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Thorsten Schleif

ENDLICH RICHTIG ENTSCHEIDEN

Thorsten Schleif

ENDLICH RICHTIG ENTSCHEIDEN


Der Richter verrät seine besten Strategien

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Dr. Annalisa Viviani, München

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: Amanda Dahms, Köln

Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978-3-7423-1439-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1098-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1099-3

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Inhalt

Vorbemerkung: ein Geständnis

Einleitung: Ich kann mich nicht entscheiden!

Entscheiden wollen, entscheiden können

Lesen Sie dieses Buch nicht!

Teil I: Entscheiden wollen

Kapitel 1
Eine Frage der Einstellung

Ich mag dich echt nicht

Schwerter, Blut und Psychologen

Kapitel 2
Der Feind in meinem Hirn – angeborene Abneigung

Marmelade und Hüftersatz

Geschenke, Geschenke

2-many-Options

Kapitel 3
Von Jägern und Sammlern und Smartphones

Kapitel 4
Sorry, mein Fehler! – Anerzogene Angst

Die beste Entscheidung aller Zeiten

»I can’t get no satisfaction«

Kapitel 5
Des Menschen Wille ...

Kapitel 6
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg

Hungrig, Euer Ehren?

Aller guten Dinge ...

Übung macht den Meister

Geiz ist geil!

Die unbequeme Bank

Kapitel 7
Verantwortung – die befreiende Last

Leben Sie damit!

Teil II: Entscheiden können

Kapitel 8
Es war einmal ...

Kapitel 9
Heiß oder kalt? – Zwei Systeme

Assoziierender Angsthase

Ein Bild sagt mehr ...

Wetten, dass ...

Der faule Kontrolleur

Take it easy

Kapitel 10
Auf der Suche nach dem Hotspot

Stressig, stressiger, Hotspot

Schwarzgeld aus Schwarzafrika?

Die Odysseus-Lösung

Kapitel 11
It’s Primetime!

Ich wasche meine Hände in ...

PFF – Priming For Future

Anti-Prime

Kapitel 12
Bauchgefühl, der sechste Sinn oder Intuition?

Regeln für Bauchgefühle

Kennst du mich noch?

Der Experte

Jetzt oder nie!

Das Ei ist hart!

Bauchgefühl lernen und verbessern?

Frauen darf man(n) trauen?

Kapitel 13
Acht entscheidende Fehler

Nr. 1: Baby, I can see your halo

Nr. 2: Von Brücken, Teenagern und Börsencrashs

Nr. 3: Werft Anker!

Nr. 4: Ich hab’s kommen sehen!

Nr. 5: Mein Eigen, mein Schatzzz!

Nr. 6: Getroffen und versenkt!

Nr. 7: Zurück in die Zukunft?

Nr. 8: Die Mehrheit hat immer recht!

Kapitel 14
Der Geschworene Nr. 8

Von Zombies lernen

Ein Plädoyer

Mehr Entscheidungen wagen!

Entscheiden und entscheiden lassen

Leichter Weg

Danksagung

Anhang

Nachweise

Über den Autor

Für Kira und Rhona

Trefft eure eigenen Entscheidungen!

Vorbemerkung: ein Geständnis

Es sind nicht unsere Fähigkeiten, die zeigen, wer wir wirklich sind. Es sind unsere Entscheidungen.

Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore (1881–1997)

»So, das war’s! Vielen Dank, Herr Schleif, dass Sie sich die Zeit genommen haben!« Die freundliche Journalistin verstaut das Aufnahmegerät, Block und Stift in ihrer Handtasche. »Ach, eine Frage habe ich doch noch: Wie viele Verfahren entscheiden Sie überhaupt pro Jahr?« Ich überlege laut: »Jährlich etwa 400 Strafverfahren, hinzu kommen die Entscheidungen im Eildienst über psychiatrische Unterbringungen, Haftbefehle und die Fortdauer von Polizeigewahrsam.« Es entsteht eine kurze Pause. »Wow«, sagt die Journalistin schließlich. Dann fügt sie grinsend hinzu: »Entscheidungsschwäche ist wohl kein Thema für Sie. Sie mögen Entscheidungen, oder?«

Gleich zu Beginn dieses Buches möchte ich ein Geständnis ablegen: Ich mag Entscheidungen nicht nur, ich liebe Entscheidungen! Dies ist ohne jeden Zweifel ein Grund für meine Berufswahl gewesen. Schon immer haben mich Entscheidungen fasziniert. In der Schule war Geschichte mein Lieblingsfach. Julius Cäsar entscheidet, mit seinen Legionen den Rubicon zu überschreiten. Martin Luther entscheidet, die berühmten 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche zu schlagen. Winston Churchill entscheidet, nicht in Verhandlungen mit Adolf Hitler einzutreten. Und John F. Kennedy entscheidet gegen einen Angriff auf Kuba und damit gegen den Dritten Weltkrieg. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte bedeutender Entscheidungen. Bereits in der Schule wollte ich verstehen, warum wir so entscheiden, wie wir entscheiden. Wie kommt eine Entscheidung zustande? Warum fällt es einigen Menschen anscheinend leichter, Entscheidungen zu treffen, als anderen? Kann man lernen zu entscheiden? Was macht eine gute Entscheidung aus?

Im ersten Semester meines Jura-Studiums hatte ich das große Glück, eine Studentin der Psychologie kennenzulernen, eine kleine, schlanke Frau voller Energie. Schon bei unserem ersten Treffen kritisierte sie lautstark, dass Entscheidungspsychologie nicht Teil des juristischen Studiums sei: »Ist doch verrückt, oder? Ihr Juristen trefft Entscheidungen, ohne zu wissen, wie es geht!« Ich dachte einige Tage sehr genau über ihre Worte nach. Bei unserem nächsten Treffen fragte ich, ob sie mir ein Buch zu diesem Thema empfehlen könne. Seit dieser Zeit habe ich Bücher, Artikel und Aufsätze, die sich mit Entscheidungspsychologie befassen, mit größtem Interesse gelesen. Auf diesem Gebiet der Psychologie sind in den letzten 20 Jahren erstaunliche Erkenntnisse erzielt und veröffentlicht worden, die unser Verständnis vom menschlichen Entscheidungsprozess grundlegend verändert und erweitert haben. Zu erwähnen sind insbesondere die Werke von Daniel Kahneman, Amos Tversky, Gerd Gigerenzer, Dan Ariely und Walter Mischel.

Nach meinem Eintritt in den Richterdienst bot sich ausreichend Gelegenheit, die in der Entscheidungspsychologie entwickelten Theorien und gezogenen Schlussfolgerungen in der Praxis zu prüfen. In den vergangenen zwölf Jahren habe ich mehr als 5000 Zivil- und Strafverfahren entschieden. Hierbei habe ich Entscheidungen über Freiheitsstrafen von zusammengezählt mehr als 1000 Jahren, Geldstrafen und Geldauflagen von vielen Hunderttausend Euro, Arbeitsauflagen von mehreren Tausend Stunden getroffen sowie über Zahlungsansprüche von vielen Millionen Euro entschieden.

Die Quintessenz dessen, was ich in den vergangenen 20 Jahren über Entscheidungen gelernt habe, ist in diesem Buch dargestellt, erläutert an zahlreichen Beispielen und Erlebnissen und versehen mit wertvollen Tipps.

Da wir gerade über Entscheidungen sprechen: Liebe Leserinnen, wegen des besseren Verständnisses habe ich mich dazu entschieden, überwiegend die männliche Form zu verwenden. Fühlen Sie sich bitte überall mit berücksichtigt und angesprochen!

Einleitung: Ich kann mich nicht entscheiden!

Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit.

Napoleon Bonaparte (1769–1821)

»Wie würdest du entscheiden?« Der Fall, den mir meine Kollegin soeben geschildert hat, hat es in sich. Ein mutmaßlicher sexueller Missbrauch in einer Beziehung. Der Beschuldigte soll seiner – mittlerweile ehemaligen – Freundin auf einer Party K.-o.-Tropfen in ihren Cocktail geträufelt und sie später zu Hause unter dem Einfluss dieses Mittels sexuell missbraucht haben. Seine Ex-Freundin, das mutmaßliche Opfer, kann sich kaum noch an den Abend erinnern. Der Angeklagte bestreitet den Vorwurf. Die Aussagen der anderen Partygäste widersprechen sich teilweise erheblich. Einige schildern, die Freundin sei »völlig normal« gewesen, als sie mit ihrem Freund die Party verlassen habe, andere berichten, sie habe »irgendwie benommen« gewirkt. Meine Kollegin ist ratlos: »Was sagst du? Ich kann mich nicht entscheiden ...«

Wie würden Sie entscheiden? Nehmen Sie den von seiner Ex-Freundin als Vergewaltiger beschuldigten Mann in Untersuchungshaft oder lassen Sie ihn laufen? Setzen Sie eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Raubes zur Bewährung aus oder schicken Sie den Angeklagten ins Gefängnis? Bringen Sie die selbstmordgefährdete junge Frau in einer geschlossenen Klinik unter oder darf sie nach Hause gehen? Diese Entscheidungen prägen meinen Alltag. Welche Art von Entscheidungen treffen Sie? Unsere Welt besteht aus Entscheidungen, sie erwarten uns jeden Tag, rund um die Uhr und überall. Nicht immer sind sie so schwerwiegend wie in dem eingangs geschilderten Fall – in manchen Situationen sind sie jedoch viel gravierender. Man nimmt an, dass Sie und ich täglich etwa 20 000 Entscheidungen treffen, das sind etwa ebenso viele Entscheidungen wie Atemzüge. Überrascht? Schauen wir uns einmal einen ganz gewöhnlichen Morgen an. Der Wecker klingelt. Entscheidung Nr. 1: ausschalten oder klingeln lassen? Diese Entscheidung fällt noch leicht, dafür sorgt schon der nervtötende Ton des Weckers. Entscheidung Nr. 2: aufstehen oder noch mal umdrehen? An dieser Stelle scheiden sich bereits die Geister: Ich habe Freunde, die den Wecker an jedem Morgen bis zu fünfmal mit der Schlummerfunktion ruhigstellen, das heißt, schon hier zehn Entscheidungen mehr treffen, als wenn sie beim ersten Klingeln aufstehen würden. Denn sie müssen die Entscheidung Nr. 1 (ausschalten oder klingeln lassen?) und die Entscheidung Nr. 2 (aufstehen oder noch mal umdrehen?) bei jedem Klingeln erneut treffen. Entscheidung Nr. 3: in Hausschuhen oder barfuß aus dem Zimmer? Entscheidung Nr. 4: zuerst in die Küche oder ins Bad? Entscheidung Nr. 5: Licht im Flur an oder aus? Haben Sie mitgezählt? Bis zu diesem Moment sind es bereits zwischen fünf und – falls Sie sich auch auf einen Kampf mit dem Wecker einlassen – 15 Entscheidungen, die jeden Morgen getroffen werden müssen. Noch vor dem ersten Kaffee! Und ich verzichte an dieser Stelle auf die Schilderung der schrecklichsten Entscheidungssituation eines Morgens: die Qual der Wahl vor dem geöffneten Kleiderschrank … Der Tag fängt ja gut an.

Und er geht auch so weiter. Ganz gleich, ob im Büro, im Supermarkt, im Fitnessstudio oder im Restaurant: Entscheidungen lauern überall! Ist das ein Stress! Früher war alles viel einfacher, was in diesem Fall sogar stimmt. Denn die heutige Angebotsvielfalt in jedem unserer Lebensbereiche verursacht einen extremen Entscheidungszwang. Je größer das Angebot ist, desto mehr Entscheidungen sind zu treffen. Die moderne Technik, insbesondere unsere Smartphones, eröffnen uns eine nahezu unbegrenzte Angebotsvielfalt, und zwar zu jeder Zeit. Ausgeklügelte Algorithmen, sogenannte Cookies, ermitteln unsere Interessen, bieten stets präsente Optionen und animieren uns zu – vermeintlich notwendigen – Entscheidungen. Ist die angezeigte Nachricht für mich interessant? Soll ich sie öffnen? Und die beworbene Winterjacke? Ein gutes Angebot, letzte Woche habe ich doch genau danach gesucht. Kaufe ich sie? So etwa sehen unsere Gedanken aus, wenn wir »nur mal kurz« auf unser Smartphone blicken. Vor 2000 Jahren, ja sogar noch vor wenigen Jahrzehnten, waren das Angebot und damit auch die Entscheidungsnotwendigkeiten um ein Vielfaches kleiner.

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass jeder von uns mehr Entscheidungen trifft als Napoleon, Alexander der Große und Julius Cäsar in einem ganzen Monat getroffen haben. Und das bereits dann, wenn wir nur einen Supermarkt besuchen – was wahrscheinlich der eigentliche Grund dafür ist, dass Julius Cäsar nie im Supermarkt eingekauft hat, jedenfalls wurde er nie in einem gesehen.

Unsere Entscheidungskraft wird aufgezehrt von einer Unmenge zwar unwichtiger, aber allgegenwärtiger Entscheidungen. Zum Beispiel den Entscheidungen, ob und wie auf WhatsApp-, E-Mail- und SMS-Nachrichten geantwortet werden soll. Allein per WhatsApp werden 60 000 000 000 (60 Milliarden) Nachrichten verschickt. An jedem einzelnen Tag! Dazu kommen – nur in Deutschland – jährlich etwa zehn Milliarden SMS. Im Durchschnitt sind es für jeden von uns 55 Nachrichten an jedem Tag. Jede einzelne WhatsApp-Nachricht, die wir empfangen, erfordert mindestens die Entscheidung, sie zu lesen oder zu ignorieren. Und mit jeder WhatsApp-Nachricht, die wir versenden, verlangen wir dem Adressaten jedenfalls diese eine Entscheidung ab. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir uns entscheidungsmüde fühlen. »Ich kann mich nicht entscheiden!« ist zugleich einer der häufigsten und einer der quälendsten Gedanken, die uns belasten.

Unentschlossenheit, Entscheidungsmüdigkeit, fehlende Entschlusskraft, Entscheidungsschwäche – viele Umschreibungen desselben Problems. Ist es ein typisches Problem unserer modernen Gesellschaft? Es sprechen viele Gründe dafür, wie im Einzelnen noch dargelegt wird. Gleichwohl gibt es auch Stimmen, die behaupten, allgemeine Unentschlossenheit habe es bereits in vielen Generationen vor uns gegeben. Es ist aber weder Trost noch Hilfe zu wissen, dass auch in früheren Generationen Menschen unter Entscheidungsschwäche gelitten haben. Die derzeit überall zu beobachtende Unentschlossenheit ist eine Schwierigkeit, der wir uns dringend stellen müssen. Denn sie hat gewaltige Probleme zur Folge. Probleme, die sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft als Ganzes betreffen:

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, immer schlechter entscheiden zu können. Entscheidungen – nicht nur unbequeme – werden aufgeschoben und vermieden. Wir weichen ihnen nur allzu gern aus. Das ist der Grund, warum Persönlichkeiten, die in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, nicht nur respektiert, sondern geradezu bewundert werden. Mit Begriffen wie Entschlusskraft und Entscheidungsstärke verbinden wir Namen wie Winston Churchill, Helmut Schmidt und John F. Kennedy ebenso wie Warren Buffet, Lee Iacocca und Steve Jobs. Erstaunlich ist, dass Persönlichkeiten wie Churchill, Schmidt und Kennedy aufgrund ihrer Entscheidungsstärke heute noch viel mehr respektiert und bewundert werden, als sie es zu ihrer Regierungszeit jemals wurden. Ich teile die Bewunderung für diese Charaktere. Es sind Persönlichkeiten, die vor allem ein gemeinsames Element auszeichnet: Sie haben Entscheidungen getroffen. Bedeutende, verantwortungsvolle, konsequente Entscheidungen. Ich erwähne das ausdrücklich, um nicht in den Verdacht zu geraten, ich hätte vor den beeindruckenden Entscheidungen dieser Personen keinen Respekt, wenn ich Ihnen nun etwas Erstaunliches eröffne: Jeder Mensch verfügt von seiner Geburt an über dieselben Voraussetzungen, um Entscheidungen zu treffen, mit denen ein Wirtschaftsimperium aufgebaut, eine Unternehmensinsolvenz abgewendet, eine terroristische Bedrohung bewältigt, ein Weltkrieg überlebt und ein Atomkrieg verhindert werden kann. Ja, jeder Mensch. Auch Sie!

Entscheiden wollen, entscheiden können

Das menschliche Gehirn ist von Natur aus mit beeindruckenden Systemen ausgestattet, die jede Entscheidung treffen können. Jedoch sind diese Systeme, ihre Funktionsweise, ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen nur wenigen Menschen vertraut. Wie trifft unser Gehirn eine Entscheidung, welche Umstände beeinflussen unsere Entscheidungsfindung, wie erkennen wir typische Entscheidungsfehler und – was noch wichtiger ist – wie vermeiden wir sie? Diesen Fragen widmet sich der zweite Teil dieses Buches. Ja, erst der zweite Teil, denn so wichtig das Wissen um dieses Vermögen auch ist, gebührt der erste Platz dem Fundament jeder Entscheidung, dem Entscheidungswillen.

Das größte Können nutzt nicht, wenn der Wille fehlt. Ein Fußballspieler mit perfekter Technik, großartigem Ballgefühl und einer Bombenkondition ist völlig nutzlos für eine Mannschaft, wenn er nicht spielen will. Die Ursache für Entscheidungsschwäche, Unentschlossenheit und Entscheidungsmüdigkeit ist stets ein fehlender Entscheidungswille. Anders formuliert: Wer nicht entscheiden will, der wird auch nicht entscheiden, selbst wenn er kann. Warum einige Menschen einen starken Entscheidungswillen haben und andere nicht, ob und wie sich dieser Wille trainieren lässt, was ihn stärkt und was ihn schwächt, diese Fragen beantwortet der erste Teil des Buches.

Die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, ist vielleicht die wichtigste Fähigkeit, über die wir verfügen. Daher liegt es in unser aller Interesse, diese Fähigkeit fortlaufend zu trainieren, zu entwickeln und zu verbessern. In kaum einem Beruf – auch in meinem nicht – wird der Entscheidungsfähigkeit jedoch die Aufmerksamkeit zuteil, die ihr gebührt. Vielmehr wird der Fokus stets auf die Verbesserung der speziellen Sachkompetenz eines Berufsfeldes gelegt. Sachkompetenz ist zwar erforderlich, um eine bestimmte Entscheidung zu treffen, sie ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Auf meinen Beruf als Richter bezogen bedeutet es: Die Sachkompetenz ist das, was ich in vier Jahren rechtswissenschaftlichem Studium und zwei Jahren Referendariat gelernt habe. Darüber, ob ich Entscheidungen treffen will und treffen kann, sagt meine Sachkompetenz jedoch nichts aus. Zweifellos ist es wichtig, dass wir Sachkompetenzen erwerben und verbessern. Wenn allerdings die Entscheidungsfähigkeit fehlt, dann helfen Sachkompetenzen nicht, denn sie werden nie zur Anwendung kommen.

Die Position und der Anteil der einzelnen Entscheidungselemente ergeben sich aus dem folgenden Bild, der Entscheidungspyramide:

Sachkompetenz Entscheiden können Entscheiden wollen

Den beiden wichtigsten Elementen jeder Entscheidung, dem »Entscheiden wollen« und dem »Entscheiden können«, sind die beiden Teile dieses Buches gewidmet. Nach der Lektüre werden Sie:

»Hilft mir dein Buch, ein besserer Entscheider in meinem Beruf zu werden oder in meinem Privatleben?«, fragt mich Mehmed, ein Freund, der als Unternehmensberater tätig ist. Meine Gegenfrage lautet: »Wieso ›oder‹?«

Wir verfügen nicht über spezielle Entscheidungssysteme für unseren Beruf, spezielle Entscheidungssysteme für unsere Hobbys, spezielle Entscheidungssysteme für unser Familienleben usw. Dieselben Entscheidungssysteme gelten für unsere Entscheidungen in allen Lebensbereichen, unserem Beruf ebenso wie unserer Familie und Partnerschaft, bei unseren Vermögensangelegenheiten ebenso wie bei Gesundheitsfragen. Wenn wir erfolgreich trainieren, um speziell in einem Bereich Entscheidungen besser zu treffen, dann werden hiervon auch unsere Entscheidungen in allen anderen Lebensbereichen profitieren.

Falls Sie noch Zweifel haben, ob dieses Buch Sie speziell in Ihrem Berufsleben dabei unterstützen kann, Ihre Entscheidungsfähigkeit zu verbessern, können Ihnen folgende Fragen helfen:

Können Sie eine oder sogar mehrere dieser Fragen mit Ja beantworten, wird Ihnen die Arbeit mit diesem Buch wertvolle und nachhaltige Resultate für Ihr Berufsleben liefern.

Lesen Sie dieses Buch nicht!

Zugegeben, das ist eine etwas seltsame Bitte für einen Autor. Und es wäre mir lieb, wenn Sie meinem Verlag hiervon nichts erzählen würden. Bevor Sie mich jedoch für geschäftsunfähig erklären lassen, möchte ich meine Bitte etwas genauer formulieren: Lesen Sie dieses Buch nicht, sondern arbeiten Sie mit ihm! Lesen allein bringt Ihnen nichts, sofern Sie nicht über ein eidetisches Gedächtnis verfügen. Regelmäßig vergessen wir nach nur 72 Stunden den größten Teil des Buches, das wir nur gelesen haben. Die vielen neuen und wertvollen Ideen und Gedanken sind für uns wieder verschwunden. Deshalb »lese« ich Bücher anders: Während ich ein Kapitel lese, unterstreiche ich die wichtigsten Sätze und mache kleine Notizen am Buchrand. Bevor ich am nächsten Tag ein neues Kapitel lese, befasse ich mich noch einmal mit meinen Unterstreichungen und Notizen vom Vortag. Meistens schreibe ich die Inhalte in Stichworten in eine Art Lerntagebuch. So steht mir der Inhalt eines Buches in komprimierter Form auf wenigen Seiten in meinem Lerntagebuch zur Verfügung, und ich kann ihn jederzeit in wenigen Augenblicken wiederholen. Lesen Sie mein Buch mit dieser Methode und machen Sie es zu Ihrem Buch. Hierdurch wird es für Sie wertvoller – im wahrsten Sinne des Wortes. Ob Sie den Inhalt des Buches verinnerlicht haben, können Sie mit dem Wissenstest im Anhang des Buches prüfen.

Damit das Wissen aus diesem Buch für Sie auch Resultate liefert, müssen Sie es in Ihr Leben integrieren. Deshalb finden Sie am Ende eines Abschnittes Entscheider-Strategien und dazugehörige Praxisübungen. Insgesamt sind rund 20 dieser Strategien mit den entsprechenden Übungen, dem Training für Entscheider, in diesem Buch enthalten. Nehmen Sie sich für jeden Tag jeweils nur eine Strategie mit der betreffenden Übung vor. Grundsätzlich empfehle ich Ihnen die in diesem Buch berücksichtigte Reihenfolge. Sollten jedoch bestimmte Lektionen für Sie gegenwärtig wichtiger sein als andere, dann bevorzugen Sie diese und überspringen zunächst solche Lektionen, zu denen Sie im Augenblick keinen Bezug finden.

Wiederholen Sie die folgenden Lektionen, bis Sie diese beherrschen. Wiederholen bedeutet hierbei nicht, dass Sie dieses Buch immer und immer wieder lesen müssen. Denn selbst wenn Sie die einzelnen Lektionen Wort für Wort auswendig aufsagen können, heißt das noch nicht, dass Sie sie auch praktisch anwenden können. Deshalb ist es wichtig, die praktischen Übungen, das Training für Entscheider, immer wieder zu wiederholen. Genau das mache ich übrigens auch. Und das bei einigen Übungen seit mehr als 20 Jahren. Obwohl es mein Beruf ist, Entscheidungen zu treffen? Nein, nicht »obwohl« es mein Beruf ist, sondern gerade deshalb! Ein professioneller Sportler wird – wenn er erfolgreich bleiben will – auch nicht mit dem Training zwischen den Wettkämpfen aufhören, nur weil er bereits über eine große Erfahrung verfügt.

Legen Sie besonderes Augenmerk auf die Strategien und Übungen, die eine Veränderung der evolutionären Grundeinstellungen unseres Gehirns bewirken sollen. Denn diese evolutionären Grundeinstellungen sind äußerst tief und fest verankert, daher bedarf es auch eines besonders intensiven und konstanten Trainings, um diese nachhaltig zu verändern. Falls Sie sich jetzt fragen, ob es möglich ist, sein Gehirn zu verändern und anzupassen, sollten Sie einmal der englischen Hauptstadt einen Besuch abstatten. Steigen Sie in London in ein Taxi und bitten Sie den Taxifahrer, Sie zu fahren. Wohin? Das ist völlig egal. Suchen Sie sich ein beliebiges Ziel aus. Sobald der Taxifahrer das Fahrzeug in Bewegung setzt, betrachten Sie den Hinterkopf des Fahrers und versuchen, in Richtung seiner Augen durch den Schädel zu blicken. Auf halbem Weg kommt Ihr Blick an dem Hippocampus des Fahrers vorbei. Fällt Ihnen was auf? Ja genau: Mann, ist der dick, Mann! In einer Studie mit Londoner Taxifahrern konnte festgestellt werden, dass ihr Gehirn insbesondere im Bereich des Hippocampus deutlich verdickt ist. Im Hippocampus sitzt nach unseren Erkenntnissen der Orientierungssinn. Und gerade Londoner Taxifahrer müssen über einen ausgezeichneten Orientierungssinn verfügen, denn die Londoner Innenstadt mit all ihren kleinen Neben- und Einbahnstraßen, Dauerbaustellen, Sperrungen und Sackgassen gilt als eine der größten Herausforderungen für Taxifahrer weltweit. In London müssen Taxifahrer einen besonders schweren Eignungstest bestehen, wenn sie zu der elitären Gruppe der Londoner Taxifahrer gehören wollen. In der Studie konnte übrigens festgestellt werden, dass sich der Hippocampus mit zunehmendem Taxidienst weiter verdickt, das Gehirn sich also immer weiter der Herausforderung anpasst.

Selbst die Struktur unseres Gehirns ist keinesfalls in Stein gemeißelt. Das Gehirn kann angepasst, umgebaut und verändert werden. Und für den Um- und Anbau des Gehirns benötigen Sie nicht einmal das Werkzeug eines Hirnchirurgen. Ich möchte Sie sogar ausdrücklich auffordern, Ihr Gehirn nicht aus seiner Verpackung zu nehmen. Bitte lassen Sie es genau da, wo es ist! Der Umbau des Gehirns erfolgt völlig schmerzlos und von innen heraus. Sie müssen nur konstant üben und es immer wieder herausfordern. Wenden Sie das gelernte Wissen an, üben Sie mit den Trainingsmethoden für Entscheider intensiv und konstant und vor allem: Treffen Sie Entscheidungen!