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Jill Ciment

 

ANATOMIE

EINES

PROZESSES

 

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch

von Max Stadler

 

 

 

ars vivendi

 

 

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Body in Question

bei Pantheon Books, New York.

Copyright © 2019 by Jill Ciment

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen deutschen Originalausgabe (1. Auflage November 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Einbandgestaltung: Sarah Eschbach, unter Verwendung eines Bildes von: © Oote Boe / www.plainpicture.com

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0193-0

 

In Gedenken an Arnold

 

 

Inhalt

ERSTER TEIL

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

ZWEITER TEIL

19

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21

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23

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25

26

27

28

Die Autorin

Danksagung

 

What makes the engine go?

Desire, desire, desire.

 

Stanley Kunitz, Touch Me

 

ERSTER TEIL

 

1

»Wenn die Tür aufgeht, melden Sie sich ab. Sagen Sie ihnen, Sie würden eine Raucherpause machen«, meint er.

»Ich rauche nicht«, sagt sie.

»Sie müssen nicht rauchen, melden Sie sich einfach ab. Wenn man Ihre Nummer aufruft, ignorieren Sie es.«

Keiner der beiden bemerkt, dass die Tür sich öffnet.

»Ein Bekannter von mir ist davongekommen, nur weil er gesagt hat, dass er nicht unter den Worten In God We Trust sitzen könne«, meint sie.

Ihre Nummer wird aufgerufen: C-2.

»Haben Sie noch einen anderen Vorschlag?«, fragt sie.

»Wenn einer der Anwälte fragt, ob Sie jemals eine Beziehung mit einem aus seiner Zunft hatten, sagen Sie ihm, dass er Sie vor fünf Jahren in einer Bar abgeschleppt hat.«

»Sie gehen automatisch davon aus, dass der Anwalt ein Mann ist«, sagt sie.

»Sagen Sie der Anwältin, sie hätte Sie vor fünf Jahren im Baumarkt angebaggert. Sie trug die Schleifmaschine, und Sie hatten den Werkzeuggürtel.«

Als ihre Nummer zum zweiten Mal aufgerufen wird, steht sie widerwillig auf.

»Hey«, ruft er ihr nach, während sie sich durch die schiefen Reihen von Klappstühlen hangelt. »Viel Glück.«

C-2 ist überrascht, dass die Sitzung im Gerichtssaal bereits begonnen hat. Alle außer der Angeklagten, einem Mädchen im späten Teenageralter, blicken auf, als C-2 den einzigen freien Stuhl auf der Geschworenenbank einnimmt. Die anderen fünf Stühle sind mit Frauen unterschiedlichen Alters besetzt. Drei tragen sportliche Flip-Flops. Eine ist angezogen, als habe sie gleich ein heißes Date. Eine trägt Kirchenkleidung.

Die Richterin, eine ältere Afroamerikanerin mit nüchternem Haarschnitt, bittet die Angeklagte, sich zu den potenziellen Geschworenen umzudrehen. Der Kopf der Angeklagten dreht sich so langsam, dass C-2 nicht einschätzen kann, ob die Trägheit nur inszeniert ist. Will die Teenagerin, die teure, aber schlecht sitzende Klamotten trägt, dadurch die Aufmerksamkeit des Gerichts auf sich ziehen, oder hat sie physische oder psychische Probleme? Ihr auffälligstes Merkmal sind ihre Haare: Die unteren fünfzehn Zentimeter sind pechschwarz gefärbt, die oberen fünfzehn Zentimeter sind barbieblond.

C-2 hat schon eine Unmenge an Gesichtern studiert. Sie begann ihre Karriere als Fotojournalistin für den Rolling Stone und das Interview-Magazine und machte zahllose Porträtfotos, bis sie schließlich merkte, dass sie sich nicht für Menschen interessierte. Als Individuen. Sie interessierte sich für sie als Spezies.

Die Züge der Angeklagten ähneln denen, die man in Lehrbüchern fürs Zeichnenlernen findet – skizzenhaft und schlicht. C-2 bezweifelt, dass sie sich auch nur eine Sekunde später daran erinnern könnte, was sich in dem leeren Oval befindet, wenn sie jetzt ihre Augen schließen würde.

Wenn C-2 eine Vermutung über das Vergehen der Teenagerin anstellen müsste, würde sie auf Ladendiebstahl setzen oder wetten, dass sie die Schmerztabletten ihrer Großmutter an Klassenkameraden verkauft hat, oder beides. Ein ein- oder zweitägiges Verfahren, höchstens.

Die Richterin fragt: »Kennt jemand von Ihnen die Angeklagte?«

Zwei Hände schießen nach oben.

»Ich habe sie im Fernsehen gesehen«, sagt eine der Flip-Flop-Trägerinnen.

»Auf dem Gerichtssender«, sagt eine Frau, die sich aus Respekt vor dem Gericht ihre Lippen- und Nasenpiercings entfernt hat.

Die Anwältin der Angeklagten, eine kurvige Frau Anfang dreißig, und der Jury-Berater, ein grauhaariger Gentleman in einem Armani-Anzug, stimmen sich ab: Die beiden Frauen werden entlassen. Zwei weitere potenzielle Geschworene betreten den Saal und nehmen die frei gewordenen Plätze ein: eine Frau, die schwanger aussieht, aber zu alt ist, um schwanger zu sein, und der junge Mann, mit dem C-2 im Wartebereich ein bisschen geflirtet hat – er ist Anfang vierzig, C-2 schon zweiundfünfzig –, der Mann, der all die schlauen Vorschläge parat hatte, wie man der Jurypflicht entkommen konnte. Er spürt ihren Blick und zuckt spöttisch die Achseln. Das Blau seiner Augen erscheint zu kristallin, um zu seinem Gesicht zu gehören, das mit Aknenarben übersät ist. Abgesehen von der Kirchenlady ist er der Einzige, der angemessen fürs Gericht gekleidet ist. Beige Chinohose, weißes Hemd, feste Schuhe. C-2 trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt. Draußen herrschen fünfunddreißig Grad.

»Dies ist ein Mordprozess«, sagt die Richterin.

Die Angeklagte schiebt die Augen in ihrem ausdruckslosen Gesicht seitwärts. C-2 folgt dem Blick. Er landet auf einer Frau mittleren Alters, die in der ersten Reihe der Zuschauergalerie sitzt, ihr Gesicht ist ein Abbild von Angst. Eine blonde Replik der Angeklagten tröstet die Frau, aber diese Version ist hübscher. Ihr Gesicht ist lebendig, als wäre jedes Element darin eine eigene Marionette und sie die Marionettenspielerin. Würde C-2 die Augen schließen, könnte sie sich an dieses Gesicht erinnern.

»Der Prozess kann bis zu drei Wochen dauern«, erklärt die Richterin, »und es kann sein, dass Sie isoliert werden. Gibt es jemanden unter Ihnen, der glaubt, einer solchen Verpflichtung nicht nachkommen zu können?«

C-2s Zweitausrede, sie könne nicht unter In God We Trust sitzen, erscheint ihr leichtfertig und fast verwerflich, als sie sieht, wie die Frau mittleren Alters in der vordersten Zuschauerreihe erschaudert und implodiert. C-2 könnte der Richterin sagen, dass ihr Ehemann sechsundachtzig ist – die Wahrheit; und dass sie seine einzige Pflegerin ist – ihre Befürchtung.

Die Frau, die zu alt ist, um schwanger zu sein, und der Mann mit den leuchtend blauen Augen heben die Hand.

»F-17«, stellt sich der Mann der Richterin vor. »Ich bin Professor an der medizinischen Fakultät. Mein Anatomiekurs beginnt nächste Woche. Ich habe einundzwanzig Leichen, die auf mich warten.«

»Sind die Leichen nicht schon tot?«, fragt die Richterin.

Wieder dieses selbstironische, spöttische Achselzucken.

»Ja«, sagt er.

»Dann können sie warten.«

Die Hand der Frau ist noch oben. »J-12. Ich muss nächste Woche für einige Tests ins Krankenhaus«, sagt sie.

Die Richterin wartet einen Moment, ob sich noch jemand meldet.

C-2 könnte immer noch die Hand heben. Obwohl sich ihr Ehemann seinen beeindruckenden, wissbegierigen Verstand bewahrt hat, verliert er täglich Dinge – Schlüssel, Worte, Größe, Masse, die Fähigkeit, Gespräche zu hören, seine periphere Sicht (dennoch besteht er darauf, immer noch zu fahren), die Feinheiten des Geschmacks und den scharfen Geruchssinn. Am alarmierendsten ist der Verlust des sechsten Sinnes, die Propriozeption, also die Fähigkeit, die Position seiner Körperteile zu kennen. Ihr Mann ist sich nicht immer sicher, wo sich seine Hände und Füße befinden, ohne danach suchen zu müssen. Er braucht eine Weile, um nach Dingen zu greifen, um jene Messungen durchzuführen, die man sonst unbewusst vollzieht, wenn man von Scheinwerferlicht erfasst wird oder Popcorn im Dunkeln isst. Mit den Alltagshürden kommt er zurecht, aber wie lange noch? C-2 ist dabei, seine Co-Pilotin zu werden. Ihre Sinne müssen doppelt arbeiten, um zwei separate Körper durch Raum und Zeit zu steuern, aber wenn sie den Job ablehnt – nicht auf die kaputte Treppenstufe hinweisen, nicht die Pointe wiederholen, die er überhört hat –, würde dies bedeuten, dass sie ihn der verschwommenen, nebligen, stummen Einsamkeit des Alters überlässt.

Sie hatte ihren Mann kennengelernt, als sie vierundzwanzig war und er siebenundfünfzig. Er war ein Pulitzer-Preis-gekrönter Journalist, und sie hatte gerade das Porträtieren aufgegeben und sich Gefährlicherem gewidmet. Er bat sie, ihn als Fotografin auf einen Auftrag in El Salvador zu begleiten –, der Bürgerkrieg war erneut ausgebrochen. Er flog erste Klasse, sie Economy. Während des siebenstündigen Fluges kam er kein einziges Mal zu ihr nach hinten, um sich zu erkundigen, wie es ihr erging. Das hat sie beeindruckt: Ihre Gefühle für ihn wurden nicht erwidert. Er interessierte sich nur für ihre Fotografie.

Am Flughafen von San Salvador stiegen sie, wie zuvor vereinbart, in einen Bus, der von Hollywoods radikalem Chic – einer Regisseurin für Verschwörungsthriller, einer ernst zu nehmenden Schauspielerin und ihrem Produzenten-Ehemann – gechartert worden war. Die Schauspielerin war mitgekommen, um den charmanten schnauzbärtigen General der Rebellen zu interviewen. Der Bus musste die Berge vor Einbruch der Dunkelheit und vor Beginn der Ausgangssperre überquert haben. Die Straße bestand aus Schotter und war von provisorischen Kontrollpunkten gesäumt, die von zerlumpten Jungen mit Gewehren besetzt waren.

Der Produzent brach eine Flasche Valium auf und reichte die Pillen herum. C-2 stellte fest, dass ihr späterer Ehemann keine nahm, also tat sie es ihm gleich, obwohl sie sehr gern zugegriffen hätte.

Sie erkannte bald, dass sie eine Art Test bestanden hatte und dass sich nach dem Bestehen des Tests das Machtverhältnis zwischen ihnen verschob. Abends im Hotel bemerkte sie, dass er sie anstarrte, als sie ihre Tür öffnete. Sein Blick war elektrisierend. Erst kurz zuvor hatte sie akzeptiert, dass ihre Lust weniger damit zusammenhing, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, als selbst auf jemanden anziehend zu wirken.

Sie setzte alles auf eine Karte. Sie ging in sein Zimmer, während er seine Notizen ordnete, und knöpfte ihre Bluse auf. Ab da übernahm er, wofür sie dankbar war.

Sie hielt – hält – sich nicht für besonders attraktiv. Sie hinterlässt einen schönen ersten Eindruck – sportliche Figur, kastanienbraune Mähne, langer Hals –, aber auf den zweiten Blick sieht man, dass sich ihr linkes Augenlid leicht senkt, und diese Asymmetrie hebt ihre beste Eigenschaft auf, ihre natürlich wilden Augenbrauen, die sie wöchentlich pflegt. Kurz bevor sie ihren Ehemann kennenlernte, hob sich das Lid auf wundersame Weise, ihr Gesicht bekam einen verwunderten Ausdruck, und sie wurde, ohne dass es ihr bewusst war, äußerst schön. Das Lid senkte sich ein Jahr später wieder, aber da kannte sie ihren Ehemann bereits. Und wichtiger noch, sie hatte einen Vorgeschmack auf das zauberhafte Dasein bekommen, das sie hätte führen können, wenn ihr linkes Augenlid zwei Millimeter höher gewesen wäre.

Als ihr Ehemann sie seiner Mutter vorstellte, die damals siebenundachtzig Jahre alt war und in einem jüdischen Altersheim in Buffalo lebte, musterte die alte Frau C-2, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit befand, blickte dann zu ihrem fast sechzigjährigen Sohn und stellte eine Frage, an die C-2 mit ihren vierundzwanzig Jahren noch nicht gedacht hatte: Wer wird sich um ihn kümmern, wenn er richtig alt ist?

Wenn C-2 isoliert wird, muss sie sich nur um sich selbst kümmern – eine dringend benötigte, durch die Bürgerpflicht gerechtfertigte Verschnaufpause. Sollte etwas passieren – der gefürchtete Sturz –, gab es immer einen Ersatzgeschworenen, der ihren Platz einnehmen konnte.

Die Richterin wartet noch immer.

C-2 hebt die Hand nicht.

Die Jury ist jetzt vollständig, fünf Frauen, darunter C-2, und zwei Männer, F-17 und der nervöse Ersatz mit dem Buzz-Cut, der nicht aufpasst, als die Richterin erklärt, was ein Voir dire ist. Der Ersatzmann ist zu sehr damit beschäftigt, die Verteidigerin zu bewundern, die etwa dreißigjährige Frau mit der verstörend kurvigen Figur. C-2 bemerkt einen Schimmer, als die junge Frau ihre Beine unter dem Tisch übereinanderschlägt. Im August in Zentralflorida trägt sie eine Nylonstrumpfhose.

Links von C-2 hebt die Mittsechzigerin, die sich als Hausfrau und Mitglied der Baptistengemeinde auf dem Ersten Kalvarienberg vorgestellt hat, die Hand. »Wo ist die andere Hälfte?«, fragt sie die Richterin. »Müssen wir nicht zu zwölft sein?«

»In Florida genügt eine sechsköpfige Jury, außer in besonders schweren Fällen«, erklärt die Richterin.

Der Staatsanwalt ist ziemlich beleibt. Er stützt sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und stemmt sich hoch. Eine Weile müht er sich, seinen Anzug zuzuknöpfen, gibt dann aber auf und grinst der Jury blinzelnd zu, um sie wissen zu lassen, dass er aus der Gegend stammt und keiner ist, der aus Südflorida angeheuert wurde. Er überfliegt die Fragebögen, die die Jury im Tagesverlauf ausgefüllt hat, mit allen Angaben – Beruf, Familienstand, Kinder, Straftaten – und fragt, ob jemand Bedenken habe, abwarten zu können, bis alle Beweise vorgebracht sind, bevor er oder sie ein persönliches Urteil fällt.

C-2 hatte noch nie die Geduld, sich die Geschichte eines anderen anzuhören, ohne das Ende erraten zu wollen. Aber das Ende erraten zu wollen, ist etwas anderes, als Gewissheit darüber zu haben. Sie wäre bereit, die Seite zu wechseln, wenn man sie von etwas überzeugte, aber das würde sie nicht davon abhalten zu spekulieren. Wer bildet sich ein, ganz ehrlich so neutral und fair sein zu können?

Sie schaut zu den anderen potenziellen Geschworenen. Alle nicken zustimmend und sind sich ihrer Neutralität und Fairness gewiss, mit Ausnahme von F-17.

Er hebt die Hand. »Ist nicht die Überzeugung, dass man sich nicht überhastet ein Urteil bilden wird, der Beweis dafür, dass man genau das tun wird?«, sagt er.

C-2 sieht, dass er hofft, sich mit diesem Syllogismus aus der Affäre ziehen zu können.

Aber der Staatsanwalt schaut weg, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. »Lesen Sie Zeitung?«, fragt er die Frau, die direkt vor C-2 sitzt. Die Stühle der hinteren Reihe stehen auf einer Erhöhung. C-2 kann die Kopfhaut der Frau zwischen ihren Cornrows sehen. Die Frau ist weiß, und ihre geflochtenen Zöpfe sind blond. Die Hautrillen dazwischen sind sonnenverbrannt.

»H-8«, sagt die Frau. »Ich benutze die Zeitung für den Kot meines Papageis.«

»Reden wir über Zweifel«, sagt der Staatsanwalt. »Angemessene Zweifel versus beständige Zweifel.«

Die Kirchenlady hebt die Hand. »Was wollen Sie mit beständig sagen?«

»Das Gericht darf keine Begriffe definieren«, mischt sich die Richterin ein. »Und Sie können das Wort heute Abend auch nicht auf Ihrem Smartphone nachschlagen. Sie dürfen keine Informa­tionen, einschließlich der Definition eines Wortes, außerhalb dieses Gerichts prüfen. Ich habe letztes Jahr einen Geschworenen entlassen, weil er den Begriff umsichtig nachgesehen hat.«

Der Staatsanwalt starrt auf seine polierten Schuhe, bis die Richterin zu Ende gesprochen hat. »Reden wir über gesunden Menschenverstand«, sagt er und geht zur Kirchenlady. »Wie haben Sie entschieden, was Sie zum Frühstück essen wollen?«

»Ich habe in meinen Kühlschrank geschaut.«

»Sie haben also die vorhandenen Tatsachen akzeptiert und eine Entscheidung getroffen.«

»Ich hatte Rührei zum Frühstück.«

»Okay, lassen Sie uns eine wichtigere Entscheidung nehmen. Eine, über die Sie lange nachdenken mussten.« Er schaut zu F-17 hinüber. »Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, sagt F-17.

»Und Sie?«, fragt der Staatsanwalt C-2.

»Ja.«

»Wie sind Sie zu der Entscheidung gelangt, Ihren Ehemann zu heiraten?«

»Unser Buchhalter meinte, wir würden dadurch Steuern sparen«, sagt C-2.

Sie hatten über fünf Jahre zusammengelebt. Sie liebten sich. Das durch die Eheschließung gesparte Geld reichte für einen Urlaub, den sie sich bis dato nie erlaubt hatten. Sie waren beruflich viel gereist, aber nur an Orte, von denen die Touristen geflohen waren. Diesmal beschlossen sie, an einen exotischen Ort zu fahren, wo kein Krieg herrschte. Aber ohne Krieg hatten sie sich gegenseitig fast umgebracht.

»Also würden Sie sagen, dass Ihre Entscheidungen mehr von Fakten als von Emotionen beeinflusst werden?«, fragt der Staatsanwalt.

»Ja«, sagt C-2.

Eine Hand geht nach oben, es ist der nervöse Ersatz. »Warum stellen Sie uns all diese Fragen? Warum gibt es keine professionellen Geschworenen?«

Die Testfragen der Verteidigerin im Voir dire sind darauf ausgelegt, die Angeklagte in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen.

»Haben Sie vom Stockholm-Syndrom gehört?«, fragt sie die Jury. Den Geschworenen, die nicht nicken, erklärt sie: »Das Stockholm-Syndrom ist ein psychologischer Begriff, der die paradoxe Bindung zwischen einem Entführer und einer Geisel beschreibt.«

»Glauben Sie, dass eine solche Bindung bestehen kann?«, fragt sie A-9, die einzige Afroamerikanerin in der Jury, von Beruf Chemikerin.

»Ja.«

»Was ist, wenn es kein echter Entführer und keine richtige Geisel sind? Was ist, wenn der Entführer und die Geisel Familienmitglieder sind?«, fragt sie F-17.

»Welche Art von Familienmitgliedern?«, fragt er umgehend zurück.

»Schwestern.«

Er denkt nach, bevor er mit Ja antwortet.

»Zwillinge?«, fragt sie B-7, die Lehrerin, die angezogen ist, als befände sie sich in einem Nachtclub.

»Ja.«

Der Jury-Berater gibt der Verteidigerin mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie zur Besprechung an den Tisch kommen soll. Während sie ihre Strategie besprechen, bemerkt C-2, dass sich die Angeklagte heimlich ein Stück Schokolade aus einer offenen Pralinenschachtel, die auf ihrem Schoß liegt, in den Mund steckt.

Die Verteidigerin kehrt zur Jury zurück und geht am Holzgeländer vor der Geschworenenbank entlang. »Kennen Sie persönlich eine Person, die von Autismus betroffen ist?«, fragt sie an alle gerichtet. »Familienmitglieder von Ihnen?«

Die Kirchenlady und die Blondine mit den Cornrows heben die Hand.

Die Verteidigerin wirft einen Blick zu ihrem Jury-Experten, der sich offenbar keine Sorgen über die Erfahrungen der beiden Frauen macht, deren Familienmitgliedern es an emotionaler Intelligenz mangelt.

»Glauben Sie, dass unschuldige Menschen zu falschen Geständnissen fähig sind?«, fragt sie die Kirchenlady.

Die Kirchenlady schaut skeptisch.

»Was ist, wenn diese Person unter Autismus leidet und nicht in der Lage ist, wahr und falsch voneinander zu unterscheiden?«

»Ich nehme es an«, lautet ihre Antwort.

Die letzte Frage der Verteidigerin geht an C-2: »Können Sie objektiv über den Tod eines Kindes sprechen und ihm nicht mehr oder weniger Gewicht geben als dem Tod eines Erwachsenen?«

C-2 beobachtet, wie die Angeklagte an einer Strähne ihrer Harlekin-Frisur herumzwirbelt. Ist dieses Zweifarbenmuster eine kalkulierte Ablenkung, oder hat man ihr die schwarze Schuhcreme weggenommen, als sie verhaftet wurde, und das Blonde ist ihr natürlicher Haaransatz? Auffällige Merkmale dienen immer einem Zweck. Die Streifen des Zebras verscheuchen die Fliegen.

Als C-2 keine Lust mehr hatte, die menschliche Spezies zu fotografieren, fing sie an, Tiere zu fotografieren – die Arbeit, für die sie bekannt wurde. Ihre am häufigsten nachgedruckte Fotoreihe zeigt Muttertiere, die versuchen, ihre Jungen vor Raubtieren zu schützen. Aber anstatt den Kampf und das Töten zu fotografieren, schoss C-2 Nahaufnahmen vom Gesicht des Muttertiers, wenn es bemerkte, dass sein Kalb, Küken oder Junges verloren war. Einige Muttertiere sahen betroffen aus, andere hysterisch.

Jeder Gesichtsausdruck, den sie erfassen konnte, stürzte C-2 wochenlang in Trauer. Man stolpert nicht zufällig über solche Szenen: Man folgt den Muttertieren und ihren Jungen über Wochen. Man lernt sie als Individuen kennen. Viele glauben zu wissen, wie das Reißen von Beute abläuft, weil sie mal einen Youtube-Clip mit einem Löwen gestreamt haben, der ein Elefantenbaby angreift. Doch solch ein Angriff hat einen eigenen Geruch. Man hört das Kauen. Das Knirschen von Knochen klingt ganz und gar nicht wie das Knacken von Holz. Und dann ist da das Heulen, Krächzen und Brüllen der Muttertiere.

Der Blick von C-2 wandert zu dem Platz in der Zuschauergalerie, an dem die Frau mittleren Alters gesessen hat, aber sie und die hübschere Version der Angeklagten sind geflohen. Auch die Angeklagte bemerkt, dass ihre Familie desertiert ist. Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um, und C-2 kann wieder ihr Gesicht sehen. Auf den zweiten Blick schaut das Gesicht der Angeklagten keineswegs wie ein symmetrisches Bild zum Abzeichnen aus. Ihre Lippe ist auf einer Seite nach oben gezogen. Verachtung? Der einzige asymmetrische Ausdruck.

Die Verteidigerin wartet auf C-2s Antwort. Sie wiederholt: »Können Sie den Tod eines Kindes objektiv betrachten?«

»Ja«, sagt C-2.

Die potenzielle Jury, zu siebt einschließlich dem Ersatz, wartet in der Eingangshalle, während die Anwälte im Saal ihren Kuhhandel betreiben.

Die Blondine mit den Cornrows sagt in die Runde: »Was ist mit den Haaren der Angeklagten?«

»Haben Sie den Zwilling bemerkt?«, fragt die Kirchenlady.

»Wir dürfen den Fall nicht miteinander besprechen«, sagt die Lehrerin.

C-2 geht zu F-17. Sie wollte schon immer einmal mit der Kamera beim Sezieren dabei sein und eine zeitgenössische Kreuzung zwischen Rembrandts Die Anatomie des Dr. Tulp und Vesalius’ anatomischen Illustrationen schaffen.

»Nur für den Fall, dass Sie oder ich entlassen werden«, sagt sie zu ihm, »könnten Sie mir Ihre Nummer und Ihre E-Mail-Adresse geben?«

Noch bevor C-2 ihre Frage zu Ende formuliert hat, wird ihr klar, dass F-17 denkt, dass sie versucht, ihn anzugraben. Er sieht überrascht, aber zugleich neugierig aus.

»Ich bin Fotografin«, erklärt sie. »Wäre es möglich, an Ihrem Kurs teilzunehmen und während des Sezierens zu fotografieren?«

Der Gerichtsdiener ruft sie zurück in den Gerichtssaal, bevor F-17 antworten kann.

»Die Verhandlung beginnt Montagfrüh pünktlich um neun Uhr«, sagt die Richterin, nachdem alle sechs plus der Ersatz vereidigt worden sind. »Sie dürfen nichts über diesen Fall googeln, ansehen, streamen, hochladen oder lesen. Sie dürfen mit niemandem über den Fall sprechen, auch nicht mit Ehepartnern und besten Freunden, die versprechen, dass sie nichts sagen werden. Sie haben einen Eid geleistet.«

Die Richterin erinnert die Jury daran, alle Medikamente einzupacken, die sie im Falle einer Isolation benötigen.

C-2 kann nicht anders, als sich zu fragen, welche Pillen ihre Mitgeschworenen schlucken.

Als die Richterin sie entlässt, hat das Nachmittagsgewitter bereits eingesetzt. Die Geschworenen stehen dicht gedrängt unter dem Vordach des Gerichtsgebäudes und warten darauf, dass der Regenguss nachlässt. Sie haben vorhin zu viel übereinander erfahren – was sie zum Frühstück hatten, warum sie entschieden haben zu heiraten, ob sie zu hastigen Urteilen neigen –, und jetzt müssen sie sich zusammenquetschen, um nicht nass zu werden.

Die Erste, die dem Regen trotzt, ist H-8, Cornrows. Sie zieht ihre Flip-Flops aus und sprintet barfuß zu einem egoistisch halb auf der Fahrbahn geparkten SUV. Der hibbelige Ersatz geht als Nächstes. Er nimmt in Kauf, nass zu werden, und schlendert zur Bushaltestelle. Die Kirchenlady kam gut vorbereitet und hat einen Regenschirm dabei. Sie bietet den anderen an, ihn mit ihnen zu teilen. Die Chemikerin und die Lehrerin nehmen das Angebot an, und sie waten gemeinsam zu ihren Autos.

Der Regen prasselt unerbittlich herab, das Vordach ist bald ein Wasserfall, die Stufen werden zu Stromschnellen, der Parkplatz verwandelt sich in eine Auenlandschaft.

F-17 und C-2 sind die Einzigen, die noch übrig sind. Hat er gewartet, damit er mit ihr allein sein kann? Glaubt er, sie habe gewartet, damit sie mit ihm allein sein kann? Sie bereut die Fehlkommunikation von vorhin, und zugleich bereut sie sie auch wieder nicht.

»Sie müssten die Erlaubnis der Familien einholen«, sagt er, als wäre zwischen ihrem letzten Gespräch und jetzt nichts passiert.

»Natürlich würde ich zuerst mit den Familien sprechen«, sagt sie. »Ich würde keine Gesichter fotografieren oder irgendetwas anderes, woran man sie identifizieren könnte. Ich interessiere mich nur für das, was unter der Haut ist.«

»Jeder sieht innen so unterschiedlich aus wie außen.«

»Sieht nicht jede Milz gleich aus?«

»Manche Leute haben drei Milzen. Es gibt Menschen, die haben zwei Bauchspeicheldrüsen. Einem von sieben fehlt ein Palmaris-Muskel.« Er zeigt auf den Muskel an seinem Unterarm und zeichnet ihn vom Handgelenk bis zum Ellbogen nach.

»Aber das Herz ist immer auf der linken Seite«, sagt C-2.

»Nicht unbedingt. Menschen mit Dextrokardie haben ein spiegelverkehrtes Herz auf der rechten Seite«, sagt F-17. »Lassen Sie mich darüber nachdenken. Das sind meine Patienten.«

Der Wolkenbruch ist vorbei.

»Wir entfernen zuerst die Gesichter. Vielleicht, wenn das erledigt ist«, sagt er.