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A. T. Fischer

Diesseits der
Blüemlisalp

Ein Roman zur Freiheit

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Impressum

© 2016 Münster Verlag Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlagbild:

Albert T. Fischer, Seiltanz, auch Gratwanderung

 

Plastik Peter Clavadetscher, Davos

Umschlaggestaltung:

Christoph Krokauer, Würzburg

Lektorat:

Christine Krokauer, Würzburg

Gestaltung und Satz:

Christoph Krokauer, Würzburg

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Jenson Pro

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei;

 

Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-905896-60-2
eISBN 978-3-907301-02-9

Printed in Germany

Widmung

Allen Menschen,

die in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft aus rassistischen, religiösen, ideologischen oder politischen Gründen in ihrer Freiheit eingeschränkt, ihrer Würde beraubt, verfolgt, misshandelt oder gar umgebracht wurden und werden,

die sich für Schutz und Hilfe von Unterdrückten, Verfolgten und Vertriebenen einsetzen und sich jeder Art von Fanatismus und Intoleranz widersetzen.

Herzlichen Dank

Rita für Deine Geduld während der endlosen Schreibstunden, Armin für die aufmerksame Begleitung meiner Arbeit und Beatrice für die Einblicke in den Alltag von Berggängern

Inhalt

Reto

Die Entdeckung der Freiheit

Ankunft in der Wirklichkeit

Die Leichtigkeit des Seins

Im Dickicht von Trieb und Trott

Leonie

Stille Tage

Erinnerungen

Karin

Frank

Karins Aufbruch

Krisen

Der Merger

Durchgestanden

Das Meeting

Ein ganzes Jahr

Elsa

Pietros Nachlass

Ferientage

Karins zweite Schwangerschaft

Ahmed und die libysche Revolution

Nicht leben ist besser als sterben

Das Ende der Heuchelei

Wiesenblumen

Pfingsten 2013

Sandro und Rahel

Tobias

Die Blüemlisalp

Personenregister

Starker Tobak, die Trilogie

Reto

Die Entdeckung der Freiheit

Die Verhandlung war auf Freitag, 2. Mai um 11 Uhr angesetzt und dauerte eine gute halbe Stunde. Dann war er von Martha geschieden. Er lud sie zum Essen ein, sie wollte nicht. Es würde ihr nicht gut tun. Sie tranken im Cecile einen trockenen Martini. Das hatten sie früher oft gemacht. In den letzten Jahren nur selten und seit sie getrennt lebten, gar nicht mehr. Sie lebten bis zur Trennung nicht wirklich im Streit. Zuvor machte sie ihm Vorwürfe, er sei nie da, kümmere sich nicht um die Kinder, für sie sei er inzwischen ein Fremder geworden, ihr gegenüber abweisend, kalt, kenne nur noch seine Arbeit, da gäbe es kein gemeinsames Leben mehr …

Vor Gericht war das alles kein Thema. Die Vereinbarungen waren durch die Anwälte ausgehandelt, das Gericht befand sie als korrekt, die Alimente, Pflichten und Rechte waren definiert, die Güter getrennt und die geschiedenen Parteien – Martha Matter und Reto Vinci – bestätigten ihr Einverständnis.

Kälte hielten sie sich gegenseitig vor und Zerrüttung ihrer Beziehung war der offizielle Scheidungsgrund.

Seit Monaten hatte er mit wechselnden Gefühlen diesem Tag entgegengelebt. Jetzt war er da. Sie versprachen sich beim Auseinandergehen, alles zu tun, um die Trennung für die Kinder so erträglich wie möglich zu machen. Martha allerdings meinte, die Kinder würden sich nicht viel daraus machen. Erstens wäre er für sie kaum je da oder gar wichtig gewesen, und zweitens hätte er die Familie schon vor beinahe einem Jahr verlassen, so seien die Kinder gewohnt, ohne ihn zu leben. Sie fuhr zurück in ihr grosses Haus in Erzbach, er schlenderte zu Fuss seiner Stadtwohnung entgegen.

Hin und wieder hatten sie sich sehr wohl gestritten, meistens um Kleinigkeiten, und doch war er jetzt im Nachhinein überrascht, wie gelassen Martha die Scheidung nahm. Sie kämpfte einfach verbissen um Besitzstand und Unterhalt. Sie streite nur für die gemeinsamen Kinder, machte sie geltend. Es gab von ihrer Seite, ausser den bereits geschilderten, keine der sonst üblichen Vorwürfe, nicht durch ihren Anwalt, nicht durch die Kinder und kaum je direkt. Das war so, seit er sie und die Kinder verlassen hatte, im Gegensatz zur Zeit davor.

Er hatte sich in den letzten Monaten daran gewöhnt, allein zu leben. Das war nicht einfach und nicht billig. Er verdiente gut, aber entsprechend wurden die Alimente angesetzt. Seine Arbeit liess ihm zeitlich kaum Spielraum. Zwar machte er sich am Morgen den Kaffee selbst, nahm sich, wenn er den Einkauf nicht vergessen hatte, Brot, etwas Käse oder Wurst. Zum Mittagessen liess ihm seine Assistentin Leonie eine Pizza aus einer Bäckerei oder ein Take-Away-Menü aus der Metzgerei bringen. Dazu trank er Wasser, nie Alkohol. Er machte ihn zu müde. Je nach Verpflegung am Mittag und Vorrat im Kühlschrank (der war meistens leer) holte er sich am Abend ein paar Früchte, allenfalls Tomaten, Milch und Brot beim Grossverteiler.

Für heute hatte er sich bei Leonie abgemeldet. Bis Montag werde er nicht erreichbar sein. An den Wochenenden ging er ins Restaurant zum Essen, in der Stadt oder der näheren Umgebung. Wenn die Kinder kamen, und das war an jedem zweiten Wochenende, kochte er für sie und sich selbst.

Karin war jetzt elf, Stella 13 und Sandro 15 Jahre alt. Martha setzte auch für sich selbst erhebliche Beiträge für die nächsten sechs Jahre durch. Er konnte zwar sein Gehalt selbst bestimmen, doch das hatte seine Grenzen. Der Betrieb war im Augenblick ausgelastet und das wussten Anwälte und Richter auch, also setzten sie die Alimente entsprechend an. Geld für grosse Sprünge würde ihm nicht bleiben, aber immerhin war jetzt alles klar. Er würde sich nach der Decke strecken. Das war der Preis der Freiheit. Freiheit war das, wonach er sich sehnte, worauf er sich für die Zukunft freute.

Freiheit, er wollte sie feiern, in seiner Wohnung, mit Spaghetti, Hackfleisch an scharfer Sauce, Rotwein und Kaffee. Vom Wein trank er sich müde, legte sich hin und dachte, das ist Freiheit, Spaghetti an Sauce, ein Glas Chianti, ein Espresso und danach eine gute Liege. Er wusste, das war Unsinn, er war nie frei, war ständig eingespannt von seiner Arbeit, seinen Kunden, seinen Leuten, den Behörden, vom Steueramt. Wenigstens hatte er Leonie, die fleissig war wie eine Ameise, rothaarig, sommersprossig. Ihr konnte er den Laden (so nannte er hin und wieder sein Büro) ab und zu für ein paar Stunden überlassen. Es war nicht, wie viele glaubten. Er hatte nichts mit ihr und vermutlich wollte sie auch nichts von ihm. Vielleicht war sie lesbisch. Sie ging immer mit einer Freundin oder allein in ihre meistens kurzen Urlaube.

Schon einmal hatte er von Freiheit geträumt, gegen Ende seiner Zeit im klösterlichen Internat. Er wusste nicht, wie diese Freiheit aussehen würde, er wollte nur raus aus diesem Korsett, dieser engen Welt, in der es für alles und jedes feste Regeln gab.

Damals träumte er vom Recht auf Glück, auf freie Entfaltung. Aber hatte er damals diese Freiheit wirklich gefunden und auch genutzt? Ja, für einige Wochen, Monate, vielleicht ein Jahr. Dann hatte er sich auf Martha eingelassen. Jetzt, im Nachhinein, erlebte er die Erinnerung an Martha als Ende der Freiheit. Er hatte sich von ihr blenden, manipulieren, verführen lassen. In Wirklichkeit blieb er auch Gefangener seiner Kirche. Obwohl er nach der Matur den Klostermauern entfloh, wurde er nicht frei von ihrer verklemmten Moral, ihren Prägungen, von den Mechanismen der Bevormundung. Die Kirche war Martha. Martha war eine verklemmte Maria Magdalena, ein keusches Luder. Einen solchen Vergleich würde niemand verstehen, fiel ihm ein. Er würde darüber nachdenken, nahm er sich vor.

Am Abend ging er ins Kino und sah Umberto Ecos «Name der Rose». Dabei fiel ihm ein, er lebe seit Jahren wie ein Mönch, zwar am Tag nie allein, aber einsam. Er lebte neben Martha wie ein Mönch, dem ab und zu ein Weib eine kleine Freude macht, vielleicht gegen ein kleines, unverdächtiges Geschenk.

Er hatte unzählige Kolleginnen und Kollegen aus allen Schichten auch in der Firma unter den Mitarbeitenden, doch kaum wirkliche Freunde und schon gar keine Freundin. Er fand Ecos geheimnisvolle Gruselgeschichte gut gemacht. Sie führte ihm vor Augen, wie pervers eine abergläubische und besessene Männerwelt ausarten konnte. Ihn überraschten die Gefühle, welche die drastischen, blutgetränkten Bilder in ihm auslösten. Eigentlich wollte er, als es erschien, das Buch lesen, doch fand er die Zeit dazu nicht. Er kam kaum zum Lesen und wenn, war er zu müde. Er war immer müde. So war es durch alle vergangenen Jahre gewesen. Er fand nie Zeit, um irgendeiner Liebhaberei nachzuhängen. Während der ganzen Dauer seiner Ehe mit Martha und auch jetzt in den Monaten der Trennung hatte seine Arbeit erste Priorität. Er sah auch für die Zukunft keine Möglichkeit, dies zu ändern.

Sein Kloster war die Firma. Wenn’s wichtig war, trug er Anzug und Krawatte, das war dann seine Kutte. Allerdings gab es Morde in seinem Umfeld bisher nicht zu beklagen.

In der Nacht träumte er von einer Schlachtplatte. Er erwachte und fand den Traum eklig. Er erinnerte ihn an seine Kindheit, seine Ferien bei Onkel Urs, dem Bruder seiner Mutter, auf dem Bauernhof an den Tag, an dem der Störmetzger kam, um das quietschende Schwein zu schlachten. Der Tod der Sau hatte ihn damals verstört. Er erholte sich nur nach und nach. Am Abend jedoch, als Leberwurst auf den Tisch kam, ass er mit. So schnell konnte er sich damals an das undenkbare Ende einer Kreatur gewöhnen. War das auch so beim Tod von Menschen?

Der Tod war Teil des Lebens. So konnte er jetzt denken. Aber Tod durch Gewalt, das war anders. Sein Vater hatte ihm davon erzählt, von Mussolinis Kriegen in Abessinien, in dem seine zwei Brüder ums Leben kamen und vor dem er in die Schweiz flüchtete, wofür er von seinen Verwandten in Italien als Feigling verachtet und ausgeschlossen wurde. Es galt als Ehre, sich erschiessen zu lassen. Retos Vater sah diesen Krieg als Verbrechen und Mussolini als Massenmörder, lächerlichen Popanz, der sein Land in den Ruin treiben werde.

Hier in der Schweiz gab es kaum Gewalt. Dieses Land sei eine Insel des Friedens, hatte Mario immer wieder gesagt und Reto sah dies nicht anders. Zwar gab es auch hier Tote durch Gewehre. Ein Nachbar seines Onkels hatte sich unter einem blühenden Apfelbaum eine Kugel durch den Kopf geschossen. Reto hatte den Schuss gehört, den Toten gesehen. Gerade jetzt, wo er sich daran erinnerte, blühten wieder die Apfelbäume. Der Mann hätte sich aus Liebeskummer erschossen sagte der Onkel. Was war das wohl, Liebeskummer, dachte er damals. Onkel Urs war vor kurzem gestorben, schon mit 70. Viktor, sein jüngster Sohn, Retos Cousin, übernahm den Hof, vor fünf Jahren schon.

Wirklichen Liebeskummer haben viele Menschen erst während der Ehe, fiel ihm ein. Das ist zynisch, Reto sagte es sich selbst halblaut …

Reto war jetzt 42, seine Eltern waren inzwischen gestorben. Ihren Tod hatte er nicht gesehen, er löste keine grossen Gefühle aus. Sie lebten in Italien seit Ende 1974. In Folge der Ölkrise musste sein Vater beinahe Konkurs anmelden. Er hatte sich unverzeihlich übernommen, glaubte felsenfest an ewige Konjunktur. Plötzlich war der grosse Eisen- und Stahlgiesser in der Klus ins Schleudern gekommen, musste rabiat auf die Bremse stehen, implodierte geradezu, nur Splitter blieben übrig, die bisher grossen Aufträge mit Tonnen von Beton blieben aus.

Der Padrone hätte seine Muratori nach Hause schicken sollen, subito. Das brachte er nicht über sich, seine wichtigste Kreditbank würgte den 60-Jährigen. Da nahm er im letzten Augenblick seinen Sohn in die Pflicht und der machte Tabula rasa. So wurde das Geschäft gerettet – und für Vater Mario Vinci auch ein wenig Privatvermögen. Damit zog er mit seiner Frau nach Cattolica und übernahm die Pacht einer kleinen Pension. Viel Arbeit für seine Klara, und Mario ging fischen.

Sohn Reto musste mit Frau und Kindern auch umziehen, das Mehrfamilienhaus, in dem sie gewohnt hatten, ging an die Genossenschaft, der Mario Vinci Geld schuldete. Reto zog mit der Familie ins Haus von Marthas Eltern.

Retos Vater starb 1984, mit 70 in Italien, an Lungenkrebs, war es der Staub der Baustellen, der Asbest seiner frühen Jugend oder der Rauch der vielen Toscani aus schwarzem Tabak, die er beinahe ausnahmslos zwischen den Zähnen trug? Niemand wollte es wissen.

Klara Matter, seine Mutter, bat ihn, ihr zu helfen, sie fühle sich überfordert, wolle die Pension verkaufen, Italien verlassen, in die Schweiz zurückzukehren. Sie war nicht dort zur Welt gekommen, nicht dort aufgewachsen, sie war ihrem Mann gefolgt, hatte auch zuvor alles mit ihm durchgestanden, weil es sich so gehörte, weil sie es, nach ihren Worten, ihrem Mann schuldete. Als Reto bei ihr eintraf, war sie gestorben, an Kummer, behaupteten die Nachbarn. Der Dottore sprach von Battito del Cuore. Vielleicht war beides wahr.

Jetzt am Samstag kaufte sich Reto auf dem Markt blauen und weissen Rittersporn für die hohe Vase, die er nach dem Begräbnis seiner Mutter aus Italien zurückgebracht hatte. Da war nicht viel übriggeblieben. Die Pension war gepachtet und er konnte froh sein, nicht noch draufzahlen zu müssen. Er hatte den gläsernen Zylinder mit in seine Wohnung genommen, weil Martha ihn nicht wollte. Jetzt kaufte er jeden Samstag Blumen auf dem Markt. Im Vormonat waren es die ersten Forsythien und später würden es Gladiolen, Dahlien und andere sein, hatte er vor.

Am Sonntag fuhr er zum See. Es war Mai, das Strandbad offen, doch ihm war das Wasser noch zu kalt. Er wanderte stundenlang dem Ufer entlang, sah den Frühling und lebte im Gefühl, alles werde gut.

Am Montag würde er wieder arbeiten. Beinahe jeden Tag besuchte er jede grössere Baustelle, versuchte, Mängel aufzudecken und Fehlern vorzubeugen. Die Arbeit am Bau hatte sich in den letzten zwölf Jahren, seit er die Baufirma Vinci führte, enorm verändert. Viel Mauerwerk wurde nun in Beton gegossen oder als Fertigelement eingesetzt und der Beton selbst kam gemischt in drehenden Tonnen angekarrt. Alles Mögliche war motorisiert, niemand musste mehr Mörtel in einer Tanse hochschleppen. Die Leute bekamen ihre Berufskleider, Schutzhelme, Arbeits- und Handschuhe, Ohrhauben gegen Lärm, Masken gegen Staub und auch Brillen zum Schutz der Augen von der Firma und Reto war die Firma. Nur noch ganz selten kam es im Sommer zu überlangen Arbeitszeiten, wenn etwa eine übergrosse Decke zu giessen war. Die Leute brachten auch ihre Zwischenverpflegung oder gar ihr Mittagessen nicht mehr von zu Hause mit. Um halb zehn gingen sie in die nahe Wirtschaft und kamen gelegentlich zurück, am Mittag dasselbe. Da lohnte es sich schon, ab und zu da zu sein.

Vieles von seiner Arbeit, und das war in aller Regel Papierarbeit, verrichtete er am Abend. Er hatte auch im Büro gute Leute, einen Bauführer, einen Kalkulator, seine Disponentin und eine Assistentin, denen er von den Angeboten bis zu den Abrechnungen alles überlassen konnte. Dann war da der ganze Personalbereich, den Leonie betreute, die Ein- und Austritte, die Löhne, Zahltage und Lohnabrechnungen, Altersvorsorge, Teilzeitregelungen, Ferienkontrolle, Unfallmeldungen, es war endlos. Doch er wollte nichts anbrennen lassen, machte immer wieder Stichproben, pflegte die Kontakte zu den Kunden, Architekten Lieferanten und nicht zuletzt auch zu den beiden Hausbanken. Es lief nicht immer ganz rund mit den Ein- und Ausgaben. An den Abenden im Büro ratterte immer auch die Rechenmaschine und hin und wieder raubten ihm die Zahlen den Schlaf.

So war es bereits gewesen, als er das Geschäft vom Vater übernommen hatte, nur war da ein grosses Durcheinander, ja, praktisch alles war durcheinander gewesen. Der Padrone hatte das Geschäft in Hau-Ruck-Übungen hochgebracht, im Zettelsystem, mit Papierbündeln. Er beurteilte die Lage des Unternehmens auf Grund der Bankauszüge. Das war verheerend. Er konnte keine Entwicklungen antizipieren, wollte das auch nicht, er hatte Gottvertrauen und vertraute auch seinen Geldgebern, Lieferanten, Auftraggebern und Schuldnern, zum Teil wohl zu Recht, aber auch sie konnten die grosse Erdölkrise, durch den Iran ausgelöst, nicht voraussehen. Der grosse Stahlgiesser in der Klus torkelte nicht nur, er stürzte zusammen, und für Vinci war er nicht der einzige, aber der grösste Kunde, auch hinsichtlich Marge, Zahlungsmoral und Kontinuität. Die Zahlungen von überallher, sofern er sie nicht ohnehin abschreiben musste, verzögerten sich dramatisch.

Es kam jener Abend, an dem Mario dem Sohn den ganzen Schlamassel erzählte. Sein Vater war nicht nur wütend, sondern auch traurig und noch mehr bestürzt. Es machte keinen Sinn, ihn zu fragen, warum er sich nicht früher geöffnet, alle Ängste und Zweifel in sich hineingefressen hatte, immer jovial auf fröhlich und «es wird schon alles gut» machte. Es war für Mario so etwas wie eine Sache der Ehre. Reto vermutete dahinter eher Eitelkeit, und für ihn selbst war es das Ende des bisher einigermassen friedlichen Lebens eines jungen Familienvaters mit zwei Kindern. Zusammen mit der Bank machte er Inventur, über alles, wirklich über alles. Daraus entstand ein Business-Plan, der diesen Namen verdiente.

Die Firma war zu retten, die Hälfte der Belegschaft, die meisten Marios Landsleute, mussten gehen. Reto hatte ab und zu weiche Knie, wenn er zur Arbeit kam. Nicht alle seiner Leute waren zimperlich. Dem Treuhänder, der jedes Jahr einmal einen beinahe rudimentären Abschluss machte – Mario wollte dafür nichts mehr aufwenden – wurde gekündigt und im Hause eine ordentliche Buchhaltung mit Deckungsbeitragsrechnung und Kontrolle der liquiden Mittel eingeführt. Vater Vinci fuhr mit seiner Frau Klara, einem bisschen Geld und einer gesicherten kleinen Rente nach Cattolica.

Seit dieser Zeit war Retos Leben Arbeit, nicht die Arbeit, auf die er sich vorbereitet und auch gefreut hatte. Sie war in gewisser Weise simpler, aber pickelhart und unerbittlich fordernd.

Am Sonntagabend brachten die Nachrichten Schlagzeilen aus der Ukraine. Im Kernkraftwerk von Tschernobyl sei ein Reaktor ausser Kontrolle geraten. Doch die Sowjetregierung beschwichtigte, alles im Griff zu haben. Noch ahnte niemand, dass die bisher grösste nukleare Katastrophe Europas bevorstand. Für Reto war es ohnehin ein Rätsel, wie die Sowjets mit ihren vermutlich etwas rückständigen Ausrüstungen solche Kraftwerke betreiben konnten. Irgendwann musste die Wahrheit über die dortigen Verhältnisse manifest werden. Auch Amerika war in den letzten Monaten an seine Grenzen gestossen. Die Raumfähre Challenger explodierte kurz nach ihrem Start. Die Crew hatte keine Chance und Tausende von Zuschauern waren entsetzt. Amerika würde Jahre benötigen, um diesen Schaden zu überwinden, nicht nur technisch, sondern vielmehr politisch und psychologisch. Wissen konnte er diese Dinge nicht, nur ahnen auf Grund dessen, was immer wieder in den Zeitungen stand, in Radio und Fernsehen vorgekaut wurde.

Es gab immer Risiken, auch in seinem unvergleichbar kleineren Geschäft. Fehlentscheide konnten unabsehbaren Schaden anrichten, eine zu schwach gestützte Schalung einstürzen oder ein nicht absolut sicher montierter Kran konnte Menschen verletzen oder gar töten. Alles, was schwer war und/oder sich bewegte, war letztlich ein Risiko und jeder Fehler, Mangel oder gar Unfall ein Rückschlag. Er war wenn immer möglich dabei, wenn es darum ging, sicher zu sein.

Ihm blieb nicht viel Zeit, sich um seine Familie zu kümmern oder gar Martha in ihrer Hausarbeit zu unterstützen. Sie konnte sich jede Art von Haushaltshilfe leisten. Er verdiente gut. Was wollte sie eigentlich?

Ja, er war vermutlich kein guter Ehemann. Er und Martha hatten seit Karins Geburt kaum miteinander geschlafen. Sie verbrachten ihre Nächte in getrennten Zimmern. Doch der wirkliche Grund ihrer erloschenen Beziehung war seiner Ansicht nach Kälte. Martha war nach wie vor eine attraktive Erscheinung, schlank, charmant, ihr Gesicht intelligent, ihre Stimme angenehm, im dunkelbraunen Haar zeigten sich erste graue Strähnen. Es gab sie zwar, die seltenen Ausbrüche von Leidenschaft, und ab und zu irritierten sie ihn.

Das Einzige, was er als äusseres Merkmal ihrer Kälte vorbringen konnte, waren ihre stahlblauen Augen. Aber die hatte sie schon, als ihr gemeinsames Leben begann. Im Gegenteil, diese Augen faszinierten ihn damals, zogen ihn an, um schliesslich als sichtbares Zeugnis von Kälte und einer unüberbrückbaren Kluft zu enden, und er konnte sie nicht mehr riechen, nicht ihren Körper und nicht das Parfüm, mit dem sie sich umgab. Vielleicht war es letztlich dieses Parfüm, das ihn aus dem Haus trieb. Sie setzte diesen Duft gegen alle seine Proteste durch. Und wie als Provokation trug sie ihn auch am Tag der Scheidung.

Ihm warf sie vor, er stinke, nach Schweiss und Knoblauch. Das mit dem Knoblauch mochte stimmen, er liebte ihn wie schon sein Vater. Martha war doppelbödig. Sie kannte seine Vorliebe für diese Zwiebeln, brachte sie auch auf den Tisch, würzte mit Knoblauchzehen auch mal einen guten Braten, er stürzte sich jeweils darauf und danach floh sie provokativ aus seiner Nähe.

Schon als sie sich kennenlernten, warf sie ihm ab und zu diesen Geruch vor. Damals neckend oder gar lachend meinte sie, das wäre ein Grund, ihn nicht zu heiraten. Das sagten auch ihre Eltern. Die waren ohnehin der Meinung, er sei halt doch ein halber Tschingg oder noch mehr. Was hatten die nicht alles gegen ihn vorgebracht. Aber immerhin, sein Vater war erfolgreicher Baumeister, Papierschweizer, Unternehmer und zumindest kein Roter, katholisch dazu. Viele echte Fakten gegen ihn gab es nicht.

Martha aber hatte dieses penetrante Parfüm erst entdeckt, als sie Karin erwartete. Auf einmal roch die ganze Wohnung danach. Er hielt es ihr vor, sie lachten darüber, er sah darin einen typischen Schwangerschaftstick. Beim ersten Mal, bei Sandro, war es sein Pfeifentabak, er rauchte damals Pfeife, auch zu Hause in der Wohnung. Martha liebte den Rauch, aber noch mehr den Duft des geschnittenen Tabaks, parfümierter Amsterdamer. Sie kaufte für ihn die Dosen auf Vorrat, um immer wieder daran zu riechen. Nach Sandros Geburt war Schluss mit Tabakriechen und Pfeife rauchen. Sie konnte den Gestank nicht länger ertragen, und zudem war der Rauch schädlich für den Säugling, sagte sie und er sah es ein. Er gab die Pfeife auf und Zigaretten oder Zigarren mochte er nicht. Die Pfeife war für ihn Entspannung am Abend. Da konnte er den Rauch geniessen und sich voll auf die Glut im kleinen Topf konzentrieren …

Beim ersten Mädchen, Stella, hielt sie sich an Gurkensalat, was ihn kaum berührte. Auch die Gurkenzeit nahm ein Ende.

Nach Karins Geburt kam der Umzug ins Haus von Marthas Eltern, da diese in eine Wohnung in der Stadt umgezogen waren. Das Haus war ihnen zu anstrengend geworden. Reto hoffte, damit würde sich der Duft nur schon durch die Grösse des Hauses verdünnen. Das war ein Irrtum. Das Parfüm blieb durch alle Jahre. Der Duft war Schild oder gar Waffe, gegen ihn gerichtet. Das war ihm bisher so nie eingefallen. Mit Karin und Marthas Parfüm begann für ihn die Kälte …

Mit Karin und dem Haus änderten sich auch Gewohnheiten. Martha begann zu moralisieren, gar zu frömmeln. Schon die Taufe der Kleinen war ein herausragendes Ereignis. Wie bisher bei Sandro und Stella war Ambros, sein Freund aus der gemeinsamen Zeit der Klosterschule, gekommen, um dem Kind als Priester und gleichzeitiger Taufzeuge «das heilige Sakrament der Taufe» zu spenden, wie er sagte. Ambrosius war ein durchaus weltoffener Mann und keineswegs ein Kind von Traurigkeit. Beim Essen nach der frommen Feier schäkerte der «heilige Ambrosius», wie ihn Reto ab und zu spöttisch nannte, mit Karins Patin, nicht gerade frivol, aber doch ganz locker, worauf ihm Martha eine wüste Szene machte, weil es sich für einen Mann seines Standes ganz einfach nicht zieme, sich so zu benehmen.

Am Abend erinnerte Reto sie an den Vorfall, wobei sie zu weinen begann. Er konnte sich darauf keinen Reim machen. In Martha musste sich etwas Entscheidendes verändert haben. Er erlebte es als einen Rückfall in eine Art kindliche, wenn nicht gar kindische Religiosität. Irgendwie kam es ihm vor, als hätte sie mit Karin und noch stärker mit dem Einzug ins Haus Welt und Geist ihrer Eltern übernommen.

Sie ging, wie einst als Mädchen, jedes Wochenende zur Messe und Kommunion und liess sich in den folgenden Jahren zur Katechetin ausbilden. Das war nicht die Martha, die er geheiratet hatte. Ambros, häufig zu Gast bei seinem Freund, freute sich für die Familie und ermunterte Reto, seinerseits den Weg zu Glaube und Kirche wieder zu suchen.

Auch als Reto ein Jahr vor der Scheidung Frau und Kinder verliess, stand Karin im Mittelpunkt. Am ersten Sonntag nach Ostern erhielt sie in ihrem kindlichen Glauben zum ersten Mal Leib und Blut ihres göttlichen Heilands. Nie hatte Reto daran gedacht, nicht dabei zu sein. Doch er schaffte es nicht. Ein Wassereinbruch gefährdete hinten in der Klus seine grösste noch immer offene Baustelle. Der Anruf erreichte ihn am frühen Morgen. Er musste hingehen. Feuerwehr und Polizei waren da, es galt, die Anlage abzusichern. Er musste Leute aufbieten, es reichte ihm nicht für den Gottesdienst. Um 11 Uhr war er zurück, die Zeremonie vorbei. Karin hatte mit Blumenkranz, im weissen Kleid, die brennende Kerze in der rechten Hand, erbärmlich geweint. Alle freuten sich, dabei zu sein, Marthas Eltern, die beiden Taufzeugen, die Geschwister und selbst Ambros fehlte nicht. Es rührte ihn, sagte er später beim Essen, wenn Retos Kinder zum Tisch des Herrn kamen. Er war auch schon bei Sandros und Stellas Kommunion dabei gewesen.

Nur Reto fehlte. Ambros tat sein Bestes, das Mädchen zu trösten. Martha war wütend. Immerhin, zum Essen war er da. Martha unterschob ihm später, mit Absicht gefehlt zu haben, weil er sich aus Kirche und Glauben ohnehin nichts machte. Die Kinder übernahmen ihre Sicht und hielten sich über Tage von ihm fern, weigerten sich, mit ihm zu reden, behandelten ihn wie Luft. Nein, nein, nein, er verliess das Haus nicht der Kinder wegen, sondern weil er da ganz einfach nicht mehr sein konnte.

In den ersten Tagen schlief er im Geschäft in einem Nebenraum. Dann nahm er sich ein Zimmer in einem der kleinen Hotels in der Stadt, kaufte sich die Sachen, die er dringend brauchte. Anfänglich war es ihm gar nicht so ernst mit der Trennung. Er wollte nur Abstand finden, einen neuen Anfang vielleicht. Das sagte er später auch Martha und den Kindern. Doch niemand bat ihn, zurückzukommen. Zwar gab es Anrufe hin und her, vor allem Vorwürfe. Er suchte sich eine kleine Wohnung. Das war für ihn mit seinen Verbindungen kein Problem. Noch jetzt kaufte er sich, als ob nichts entschieden wäre, nur das Nötigste, ein Bett, einen Tisch, etwas Geschirr. Doch eigentlich hörte er, fühlte er von Marthas Seite keinen Wunsch, dass er nach Hause komme.

Nach einigen Wochen überwand Reto die Zweifel über seine Entscheidung, er empfand schon damals das neue Leben als Befreiung. Da war keine Spannung mehr beim Morgenkaffee, am Mittag beim Essen, an den eher seltenen gemeinsamen Abenden im Wohnzimmer, denen er nach Marthas unabänderlicher Meinung ganz einfach absichtlich auswich, nicht einmal mit schlechtem Gewissen, wie sie sagte. Martha wollte jetzt Sicherheit und liess die «Trennung von Tisch und Bett» durch die Behörden bestätigen. Reto hatte das Recht, die Kinder alle zwei Wochen zu besuchen oder sie zu sich zu nehmen.

Die Wochenenden wurden für ihn schon nach dieser Trennung zu einem Erlebnis. Während er sich bisher oft als Eindringling in einen festgefügten Mutter-Kind-Komplex gefühlt hatte, sah er sich nun als wirklichen Vater seiner Kinder. Dabei wusste er, wie sehr nach wie vor die Hauptarbeit für die Kinder auf Martha lastete. Es gab schon bald Wochenenden, an denen er seinen Teil aus beruflichen Gründen nicht hatte einbringen können. Sie nahm es ihm, durch bissige Bemerkungen hörbar, übel.

Er hütete sich auch, mit den Kindern über die Hintergründe der Trennung zu reden und versuchte nie, sie über ihr jetziges Leben mit ihrer Mutter zu befragen. Das war nicht nur eine Sache der Fairness, sondern auch Selbstschutz. Er glaubte, dadurch würden die Kinder auch zu Erfahrungen und Einsichten, die sie nun mit ihrem Vater machten, schweigen. Er konnte mit ihnen nicht über die Kälte reden, die ihn zermürbte und schon gar nicht über Marthas Duft, der ihn vertrieb. Hin und wieder brachten sie Spuren, wirklich nur Spuren, davon in seine Wohnung.

Erst als er ihnen nach einigen Monaten eröffnete, er würde sich von ihrer Mutter scheiden lassen, geriet er in Nöte. Ganz offensichtlich waren die Kinder unausgesprochen der Meinung, irgendwann würde er zu ihnen ins Haus und zu ihrer Mutter zurückkehren. Höchstens zehn von hundert Ehen wurden geschieden. Scheidung, das war für sie ein Wort, das da und dort andere Kinder betraf, vor dem sie sich aus vielen Gründen fürchteten, ohne diese klar benennen zu können. Es waren auch die Gesetze ihres kindlichen, aber daher umso unerschütterlichen Glaubens, die es ihnen verunmöglichten, den Bruch mit ihrer Mutter anzunehmen oder gar gut zu finden.

Martha meinte, er hätte zuvor mit ihr darüber reden müssen und danach gemeinsam mit ihr den Kindern die schwierige Entscheidung vermitteln sollen. Doch das konnte er sich nicht vorstellen. Martha hätte einem solchen Vorschlag nie zugestimmt, wenn schon, hätte sie den Kindern «seinen Verrat» als Erste offenlegen wollen. Um dieses Risiko zu vermeiden, wollte er keinen solchen Versuch wagen.

Die Frage nach dem Warum kam zuerst vom vierzehnjährigen Sandro. Reto fand aus seiner Sicht keine Antwort, die ihn nicht selbst belastete. Er konnte nicht sagen: Wir haben uns auseinandergelebt, wir lieben uns nicht mehr, es ist besser, wir leben getrennt glücklich als gemeinsam unglücklich. Das alles schien ihm zu billig. Er konnte auch nicht sagen, Marthas Parfüm sei unerträglich und er könne ihre stahlblauen Augen, ihre Frömmigkeit, ihr ständiges Moralisieren und ihre dauernden Nörgeleien an ihm nicht mehr ausstehen. Was wusste er schon, wie die Kinder dies alles sahen oder sehen konnten und er wollte sie nicht danach fragen, sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Er wollte sie, ganz eindeutig, nicht manipulieren.

Zu Sandro sagte er, es würde ein Tag kommen, an dem er es ihm erklären könne.

Eigentlich hatte er vor, die «Sache» ganz beiläufig zu erwähnen und glaubte, mit derselben Leichtigkeit würden die Kinder die Neuigkeit zu Martha tragen. Nun war das nicht so. Sie verliessen ihn mit ihrer Bürde in gedämpfter Stimmung und Martha rief ihn am Abend entrüstet an. Er gab zu, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben und sagte ihr auch, sein Entscheid sei getroffen, unabänderlich. Martha, anfänglich offensichtlich aufgebracht, reagierte für ihn schliesslich erstaunlich gelassen und sagte zum Schluss: «Weisst du, was dich diese Dummheit kosten wird?» Jetzt war jeder Zweifel ausgeräumt.

Jetzt war die «Sache» raus und er hatte es den Kindern zuerst gesagt. Sie hatten ein Anrecht darauf. Er würde sich durch sie nicht umstimmen lassen, aber er wollte ihre spontane erste Reaktion sehen, keine allenfalls durch Martha oder irgendwen gefärbte. Zugegeben, sie wirkten traurig, betreten, vielleicht gar verunsichert, aber, so glaubte er, sie würden damit leben können.

Nur wenige Tage danach zerbrach seine Freundschaft mit Ambros, seinem Freund aus Kinder- und Jugendjahren. Er kam nach einem Anruf an einem Abend aus der Innerschweiz angefahren. Sie begrüssten sich mit grosser Herzlichkeit und Reto hatte Wein und einen Teller mit Wurst und Käse bereitgestellt. Sie redeten anfänglich über Belangloses, Wetter, Wirtschaft, Konjunktur, Arbeit, erzählten sich Belangloses aus alten Zeiten und schliesslich kam Ambros zur Sache, die ihn beschäftigte. Anfänglich gab er sich locker und verständnisvoll, das Zusammenleben in einer Ehe sei ja gewiss nicht immer einfach, immerhin, nur wenig später bedrängte er seinen Freund beinahe unvermittelt: «Du wirst dich doch nicht wirklich endgültig von Martha trennen wollen!»

«Geht dich das was an?», gab Reto zurück.

«Nicht wirklich, aber wir sind doch Freunde von klein auf, und inzwischen sehe ich mich auch als Freund und Seelsorger deiner wunderbaren Familie, und da mache ich mir halt Sorgen, immerhin gibt es da auch eine materielle Seite, da sind drei Kinder und eine Frau, die versorgt werden müssen, ein Recht darauf haben, im gewohnten Rahmen weiterzuleben», meinte Ambros.

«Letzteres kannst du nicht beurteilen, also nimm es einfach, wie es ist», forderte Reto.

Jetzt wurde Ambros ganz Kirchenmann, um festzuhalten, seine Ehe könne vor Gott nicht geschieden werden. Reto bat ihn, solche Floskeln bleiben zu lassen, weil er davon schon gar nichts halte, was ihm, Ambros, durch die ganzen Jahre nicht entgangen sein könne.

Nach einer Weile musste Reto ihn aus der Wohnung werfen. Reto und Ambrosius waren Nachbarskinder gewesen, sassen in der gleichen Schulbank und wurden Schüler am gleichen Gymnasium, im Innerschweizer Kloster. Auch ihre Väter hatten sich gekannt. Retos Vater Mario Vinci kam 1936 als Student und entschiedener Gegner von Mussolinis Abessinienkrieg als Flüchtling in die Schweiz, wurde hier im Lauf vieler Jahre Maurer, Polier und Störmaurer auf eigene Rechnung. Da war er längst Vater geworden. Er heiratete 1939 Klara Meier aus Amwil und konnte bei Kriegsausbruch in der Schweiz bleiben. Obwohl noch immer Ausländer, wurde er dank seines Berufs während des Kriegs zur Kriegsfeuerwehr eingeteilt. Die Leute im Dorf waren ihm, dem Antifaschisten, in ihrer grossen Mehrheit gut gesinnt. Mario machte aus der Kleinmaurerei ein richtiges prosperierendes und wachsendes Baugeschäft und wurde ein eifriger Schweizer. Marios Meinung nach gab es einen einzigen Wermutstropfen: Von all dem, was er mit Klara im Bett anstellte, blieb ein einziger Sohn, Reto. Er konnte zwar darüber lauthals lachen, doch war sein Bedauern nicht zu überhören.

Gegen Ende der 40er Jahre begann die Wirtschaft des Landes da und dort stark zu wachsen. Die Nachfrage nach Wohnungen – sie führte in den 50er Jahren in der Region Achstadt geradezu zu einem Bauboom – brachte Mario Vincis Unternehmen einen enormen Schub. Aus Mangel an Baulandreserven in Achstadt entstanden in den umliegenden Gemeinden wie Amwil und Erzbach ganze Zeilen kleiner Häuschen und Dutzende von Mehrfamilienhäusern. Marios Maurer waren vielerorts dabei.

Nicht zu jedermanns Freude holte er sich qualifizierte Leute aus Italien, Saisonniers, ohne Frauen, ohne Kinder. Sie kamen im Frühling und reisten vor Weihnachten zurück. Sie lebten in Baracken, die Mario ihnen einrichten liess, ja, die sie an Abenden und Wochenenden zum Teil selbst zimmerten.

Die Dorfbewohner nannten sie Tschinggen, und vorsichtige Eltern sperrten ihre Mädchen nicht gerade weg, aber warnten sie dringend vor solchen Kontakten oder gar Beziehungen. Es kam auch immer wieder zu gegenseitigen Provokationen aus Spott und Hohn und hin und wieder gar zu Schlägereien zwischen den Fremden und der einheimischen männlichen Jugend. Vieles geschah in der Nacht, verlief meistens harmlos oder mit ein paar Beulen oder Kratzern.

Schliesslich lebte Mario Vincis kleingebliebene Familie dank des prosperierenden Geschäfts und einer von Klara eingebrachten Erbschaft in einem der kleinen Reihenhäuser an der Strasse nach Achstadt, Seite an Seite mit den Gublers, Ambros’ Eltern.

Ambrosius’ Vater war Lehrer der oberen Schulklassen, leitete mehrere Chöre und spielte die Kirchenorgel der katholischen Diaspora. Er inszenierte nicht nur die Theateraufführungen des Kirchenchors, sondern auch des katholischen Turnvereins und betreute zusammen mit seiner Frau, Ambros’ Mutter, die ganz ansehnliche Bibliothek der Kirchgemeinde. Er galt als dienstältester Lehrer und neben dem Dorfpfarrer auch als Instanz der ökumenischen Dorfkultur. Eine Affäre mit einer Minderjährigen brachte den Vater viele Jahre später, nach Ambros’ Primiz, zu Fall. Das hatte den jungen Kleriker sehr getroffen. Seine Eltern zogen danach in die Ostschweiz, Vater Gubler wurde auch dort Lehrer und spielte die Kirchenorgel. Er starb wenige Jahre danach an einer Art Blutvergiftung, vielleicht eine Strafe Gottes, urteilte Ambros seinem Freund Reto gegenüber.

Lange vorher, als kleiner Messdiener war der Nachbarbub Ambros der eloquentere, er trug das grosse Messbuch mit Schwung von einer Altarseite zur anderen und legte eine elegante Kniebeuge dazwischen. Auch mit dem Rauchfass ging er schon bald zeremonienmeisterhaft um. Er konnte die lateinischen Messtexte nicht nur hersagen, er kannte auch den deutschen Wortlaut. In den Jugendmessen wurde er schnell zum Vorleser, machte aus dem schweizerdeutschen chch je nach Wort ein hochdeutsches gh oder ein zaghaftes sch. Weder dieses salbungsvolle Sprechen noch das beschwingte Gehabe lagen Reto. Reto wirkte eher etwas linkisch und trocken.

Ambros war auch belesener als Reto und vor allem detailbesessen. «Trotzli der Lausbub», spielte in einem Innerschweizer Kolleg und so wusste Ambros schon früh genau, wie das Leben in Klosterschulen abläuft und er freute sich darauf. Wenn er etwas wusste, wusste es Ambros eben genau.

Vieles nahm für Reto mit der siebten Klasse und dem Eintritt ins klösterlich-interne Progymnasium mit nachfolgendem Gymnasium ein Ende. Allerdings, obwohl nicht in der gleichen Klasse, blieben die beiden auch dort Freunde. Sie erlebten die Schule sehr unterschiedlich. Ambros gefiel der von Anfang an religiös geprägte Alltag. Jeden Tag früh aufstehen, ohne Frühstück zur Messe gehen, auch als Messdiener, von einem der Priester den Leib Christi empfangen, gemeinsames Morgenessen, Kakao, Käse und Brot, manchmal Kaffee, Butter und Marmelade, Frontalunterricht vom Katheder, Mittagessen mit viel Kartoffeln, zweimal Fleisch pro Woche und am Freitag oft Fisch oder Käse-, Zwiebel-, Spinat oder Früchtefladen.

Nachmittags wieder Frontalunterricht vom Katheder, Vesper in der Kirche, Vesperbrot, Lesen in der Bibliothek, Abendessen Kaffee und Kartoffelrösti, manchmal Pellkartoffeln mit Käse. Danach Andacht in der Kirche und Zeit für Spiele oder Gespräche, hin und wieder missionarischer Vortrag eines Paters. Und hier, bei diesen Vorträgen, entwickelte sich oft so etwas wie Nähe zwischen den Schülern und ihren Lehrern.

Selbstverständlich wurde vor und nach jeder Mahlzeit, vor der Nachtruhe und zur Tagwache gebetet und mindestens jede zweite Woche war eine Beichte fällig. Schon im ersten Jahr manifestierten sich bei den Jungen zwiespältige Gefühle. Die aufkeimenden, pubertären Träume kontrastierten mit den Ermahnungen des Beichtspiegels und den als schwere Sünde gebrandmarkten aufkommenden Sehnsüchten, Lust- und Schuldgefühlen. Reto wurde sehr nachdenklich. Er fühlte sich vom Streben nach unermesslichem Reichtum mit perverser Macht und unwiderstehlicher Lust auf orgiastischen Sex verunsichert, verwirrt oder gar erschrocken. Oft endeten seine Träume mit schleimigem Erguss aus seinem starren Glied. Anfänglich betete er verzweifelt gegen diese Anfälle sündhafter Lust, glaubte, so etwas wie krank zu sein und versuchte, die «Sache» zu vertuschen. Ihn schreckte die Vorstellung, seine Sünde beichten zu müssen, und doch musste es sein. Wer in Sünde lebte, durfte den Leib Christi nicht mehr empfangen. Das würde auffallen und, weit schlimmer, trotzdem am Tisch des Herrn teilzuhaben, wäre, sich selbst in die Hölle zu schicken.

Als er sich zur Beichte überwand, irritierten ihn auch später – er war inzwischen «Wiederholungstäter» – die etwas neugierigen, ins Detail gehenden, oder gar drängenden Fragen im Beichtstuhl. Einladungen, all diese Versuchungen und Verwirrungen in einem vertraulichen Gespräch ausserhalb der Beichte zu erörtern, wich er aus.

Bei Gelegenheit versuchte er, mit Ambros zu sprechen, nicht zuletzt, um herauszufinden, ob diesen ähnliche Heimsuchungen quälten. Doch sein Freund riet zum Gebet. Geschworene Reinheit und Ehrfurcht gegenüber der Jungfrau Maria schütze vor dem Schmutz der fleischlichen Lust. Auch andere Heilige hätten sich der Keuschheit verschrieben und seien nicht zuletzt darum heiliggesprochen worden. Auch sie um Hilfe zu bitten, sei ein weiterer Weg rein zu bleiben.

Ambros sprach bereits so abgehoben wie die Patres. So wollte er, Reto, nicht werden. Das war noch keine Absage an die Kirche, aber ein erstes inneres Signal.

Nein, Reto war von den Lehrern weder verführt noch missbraucht worden. Andere mochten schwierigere Erfahrungen gemacht haben. Vielleicht liessen sie sich von Neugier treiben, versprachen sich kleine Vorteile, fürchteten sich ganz einfach vor Sympathieentzug oder gar Sanktionen. Ihm fiel solches schon gar nicht ein.

Gab es überhaupt Sex zwischen den Patres und ihren Schützlingen? Reto war sich nicht sicher. Es gab mindestens Verdächtigungen oder gar Behauptungen. Darüber wurde im Dunkeln gemunkelt. Ambros, darauf angesprochen, blieb auch da immer unverbindlich.

Im Lauf der Jahre gab es spontanen und auch anhaltenden Sex zwischen den Schülern. Das wusste Reto aus eigener Erfahrung. Sein ganzes Leben vergass er den Penis nicht, der ihn nachts unter der Decke überfiel und bedrängte, den er in die Hand nahm und der ihn bespritzte. Es war grauenhaft. Der Ekel verfolgte ihn den ganzen folgenden Tag. Er wusste, wer es war, nahm sich vor, ihm bei Gelegenheit ins Gemächte zu treten und tat es dann doch nicht, weil er sich vor Rache fürchtete. Immerhin liess ihn der Kerl in Ruhe. Reto beichtete den Vorfall, erzählte auch von seinem Ekel.

Der Priester redete die Sache klein. Der Allmächtige werde alles auf sich nehmen. Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein. Dem hatte Reto nichts entgegenzusetzen. Es gab auch sonst keine Hilfe, niemand war da, dem er sich anvertrauen konnte oder wollte, kein Freund, kein Bruder, kein Vater und nicht die Mutter. Einzig Ambros, der hörte zwar zu und gab schon jetzt Antworten wie ein Gesalbter im Herrn.

Nach und nach wurde Reto älter, reifer und lernte auf seine Art mit sich selbst umzugehen, doch wurde ihm auch bewusst, dem priesterlichen Gebot der Keuschheit nicht gewachsen zu sein und dies auch nicht zu wollen.

Die Matur wollte Reto schaffen. Er konzentrierte sich aufs Lernen. Er war gut in Physik und Mathematik, weniger gut, aber nicht schlecht in Sprachen. In diesen Jahren erinnerte er sich an die Muttersprache seines Vaters, holte nach, was er als Kind versäumt hatte, weil auch seine Mutter ihn zum Leidwesen seines Vaters nicht zum Italienischen ermunterte. Reto gab sich zwar auch jede Mühe in Englisch und Französisch, aber nur die Sprache Marios machte ihm wirklich Spass. Er entwickelte auch eine Vorliebe für Geschichte und ihre Geschichten. Als Schüler hatten sie fast freien Zugang zur klösterlichen Bibliothek, zu den Büchern der grossen Dichter. Reto konnte sich kein Bild darüber machen, was hier alles fehlte, niemand riet ihm, nach Nietzsche zu suchen.

Im Jahr vor Retos Matur bahnte sich in Rom unter Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil an, was Reto zusammen mit unzähligen Menschen auch in seiner nahen klösterlichen Umgebung als Hoffnung auf eine neue Zeit und auf Öffnung sah. Die ganze Schule diskutierte lebhaft bis aufgeregt über das grosse Projekt. Die Studentenschaft erhielt Aufträge für Aufsätze und Referate. Es gab Diskussionen über das Erste Vatikanische Konzil, dessen Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen, Letztere namentlich für die Schweiz.

Auf der Suche nach Informationen stiess Reto in der Bibliothek mehr oder weniger zufällig auf ein altes illustriertes Buch über die Bostoner Tea Party, den darauf folgenden Unabhängigkeitskrieg gegen England und auf die Bill of Rights als Grundlage der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Das Buch wurde für ihn zu einer Offenbarung. In seinen bisherigen Schuljahren waren die Vereinigten Staaten und deren Entstehung nie ein Thema gewesen, dies im Gegensatz zur Französischen Revolution, die sein Geschichtslehrer grosso modo als mörderischen antichristlichen Aufruhr darstellte, der sich unter Napoleon zu einem europaweiten kriegerischen Drama entwickelt hatte. Die aus dieser Vergangenheit entstandenen Rechte und Freiheiten wurden zwar nie explizit bestritten, doch wurde der damit verbundene Verlust an Einfluss der ewigen christlichen Wahrheiten, verkündet durch die katholische Kirche, bedauert. Der Verfall der moralischen christlichen Werte durch die grosse Revolution, ihrem Blutbad und ihren Kriegen, habe konsequenterweise zu den verheerenden Ideologien von Kommunismus, Nationalismus und Faschismus geführt.

Das Buch über die Bill of Rights war nur der Anfang. Mit Fleiss und Geschick suchte Reto die dort zitierten Werke und fand sie auch. Es waren die Bücher der Aufklärer von Hume bis Hessel. Reto erinnerte sich, wie er seine Entdeckungen in die Klasse brachte und wie er durch den gelehrten Priester vor der Klasse ad absurdum geführt wurde. Retos Versuch, die Bill of Rights, durch die UNO neu definiert, als mögliche Grundlage für ein friedliches und würdiges Zusammenleben der Menschen zu sehen, ging in einem furiosen Wortschwall über die zehn Gebote Gottes, seine unendliche Gnade und Güte und die von seinem Sohn verkündete christliche Nächstenliebe unter. Die Bill of Rights sei Menschenwerk, nichts als ein Versuch, die ewigen von Gott gegebenen Wahrheiten und Werte zu unterlaufen.

Zudem, schleuderte der zornige Lehrer seinem Zögling vor der Klasse entgegen, hätte niemand nach diesem Beitrag gefragt. Er solle sich bitte an den gesetzten Rahmen halten. Reto fühlte sich nach dieser Lektion eingeschüchtert und verletzt. Es war nicht allein die Belehrung, die er über sich ergehen lassen musste. Ihn irritierte und schmerzte das Gelächter der Klasse, in der sich niemand um das, was ihm wichtig war, zu kümmern, sich vielmehr jeder an der sarkastisch vorgetragenen Rede des Lehrers zu ergötzen schien.

Nach diesem Eklat hatte er sich innerlich vom Geist der Patres getrennt. Noch fühlte er sich der Kirche und seinem Glauben verbunden. Seine ganze Umgebung, alle Menschen, die ihm teuer und lieb oder auch nur wichtig waren, lebten damit. Er konnte selbst nicht ausmachen, ob ihn diese Umwelt gefangen hielt, die Ängste, Zwänge, Dogmen und das ganze Mysterium des Glaubens, oder einfach die für ihn gefühlte Unmöglichkeit, auf einer anderen Basis zu leben. Mit Sicherheit hielt ihn Respekt oder gar Gehorsam gegenüber seinen Eltern davon ab, frei zu denken und danach eine Wahl zu treffen.

Reto wusste, dieser Eklat war für ihn der Anfang einer Wende. Anfänglich suchte er den Ausgleich durch Anpassung vor allem gegenüber seinen Mitschülern. Um seine Note und das Wohlwollen des Lehrers, der neben Geschichte auch Deutsch und Lateinisch unterrichtete, zu retten, begegnete er ihm von da an beinahe devot, er schleimte damals, so wenigstens kam es ihm jetzt vor. Sein Ziel war die Matur, und die schaffte er.

Als das römische Konzil an seinem Ende, 1966, die Menschenrechte ausdrücklich anerkannte und wortreich als wertvolles Zubehör neben die Lehre der ewigen Wahrheiten stellte, war Reto für die Kirche längst verloren. Zwar hatte er mit ihr nicht gebrochen, er fügte sich einfach in die Reihe der gleichgültigen Mitläufer. Noch war er sich nicht klar über seinen weiteren Weg, wichtig war vor allem: Schluss mit der rabenschwarzen Schule.

Immerhin faszinierten ihn dort im Physikunterricht vor allem die neuen Erkenntnisse im Bereich der Elektronik. Neu ersetzten da und dort Transistoren die herkömmlichen Verstärkerröhren. In Industrieanlagen ergänzten sie als steuerbare Elemente die längst bekannten Gleichrichter. Der Physiklehrer sagte der neuen Technologie eine grosse Zukunft voraus, ohne sich dabei auf Anwendungsbereiche festzulegen. Was daraus werden würde, konnten weder der Lehrer noch seine Schüler ahnen.

Nein, er werde keinesfalls Theologe, Priester der katholischen Kirche werden, erklärte er damals schon seinen Eltern und war erstaunt, wie wenig sie sich darüber aufhielten. Sein Vater hatte ohnehin nie auf eine solche Entwicklung hingewirkt. Er wollte ihn eigentlich im Geschäft haben und hatte der Klosterschule aus einer Mischung von «wir können es uns leisten», «in Sachen Bildung sind wir aufgeschlossen» und «der Nachbarbub geht auch» zugestimmt. Wenn Reto allenfalls doch noch Priester würde, das wäre ja dann schon auch was, eine Primiz-Feier im mehrheitlich reformierten Dorf …

Nein, er habe sich noch zu nichts entschieden. Elektrotechnik wäre vielleicht was. Sicher aber werde er heiraten, sagte er auch, vor über 20 Jahren, damals, als er sich in Freiheit wähnte. Und jetzt war er ein geschiedener Mann.

Ankunft in der Wirklichkeit