Lama Anagarika Govinda

Buddhistische Wege zur Stille

Schöpferische Meditation

und Multidimensionales Bewusstsein

Lama Anagarika Govinda

BUDDHISTISCHE WEGE ZUR STILLE

SCHÖPFERISCHE MEDITATION
UND
MULTIDIMENSIONALES BEWUSSTSEIN

© Lama und Li Gotami Stiftung, Pforzheim 2007

© 2007 Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,

der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

ISBN: 978-3-96861-087-0

INHALT

Einführung von Dr. Peter Michel

Vorwort

Transskriptionsmethode und Aussprache indischer Worte

ERSTER TEIL

Die geistige Entfaltung des Buddhismus: Der Weg von seiner Formulierung als Lehre zu seiner meditativen Verwirklichung

1Der Strom lebendiger Tradition

2Die Dharma-Theorie

3Die Lehre von der Nicht-Substanzialität

4Der Weg der Intuition und der Universalität

5Die Botschaft des sechsten Patriarchen

6Die Meister des mystischen Pfades

7Tantrische Erfahrung

8Vernunft und Intuition

9Begriff und Wirklichkeit

10Die verwandelnde Macht schöpferischer Vorstellung

ZWEITER TEIL

Die Grundelemente der Vajrayāna-Meditation

1Die Umformung der Bestandteile der menschlichen Persönlichkeit

2Die vier symphonischen Sätze der Meditation

3Die Bedeutung der Gesten

4Orientierung, Farbe und Zeitfolge im Mandala

5Mantras als Siegel der Initiation und als Symbole der Meditation

6Das Mantra als Urlaut und als archetypisches Wortsymbol

7Die Bedeutung der mantrischen Keimsilbe »HRĪḤ«

8Die Multidimensionalität der Keimsilben (Bījas)

9Die Multidimensionalität mantrischer Formeln und ihre Beziehungen zu den höheren psychischen Zentren

10Die zwei Phasen der Meditation und die psychischen Zentren des Körpermandala

DRITTER TEIL

Meditation als unmittelbare Erfahrungund als geistige Haltung

1Polarität und Ganzwerdung

2Der Weg nach innen

3Körperbewusstsein

4Die Betrachtung des Atems und die Bedeutung von Prāṇa

5Die Grundlagen der Achtsamkeit

6Die grundlegenden Prinzipien der Meditation

7Die Bedeutung der Hingabe in Meditation und Gebet

VIERTER TEIL

Kunst und Meditation

1Der Brunnen des Lebens

2Der Parallelismus zwischen Kunst und Meditation

3Das Problem von Subjekt und Objekt

4Abstrakte Kunst

5Kosmische Meditation

6Konzentrische Meditation

FÜNFTER TEIL

Kontemplative Gedanken

1Vergänglichkeit und Unsterblichkeit

2Die Überwindung des Todes

3Das Mysterium des Lebens und des Sterbens

4Knechtschaft der Worte

5Ewigkeit und Unendlichkeit

6Analyse und Synthese

7Individualität und Universalität

8Das Erlebnis der Ehrfurcht und der Sinn für das Wunderbare

9Kontemplative Zen-Meditation und die intellektuelle Haltung unserer Zeit

10Religion und Wissenschaft

11Die schöpferische Kraft des Geistes

12Die Relativität der Vollkommenheit

SECHSTER TEIL

Dimensionen des Bewusstseins

1Logik und Symbol im multidimensionalen Weltbild

2Die Raumauffassung in Alt-Buddhistischer Kunst und Philosophie

3Raum und Zeit und das Problem der Willensfreiheit

4Das Mysterium der Zeit

5Das Problem von Vergangenheit und Zukunft

6Die zwei Aspekte der Wirklichkeit

Einführung von Dr. Peter Michel

LAMA ANAGARIKA GOVINDA

Ein Brückenbauer zwischen Ost und West

Wenn es zwei Werte gibt, die für den Westen im Dialog mit dem Osten »nicht verhandelbar« sind, so handelt es sich um Freiheit und Individualität. Wer die Rolle von Lama Anagārika Govinda als »Brückenbauer zwischen Ost und West« untersuchen will, muss man zwangsläufig sein Augenmerk auf diese beiden Aspekte richten.

Als Lama Govinda für sich die Entscheidung traf, den Buddhismus als geistige Heimat zu wählen, war es nicht zuletzt die Freiheitsidee, die dafür den Ausschlag gab. Buddha forderte von seinen Anhängern keinen Glauben, weder an sich noch an seine Lehre, sondern er rief sie zur Eigenverantwortung auf und zum Sammeln von Erfahrungen auf dem geistigen Pfad.

Buddhismus war für Lama Govinda eine Religion der Tat, des Handelns in Freiheit.

Klösterliche Zwänge oder zahllose Gelübde waren schon für den jungen »Anagārika«, den heimatlosen Mönch, weitgehend bedeutungslos. »Ich habe nie an den Wert derartiger Gelübde geglaubt – selbst der Buddha tat dies nicht. Er sagte zu denen, die ihm folgen wollten, einfach: ›Komm‹ – ohne die sterilen Fragen und Antworten eines Ordensgelübdes zu gebrauchen.« (1)

Dieser Maxime folgte Lama Govinda sein Leben lang. Er beschritt seinen eigenen Weg, und er dachte seine eigenen Gedanken. Diese geistige Unabhängigkeit prädestinierte ihn, wie kaum einen anderen Buddhisten des 20. Jahrhunderts, die Menschen des Westens für die Lehre des Buddha zu begeistern. Wer ihm zuhörte oder seine Bücher las, konnte sich der Faszination von tiefer Spiritualität bei gleichzeitiger vollständiger geistiger Freiheit nicht entziehen.

Es kann angesichts dieser Grundeinstellung von Lama Govinda nicht verwundern, dass auch sein Meister diesem Ideal entsprach. Er selbst berichtet vom Beginn seiner Beziehung mit Tomo Geshe, wie dieser ihm die Bedeutung eines Guru beschrieb. »Wenn du wünschest, dass ich dein Guru sein soll, so schaue nicht auf meine Person als Guru, denn jede menschliche Persönlichkeit hat ihre Begrenzungen, und solange wir damit beschäftigt sind, die Unvollkommenheiten anderer zu beobachten, berauben wir uns der Möglichkeit, von ihnen zu lernen.

Sei dessen eingedenk, dass jedes Wesen in sich den Funken der Buddhaschaft trägt, dass wir aber, solange wir unsere Aufmerksamkeit auf anderer Menschen Fehler richten, uns selbst des Lichtes berauben, das, wenn auch in verschiedener Stärke, von unseren Mitmenschen ausstrahlt oder durch sie hindurch scheint.« (2)

Der Guru wird in diesem Verständnis nicht zum alleinigen Türöffner zur Erleuchtung, nicht zur Conditio sine qua non zur Erlangung der Buddhaschaft. Der freiheitlich denkende Abendländer wäre außerstande, gewissermaßen seine Selbstbestimmung am Ashram-Tor abzugeben und sich bedingungslos einem Guru zu unterwerfen.

Interessanterweise definierte etwa zur gleichen Zeit der zweite große Brückenbauer zwischen Ost und West im 20. Jahrhundert, Sri Aurobindo, die Rolle des Guru auf ähnliche Weise: »Auch das soll das Kennzeichen für den Lehrer des integralen Yoga sein, dass er nicht für sich in einem menschlich eitlen und sein Ich hervorhebenden Sinn den Anspruch erhebt, ein Guru zu sein. Wenn er ein Werk zu leisten hat, ist es ihm von oben her anvertraut. Er selbst ist dessen Kanal, sein Träger oder Repräsentant. Er ist ein Mensch, der seinen Brüdern hilft; ein Kind, das Kinder anleitet; ein Licht, das andere Lichter anzündet; eine erwachte Seele, die andere Seelen erweckt; im besten Fall ist er eine Macht der Gegenwart Gottes, der andere Mächte Göttlichen Wesens zu ihm beruft.« (3)

Lama Govinda kannte diese Textstelle, und es dürften wenige Zweifel daran bestehen, dass er diese Gedanken Aurobindos teilte.

Der geistige Sucher des Westens konnte in vielerlei Hinsicht von der Verwirklichung der großen Meister des Ostens profitieren, aber er musste das auf seine je eigene Weise tun. Kaum jemand hat diese Grundvoraussetzung für den westöstlichen Dialog klarer erkannt als Lama Govinda, der nicht zuletzt deshalb das dritte Ziel des Ârya Maitreya Maṇḍala unter einen eindeutigen Vorbehalt stellte. »Methoden religiöser Übung zu entwickeln, unter besonderer Berücksichtigung der psychischen Gegebenheiten und Möglichkeiten des abendländischen Menschen.« (4)

Wer als Abendländer glaubte, das Anlegen einer Mönchsrobe würde ausreichen, um erfolgreich »die Seiten zu wechseln«, erlag einem verhängnisvollen Irrtum. Lama Govinda wusste nur zu gut, welche Achtsamkeit erforderlich war, um die buddhistische Lehre und Lebensweise in eine westlich geprägte Persönlichkeit zu integrieren.

Er selbst hatte einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass etwa der Dalai Lama heute im Westen eine so immense Popularität erlangen konnte. Es waren Brückenbauer wie Lama Govinda, die das rationale Element im Buddhismus in den Vordergrund rückten und die magisch-rituelle Seite, die gerade auch im Tibetischen Buddhismus eine nicht unerhebliche Rolle spielte, entscheidend zurückdrängten. Damit öffnete er, neben anderen Botschaftern des Buddhismus im Westen, die Türen gerade der gebildeten Schichten, die später offenstanden, um den charismatischen Botschafter des Buddhismus, den XIV. Dalai Lama, ohne Vorbehalte willkommen zu heißen. Es wird in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit weitgehend übersehen, welche bedeutende Rolle ein Mann wie Lama Govinda spielte, um dem Buddhismus im Westen den Weg zu bereiten.

Der zweite entscheidende Aspekt – neben dem Freiheitsgedanken – im Dialog zwischen Abendland und Buddhismus ist die Frage nach der Individualität.

Solange die Anâtman (Anattâ)-Lehre im Westen als Auflösungsdoktrin verstanden wurde, gemäß der sich im Zustand der Erleuchtung (Nirvâna) das Individuum in einer Art universalem Weltgeist auflöste, konnte der Buddhismus in breiteren Gesellschaftsschichten kaum Fuß fassen, ganz abgesehen von einem möglichen Dialog mit den monotheistischen Religionen. Es zählt zu den ganz großen Verdiensten von Lama Govinda, die beiden Pole Individualität und Universalität für den Buddhismus auf neue Weise verbunden zu haben.

In der Meditation konnte der Einzelne sich seiner Verwobenheit mit dem Universum wieder bewusst werden, ohne dabei den einen Aspekt seines Lebens zugunsten des anderen aufzugeben. »Einswerden bedeutet nicht, sich im anderen aufzulösen und Polarität, auf welcher das Wissen beruht, aufzuheben. Auch das Einswerden im Liebesakt hebt dieses Wissen um die Identität des Individuums nicht auf, wenngleich sie diese modifiziert und ihrer Absolutheit beraubt. Im Überwinden der ›absoluten‹ Zweiheit zugunsten einer Polarität, in welcher Einheit und Differenzierung in gleicher Weise gegenwärtig sind, werden die Liebenden im Akt der ›Einswerdung‹ in ihrer Individualität nicht vernichtet, sondern sie verlieren nur ihr Ichheitsgefühl. Individualität ist verschieden von der Illusion der Ichheit. Die Letztere resultiert in einer geistigen emotionellen Gleichgewichtsstörung und ist die Ursache von Leiden und Enttäuschung. In gleicher Weise wurde die Individualität des Buddha nicht im Vorgang der Erleuchtung oder im Erlebnis seiner Universalität zerstört. Er ›zerschmolz nicht in der Unendlichkeit‹, löste sich nicht im All auf, sondern führte vierzig weitere Jahre ein aktives Leben.« (5)

An späterer Stelle seines hier vorliegenden Meisterwerkes drückt er den gleichen Gedanken in leicht abgewandelter Form aus, vor allem unter dem Blickpunkt auf die Befreiung des Menschen. Freiheit muss unvollkommen sein, wenn sie sich nur auf die »Freiheit der Wahl« oder die »Freiheit der Entscheidung« beschränkt und nicht – oder vor allem – die »Freiheit des Geistes« mit berücksichtigt. »Individualität und Universalität sind nicht zwei gegenseitig sich ausschließende Werte, sondern zwei Seiten derselben Wirklichkeit, die sich gegenseitig ergänzen und vervollständigen und eins werden im Erlebnis der Erleuchtung. Dieses Erlebnis löst den Geist aber nicht in einem amorphen All auf, sondern bringt uns vielmehr zum Bewusstsein, dass das Individuum selbst die Ganzheit in seinem Kern in einem Punkt, wie in einem Brennpunkt, enthält. So wird die Welt, die bisher nur als eine äußere Wirklichkeit aufgefasst wurde, verschmolzen oder integriert im erleuchteten Geist in jenem Augenblick, in dem die Universalität des Bewusstseins realisiert wird. Dies ist der höchste Augenblick der Befreiung von den Hindernissen und Fesseln der Unwissenheit und der Illusion.« (6)

Es ist bedauerlich, wenn man sich die gegenwärtig wie Pilze aus dem Boden schießenden sogenannten »Satsang-Gruppierungen« oder die selbst ernannten ›Erleuchteten‹ eines »New Age-Advaita« anschaut, dass diese weit hinter jene geistige Arbeit zurückfallen, die etwa ein Sri Aurobindo oder Lama Govinda schon vor vielen Jahrzehnten geleistet haben.

Schon in den siebziger Jahren lehnte Lama Govinda die illusionären Ansprüche eines Neo-Advaita ab, der damals aber geradezu von hochkarätigen Repräsentanten vertreten wurde, verglichen mit dem, was sich heute auf Esoterik-Messen oder ähnlichen Veranstaltungen als ›Erwachte‹ feiern lässt.

»Die Idee, dass wir bereits vollkommen seien, weil ja das ganze Universum in uns stets gegenwärtig sei, und dass wir nur den bösen Intellekt zu unterdrücken hätten, damit unsere Vollkommenheit an das Tageslicht kommen könne, um sich dann in ihrer ganzen Fülle zu offenbaren: das ist einer der größten Irrtümer all derer, die Vollkommenheit nur in der undifferenzierten Einheit des absoluten Brahman sehen und die die Befreiung oder Wiederherstellung jenes ursprünglichen Zustandes absoluter Einheit durch Entwertung und Verneinung der Individualität und des individuellen Bewusstseins anstreben.

Wenn wir uns wirklich unserer innersten Natur anvertrauen wollen – und damit der Natur jenes Universums, aus dem wir hervorgingen, – dann können wir nicht gleichzeitig die Bedeutung und Sinnhaftigkeit unserer Individuation bezweifeln, da diese ja das Produkt eben jener angenommenen Ur-Einheit und Vollkommenheit ist.

Weder absolute Einheit noch absolute Differenzierung können ein sinnvolles, erstrebenswürdiges Ideal sein. Und so kann Vollkommenheit weder mit einem unpersönlichen Brahman gleichgesetzt werden noch mit dem begrenzten egozentrischen Bewusstsein einer getrennt existierenden Persönlichkeit. Vielmehr muss dieses Ideal in der Mitte der zwei Extreme gesucht werden: da, wo das Individuum zum lebendigen Brennpunkt eines universellen Bewusstseins wird.« (7)

Einswerdung oder Erleuchtung bedeutet für Govinda somit keinesfalls eine Selbstauflösung, sondern im Gegenteil das höchste Maß von Selbstfindung. Die Verwirklichung der »Buddha-Natur« ist daher die vollendete Synthese von Individualität und Universalität, und es bleibt, angesichts der nachstehenden Aussage des Dalai Lama, zu vermuten, dass sie keinesfalls eine statische Erfahrung darstellt.

»Selbst auf der Ebene der Buddhaschaft ist der Geist des Buddha, also in diesem Fall der Geist des Klaren Lichtes, ein geschaffenes, produkthaftes Phänomen. Das heißt, er ändert sich von Moment zu Moment. Die Objekte, die der Geist des Buddha erkennt, verändern sich. Tage, Wochen, Monate usw. existieren und vergehen. Mit den Objekten verändert sich auch der Geist des Buddha. Da sich die Objekte endlos verändern, verändert sich auch der Geist des Buddha endlos.« (8)

So wie der Geist eines Buddha sich verändert, so wandelt sich auch der west-östliche Dialog. Dieser hat dazu geführt, dass sich die einst eher klar definierten Grenzen der Religionen aufzulösen beginnen und im Individuum eine neue Synthese formen.

Die Menschheit befindet sich inzwischen auf dem Weg zur »Weltreligion«, die aber nicht eine irgendwo doktrinär oder dogmatisch vorgeformte Religiosität darstellt, sondern ganz im Gegenteil eine individuelle »Weltreligion des Herzens«. Diese wird möglich, weil inzwischen Brücken zwischen den verschiedenen spirituellen Überlieferungen bestehen, die jederzeit von jedermann in beide Richtungen beschritten werden können.

Einer der bedeutendsten Erbauer dieser Brücken war im 20. Jahrhundert zweifellos Lama Anagārika Govinda.

Im Vorwort des vorliegenden Buches hat er dies auf weitsichtige Weise angedeutet. »So hoffe ich denn, dass dieses Leben (in Govindas Vorwort steht hier natürlich das Wort »Buch«) ein Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten werden möge … Es möge Ansporn sein, der auch andere anregt, die Brücke in beide Richtungen zu überqueren. In keinem anderen Fall aber soll es irgendjemanden veranlassen, von der einen zur anderen Seite zu konvertieren. Es soll vielmehr andere ermutigen, die Forschungen, mit denen ich mich befasste, fortzusetzen – nicht um einer Endlösung willen, sondern allein aus der Freude, die jenem Gefühl und jener inneren Gewissheit entspringt, dass dem geistigen Entdeckungsdrang eines schöpferischen Lebens kein Ende gesetzt ist und der Akt des Fortschreitens seinen eigenen Lohn in sich trägt. Denn wie bei einer Pilgerreise gilt auch hier, dass das Gehen wichtig ist und nicht das Ankommen! Hier hat jeder Schritt seine ihm eigene Bedeutung – hat seinen eigenen Sinn, der uns mit Freude erfüllt. Doch besagt das nun nicht, dass wir weder Ziel noch Richtung haben sollen: Wenn unser Ziel ein der höchsten Wirklichkeit entsprechendes und erhabenes ist, dann ist seine Erfüllung jeder Schritt, der uns ihm näher bringt: Der Weg selbst wird zum Ziel!«(9)

Literatur:

(1) und (2) Lama Govinda, Der Weg der weißen Wolken. Ffm. 2004. S. 235 u. S. 66.

(3) Sri Aurobindo, Die Synthese des Yoga, Gladenbach, 1976, S. 77.

(4) Lama Govinda, Ursprung und Ziele des Ordens ârya Maitreya Mandala, Almora 1975, S. 3.

(5), (6), (7), (9) Lama Govinda, im hier vorliegenden Buch S. 69f., 80, 59f., 17

(8) Dalai Lama, Die Buddha-Natur, Grafing 1996, S. 36.

VORWORT

Die vorliegende Schrift ist kein Lehrbuch der Meditation, in dem Regeln oder technische Einzelheiten erklärt werden. Sie ist vielmehr die Frucht eines ein ganzes Leben füllenden Studierens und Übens von Kontemplation und Handeln im Geiste des Buddha-Dharma vor dem Hintergrund, der durch die Probleme des Ostens wie des Westens in unserer gegenwärtigen Zeit gegeben ist.

Ich war ein Bürger zweier Welten: Während meine frühe Jugend von den großen Traditionen westlicher Kultur genährt wurde, stützten und inspirierten mich dann die altehrwürdigen Traditionen des Ostens, in dem ich den größten Teil meines Lebens verbrachte.

So hoffe ich denn, dass dieses Buch ein Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten werden möge und nicht ein bloßes Handbuch bzw. eine Informationsquelle. Es möge ein Ansporn sein, der auch andere anregt, die Brücke in beiden Richtungen zu überqueren. In keinem Fall aber soll es irgendjemanden veranlassen, von der einen zur anderen Seite zu konvertieren. Es soll vielmehr andere ermutigen, die Forschungen, mit denen ich mich befasste, fortzusetzen – nicht um einer Endlösung willen, sondern allein aus der Freude, die jenem Gefühl und jener inneren Gewissheit entspringt, dass dem geistigen Entdeckungsdrang eines schöpferischen Lebens kein Ende gesetzt ist und der Akt des Fortschreitens seinen eigenen Lohn in sich trägt. Denn wie bei einer Pilgerreise gilt auch hier, dass das Gehen wichtig ist und nicht das Ankommen! Hier hat jeder Schritt seine ihm eigene Bedeutung – hat seinen eigenen Sinn, der uns mit Freude erfüllt. Doch besagt das nun nicht, dass wir weder Ziel noch Richtung haben sollen: Wenn unser Ziel ein der höchsten Wirklichkeit entsprechendes und erhabenes ist, dann ist seine Erfüllung jeder Schritt, der uns ihm näher bringt: Der Weg selbst wird zum Ziel!

Dieses aber führt uns die alles überragende Bedeutung des Weges vor Augen, und da es nichts gibt, was als einziger Weg bezeichnet werden kann, bedeutet das, dass jedes menschliche Wesen seinen eigenen Weg finden muss. Denn würde es versuchen, den Weg eines anderen nachzuahmen, so könnte es seiner eigenen Natur nicht treu bleiben. Dies ist eines der wichtigsten Dinge, die wir im Gedächtnis behalten müssen, wenn wir über Meditation sprechen. Ein weiser Lehrer ist darum nur der, der dem Schüler hilft, seinen eigenen Weg zu entdecken. Ein Guru, der seine eigene Persönlichkeit, seinen eigenen Weg und seine eigenen Ideen dem Schüler aufzuzwingen versucht, vergewaltigt damit die Natur des Schülers. Nur was wir selbst finden, gehört uns wahrhaft und hat seine nachhaltige Wirkung auf unseren Charakter. Alles, was wir nur übernehmen, aber nicht unmittelbar erlebt haben, wird nicht zu einem Bestandteil unseres Lebens. Daher legte der Buddha einen so großen Wert auf die eigene Erfahrung, auf der die Anerkennung und Bestätigung seiner Lehre beruhte – ganz im Gegensatz zu jenem blinden Glauben, den andere Religionsstifter oder Lehrer eines vergeistigten Lebens forderten.

Die wahre Aufgabe eines Guru ist nicht das Lehren eines erlernbaren Stoffes, sondern die Erweckung des Geistes. Er vermittelt jene Inspiration, die den Schüler befähigt, seinen Lebensweg zu finden. Inspiration aber ist die Quelle wahrer Begeisterung, die das Lernen zur Freude werden lässt. Dem Schüler bleibt es dann überlassen zu assimilieren, was seiner Natur und seinem Verständnis angemessen und seinem geistigen Wachstum förderlich ist. Auf diese Weise formt sich im Akte des Gehens der Weg von selber, wobei das Gehen in sich bereits Richtung und Ziel beinhaltet.

Kasar Devi Ashram

Kumaon Himalaya, im Oktober 1976

TRANSSKRIPTIONSMETHODE UND AUSSPRACHE INDISCHER WORTE

Vokale

aiuṛ (= ri) sind kurz zu sprechen.

āīūe ai o au sind lang.

KONSONANTEN

A. Die fünf Klassen

B. Die Nicht-Klassen-Konsonanten

Allgemeine Ausspracheregeln

Die Vokale werden im Allgemeinen gesprochen wie im Deutschen (das kurze a ist etwas dumpfer), doch ist der Unterschied zwischen kurzen und langen Vokalen stärker ausgeprägt. Die langen Vokale sind in indischen Sprachen die Haupttonträger. Die Betonung mehrsilbiger, kurzvokalischer Worte liegt im Sanskrit und im Pāli auf der drittletzten Silbe (z. B. máṇḍala; da dieses Wort sehr oft im Text vorkommt und praktisch in die deutsche Sprache übernommen wurde, schreiben wir es in der deutschen Form und behandeln es als Neutrum). Enthält die vorletzte Silbe eines Wortes einen langen Vokal oder einen kurzen mit darauf folgendem Doppelkonsonant, so trägt sie den Ton (z. B. Anángavájra, Mahāyāna). In Worten, in denen die erste und die dritte Silbe lange Vokale enthalten, ist die erste Silbe betont (z. B. védanā, śūnyatā). In aus zwei oder mehreren Worten zusammengesetzten Wortgebilden behält jedes der ursprünglichen Worte seine Betonung bei (z. B. Rátna-sámbhava, Bódhi-sáttva). Kurzvokalische zweisilbige Worte tragen den Ton auf der ersten Silbe (z. B. vájra, dhárma, mántra, im Gegensatz zu vidyā, mudrā). Mudrā oder Chakra gehören zu jenen Worten, die wir ihrer Häufigkeit wegen als eingedeutschte Worte behandelt haben.

Aussprache einzelner Buchstaben

In allen aspirierten Konsonanten wird das nachfolgende »h« deutlich hörbar gesprochen:

kh

wie in »Rückhalt«,

th

wie in »statthaft«,

ph

wie in »Schlappheit«,

c

entspricht dem deutschen »tsch«,

ch

daher wie »tsch-h« in »klatschhaft«,

gh

wie in »zaghaft«,

dh

wie in »bildhaft«,

bh

wie in »lebhaft«,

j

ist ein weich gesprochenes »dsch« wie im italienischen Namen »Giacomo«.

ñ =

nj wie in »Benjamin«.

Bei den zerebralen Konsonanten (ṭ, ṭh, ḍ, ḍh, ṇ) berührt die leicht zurückgezogene Zungenspitze den Gaumen.

ś

= palatales (scharfes) »sch«,

= cerebrales (weiches) »sch«,

s

= »ss« wie in »Straße«.

repräsentiert im Sanskrit einen tonlosen Aushauch (visarga), im Tibetischen ein nichtgesprochenes Schriftzeichen, das als Basis eines Vokals oder als Dehnungszeichen dient.

(nur im Sanskrit und Pāli) anusvāra genannt, nasaliert den vorhergehenden Vokal und wird als Auslaut entweder wie ein deutsches »ng« (wie in »Angel«) oder wie ein nachtönendes »m« (z. B. in OṀ) gesprochen.

entspricht dem deutschen »ng«. Da es ohnedies als solches ausgesprochen wird, kann der Punkt über dem »n« ausgelassen werden, ohne die Aussprache dadurch zu verändern. Im Tibetischen haben wir es vorgezogen, den n-Laut als »ng« wiederzugeben, weil sich herausgestellt hat, dass bei Zitaten der Punkt über dem »n« häufig ausgelassen wird, da in manchen Druckereien diakritische Zeichen nicht vorhanden sind, was zu Missverständnissen führen kann, da im Tibetischen das »n« einen ganz anderen Wortsinn vermittelt als das »ng«.

ERSTER TEIL

DIE GEISTIGE ENTFALTUNG DES BUDDHISMUS:
DER WEG VON SEINER FORMULIERUNG
ALS
LEHRE ZU SEINER MEDITATIVEN
VERWIRKLICHUNG

1

DER STROM LEBENDIGER TRADITION

Um die heiligen Schriften des Buddhismus zu verstehen, müssen wir bis zu einem gewissen Grad mit dem lebendigen Strom buddhistischer Tradition vertraut sein, der von den Tagen des Buddha bis in unsere Zeit ohne Unterbrechung auf uns gekommen ist, vergleichbar einem mächtigen Strom, der durch viele verschiedenartigste Klimate und Landschaften in immer wechselnden Formen und mit stetig wachsendem Inhalt fließt – und der dennoch immer derselbe Strom ist. Aber seine Gleichheit besteht nicht in der Identität seines Inhaltes beziehungsweise seiner materiellen Elemente oder seiner augenblicklichen Erscheinungsform, sondern vielmehr allein in der Kontinuität seiner Bewegung und seiner allgemeinen Richtung. Diese Gleichheit kann jedoch nur von denjenigen verstanden werden, die imstande sind, den Strom in seiner Ganzheit zu sehen, als ein organisches Ganzes in dauernder Bewegung – nicht aber als statische Einheit.

Doch gerade letztere wollen diejenigen, die den Buddhismus studieren, in den meisten Fällen sehen. Sie gleichen Menschen, die den Strom nur an einer bestimmten Stelle seines Laufes in einer bestimmten Landschaft sehen, oder aber jemandem, der eingehend einen Eimer des Flusswassers untersucht und dessen Inhalt analysiert. Sie verstehen nicht, dass der Buddhismus keine bloß intellektuell formulierte Lehre ist, die zu einem gewissen Zeitpunkt der menschlichen Geschichte verkündet wurde, sondern dass er vielmehr (im wahrsten Sinne des Wortes) eine Bewegung ist, welche – obwohl sie ihren Impuls von einer einzelnen, großen historischen Persönlichkeit erhielt – ihre tiefste Natur im Kontakt mit verschiedenen Bedingungen und Umständen des menschlichen Lebens auf immer neuen Ebenen des menschlichen Bewusstseins offenbarte.

Anstatt zu fragen: »Was lehrte der Buddha?« (eine Frage, die nie objektiv und mit Gewissheit beantwortet werden kann, da der Buddha keine schriftliche Formulierung seiner Lehre hinterließ, so dass sich jede Aussage in Allgemeinplätzen und Oberflächlichkeiten ergehen muss, durch die die Lehre auf eine Reihe von Aussprüchen, »Standardphrasen« und trockenen Prinzipien reduziert würde), würde es fruchtbarer sein zu fragen: »Was war es, das dem Buddhismus den lebendigen Anstoß gab, sein Wachstum und seine geistige Anziehungskraft durch zweieinhalb Jahrtausende bis auf den heutigen Tag aufrechtzuerhalten?« – In gleicher Weise ist es wichtig, die Bedingungen und Umstände in Betracht zu ziehen, unter denen der Buddha lehrte, und inwieweit diese Lehren von seinen Zeitgenossen und späteren Nachfolgern wiedergegeben oder modifiziert wurden.

Die Lehren des Buddha waren nicht nur für das sechste vorchristliche Jahrhundert gedacht – obwohl sie der Buddha in die Sprache seiner Zeit und seines Landes kleidete – sondern haben gemäß seiner eigenen Erklärung universelle Gültigkeit, jenseits von Kaste, Glauben oder Rasse, und sind im tiefsten Sinne Gesetze zeitloser Wirklichkeit. Doch diese Wirklichkeit muss von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von einer Zivilisation zur anderen wiederentdeckt werden, und jedes einzelne Individuum muss sie in sich selbst erleben und in der Tiefe seines eigenen Wesens verwirklichen.

Was der Buddha lehrte, bestand nicht nur in dem, was er sprach, sondern erhellt sich aus der Ganzheit dessen, was er war, aus der Ganzheit seiner Persönlichkeit und seines Lebens, die das tiefste Symbol seiner Botschaft an die gesamte menschliche Rasse war. So wurde der Buddhismus, der daraus hervorging, die stufenweise Entfaltung eines gewaltigen geistigen Anstoßes, der durch die Verwirklichung einer neuen Bewusstseinsdimension freigesetzt worden war, die weit über die Macht menschlicher Sprache und Ausdrucksfähigkeit hinausging und die doch durch eine Umkehr unserer inneren Einstellung angegangen werden kann, wenn wir uns von der Welt statischer Begriffe dem Erleben eines im Fluss befindlichen Universums ineinanderverwobener Kräfte und Lebensformen zuwenden, an dem jedes Individuum teilhat und das sich in der Tiefe des menschlichen Bewusstseins widerspiegelt.

Um sich dieser neuen Dimension anzunähern, müssen die alten Denkgewohnheiten, die auf unbegründeten Glaubenssätzen und Dogmen beruhen, überwunden werden. Aus diesem Grunde musste die Botschaft des Buddha in der überzeugendsten Weise und in logischer Sprache formuliert werden, damit sie einer menschlichen Gesellschaft zusagte, die gerade im Begriff war, aus dem Zeitalter der Magie und des mythologischen Denkens herauszutreten und in den Bereich des logischen Denkens vorzustoßen, welches auf der Anerkennung des Kausalitätsgesetzes und der wechselseitigen Verbundenheit aller natürlichen und psychischen Phänomene beruht. Doch erschöpft sich die Bedeutung der Lehre des Buddha nicht in dieser Formulierung auf intellektueller Ebene. Diese wirkte vielmehr in erster Linie als ein geistiger Anstoß und eine richtunggebende Kraft für eine Entfaltung all jener Eigenschaften, die der Buddha durch sein eigenes Leben und seine Verwirklichung der höchsten Erleuchtung demonstriert hatte. Aus diesem Samen erwuchs dann der mächtige Baum der buddhistischen Tradition, der sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende fortentwickelte. Dieses Wachstum aber vollzog sich in immer wechselnden neuen Ausdrucksformen – so verschieden voneinander wie der Baum von seinem Samen oder die Blüte von der Wurzel, wenngleich sie von gleichem Wesen sind und den gleichen Samen wieder hervorbringen, aus dem sie entsprangen, ungeachtet der Zeit und des Ortes.

So sind selbst die verhältnismäßig späten Schulen des Buddhismus, wie das Mahāyāna und Vajrayāna, trotz vieler Verschiedenheiten in Auffassung und Formulierung auf den Lehren der frühesten uns bekannten Tradition fest gegründet. Aber bereits der frühe Buddhismus war in viele verschiedene Schulen gespalten, von denen jede ihren eigenen Kanon heiliger Schriften besaß. Doch nur einer dieser Kanons ist uns vollständig bis auf unsere Tage erhalten geblieben, nämlich jener der Theravādins, die Lehren der »Ordensältesten«. Der Grund für das Überleben dieser Tradition war die Abgeschlossenheit Ceylons als Insel. Sie blieb daher von den geistigen und politischen Umwälzungen des indischen Festlandes und des übrigen asiatischen Kontinentes unberührt.

Bis in neuere Zeiten waren dem Westen hauptsächlich die Texte der Theravādins als älteste Zeugen des Buddhismus bekannt, so dass – selbst unter Gelehrten – die Meinung entstand, die Schriften dieser Schule seien die einzig authentischen Quellen des Buddhismus, da sie die tatsächlichen Worte des Buddha enthielten. Doch sollte man sich hier erinnern, dass bereits vier Jahrhunderte vergangen waren, bevor der Pāli-Kanon schriftlich fixiert wurde. Selbst wenn wir der indischen Gedächtnisfähigkeit vertrauen wollen, durch die die Worte großer Religionsstifter getreu von Guru zu Chela weitergegeben wurden, so sollte man dennoch nicht vergessen, dass Worte keine leblosen Objekte sind. Sie sind, wie alle lebendigen Dinge, dem Wechsel unterworfen und besitzen viele Bedeutungen und Assoziationen geistiger und emotionaler Art, die sich von Generation zu Generation ändern, so dass Menschen verschiedener Temperamente, verschiedener Herkunft und verschiedener Mentalität – ganz zu schweigen von Menschen verschiedener Jahrhunderte – den gleichen Worten eine ganz andere Bedeutung zuschreiben, entsprechend den gefühls- und verstandesmäßigen Assoziationen ihrer Zeit.

Dieses Phänomen zeigt sich schon in der Tatsache, dass zur Zeit der Fixierung des Theravāda-Kanons bereits achtzehn verschiedene Schulen bestanden. Kein gewissenhafter und unvoreingenommener Gelehrter kann an dieser Tatsache vorbeigehen. Darum müssen wir jeder der verschiedenen Schulen oder Traditionen die gleiche Glaubwürdigkeit zuerkennen, die wir den Theravādins zu geben gewillt sind. Jede der verschiedenen Schulen kann gleichermaßen den Anspruch erheben, einen wahrheitsgemäßen Aspekt der buddhistischen Lehre wiederzugeben und ehrlich bemüht zu sein, so umfassend wie möglich die Worte und Gedanken des Erleuchteten weiterzugeben. Nur auf diese Weise können wir ein vollständiges und wahrheitsgemäßes Bild des frühen Buddhismus bekommen und den ganzen Reichtum buddhistischer Kultur und ihre Verwirklichung im Leben verstehen. Solch ein vollständiges Bild aber wird nicht nur unser Wissen bereichern, sondern den Sinn und die Bedeutung jeder einzelnen Phase und Schule des Buddhismus vertiefen. Dieses Wissen ist ebenso notwendig für das Verständnis der Pāli-Texte der Theravādin oder anderer Hīnayāna-Schulen wie für die Schulen des Mahāyāna, die später zur Hauptströmung des Buddhismus wurden und diesen über ganz Südostasien bis in den Fernen Osten und nach Zentralasien verbreiteten.

2

DIE DHARMA-THEORIE

Erst durch die Erforschung der Dharma-Theorie in den Sarvāstivāda- und Mahāyāna-Texten wurde es möglich, die Lehren des Theravāda-Buddhismus in ihrer wahren Perspektive zu sehen und zu einem tieferen Verständnis ihrer philosophischen und metaphysischen Grundlagen zu kommen. Die einseitige Anschauung früherer Forscher, der Buddhismus sei eine bloße Vernunftlehre, ohne jeden metaphysischen Hintergrund – sozusagen in einem geistigen Vakuum schwebend –, machte aus der Lehre des Buddha einen kalten intellektuellen Rationalismus, der mehr Ähnlichkeit hatte mit den Ideen der »Aufklärung« des letzten Jahrhunderts (die mit dem Beginn der buddhistischen Forschung zusammenfielen) als mit einer religiösen Bewegung.

Die Worte eines von den Buddhisten aller Schulen wegen seiner Unparteilichkeit hoch geschätzten Forschers mögen dem oben Gesagten weiteres Gewicht verleihen. In seinem Beitrag »Zur Geschichte der buddhistischen Dharma-Theorie« sagt Glasenapp: »Der Umstand, dass man früher nichts von der Dharma-Theorie wusste, ist die Ursache davon, dass manche Forscher in den kanonischen Lehrreden eine metaphysische Grundlage vermissten und dann je nach ihrem Temperament Buddha als Agnostiker und reinen Ethiker charakterisierten oder aus seinem Schweigen über Gott, Seele und andere Vorstellungen, die der Dharma-Theorie widersprechen, eine mystische Geheimlehre über den ātman usw. zu konstruieren suchten.«1 Noch deutlicher spricht Glasenapp hierüber in einem anderen Artikel, in dem er den Begriff der »dhammas« erklärt, »durch deren gesetzmäßiges Zusammenspiel nach buddhistischer Anschauung jede (scheinbare) Persönlichkeit und die von ihr erlebte Welt zustande gebracht werden. Es ist dies ein Begriff, dessen fundamentale Bedeutung für die buddhistische Welterklärung und Heilslehre der abendländischen Wissenschaft erst in den letzten dreißig Jahren erschlossen worden ist. Da das Wort ›dhamma‹ (wörtlich ›das tragende Element‹) im Pāli schon verschiedene Bedeutungen (Weltgesetz, Recht, Pflicht, Eigenschaft, Objekt) hat, war man sich nicht darüber klar geworden, dass es im Pāli-Kanon außer in diesem vielfältigen Sinne auch als terminus technicus für die letzten, nicht mehr reduzierbaren Faktoren verwendet wird, aus denen sich alles, was wir empirisch innerhalb oder außerhalb von uns wahrzunehmen glauben, zusammensetzt. Da man diesen grundlegenden Begriff der buddhistischen Philosophie nicht in seiner wahren Bedeutung und vollen Tragweite verstanden hatte, konnte man wohl die Ethik und Heilslehre des Buddha würdigen, war sich aber nicht dessen bewusst geworden, dass der praktische Buddhismus als theoretische Grundlage eine in der Geistesgeschichte der Menschheit einzig dastehende ›Philosophie des Werdens‹ hat, die dadurch, dass sie alles, was ist, durch das gesetzmäßige Zusammenwirken von in funktioneller Abhängigkeit aufspringenden und wieder verschwindenden, kurzfristig existierenden Kräften erklärt, auf die Vorstellung von ewigen Substanzen (Materie, Seele, Gott) verzichten konnte, die in allen anderen religiösen Lehren die tragende Basis bildet.«2

Hier kommen wir zum Kern des Problems: Was den Buddha von seinen Zeitgenossen unterschied und ihn aus der Gesamtheit des geistigen Lebens Indiens heraushob, war seine Erkenntnis vom dynamischen Wesen der Wirklichkeit. Die »vier heiligen Wahrheiten« vom Leiden, seiner Ursache, seiner Überwindung und vom edlen achtfachen Pfad zur Erlösung, bilden den allgemein indischen Rahmen seiner Lehre, nicht aber das, was dem Buddhismus seinen spezifischen Charakter gibt. Wenn der Buddha die Anātman-Idee in den Mittelpunkt seiner Lehre stellte, so tat er hiermit den Schritt von einer statischen zu einer dynamischen Weltanschauung, von einer Betonung des »Seins« zu einer Betonung des »Werdens«, vom Begriff eines beharrenden »Ich« zur Erkenntnis der gegenseitigen Bezogenheit und bedingten Entstehung aller Lebenserscheinungen und der Fähigkeit des Individuums, über sich selbst (d. h. seine selbst geschaffenen Begrenzungen) hinauszuwachsen. So wurde der unversöhnliche Gegensatz zwischen »Ich« und »Welt«, »Geist« und »Materie«, »Substanz« und »Erscheinung«, »Ewigem« und »Vergänglichem« und dergleichen aufgehoben.

Die Lehre des Buddha ist die Antithesis des Substanzbegriffes, der durch Jahrtausende das menschliche Denken beherrschte. So wie die Einsteinsche Relativitätstheorie das gesamte Denken unserer Zeit beeinflusste und veränderte, so verursachte die Anātman-Idee des Buddha eine Umwälzung im indischen Denken. Es handelte sich hier weniger um eine Ablehnung der religiösen Prinzipien der Vergangenheit oder um eine Skepsis gegenüber dem Glauben an metaphysische Werte, als um eine Neuwertung dieser Ideen im Lichte der Erfahrung und eines neuen geistigen Blickpunktes. Der Buddha zweifelte nicht an der Kontinuität des Lebens über den Tod hinaus, noch an dem Bestehen und der Erreichbarkeit höherer Daseinsformen und ihrem Einfluss auf menschliche Verhältnisse. Er zweifelte nicht an einer moralischen Gesetzmäßigkeit, noch an einer ewigen Weltordnung; und die Welt, in der er lebte, war für ihn kein bloß materielles Phänomen, sondern eine Manifestation lebendiger, bewusster Kräfte. Es war eine durch und durch beseelte Welt, wie sie dem Menschen der heutigen Zeit schwer vorstellbar ist, was sich nur zu deutlich in der »seelenlosen« – und geistlosen – Interpretation der Buddha-Lehre durch moderne Buddhisten zeigt, die die Anātman-Idee mit »Seelenlosigkeit« verwechseln, ein Ausdruck, der einen gänzlich falschen Eindruck vermittelt. Wie können wir von einer buddhistischen Psychologie sprechen, ohne eine »Psyche« vorauszusetzen? Der Buddha lehnte die Idee eines ewig beharrenden, unveränderlichen Seelensubstrats oder einer Seelensubstanz ab, nicht aber jene organische Ganzheit lebendiger, wachsender, wirkender, in zielbewusster Bewegung befindlicher geistiger oder seelischer Kräfte, in denen Bewusstes und Unterbewusstes, Emotionelles und Intellektuelles, Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenfließen. Der Mensch ist nicht ein bloßer Mechanismus blind zusammengewürfelter Kräfte, die nach mechanischer Gesetzmäßigkeit abrollen, sondern ein bewusster, eigengesetzlicher Organismus, in dem Individuelles und Universelles ständig zusammenwirken. »Es scheint, als ob Materie und Psyche nur die äußeren und inneren Erscheinungsformen derselben, das Bewusstsein übersteigenden Wirklichkeit seien, denn die letzten Bestandteile der Materie stellen sich unserem Bewusstsein in ähnlichen Formstrukturen dar, wie der Urgrund unseres innersten Wesens, unserem universellen Tiefenbewusstsein, das in Jungs Terminologie als das ›kollektive Unbewusste‹ (ein ziemlich unglücklicher Ausdruck) dargestellt wird.«3

»Die Chinesen unterscheiden einen körperlichen und psychischen Aspekt des Menschen, welche sich beide beim Tode in die beseelte Allsubstanz zerstreuen, als Drittes aber bleibt noch etwas Psychisches zurück, welches bewusstseinsfähig ist, gewissermaßen eine Bewusstseinstendenz, welche aber im Laufe des Lebens konzentriert werden muss, wenn sie den Tod überdauern soll. Diese Bewusstseinstendenz muss im Laufe des Lebens einen ›subtile body‹ um sich bauen, einen Leib geistiger Art, der ihr nun (im Tode) einen Rückhalt gibt, wenn sie sich von dem Körper, der bisher ihr Gehilfe war, loslösen muss, weil sie keine Herberge mehr findet. Dieses Psychische ist zunächst noch etwas sehr Zartes, und nur bei höchsten Weisen hat es in sich selbst einen Halt über den Tod hinaus.4

Unsterblichkeit ist also in diesem Sinne nicht eine naturgegebene Eigenschaft des Individuums, sondern muss erworben werden, ein Gedanke, der bereits im Bardo Thödol (dem sogenannten „Tibetischen Totenbuch“) ausgesprochen ist, wo es heißt, dass die Lehren des Bardo Thödol nur demjenigen nutzen und zur Befreiung führen, der sie im Leben verwirklicht und in meditativer Schauung sich zu Eigen gemacht hat – d. h. nicht nur intellektuell erkannt oder rein gefühlsmäßig diese Lehren akzeptiert hat –, sondern wer in seinem tiefsten Wesen von ihnen durchdrungen ist und imstande war, eben jenen »unsterblichen Leib« in sich zu erschaffen, der auch der diamantene Körper Vajrasattvas genannt und auf dem direkten oder inneren Pfad der Meditation gewonnen wird. Denn die Meditation ist es, die den Menschen verwandelt und neu gestaltet und ihn in einem neuen Leib auferstehen lässt, nicht nur nach dem Tode, sondern bereits in diesem Leben. Darin liegt die Bedeutung des Bardo Thödol. Wer aber dieses Buch nur als magisches Befreiungsmittel betrachtet, das den Menschen erlöst, falls es in der Sterbestunde oder gar nach seinem Tode verlesen wird, hat damit den Sinn dieses Buches verfehlt und seine Weisheit zum Aberglauben erniedrigt. Es ist nicht eine Totenmesse, sondern ein Führer durchs Leben und demonstriert die Macht der Meditation, eben jenen Geistesleib zu schaffen, der den Tod überwindet, indem er ihn akzeptiert und vorwegnimmt, denn in jeder tiefen Meditation – wie in den Mysterien der Antike – gehen wir durch den Tod zu neuem Leben, so wie das Samenkorn, das sterben muss, um zu neuem Leben zu erwachen. »Das Ew’ge regt sich fort in Allem: denn alles muss im Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will.« (Goethe)

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DIE LEHRE VON DER NICHT-SUBSTANZIALITÄT

Der Buddha entdinglichte die Welt, indem er einem im Dogma verhärteten Ātmavāda – der aus dem ursprünglichen Erlebnis der inneren Wirklichkeit des lebendigen Atems zum Exponenten einer unveränderlichen individuellen Selbstheit erstarrt war – die Idee des Anātmavāda entgegenstellte, die Idee der Nicht-Ichheit, der Nicht-Substanzialität. Der beharrenden, keiner Entwicklung, keines Wachstums fähigen Seelenmonade stellte der Buddha das von Freiheitsdrang beseelte, nach Vollendung und höchster Erleuchtung strebende, ständig werdende und entwerdende Wesen des menschlichen Bewusstseins entgegen.

Im Werden und Entwerden liegt nicht nur die Quelle des Leidens und der Vergänglichkeit, sondern auch die Quelle alles geistigen Lebens und Wachstums. Wenn der Buddha von der Unzulänglichkeit sprach, die er mit dem Wort »dukkha« bezeichnete, so war dies nicht Ausfluss einer negativen Haltung oder eines fruchtlosen Weltschmerzes, sondern Ausdruck der Erkenntnis, dass, solange Wesen und Ursachen unseres Leidens nicht erkannt werden, wir auch keinen Gebrauch von jenen unerschöpflichen Möglichkeiten unseres Geistes machen können. Ein solches Erkennen ist aber nicht durch gedankliche Schlussfolgerungen zu gewinnen, sondern beruhte auf des Buddhas eigener Erfahrung, auf dem Erlebnis der Erleuchtung (sambodhi), der Überwindung individueller Bewusstseinsschranken durch Aufhebung der Ich-Illusion.

Von diesem Erlebnis höchster Wirklichkeit und Selbstverwirklichung zurückkehrend und zurückblickend, sah der Erleuchtete die Welt in der (vom Standpunkt des gewöhnlichen Menschen) umgekehrten Perspektive, in der Perspektive der Anātman-Idee; und siehe da, diese scheinbar so substanzielle, fest gefügte, unentrinnbare Welt verflüchtigte sich in die wirbelnden Nebelmassen ewig kreisender, in jedem Augenblick werdender und entwerdender Daseinselemente (dharmas). Die Momentanheit dieser Daseinselemente, aus denen sich der Strom des Geschehens zusammensetzt, macht eine Anwendung von Begriffen wie »Sein« und »Nichtsein« unmöglich.

»Die Welt, o Kaccāna, ist dem Dualismus hingegeben, dem ›Es ist‹ und dem ›Es ist nicht‹. Wer jedoch, o Kaccāna, der Wirklichkeit gemäß (yathabhūtam sammappaññāya) erkennt, wie die Dinge in der Welt entstehen, für den gibt es kein ›Es ist nicht‹ in dieser Welt. Und derjenige, o Kaccāna, der der Wirklichkeit gemäß in Weisheit erkennt, wie die Dinge dieser Welt vergehen, für den gibt es kein ›Es ist‹ in dieser Welt.« (Samyutta-Nikāya II, 17)

Die Postulierung des Seins oder Nichtseins kann nur auf »an sich« bestehende Dinge oder Substanzen, d. h. auf absolute Einheiten, wie sie uns in abstrakten Begriffen vorgetäuscht werden, angewandt werden, nicht aber auf Wirkliches, Wirkendes, dem auf einer unendlichen Vielfalt von Beziehungen Beruhenden. Kein Ding oder Wesen besteht »an sich« oder »für sich«, sondern nur in Beziehung zu allen anderen Dingen, Erscheinungs- und Lebensformen, zu den bewussten und unbewussten Kräften des Universums. Begriffe wie »Identität« und »Nichtidentität« verlieren darum ihre Bedeutung. Und deshalb konnte der weise Nagasena dem König Milinda auf seine Frage nach der Identität des Tuenden und des die Früchte seines Tuns Erntenden (sei es in diesem oder in einem folgenden Leben) antworten: »na ca so na ca añño«, »er ist weder derselbe, noch ein anderer«.

Der Buddha setzt also an Stelle der Identität oder ihrer Negierung – was beides Denkextreme sind, die der »mittlere Weg«, den er lehrt, ebenso vermeidet wie die Extreme der Lebensführung (Askese und Ausschweifung) – das abhängige Entstehen (pratītyasamutpāda). Dies war weit mehr als die Proklamation eines naturwissenschaftlichen Kausalgesetzes, wie oberflächliche Beobachter zur Bestätigung ihres eigenen seelenlos-mechanistischen Weltbildes behaupten. Eine solche Kausalität setzt eine rein zeitliche und unabänderbare Aufeinanderfolge voraus, einen zwangsmäßigen, notwendigen und vorhersehbaren Ablauf. Der pratītyasamutpāda erschöpft sich jedoch nicht in zeitlicher Aufeinanderfolge, sondern kann ebenso als gleichzeitiges Zusammenwirken aller seiner Glieder aufgefasst werden, indem jedes von ihnen sozusagen die Quersumme aller Übrigen darstellt.

Mit anderen Worten: Unter dem Gesichtspunkt der Zeit und des individuellen Lebensablaufs, d. h. vom weltlichen (relativen), nicht aber vom supramundanen Gesichtspunkt höchster Wahrheitserkenntnis (paramārtha) kann die Formel des abhängigen Entstehens als eine kausal interpretierbare Formel aufgefasst werden. Dies jedoch ist mehr eine Konzession an das populäre Verständnisvermögen, das eines konkreten, auf das menschliche Leben bezogenen Beispieles bedarf, als eine streng logische oder wissenschaftliche Formel. Daher finden wir selbst in den Pāli-Texten die Formel nicht einheitlich dargestellt, sondern öfters unter Auslassung mehrerer Glieder und unter Hinweis auf die Umkehrbarkeit in der Reihenfolge gewisser Glieder. Dies beweist nicht einen Mangel an logischem Denken, wie frühere Beurteiler glaubten, sondern nur, dass die Urheber dieser Formulierungen etwas ganz anderes demonstrieren wollten als nur eine zeitliche, mit mechanischer Notwendigkeit eintretende Aufeinanderfolge von Phänomenen. Worauf es ihnen ankam, war, die Nicht-Substanzialität und Relativität aller individuellen Erscheinungsformen zu demonstrieren. Keine von ihnen existiert ihrer eigenen Natur zufolge, unabhängig von allen Übrigen. Deshalb werden sie als »leer« (śūnyaṃ) bezeichnet – leer aller Eigennatur, nicht-absolut. Da aber kein erster Anfang irgendeines »Individuums« oder irgendeiner individuellen Erscheinungsform innerer oder äußerer Art gefunden werden kann, so liegt jeder derselben die Gesamtheit des Universums zugrunde oder, wenn wir es vom Standpunkt der Zeit ausdrücken wollen: Jeder dieser Erscheinungsformen liegt eine unendliche Vergangenheit zugrunde und somit eine Unendlichkeit von Beziehungen, die nichts, das je in Erscheinung trat oder treten wird, ausschließt.

Alles Individuelle hat somit das Universelle zur Grundlage, und das Universelle spiegelt sich im Individuellen bewusst und wird in ihm – falls dieses Bewusstsein zur völligen Reife, zur Vollendung kommt – verwirklicht. Śūnyatā, der Zentralbegriff des Prajñā-paramitā-sūtra, ist also nicht, wie oft behauptet wurde, der Ausdruck einer nihilistischen Weltanschauung, die jegliche Wirklichkeit leugnet, sondern die logische Konsequenz der Anātman-Lehre, der Lehre von der Nicht-Substanzialität, die von den Sarvāstivādins, welche die absolute Realität der einzelnen Dharmas behaupteten, in Frage gestellt worden war. Śūnyatā ist das Leersein von allen begrifflichen Bestimmungen, die Anerkennung einer höheren, unaussprechbaren, undefinierbaren Realität, die nur im Zustand völliger Erleuchtung erlebt werden kann.

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