Sigrid Damm

Wandern – ein stiller Rausch

Insel Verlag

Erster Tag

Der Wanderer: Das Padjelanta, ein Hochland mit Kahlfjäll, Gletschern, Mooren und weiten Wasserflächen. Gelegen in Lappland, Nordschweden, westlich des Sarek, an der Grenze zu Norwegen.

Es ist September, die Wandersaison geht zu Ende. In drei Wochen beginnt der Winter. Mein Weg beginnt in Kvikkjokk und endet in Ritsem. Am Ausgangspunkt in Kvikkjokk muß mich ein Fährmann am Delta des Saggat-Sees ein Stück den Fluß Tarraätno hinaufbringen, am Ende werde ich auf einen zweiten Fährmann angewiesen sein, der mich über den großen Akkajaure-Stausee nach Ritsem übersetzt.

Auf der Fahrt mit dem Bus nach Kvikkjokk ist die Landschaft breitgezogen, spiegelglatte ruhige Seen, kilometerweit Sümpfe und der Himmel über den Bergen blau. In Kvikkjokk am Delta des Saggat-Sees warte ich auf den Fährmann vor einer Hütte, an der Kaptensstugan steht.

Der Fährmann erscheint, ein kleiner, untersetzter Same in Windjacke und khakifarbenen regenundurchlässigen Hosen. Am Gürtel trägt er ein Messer, die Füße stecken in Gummistiefeln mit Holzsohlen und Filz. Sein Schnauzbart ist grau. Die kleine Erhebung an der Oberlippe verrät den Snus, den Kautabak. Er betrachtet mich, er lächelt. Leicht ironisch, hintersinnig? Ich kann dich übersetzen, sagt er, aber zurück, auf der anderen Seite, wird es wohl keine Fähre mehr geben, es ist zu spät im Jahr. Wir verhandeln den Fährpreis. Überleg es dir noch einmal, sagt er. Ich setze dich über. Es ist deine Entscheidung. Ich zögere nicht, soll ich am Anfang schon an das Ende denken und hat das Ungewisse nicht auch einen Reiz? Ich steige ins Boot.

Sonne. Wahnsinnslicht. Gelbloderndes Ufergras. Flammendes Herbstrot der Birken. Schweigend fahren wir den Tarraätno flußaufwärts. Am Ufer trinkt eine Elchkuh, für einen Moment stellt der Same den Motor ab. Als ich mich umdrehe, habe ich das Gefühl, er freut sich, daß wir bei der Fahrt mit seinem Boot Elch-Glück haben. Später nähern wir uns der Anlegestelle. Am Ufer warten vier vom Wetter zerzauste Wanderschweden. Sie haben alle etwas im Blick, als seien sie erleuchtet. Ich verabschiede mich von dem Fährmann, sehe, wie sich das Boot entfernt.

Ich habe hundertzwanzig Kilometer vor mir. Habe ein Zelt mit und Proviant für sieben Tage. Mein Zeitplan ist straff. In sieben Tagen will ich es schaffen. Was treibt mich, was will ich? Ich habe sieben lose Blätter bei mir, gestärktes weißes Zeichenpapier DIN ‌A4. Jeden Tag, nehme ich mir vor, werde ich einen der Zeichenkartons füllen. Eine Arbeitswanderung, ein Selbstversuch? Vielleicht ein Experiment mit der Einsamkeit.

Die Berge als Raum der Stille, in dem die Gedanken ungehindert fließen können, nirgends anstoßen. Der Rhythmus der Schritte, der den Takt für die Gedanken vorgibt. Die Landschaft, die Natur mit ihrem Angebot tut das übrige: Meine Neugier, wie der Körper darauf reagieren wird. Vielleicht besteht das Experiment darin, in der Einsamkeit auf die Antwort des Körpers zu hören.

Die Wanderin: Jahre später. Ein anderer Fährmann. Ich habe Zeit. Der Fährmann hebt meinen Rucksack ans Ufer. Ich stehe eine Weile unschlüssig. Das Boot entfernt sich. Ich hucke den schweren Rucksack auf. Meine Wanderung beginnt. Die Bilder der Überfahrt in den Augen. Die Berge um Kvikkjokk, die in der spiegelglatten Wasserfläche des Flusses wiederkehren. Strukturen: Gras, Birken, Berge. Farben. Die klaren Uferlinien, alles zwiefach durch die Spiegelung. Eine Aufforderung, auf dem Kopf zu laufen … Das nordische Licht, das trunken macht. Ist es wirklich wahr, daß ich hier bin, die Arbeit endlich hinter mir gelassen habe? Ich will an nichts mehr denken, nur aufnehmen, genießen, Atemzüge tun.

Mein Weg führt mich durch Birken- und Fichtenwald, Bartflechten hängen von den Bäumen, alles ist mit Moos überwachsen. Die Feuchtigkeit der Erde läßt das Moos hellgrün leuchten. Ein Waldtunnel. Er umschließt mich förmlich, rechts und links des schmalen Pfades, auf dem ich laufe, ist das Unterholz so dicht, daß ein Durchkommen unmöglich wäre. Niedrige verkrüppelte Birken; umgestürzte Bäume, verfaulte Bäume, ein kräftig süßer Fäulnisgeruch entströmt diesem Dschungel.

Meine Füße auf dem schmalen Pfad. Der Rucksack, das Ungewohnte dieser Last. Mehrmals verstelle ich Hüftriemen und Brustgurt. Das Knacken der Zweige unter den Sohlen, das Vibrieren des Waldbodens, die Unebenheiten, Mooshügel, Wasserlöcher. Ich versuche meinen Körper mit dem Rucksack in ein Gleichgewicht zu bringen. Leicht nach vorn gebeugt laufe ich. Ich merke, wie schnell ich müde werde. Die Schultern schmerzen. Mein Kopf ist leer. Der Aufstieg scheint mir unendlich lang. Mit dem Wanderstock versuche ich die Schritte zu akzentuieren, mir den Takt vorzugeben. Langsam, allmählich: Schrittmaß, Schrittgeschwindigkeit. Mein Körper stellt sich auf Wanderschritte ein.

Der Wanderer: Rhythmus der Füße. Die Gedanken wandern. Die Füße erinnern sich: Wegstrecke – Zeitstrecke, gegangene Wege. Meine Augen sind auf den Boden geheftet – die Geschichte der Landschaft kommt mir in den Kopf – meine Füße, spüre ich auf einmal, stecken nicht mehr in Wollsocken, sie sind nackt, meine Schuhe sind mit Moosgras ausgepolstert, und meine Wanderschuhe, sehe ich, verwandeln sich langsam, ganz langsam in näbbskor, in lappländische Stiefel, wie sie früher die Samen trugen.

Die Landschaft hier ist uraltes Gebiet der Samen. Seit Jahrhunderten – bis heute – ist das Padjelanta Sommerweidegebiet für ihre Rentierherden. Auf meiner topographischen Karte 1:100 ‌000 sind neben den Sommer- und Winterwegen für Wanderer die Renstängsel, Renvaktarstugas und Rengärden eingezeichnet, die Rengatter, Wächterhütten und die Flächen der Rentierweiden, letztere markiert mit dünnen schwarzen Linien aus Schrägstrichen. Baddjelánnda heißt das Gebiet auf samisch und es bedeutet: das höhere Land.

»Die Legende von Jubmel«

Als Jubmel, der heidnische Göttervater, Lappland, das Land der Samen, schuf, war es auf alle mögliche Weise gut. Die Berge waren aus Gold und Silber. Die Wälder groß und dicht, und die Bäume trugen köstliche Früchte.

Aber der Streit um Besitz kam über das Land; Attjis erschlug aus Habgier seinen gutherzigen Bruder Njavvis. Jubmel verbannte Attjis daraufhin zur Strafe auf den Mond. Und da er sah, Reichtum und Überfluß waren nicht gut für die Menschen, beschloß er, allen Überfluß zu verbergen. Die Menschen sollten nie etwas davon bekommen können, ohne danach zu suchen und dafür zu arbeiten. Er kehrte im ganzen Land das Unterste zuoberst, das Gold und Silber der Berge verbarg er unter Erdreich und Gestein, und er verbarg den Reichtum der Wälder. Erst wenn die Menschen ebensogut wie Njavvis sein würden, könnten sie die Reichtümer wiederfinden und die ehemals gute Zeit würde zurückkehren. Bis dahin aber ist das Land, wo die Samen wohnen, ein karges und armes Land.

Als Jubmel das Land der Samen umwendete, geschah es, daß alles Wasser über die Erde floß und die Menschen allesamt ertranken. Nur zwei Kinder, Geschwister, Batje und Nanna, hatte er auf einen hohen Berg getragen. Dort lagen sie und schliefen. Als sie erwachten, konnten sie sich in dem Land nicht mehr zurechtfinden, denn es hatte nun ein ganz anderes Aussehen. Die Geschwister liefen den Berg hinab und wanderten lange, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Da sagte Batje zu seiner Schwester, laß uns für einige Zeit voneinander scheiden, jeden in eine andere Richtung gehen, um Menschen zu treffen. Der Junge wanderte nach Norden, das Mädchen in südliche Richtung, aber Menschen trafen sie nicht, und in der Einsamkeit wurde ihnen sehr schwer ums Herz. Als sie ein ganzes Jahr unterwegs waren, geschah es, daß beide aus weiter Ferne eine Gestalt auf sich zukommen sahen. Nun sei das Glück ihnen hold, dachten sie und wußten nicht, daß sie es selbst waren, die aufeinander zuliefen. Als sie einander nahe waren, erkannten sie sich. Und Batje sagte erneut zu Nanna, laß uns noch einmal unser Glück versuchen.

Und sie wanderten, der eine gegen Sonnenaufgang, der andere gegen Sonnenuntergang. Sie sahen vieles auf ihren Wegen, lernten viel, aber andere Menschen erblickten sie nirgends. Als sie wieder ein Jahr gewandert waren, hatten sich beide sehr verändert und dennoch erkannten sie sich sogleich. Du bist Batje, rief das Mädchen. Und du bist Nanna, sagte der Junge. Und sie küßten sich und blieben eine Zeitlang beieinander, aber sie waren nicht mehr sorglos und froh wie früher, sie waren von einer Unruhe erfaßt, oftmals suchte jeder für sich die Einsamkeit, obgleich sie einander sehr mochten. Eines Tages zog Batje ohne Abschied fort. Und Nanna, allein in dem großen weiten Land, weinte bittere Tränen.

Da ließ Beijen-Nejta, die Tochter des Sonnengottes, einen tiefen Schlaf über Bruder und Schwester kommen, und als sie erwachten, fanden sie sich wieder, aber sie erkannten sich nicht. Doch beide wurden sie sehr froh, als sie sich sahen. Sie lebten viele Jahre zusammen und waren glücklich, bis zu ihrem Tod. Von Batje und Nanna stammen alle Samen ab. Und wie sie umherwanderten, um Menschen zu suchen, aber nur sich selbst fanden, so wandern die Samen noch heute ohne Rast vom Gebirge zum Meer und vom Meer zum Gebirge.

Der Wanderer: Nach einem langen, allmählichen Aufstieg, immer im dichten Wald – fünf Stunden bin ich gelaufen –, lichtet er sich, ich verlasse ihn. Ich bleibe stehen, wende mich um, ich kann das Tal überblicken, meine Tagesarbeit, mein Weg liegt im roten Licht der Abendsonne vor mir.

Ich erinnere mich an meine allererste Begegnung mit der nordischen Landschaft. Als Besucher, als Tourist, war ich nach Lappland gekommen. Mit meiner damaligen Frau zu ihrer Freundin Beatrice, einer Deutschen. Sie hatte nach Nordschweden geheiratet, lebte mit Mann und Kind in Roknäs, einem kleinen Dorf unweit des Bottnischen Meerbusens. Mit ihnen erlebte ich mein erstes Mittsommerfest. Um die Mitternachtssonne zu sehen, fuhren wir weiter nordwärts, nach Abisko, in die Berge Lapplands. Wir übernachteten zu fünft in einem kleinen Raum in einer Jugendherberge. Die Mücken stachen, das Kind war unruhig, ich lag schlaflos. Gegen zwei Uhr ging ich nach draußen.

Die Mitternachtssonne stand am Himmel, warf ein scharfes Licht, die Landschaft wirkte wie überbeleuchtet, jedes Detail sprang mich an. Von dem Weg, auf dem ich ging, kam ich ab, verirrte mich, geriet in sumpfartiges Gelände. Das Gebiet war ohne Baumbestand, ein flaches Kahlfjäll, die Horizontlinien lagen nach allen Seiten weithin sichtbar. In der Ferne hörte ich einen Wasserfall. Ich hörte Vogelstimmen. Sonst war es still. Der Raum der Landschaft wurde von Klängen definiert, von der Stille, dem Wasserfall und den Vögeln. Alles war ganz real. Das gab es also noch, Wasserrauschen, Vogelstimmen, Stille.

Niemand kam mir entgegen, niemand folgte mir. Ich war allein. Und das für Stunden. Ich reflektierte es ungläubig. Die Einsamkeit verwirrte mich. Ich atmete, sog das Alleinsein ein. Ich war privilegiert. Alles gehörte mir. Meine Schritte schienen mir die ersten hier.

Mit einem Mal glaubte ich mich zu täuschen, alles war nicht wirklich, die Klänge kamen aus meinem Sampler, ich hatte mein Geräuschmagazin geöffnet. Ich dachte an Berlin, die Großstadt, in der ich lebe. Mit Kopfhörern lief ich vierspurige Autostraßen und endlose Häuserfassaden entlang, Musik dröhnte, ich lief durch die Kanalisation, sah die Stadt von unten; sie glich einer Luftaufnahme im Krieg.

Ich sah mich in meiner engen Berliner Behausung im Prenzlauer Berg – sechzehn Quadratmeter, mit der Küche zwanzig. Die Wohnung vollgestopft mit Bühnenbildmodellen, Computern, Samplern, Keyboard, mit Farbdosen, Pinseln, Papieren, Werkzeugen, Aktenordnern, mit Regalen voller Schallplatten und Bücher, Schubfächern und Schränken voller Zeichnungen. Holzgestelle bis unter die Decke, um Lagermöglichkeiten zu haben, Schaffelle darauf, Kanister mit Gummimilch zum Puppenbauen, eine Nähmaschine, Säcke voller Stoffreste. Ich sah mich umstellt, bedrängt, zugeschüttet. Meine Gedanken stießen überall an. War ich nicht auf dem Wege, mich ausschließlich von virtuellen Freiheiten zu nähren, von sich steigernden und verfeinernden Formen von Simulation?

Hier schien mir der Himmel wie eine riesige Leinwand, die bemalt werden wollte, eine leere Blätterfolge, die zum Zeichnen aufforderte. Die Landschaft war wie ein offenes Atelier, durch dessen Räume ich gehen konnte, ohne Schlüssel zu brauchen. Erwartung klopfte in meinen Schläfen. Dies war der Moment! Die Initialzündung. Ich wußte, da, an diesem frühen Morgen in Abisko: ich muß mein Leben ändern. Der heftige Wunsch erfaßte mich, hierzubleiben, mich festzusetzen in dieser Einsamkeit, dieser Ruhe. Von einer Sekunde zur anderen stand mein Entschluß fest. Hier war mein Ort, meine Landschaft.

Noch am selben Tag fragte ich Beatrice, wie es in Schweden um den Erwerb eines Hauses bestellt sei. Mein Entschluß an diesem Morgen schien mir der einfachste und logischste der Welt. Und er war unumstößlich. Ein Jahr nach jenem Morgen in Abisko wurde ich – ich war gerade dreißig – Besitzer eines kleinen roten schwedischen Holzhauses in Roknäs.

Die Wanderin: Die Zufälle des Lebens. Nicht das unwiderstehliche Bedürfnis, Lappland zu sehen, führte mich hierher, sondern die Neugier, was meinen Sohn getrieben haben mochte, nach dem Zeiteinschnitt 1989, als viele aus dem Osten nach Süden und Westen drängten, zweitausend Kilometer nordwärts, unterhalb des Polarkreises ein Haus zu kaufen.

Er stand am Flughafen, als ich in Luleå landete. Er war braungebrannt, er hatte sich verändert. Ich grübelte, was es sei. Dann erkannte ich es. Es war ein mir unbekanntes Leuchten in seinen Augen.

Wir fuhren nach Roknäs. Auf der Fahrt Wasser, Weite – in Piteå die rauchenden Schlote einer Papierfabrik.

Das Dorf Roknäs. Storsöder 31. Er fuhr die Birkenallee entlang, von der er mir am Telefon erzählt hatte; an deren Ende stand sein rotes Holzhaus. Er zeigte mir sein Anwesen. Birken, die Allee der Birken, immer wieder Birken, aber auch Fichten, Ebereschen, freie Flächen, kein Zaun darum, alles zusammen hundert mal hundert Meter im Quadrat. Mehrere Gebäude auf dem Gelände, wie es in Schweden üblich ist: Sommerhaus, Holzstall, Vorratshaus, Scheune. Eine große Scheune, neu gebaut, eine betonierte Halle für Traktoren und landwirtschaftliche Geräte. Das Haupthaus war abgebrannt, damit war das Grundstück für den Besitzer, einen Landwirt, wertlos geworden. In der Scheune hat der neue Besitzer sich sein Atelier eingerichtet, Maschinenhalle nennt er es. Das kleine Sommerhaus mit der Terrasse. Der rote Raum darin war zugleich Küche, Wohn- und Arbeitsraum. Da standen seine Computer, Keyboard und Sampler. Daneben ein winziger Schlafraum mit Bett und Schrank. Alles war einfach, spartanisch, auf Arbeit ausgerichtet. Ich dachte an Fühmanns kleines Haus im märkischen Sand. Es bleibt nichts anderes als das Werk.

Bei meiner Wanderung Rentiere, einzeln und in Gruppen, von weitem, in der Nähe, zwei begleiten mich eine Zeitlang. Ich erreiche zwei Hütten. Es können nur Behausungen von Samen sein. Kein Mensch ist zu sehen. Der Weg zwischen den Hütten ist von Reifenspuren eines kleinen Geländetraktors ausgefahren. Für die Samen hat der Winter wohl schon begonnen, sie sind ins Tal gezogen. Wenige Meter hinter den Hütten steht ein verfallenes Haus. Ich hucke den Rucksack ab, mache Rast. Das Dach ist eingestürzt, die Fensteröffnungen sind leer. Die Faszination, die von dem totenbleichen Holz ausgeht. Die verwitterten schweren Balken, grob behauene Baumstämme, aus denen die Blockhütte gezimmert wurde.

Ich erinnere mich an meine erste Nacht in Roknäs. Im alten Vorratshaus war ein Gästezimmer eingerichtet worden. Für mich war es sofort die Kammer. Decke, Wände, Fußboden, alles aus Holz; rohe Balken. Ein Rentierfell, ein Bett, ein Stuhl. Der Geruch nach Fell, Öl, nach Petroleum, das schwache Licht der Lampe. Ein Raum, zu dem mich sofort eine heftige Zuneigung erfaßte. Mir schien, als hätte ich schon tausendmal in dieser Kammer gelegen, in meiner Seele war eine Vorstellung davon; es hatte nur dieser zufälligen Reise bedurft, sie in der Wirklichkeit zu finden, diese Kammer. Stark, voller Energie.

Mir kamen Räume in den Sinn, in denen ich Schreibeinsamkeit gefunden hatte: Schloß Kochberg, das Hochhaus in Hoyerswerda, Wiepersdorf, Burg Falkenstein.

Nun die Kammer. Beim Erwachen sah ich Morgenlicht durch Ritzen zwischen den Balken dringen, Zugwind wehte durch die Kammer. Es war kalt. Wir zerrissen eine alte Seidenbluse, stopften sie mit Spachteln in die Ritzen.

Als wir fertig waren, sagte ich, einen kleinen Schreibtisch könnte ich brauchen. Wir fuhren mit dem Auto über die Dörfer, beim Trödler in Luleå fanden wir einen kleinen Tisch. Als ich mich in Roknäs an ihn setzte, erfüllte mich eine Leichtigkeit, Heiterkeit, eine Schreiblust, wie ich sie seit langer Zeit nicht mehr kannte. Es floß aufs Papier. Für einen Moment trat mir meine Arbeit in ihrer endgültigen Gestalt vor Augen. Ich ließ mein Rückflugticket verfallen. Blieb und schrieb.

Mit fast sechzig hatte ich meinen Ort gefunden: Roknäs in Nordschweden. Warum so spät dieser Ort? Weil man ihn nicht suchen kann, sondern finden muß, seinen Ort.

Jahre später wohne ich für sechs Monate in Rom in der Via del Corso, in der Casa di Goethe. Ich fühle mich fremd, es ist für mich ein unproduktiver Ort. Camera – Kammer, Casa – Haus. Goethes unwiderstehliches Bedürfnis, Rom zu sehen. Sechsunddreißig ist er, als er an den Ort kommt; hier wo ich schon lang einmal hätte seyn sollen, manche Schicksale meines Lebens wären linder geworden. Kaum zwei Tage in Rom, schreibt er: Nun bin ich hier und ruhig und wie es scheint auf mein ganzes Leben beruhigt. Ich lebe hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange kein Gefühl hatte. Und ein halbes Jahr später: In Rom habe ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich. Noch als Fünfundsiebzigjähriger wertet er die kurze Zeitspanne seines Rom-Aufenthaltes im Hinblick auf sein ganzes Leben: Ja, ich kann nur sagen, daß ich nur in Rom gefunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nie wieder froh geworden. Rom als seine Heimat? Seine Lebens- und Schreiborte Weimar und Jena dagegen die Fremde? Nie kehrt er zurück nach Rom. Bleibt er lebenslang an die Fremde gebunden? Norden und Süden. Auf seiner Reise nach Italien, er hat den Brennerpaß überquert, ist auf der Südseite der Alpen, notiert er: Es ist mir als wenn ich hier gebohren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandfahrt von einem Wallfischfang zurückkäme.

Roknäs. Das Haus. Erinnerung an das erste Feuer am Abend meiner Ankunft. Im roten Raum am Kamin. Ein Eckkamin, wie er in Lappland nur noch in kleinen Dorfmuseen zu finden ist. Auf der Eisenplatte die Jahreszahl: 1855. Ein Spankorb mit Birkenscheiten. Scheit um Scheit wandert ins Feuer. Die wohlige Wärme, wir rücken ab, sitzen mit nackten Füßen. Das leise Zischen, Knacken, Auflodern, Sprühen des Feuers.

Wir trinken schottischen Whisky, trinken Lagavulin, reden, reden.

Über Einsamkeit, ihre Grade und Sphären. Einsamkeit des Festes, des Leids, die des Geschlechts. Wir reden über Männer, über Frauen. Er spricht davon, daß er nach seiner gescheiterten Ehe einer Frau begegnet sei, mit der er sich vorstellen könne, ein Kind zu haben. Sie davon, daß die Männer sich in ihrem Leben überflüssig zu machen scheinen, sie die Utopie einer Zweisamkeit aber nicht verabschieden kann.

Und dann reden sie über die für sie beide beglückende und lebensnotwendige Form der Einsamkeit, die der schöpferischen, der Arbeitseinsamkeit. Er erzählt von den Ber

Und sie reden über den zweitausend Kilometer entfernten geschlossenen überfüllten Warteraum Mitteleuropa mit seiner medialen Bilderflut, seinen sichtbaren und unsichtbaren Verschmutzungen, über die Reise nach Norden in die Einsamkeit, in das Offene, reden über Flucht und Unmöglichkeit von Flucht.

Der Wanderer: Es wird Abend. Ich laufe durch das lang gezogene Tal, in dem ich mein Nachtquartier finden will. Ich beginne heftig zu frieren, mein Körper ist völlig ausgekühlt. Die starke Sonne, die noch immer über der Landschaft liegt, hat mich getäuscht, mich den zunehmenden Wind, den scharfen Luftstrom, der das Tal durchzieht, nicht wahrnehmen lassen.

Ich erreiche das Ufer des Luoppal-Sees, suche eine Feuerstelle, schlage mein Zelt dort auf. Wie bei diesem starken Wind das Feuer zum Brennen bringen? Trockene Hölzer liegen überall herum, ich sammle sie. Bin versucht, mit dem Messer, wie ich es bei den Samen gesehen habe, in den Stamm einer Birke zu ritzen und die Rinde wie Papier abzuziehen. Ich widerstehe, hole aus dem Rucksack den Rindenvorrat, den ich bei mir trage. Mit einem Stückchen entfache ich das Feuer, füttere es vorsichtig. Ich bin stolz, schon nach kurzer Zeit brennt es.

Als genug Glut da ist, setze ich den Kessel hinein, nehme mein samisches Trinkgefäß, eine Holztasse, aus einem Ast geschnitzt, der die Rinde des Baumstammes nicht zu durchstoßen vermocht hatte, sich statt dessen einrollte und als Ball aus dem Stamm herauswuchs. Die Tasse ist unverwüstlich, kann nicht zerspringen, da die Holzfasern keine geraden Linien bilden, sondern das Gefäß den natürlichen Rundungen folgt.

Als ich, die Tasse mit beiden Händen umfassend, den ersten Schluck heißen Kaffee schlürfe, kommen mir die Tränen, es ist keine Rührseligkeit, es ist ein Glücksheulen, jetzt weiß ich, daß ich im Jenseits bin, wo alles doppelt schmeckt und jedes Detail groß werden kann. Beim Einschlafen im Zelt dann die Geräusche des Luoppal-Sees und das leise Zischen des verlöschenden Feuers.

Die Wanderin: Als ich das Ufer des Luoppal-Sees erreiche, bin ich erschöpft, friere. Ich baue mein Zelt auf, verwechsle die Stangen, es dauert lange. Das Feuer will nicht brennen, zweimal geht es aus. Meine Ungeduld. Das dritte Feuer reicht für heißes Wasser, für einen Tee und eine Suppe. Erwärmt und gesättigt mache ich mich auf die Suche nach trockenem Holz. Zwanzig Meter weiter finde ich eine Feuerstelle. Dieses kleine Stück hätte ich noch laufen können. Mit Armen voll Holz gehe ich zurück. Ich hocke mich hin, untätig. Es wird dunkel. Ich lausche auf die Geräusche.

Die Stille macht mir Angst. Was will ich hier so allein? Die Angst steigert sich. Ohne Feuer zu entfachen, krieche ich in mein schützendes Zelt.

Im Halbschlaf Bilder von Feuer, das Züngeln kleiner Flammen, Wärme, Wohligkeit. Im Traum dann eine Feuermaschine, ich starre in ein Feuerloch, in einen eisernen schwarzen Glutofen. Einäscherungsanstalt, Feuerbestattung. Es ist der Gothaer Friedhof, mein Vater spricht über den Bau des Krematoriums, die Höhe des Schornsteins.

Der Friedhof weitet sich zur Landschaft, ich laufe durch einen Hain dunkelgrüner duftender Zypressen. Ein Totenschädel rollt vor mir her, es ist Schillers Schädel, er ist blutig. Der Weg ist abschüssig, ich muß den Schädel aufheben, aber er springt, ich renne, ich kann ihn nicht fassen. Die Landschaft wird wieder zum Friedhof.

Auf der Höhe der Leichenhalle steht eine Trauergesellschaft, mein Vater spricht von Pietät, ich kann unmöglich an ihnen vorbeirennen, ich gehe gemessenen Schrittes, keiner der Trauergäste nimmt den vor mir rollenden Schädel wahr. Dann renne ich wieder, der Schädel springt – eine Blutspur –, die Tür eines Hauses, an der Treppe bekomme ich ihn zu fassen, es ist nicht Schillers Schädel, es ist eine weiche, blutige, schleimige Masse, Teile sind in Plaste eingeschweißt, es ist, ich erkenne es, ein Mutterkuchen, es ist der von meiner Geburt, den ich in Händen halte. Ich stehe in der Werderstraße im Zimmer im ersten Stockwerk, in dem meine Mutter mich zur Welt gebracht hat. Die Ärztin ist von einer BDM-Versammlung herbeigeeilt. Ich sehe zu, wie ich – mit den Füßen zuerst – aus dem Leib meiner Mutter komme.