispin zuckte unwillkürlich. Auf einmal juckte es ihn überall.

»Hat er einen Namen? Spricht er überhaupt?« Die Habergeiß sah Krispin an, aber sie sprach mit Hillebingel.

Krispin warf dem Kobold einen unsicheren Blick zu. Hillebingel nickte. »Er heißt Krispin«, sagte der Kobold. »Und wenn du aufhörst, ihm Angst zu machen, spricht er auch mit dir.«

Die Habergeiß überging Hillebingels Unverschämtheit. Sie schnaufte bloß einmal. »So«, sagte sie meckernd. »Krispin also. Und wer, Krispin, hat dich so genannt?«

Krispin hätte diese Frage furchtbar gern beantwortet. Immerhin war es die erste, die die Habergeiß ihm stellte. Nur wusste er die Antwort leider nicht. Er war Krispin. Das war alles.

»Hast du mich gehört?«, fragte die Habergeiß nach. »Hast du mich verstanden, Krispin?« Ihr Schnabel kam bedrohlich nahe.

Krispin nickte. Eine Stimme hatte er plötzlich nicht mehr.

»Du weißt, dass du Krispin bist, aber du weißt nicht, wer dich so genannt hat?«

Jetzt fiel ihm sogar das Nicken schwer, aber irgendwie bekam er es hin. Alle sahen ihn an. Am liebsten hätte Krispin sich im Heu verkrochen.

»Na gut.« Endlich zog die Habergeiß ihren langen, spitzen Schnabel zurück, wenigstens ein Stück weit. »Dann will ich dir auch sagen, wer ich bin.« Sie räusperte sich. »Ich …«

»Du bist die Habergeiß«, kam es aus Krispin heraus. Er konnte nichts dagegen tun.

Alle im Stall raunten. Es wurde geraschelt. Es wurde geflüstert. Dann kehrte wieder Stille ein. Die Blicke der Tiere lasteten jetzt noch schwerer auf Krispin. Wieso hatte er die Habergeiß bloß beim Namen genannt? Hätte er nicht einfach den Mund halten können?

»Und das sind Hillebingel und Trusch und die Erdglucke und …« Das alles kam einfach so aus Krispin heraus. Es war, als wollte er beweisen, dass er hierhergehörte, obwohl er gar nicht fand, dass er hierhergehörte. Er wollte viel lieber ganz woanders sein. Aber wo?

»Und das da ist Zelter«, sagte er zum Schluss und sah zu der Bretterwand hinüber, über die der Schimmel seinen großen, schimmernden Schädel streckte. »Zelter ist ein Geisterpferd.«

Das Gemurmel schwoll wieder an. Die Erdglucke leuchtete noch ein bisschen heller.

»Still jetzt! Still!« Die Habergeiß spreizte beide Flügel ab und sah drohend in die Runde. Es dauerte dennoch eine Weile, bis im Stall wieder Ruhe einkehrte. Als es so weit war, konnte Krispin sich atmen hören. Das Herz schlug ihm hoch bis zum Hals.

Der schmale Kopf der Habergeiß kam auf einmal ganz nah. Krispin konnte ihre doppelten Lider – eines oben, eines unten – aufklappen, zuklappen und wieder aufklappen sehen. »Ich bin die Habergeiß, ganz richtig«, sagte sie. »Aber woher weißt du das? Ich habe dich nämlich noch nie zuvor gesehen.«

Was sollte er darauf sagen? Krispin holte tief Luft, um seinen Atem zu beruhigen, und sagte nichts.

Der Blick der Habergeiß schien jetzt Flammen zu werfen. Ihre Stimme allerdings wurde weicher, beinahe schmeichelnd. »Na, sag schon, kleiner Krispin. Wie auch immer die Antwort lautet, ich werde dir nicht den Kopf abreißen.«

Krispin war sich da nicht so sicher. Zumal er die Antwort nicht wusste. Er kannte die Habergeiß nicht – und er kannte sie doch.

Endlich wendete die Habergeiß ihren Blick von ihm ab. Ihr langer Schnabel entfernte sich und wies in den Stall. »Trusch? Zelter? Sagt mir: Habt ihr diesen Kleinen vorher schon mal gesehen?«

Die Hündin und der Schimmel murmelten ein Nein.

Die Habergeiß wandte sich wieder Krispin zu. »Und was ist mit unserem Freund Boso?« Mit der Flügelspitze wies sie auf den schmutzstarrenden Eber in der Stallgasse. »Kennst du den auch?«

Krispin gelang es, mit dem Kopf zu schütteln.

»Oder Friedel hier, unseren prachtvollen Hahn?« Jetzt zeigte die Flügelspitze auf den glänzend schwarzen Hahn, der sich gleich stolz in die Brust warf.

Krispin schüttelte wieder den Kopf.

»Oder unsere jüngste Freundin? Kleiner Hühnchen? Sie wohnt erst seit ein paar Wochen hier.« Diesmal zeigte die Habergeiß auf das kleine, zerrupfte Hühnchen.

»Nein«, krächzte Krispin. Er hatte seine Stimme wieder. Beinahe entschuldigend sah er die winzige Henne an. Mit vor Neugier leuchtenden Augen erwiderte sie seinen Blick. Krispin senkte den Kopf und starrte schüchtern in die Krippe.

»So, so«, brummte die Habergeiß. »Das ist alles sehr rätselhaft, wirklich sehr rätselhaft.« Sie räusperte sich so lautstark, dass man hätte denken können, sie würge ein Gewölle hoch. Gut möglich, dass sie ein Raubvogel war. »Und weißt du, wer dich … also … wie du hierhergekommen bist?«, fragte sie.

»Ich bin aufgewacht«, flüsterte Krispin kaum hörbar. »Ich bin einfach hier aufgewacht.«

»Ja. Genau. Ganz richtig.« Offenbar wusste die Habergeiß jetzt auch nicht mehr weiter. Aus lauter Verlegenheit faltete sie die Schwingen erst aus und dann wieder ein, wobei eine Menge Staub aufstieg.

Trusch, die noch immer am Stalltor stand, kam ihr zu Hilfe. »Der Kleine sollte sich ausruhen«, sagte sie. »Nicht wahr, Krispin? Du bist bestimmt müde.«