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Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

umfassend überarbeitete Neuausgabe der Fassung von 2009

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © MarkGillow/iStockphoto

ISBN 978-3-7117-1105-2

eISBN 978-3-7117-5429-5

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Tomo Mirko Pavlović, 1971 in Stuttgart geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik, Politikwissenschaften und Germanistik. Er lebt als Autor und Journalist in Stuttgart und Zagreb. Nach seinem Zeitungsvolontariat arbeitete er als Redakteur bei »Sonntag Aktuell« zunächst im Ressort Reise und Zeitgeschehen, nunmehr im Ressort Zeitgeschehen. Seine Theaterstücke wurden zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen und seither an mehreren Theatern in Deutschland aufgeführt. Im Picus Verlag erschienen seine Lesereise Schwarzwald und seine Lesereise Kroatien.

Tomo Mirko Pavlović

Lesereise Kroatien

Tausend Inseln und
ein unentdecktes Hinterland

Picus Verlag Wien

Inhalt

Eine Pendelbewegung

Zagreb und sein westliches Hinterland

Es müssen nicht immer Ćevapčići sein

Kroatiens Küche ist vielfältig und spannend wie seine wechselvolle Geschichte. Kulinarische Entdeckungen zwischen Sterneküche und Balkangrill

Lieber rot als tot

Bauernaufstand in Stubica. Eine ganze Region begeistert sich für das ferne Mittelalter und feiert alljährlich einen bärtigen Volkshelden

Auf die lässige Tour

Kroatien ist – auch wenn man es kaum glauben möchte – das perfekte Urlaubsland für Individualisten, selbst im Hochsommer. Drei Vorschläge

Generation Ex

Dirty realism oder Wie der Schriftsteller Edo Popović an seiner Hassliebe zu Zagreb kreativ verzweifelt

»Wie glücklich bin ich, dass ich dein Pionier sein durfte«

Was Franz Beckenbauer und Marschall Tito mit Onkel Dobrivoje zu tun haben

Happy Antivalentinstag!

Olinka und Dražen waren mal ein Liebespaar. Nach der Trennung gründeten sie in Zagreb das Museum der zerbrochenen Beziehungen

Echt leicht, einen Parkplatz zu finden

Die Schlösser und Herrenhäuser Zagorjes erzählen Historisches und mindestens eine Erfolgsgeschichte

Die Standpauke

Katholischer geht’s nimmer: Maria Himmelfahrt in Marija Bistrica

Die schöne Leich’

»Bevor wir fallen, fallen wir lieber auf«: Einige Beobachtungen zum Sterben

Made in Croatia?

Von Spezialitäten, die kaum einer kennt und manch ein Besserwisser infrage stellt

Vom besseren Leben in den Reben

Mein Auto, mein Haus, mein Weinberg: Im Zagorje trinkt man am liebsten sein eigenes Tröpfchen und teilt ungern

Erste Klasse

Next Station: Zagreb. Das Hotel Esplanade, der Orientexpress und ein vergoldetes Jahrzehnt

Frau Hubers Gespür fürs Meer

Die Adria und zwei Welten, die viel und nichts miteinander zu tun haben

Eine Pendelbewegung

Zagreb und sein westliches Hinterland

Ein eisiger Dezembermorgen. Der Tag ist noch müde. Das Licht so zaghaft, die Hauptstadt fern. Als hätte jemand Kokosraspeln verstreut, erhellt Raureif die braun-weiße Ebene. Die Heizung im Zugabteil föhnt gegen die Fußknöchel bis zu den schwitzenden Kniekehlen hinauf. Gegenüber zwei Männer, um die vierzig, auf den Schuhen die nun getrocknete Erde der Provinz, Fingerkuppen platt wie faltige Feigen. »Ich weiß nicht, was mit der Welt los ist«, murmelt der eine und kratzt sich die Bartstoppeln. »Janko, zum Teufel, was soll das Jammern, du hast die Baustellen in Deutschland, du verdienst jede Saison gut, jeden Sommer.« – »Vergiss die Deutschen. Früher haben sie achtzehn die Stunde bezahlt, jetzt nur noch dreizehn Mark, nicht Euro, lieber Ivan. Sogar wir Kroaten sind ihnen zu teuer. Pihhh.« Dann folgen ihre Augen dem Flüsschen Krapina unweit des Bahndamms, der bald im Savestrom verschwinden wird. »Und nun?«, fragt Ivan. »Apfelessig. Ich mach in Apfelessig. Der geht immer besser. Ist ökologisch. Alles ist heute bio. Auch die šljivovica, fünfzig Kuna für den Liter zahlen sie in Zagreb.« – »Der Schnaps«, antwortet Ivan, »ist ja auch bio.« Dann versinkt das Abteil in dösiger Melancholie und der altersschwache Zug fährt keine Stunde später in den Hauptbahnhof ein.

Kein Zweifel: Das ist die Zentrale, die wahre Mitte des Landes, der Puls des jungen Staates. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs weht ein Hauch von Kakanien herüber, von den Fassaden in Ockergelb, aus den kahlen Platanen aus dem 19. Jahrhundert. Altwien lässt schön grüßen. Die alte feine Dame Zagreb rümpft noch ein bisschen die Nase über die provinziellen Neuankömmlinge, aber das ist nur Show: In einem Winkel ihres Herzens ist auch sie eine herzensgute Bäuerin, die genau weiß, ohne die täglich eintrudelnden Ivans und Jankos könnte sie nur halb so eitel tun.

Zagreb ist längst wach. Studenten aus den Vororten schleichen zur ersten Vorlesung, alte Mütterchen mit überquellenden Körben zum Marktplatz, dem Dolac. Auch Janko und Ivan versuchen dort ihr Glück. Roma-Mädchen betteln, verdrehen ihre Arme. Die Ćevapčići-Pizza-Burek-Schnellrestaurants unterhalb vom Dolac durchzieht ein strenges Sauerkrautaroma, das den Eimern der Bauern entweicht – im Winter wird sarma gekocht, Krautwickel mit einer würzigen Reisfleischfüllung.

Gediegener geht es am Jelačić-Platz zu, in der Gradska Kavana, einem jener Kaffeehäuser, das in nostalgischer Anwandlung restauriert wurde und wo traditionell die älteren Bürger der Mittelschicht sitzen. Sie warten wie das Inventar einer vergessenen Epoche, die Männer herausgeputzt mit Binder und Jackett, die Damen im Kostüm, penibel frisiert. Die Provinz hat man draußen stehen lassen, Typen wie den Apfelessigverkäufer aus dem nördlich gelegenen Zagorje, einer hügeligen Landschaft, die im Sommer an eine wilde Schwester der Toskana erinnert und die auch Heimat eines gewissen Josip Broz mit dem Beinamen Tito war.

Touristen gibt es in der Gradska Kavana wenige. Die Atmosphäre ist gesetzt. Rauchgeschwängert. Durch die großen Fensterscheiben erblickt man konsumfreudige Menschen, die teure Boutiquen betreten. Die Preise haben Weststandard, das Problem ist nur, dass das Durchschnittseinkommen eines Zagrebers bei siebentausendfünfhundert Kuna liegt, also kaum tausend Euro. Die Kroaten müssen Lebenskünstler sein, wenn sie nicht zu den ergrauten Kriegsprofiteuren gehören, oder tajkuni sind, von höheren Mächten protegierte Superreiche.

Zagreb an einem eisigen Dezembermorgen. Im neunundzwanzigsten Jahr der Loslösung von Jugoslawien. Eine Generation junger Kroaten ist herangewachsen, die den ehemaligen Vielvölkerstaat nur noch aus den Erzählungen der Eltern und den Geschichtsbüchern kennt. Doch die Wunden der schmerzhaften Trennung sind immer noch nicht verheilt. Die Zeitungen berichten seit Wochen von der bevorstehenden Übernahme der Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union, auch wenn die Bürger Umfragen zufolge an anderen Themen interessierter sind. Die Begeisterung für den Beitritt Kroatiens zur EU ist mittlerweile verflogen. Man hatte sich viel mehr versprochen, vor allem mehr Wohlstand und Arbeitsplätze für die jungen Menschen. Zwar gibt es keine exakten Angaben, jedoch wird geschätzt, dass allein in den vergangenen fünf Jahren fast dreihunderttausend Kroaten in die weiteren EU-Mitgliedsstaaten emigrierten, als häufigster Grund wird nach einer repräsentativen Studie der Zagreber Philosophischen Fakultät die wirtschaftliche Situation und der Arbeitsmarkt genannt. Sechsunddreißig Prozent der Befragten, in der Mehrheit Akademiker, verließen die Heimat wegen des gesellschaftlichen Klimas oder nannten die Korruption als Grund für die Abwanderung.

Und bei denen, die bleiben, liegt der Euroskeptizismus im Trend, was allerdings in anderen osteuropäischen Mitgliedsländern der EU auch keine Seltenheit ist. In Kroatien sind es die Veteranen, die katholische Kirche und Altkommunisten, die lieber heute als morgen das Rad der Liberalisierung zurückdrehen würden. Deshalb verwundert es auch nicht, dass bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Ende 2019 der rechtsnationalistische Sänger, Geschäftsmann und Überraschungskandidat Miroslav Škoro annähernd fünfundzwanzig Prozent der Stimmen erhielt. Ein Denkzettel für Europa! Der Sozialdemokrat Zoran Milanović wiederum verspricht im Wahlkampf »Normalität« angesichts der von der politischen Rechten angestachelten »Scheindebatten« über die Historie. Kroatien müsse, so Milanović, den Krieg gegen Serbien endlich hinter sich lassen.

Der Dunst gibt der Sonne keine Chance, nimmt einem jede Sicht auf das Medvednica-Gebirge, in dessen Ausläufer sich die Stadt wie eine dicke Katze schmiegt. Zagreb, Kapitale Kroatiens, achthunderttausend Einwohner, eine – so ein Reiseführer – »der jüngsten Metropolen der Welt«. Anders gesagt: noch nicht erwachsen. Dabei kam es schon 1850 zum Zusammenschluss der beiden Hügelsiedlungen Kaptol und Gradec zur Stadt Zagreb. Zur Ebene hin, wo heute die Bahnlinie die schmucken von den tristen Teilen Zagrebs scheidet, wurde auf einem Schachbrettraster die Unterstadt, Donji Grad, hochgezogen und bildet einen Puffer zu den weiter südlich gelegenen Plattenbausiedlungen, aus denen wie selbstvergessen einzelne Hochhäuser nach einer besseren Gesellschaft Ausschau halten. Doch zum Erwachsensein gehört nur beiläufig eine Skyline, vielmehr die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will. Dies erhebende Gefühl kennt man erst seit der formellen Unabhängigkeit von Jugoslawien im Jahr 1991. Zagreb war bis zu dieser Zäsur nur die heimliche Kulturhauptstadt Jugoslawiens, die Stiefschwester Belgrads.

Den Traum von der Freiheit träumte schon einmal einer. Unweit des Bahnhofs winkt König Tomislav vom Sockel herunter, der im 10. Jahrhundert die Ungarn an den Ufern der Drava zurückschlug, um das fruchtbare Pannonien, das karstig-mediterrane Istrien und Dalmatien zu einem großen Reich zu einen – wenn auch nur für kurze Zeit. Nach den Ungarn kam Österreich-Ungarn und dann waren bald auch schon die Serben an der Reihe – der Balkan. Eine Hassliebe. Trotzdem fühlte man sich als Teil der westlichen Hemisphäre, auch wenn dieses Bemühen stets von einer Sehnsucht nach Anerkennung unterlaufen wurde, die sich in dem merkwürdigen Verhältnis zu einer anderen Metropole ausdrückt: zu Wien, der Unnahbaren. Wien – der urbane Gegenentwurf zum Naturwüchsigen, zum Dorf, eben zur heimeligen, aber rückständigen kroatischen Heimat.

Um 1900 kopiert man den Westen, entstehen Geschäfts- und Wohnhäuser im Stil des Fin de Siècle, besonders am Jelačić-Platz, wo die Lücken zwischen den gründerzeitlichen Fassadenzeilen frisch gefüllt werden. Die Secessionisten sind begeistert von den Manifesten der Wiener Moderne. Nationalisten und Panslawisten fürchten aber den Identitätsverlust, die Germanisierung. Öffnung oder Abschottung, Großstadt oder Provinz – ein scharfkantiges »Oder«, das bis heute spürbar ist.

Der Eindruck, Kroatien bestünde nur aus einer wundervollen Küste, verflüchtigt sich, sobald man aus dem Westen, aus dem provinziellen Zagorje in die Hauptstadt Zagreb kommt. Oder am Abend wieder zurückfährt. Am besten langsam, mit einem Pendlerzug. Man steigt ein, lauscht, schaut. Vernimmt auch als Fremder so viel Deutsches, seltsame Lichter in der heimeligen Dunkelheit, herumgeisternde Sprachsplitter aus einer fernen Zeit, als auf diesem Gebiet die Amtssprache des Adels und der Verwaltung keine slawische war. Rund zweitausend Germanismen zählen die Linguisten, heimisch gewordene Fremdkörper, die sich in der kroatischen Sprache eingenistet haben wie jene verschlafenen Menschen in dem rasselnden Vorortzug. Sollte man im Raucherabteil um ein fajercajg gebeten werden von jemandem, der auf arbajt geht, kann man ruhig fajer geben, und falls die Rede auf das verpasste fruštik kommt und die cajt, die immer knapper wird, kann man ruhig nicken und mit rihtik antworten, sich zurücklehnen, hinausschauen und den luftinšpektor geben.

Mit anderen Worten: Tempo rausnehmen und innehalten. Gerade im Zagorje, das übersetzt so viel heißt wie »hinter den Bergen«, ein noch touristisch unbeschriebener Erdflecken zwischen dem Grenzfluss Sutla im Westen und dem östlich gelegenen Bergkamm Kalnik, wo Weinreben und verfallende Barockschlösser die Hügel und sanften Anhöhen zieren und das Leben tatsächlich etwas gemächlicher, genüsslicher vorbeizieht. Das Zagorje ist das sinnliche Refugium der Großstädter. Auch das ist Freiheit, Emanzipation: die Ruhe vor sich selbst. Zagreb kann nämlich auch ziemlich nerven. Dieser Brennspiegel der Sehnsüchte und Ängste, diese teure Stadt der historischen Zitate, kunstvollen Anspielungen und neurotischen Anwandlungen. Das Zagorje ist die einfache, manchmal deftige Antwort auf viele Fragen aus der Metropole. Als Leibspeise wird in guten Restaurants Putenbraten und mlinci aufgetischt, das sind dünne, in heißes Fett eingelegte Teigfladen. Als Nachtisch (!) folgen Strudel oder eine gibanica, ein mit Walnüssen, Mohn oder Käse gefüllter Hefekuchen, der zwar gut schmeckt, sich aber ohne die katalysatorischen Qualitäten einer domaća kapljica im Magen wie ein Backstein verhält. Also gibt es überall das »eigene Tröpfchen« zu verkosten, einen Hauswein vom eigenen Weinberg und den selbst gebrannten šljivovica (von den Pflaumen aus eigener Ernte), der in teils verrückten, selbst montierten Destillationsmonstren hergestellt wird. Selbst ist der Zagorec. Die seelische Reinigung wiederum sucht und findet man im Wallfahrtsort Marija Bistrica, wo die Zagreber und die Kroaten, das selbst ernannte Marienvolk, ihre Schwarze Madonna anbeten. Die körperlichen Wehwehchen kuriert man in den heißen Thermalquellen von Stubićke Toplice oder Tuheljske Toplice. Und wer das Glück für sich gepachtet hat, entflieht dieser nervösen Welt in einem eigenen Winzerhäuschen, der klijet, was im Zagorje keine Seltenheit ist, und nippt im Herbst an seinem selbst gekelterten Wein, schaut in die Hügel und übt den krisensicheren Beruf des luftinšpektors aus.

Es müssen nicht immer Ćevapčići sein

Kroatiens Küche ist vielfältig und spannend wie seine wechselvolle Geschichte. Kulinarische Entdeckungen zwischen Sterneküche und Balkangrill

Irgendwann nervt es einfach nur. Als Deutscher mit einem südslawischen Nachnamen muss man sich von Freunden, Bekannten und Kollegen regelmäßig Anekdoten von Familienurlauben an der kroatischen Adria anhören, an die man sich auch deswegen gern erinnert, weil man angeblich sehr gut und vor allem günstig gegessen habe. Fast noch schöner als das kristallklare Meerwasser und die eindrückliche Landschaft seien die Abende in einfachen Restaurants an der Küste mit netten, deutsch sprechenden und scherzenden Kellnern gewesen, die auf Edelstahlplatten dampfende Berge von Grillfleisch mit Djuveč-Reis, Pommes frites und Krautsalat anschleppten. Nicht selten werden dann solche nostalgischen Erinnerungen mit einer Frage garniert, die aber im Grunde einer Unterstellung gleichkommt: »Du hast es gut. Bei euch gibt’s doch bestimmt regelmäßig ćevapčići?«

Ganz ehrlich: Hier muss ein leckeres Missverständnis vorliegen. Meine letzte Balkanplatte mit ćevapčići habe ich voriges Jahr im Sommer verputzt, meine Eltern haben vor der Garage ihres Hauses nahe Zagreb gegrillt, das gewolfte und gewürzte Fleisch kam vom Metzger im Ort. Das war es dann aber auch. Der durchschnittliche Kroate bereitet schätzungsweise so häufig ćevapčićićevapčićićevapčićićevapčići