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Albert T. Fischer

Die Sünderin
und der Heilige

Eine biographische Spurensuche

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Impressum

© 2017 Münster Verlag Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat:

Christine Krokauer, Würzburg

Gestaltung und Satz:

Christoph Krokauer, Würzburg

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Jenson Pro

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-905896-73-2
eISBN 978-3-905896-53-4

In Erinnerung an meine Grosseltern und an Giuseppe.

Herzlichen Dank allen, die mich zu diesem Buch ermuntert und in meiner Arbeit unterstützt haben.

Inhalt

Vorspann

Ein Grab im Sottoceneri

Erinnerungen aus meiner Kindheit

Grossonkel Francesco

Fluchten

Des Kaisers Leidenschaften

Drei Söhne

Drei Mütter

Tunnelfahrten

Freies Kroatien …

Resas Welt

Pits Makel

Pepes Jugend

Uruguay und die Colonia Suiza

Nächstenliebe und andere Ziele

Unabhängiges Kroatien

Geblendete Resa

Resa 1946 in der Schweiz

Rückblick auf den Faschismus

Vorschau auf Prozesse in Kroatien

Pepes Tage mit seiner Mutter

In der Kathedrale von Solothurn

Zurück nach Zagreb

Die Jahre nach dem Prozess

Das Wiedersehen 1950

Resas Ausbruch

Resa in Brasilien

Ankunft und erste Monate

Vom Erzbischof zum Kardinal

Brasilien ab 1954

1956 Caritas Brazil

Francescos Tod

Pits Sorgen

Erbschaft von Amtes wegen

Habemus Papam

Pits Tod in Argentinien 1959

Resas Trauer um Alojzje Stepinac

Pepe in São Paulo

Zurück in São Paulo

Egon

Die Erbschaft

Die Rache

Anhang

Vorspann

Diese Geschichte handelt von der in der Steiermark geborenen und in Zagreb aufgewachsenen Terezija Skringer. Ich habe mich redlich bemüht, den Spuren ihres Lebens zu folgen. Viele davon sind verweht oder wurden gar absichtlich verwischt, jedenfalls öffneten sich kaum Quellen, am wenigsten im öffentlichen, politischen oder katholischen Kroatien. Ich war auf meine eigenen Erinnerungen und die vielen Gespräche und Hinweise ihres Sohnes angewiesen, der mir aus seinem eigenen, aber vor allem aus dem Leben und Umfeld seiner Mutter erzählt hat.

Terezija Skringer diente während Jahrzehnten der katholischen Kirche Kroatiens im unmittelbaren Umfeld des sehr umstrittenen Erzbischofs und Kardinals Alojzije Stepinac. Während über diesen Würdenträger Tausende von Seiten verfasst und veröffentlicht wurden, erscheint Terezija in den meisten Dokumenten nicht oder nur beiläufig, obwohl sie neben Aufbau und Leitung der ersten kroatischen Caritas auch unermüdlich für Abertausende bedürftiger Menschen gearbeitet und nachweislich Erhebliches zur Rettung nur ihrer Herkunft oder Religion wegen verfolgter und vom Tode bedrohter Menschen in der Zeit des kroatischen Faschismus geleistet hat. Ich war und bin noch immer überrascht, wie wenig diese unerschrockene Frau in der katholisch geprägten, aber auch in der politischen Welt beachtet wurde und wird, während ihr «Vorgesetzter», mit dem sie jahrelang zusammenarbeitete, inzwischen bei den einen als Held und Märtyrer gilt und von seinen Anhängern, dem Heiligen Stuhl Roms vorauseilend, heiliggesprochen wurde, obwohl er bei anderen als fanatischer Klerikaler und Faschist verschrien war und ist, der angeblich Folter und Massenmord in seinem Umfeld weitgehend geschehen liess, lange kaum wahrzunehmen schien und wenn, dann nur zögerlich oder gar missverständlich und vor allem insgesamt allzu spät intervenierte.

Sie aber blieb durch ihr ganzes langes Leben treue und gläubige Dienerin ihrer Kirche, gefangen in der Idee, in ihrer Jugend in Sünde gelebt und als Mutter versagt zu haben.

Albert T. Fischer, im Oktober 2017

Ein Grab im Sottoceneri

Wir standen im Sommer 1992 vor dem schlichten Stein mit dem Namen Terezija Skringer, der Mutter meines Onkels Pepe1. Terezija wurde im Juli 1986, in ihrem 91. Lebensjahr, nach zwei Jahren in einem Altersheim im Sottoceneri in der Nähe von Lugano in aller Stille begraben.

Pepe war für mich seit meiner Kindheit eine schillernde Figur gewesen. Er verdiente aus meiner Sicht schon damals viel Geld und machte in späteren Jahren ein Vermögen als gewiefter Spekulant mit Liegenschaften. Trotz all des vielen Geldes lebte er seit jeher sehr bescheiden, war Meister im Zubereiten kleiner, aber leckerer Eintopf-Mahlzeiten und fuhr nie ein grösseres Auto als einen alten VW-Käfer. Er lebte nach seiner Pensionierung zusammen mit Terezija und der Familie seines verstorbenen Bruders Pit in São Paulo und brachte schliesslich 1984 seine Mutter in ein Altersheim im Sottoceneri.

Das Ospizio lag nahe der Villa, in der einst Pepes Vater Francesco mit seiner Frau Elisabeth, der Stiefmutter der Söhne Pit und Pepe und ihrem gemeinsamen Sohn Egon, als wohlhabende Leute residiert hatten.

Hier, weit entfernt von ihrer Heimat, fand diese Frau ihre letzte Ruhe. Wo eigentlich war ihre Heimat gewesen, fragte ich Pepe, als wir das Grab verliessen, und er meinte, ihre Heimat sei die Sehnsucht nach einem freien und unabhängigen Kroatien gewesen, der Traum aller Kroaten seit den ersten Balkankriegen, und er ist es noch immer.

Erinnerungen aus meiner Kindheit

Nicht alles an Resas Geschichte, die mir Pepe in vielen Gesprächen erzählte, war für mich neu. Als Kind lebte ich mit meinen Geschwistern, Eltern und Grosseltern zusammen. Onkel Pepe, Cousin meines Vaters, war bei uns kein seltener Gast. Geistreich, voll sprühender Fantasie und erfolgreicher Vertreter.

Ich wusste längst, dass Pepe und Pit eine andere Mutter hatten als ihr Stiefbruder Egon und dass diese Mutter vor langer Zeit meinen Grossonkel Francesco und ihre beiden vier und zwei Jahre alten Kleinkinder mit unbekanntem Ziel verlassen hatte und nicht mehr zurückgekommen war. Alle nannten sie «die Resi», wenn der Name fiel, war klar – diese Resi war eine Rabenmutter. Ich habe diese Frau nie kennen gelernt. Das einzige Bild von ihr, dem ich je begegnet bin, stammt aus den Beständen der Deutsch-Österreichischen Gestapo.

Im Gegensatz dazu galt Pepes Vater, mein Grossonkel Francesco, als Vorzeigepersönlichkeit, ein gewesener erfolgreicher Hotelier, der nun als reicher Privatier mit seiner hochdeutsch sprechenden Gemahlin in einer Villa oberhalb von Lugano lebte. Auf ihn liess niemand etwas kommen. Als ich dem schon etwas in die Jahre gekommenen Mann als Kind zum ersten Mal begegnete, war ich sehr beeindruckt.

Pepes Stiefmutter sprach ein reines Hochdeutsch, ich erlebte sie nicht etwa als unfreundlich. Was mich an ihr beeindruckte: Sie war die erste Frau, die ich kannte, die ein Auto steuern konnte. Francesco liess sich von ihr herumchauffieren. Von Lugano über den Ceneri- und Gotthardpass in die Deutschschweiz und wieder zurück. Und er, der Grossonkel, sass gemütlich daneben. Das machte mir, dem damals Zehnjährigen, enorm Eindruck.

Viele Erinnerungen kamen wieder, als wir vor dem Grab standen. Da gab es eine Schlampe, die Resi hiess, und eine von Pepe behauptete halbwegs Heilige Terezija. Was sollte ich nun glauben? Ich nahm mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

Ich begann, Terezijas Spuren in Kroatien zu suchen. Doch in Kroatien herrschte seit der Gründung der unabhängigen Republik 1991 ein von Franjo Tudjman angeführter Krieg gegen das Serbien des Diktators Milosevic, der so etwas wie ein serbisches Jugoslawien als Nachfolger Titos unter seiner Fuchtel zu behalten versuchte. Es war ein schrecklicher und erbarmungsloser Krieg und dauerte Jahre, unmöglich, in dieser Zeit den Spuren der Terezija Skringer nachzugehen.

Unter Tudjman kämpften die Kroaten für und um die Unabhängigkeit des Landes. Aber es ging auch um alte Seilschaften, Denkmuster und nicht zuletzt um Religion. Sie wollten ihren eigenen Staat, in Wirklichkeit schon nach 1918, nach dem Zusammenbruch der österreichischen K&K-Monarchie und der Gründung des serbisch dominierten Königreichs Jugoslawien. Die Kämpfe zwischen den beiden Volksgruppen waren so unerbittlich grausam wie eh und je. Tudjman und seine Krieger setzten sich durch, vermutlich nicht nur auf Grund ihrer Überlegenheit, sondern auch, weil Milosevic zu viele Fronten offen hatte. Letztlich wurde der Diktator durch den Einsatz amerikanischer Bomber zur Aufgabe gezwungen. Viele Menschen im westlichen Europa haben diese Kriege auf dem Balkan nicht verstanden. Ich zählte und zähle mich noch immer dazu.

Das aktuelle Morden auf dem Balkan war eine Fortsetzung Jahrhunderte zurückliegender unerbittlicher Konflikte zwischen unterschiedlichen Volksgruppen und Religionen, Serben, Kroaten, Slowenier, Albaner, Makedonier, Monte-Negriner, Bosnier, Herzegowinas mit ihren vererbten Sprachen und Traditionen. Getrennt auch in papsttreue Katholiken, serbische Orthodoxe und Muslime, alle immer darauf bedacht, den Glauben der anderen auszurotten, den eigenen zu verbreiten und den anderen aufzuzwingen. Die römischen Päpste waren da in der ferneren Vergangenheit so wenig zimperlich wie etwa die Patriarchen von Belgrad oder die Muslime in Sarajewo und alles immer im Namen Gottes oder Allahs.

Die Kriege auf dem Balkan liessen mir seither durch alle Jahre keine Ruhe und ich wartete neugierig auf eine Rückkehr meines Onkels Pepe aus São Paulo, den ich dann im Frühling 1997 traf.

Ich erzählte ihm von meinen Versuchen, aus dem Internet etwas über das Leben seiner Mutter zu erfahren. Ihr Name scheine da ab und zu auf, doch ein zusammenhängendes Bild ihres Wirkens hätte ich daraus nicht ersehen können. Wir redeten über die noch immer anhaltenden grausamen Vorgänge auf dem Balkan, über die Massaker und die mehreren 100'000 Flüchtlinge, die dieser Krieg verursacht hatte. Er wusste viel über die Wurzeln dieser Konflikte, auch über die Vorgänge im ersten und zweiten Balkankrieg. Alle seine Erörterungen führten schliesslich zur Vergangenheit seiner Mutter.

So begannen unsere Gespräche über das erstaunliche Leben der Terezija Skringer, die sich in grösseren und kleineren Abständen über Jahre hinzogen bis zu Pepes Tod im Januar 2011.

Sein Tod war ein neuer Anstoss, seinem Leben und dem seiner Mutter zu folgen. Ich begann, mich vermehrt um die Tragödie «Balkan» zu kümmern. Im Juni jenes Jahres stiess ich im Internet auf einen Artikel des deutschen «Spiegel» mit dem Titel: «Würdigung für Kardinal Stepinac, Holocaust-Überlebende kritisieren Papst» und anschliessend auf eine PDF-Datei mit der Überschrift: «Kardinal Stepinac, Faschist oder Märtyrer» sowie auf den videogestützten Beitrag von Karlheinz Deschner über die Gräueltaten der kroatischen Ustascha. Diese Inhalte motivierten mich endgültig, mich der Geschichte der Terezija Skringer so stark wie möglich zu nähern.2

Grossonkel Francesco

Onkel Pepes Vater Francesco, der Bruder meiner Grossmutter Anna, war während meiner Kindheit und Jugend als Hotel- und Villenbesitzer in der Sonnenstube des Landes für meine ganze Sippe ein Mann von hohem Ansehen. Meine Geschwister und ich selbst, auch Cousins und Cousinen waren immer wieder Feriengäste in seinem vornehmen, in mediterranem Stil gebauten Haus mit dem schönen Namen Concordia. Für Einzelne wurde er gar Arbeitgeber. Sie wirkten als Zimmermädchen, in der Küche oder an der Rezeption seines Hotels im Zentrum von Lugano. Francesco und Elisabeth, so hiess seine Frau, pflegten auch einen grossen Freundeskreis und gaben an schönen Sommerabenden Partys im Garten der Villa. Ich machte mir nie Gedanken, wie mein Onkel dazu gekommen war und lebte in der Idee, das sei immer so gewesen.

Das war nicht immer so, sagte Pepe: «Der Anfang war turbulent und hart und begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Zügen von der Nordsee an die italienische Riviera. In Genua wurde der Speisewagen-Kellner Francesco zum ersten Mal so etwas wie sesshaft und dort lernte er Terezija kennen.»

Also habe ich alles aufgeschrieben, was Pepe mir erzählte, ich hatte auch, als er noch lebte, alle möglichen Quellen beigezogen, um seine Inhalte zu ergänzen, aber auch in Frage zu stellen, Hintergründe zu klären und da und dort eventuelle Irrtümer aufzudecken. Fehlende Quellen und unzählige Hindernisse, auch offensichtlicher Mangel an Hilfsbereitschaft machten es mir unmöglich, das Leben der geschichtlichen Terezija, kurz Resa, nachzuzeichnen.

Fluchten

Im Mai 1915, als Italien an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte in den Krieg trat, war der 33-jährige Schweizer Francesco schon fünf Jahre Padrone/Gerente einer «Osteria della Birra», gegenüber dem Bahnhof an der Piazza Acquaverde von Genua. Seine Spezialität war Birra-Tedesca, worunter Francesco Biere auch aus der Schweiz und dem kaiserlichen Österreich, beispielsweise Pils aus Böhmen, ausschenkte. In diesem Bahnhof endeten die meisten Züge aus beinahe ganz Nordeuropa und hier begannen die gewaltigen Dampflokomotiven ihre Fahrt zurück nach Mailand und weiter durch den 1882 eröffneten Gotthard-Eisenbahntunnel in den Norden. Im gleichen Jahr, nur einen Monat vor dessen Eröffnung, war Francesco zur Welt gekommen. Irgendwie, so meinte er oft im Spass, gehörten sie beide zusammen.

Seit bald einem Jahr führten das Deutsche Reich und die königlich kaiserliche Monarchie Österreich Krieg gegen Frankreich und Grossbritannien. Es kamen daher etwas weniger Gäste, war das Geschäft etwas flauer als früher, aber doch immer noch sehr rege. Die Bar war beliebt, vor allem bei den Reisenden, die aus dem Norden kamen oder dahin zurückkehrten. Bei den Einheimischen, wenn sie die Bar überhaupt kannten, galt sie als Drehscheibe der Heimwehdeutschen und -Österreicher. Deren Sprache dominierte denn auch die Geräuschkulisse, mindestens am Abend bei Hochbetrieb. Francesco war beliebt bei allen Gästen, er war stets guter Laune und verdiente gutes Geld. Er war auch beliebt bei Frauen, was damals ziemlich kompliziert sein konnte. Doch Francesco war ein diskreter und umsichtiger Liebhaber, bisher trotz mehrerer Abenteuer nie in Schwierigkeiten geraten. Auch gegenüber seinen sehr vielfältigen Gästen blieb er stets diskret und liess jedem seinen Glauben und seine Ideen. Wenn jemand von ihm wissen wollte, wo er denn im Hinblick auf die Kriegsparteien stehe, sagte er: «Ich bin Schweizer, also neutral.» Niemandem entging dabei das verschmitzte oder je nach Publikum charmante, aber immer vielsagende Lächeln.

Nur wenige Tage vor dem 23. Mai 1915, dem Tag von Italiens Kriegseintritt, endete Francescos Wirte-Glück. Die Bar wurde geschlossen, sie galt bei den Behörden seit langem als Nest der kaiserlichen Agenten, wurde jedoch nicht früher dichtgemacht, weil sich auch die italienischen Spitzel dort bedienten und Italien hatte sehr lange gezögert, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Der Gerente wurde zur «Persona non grata» erklärt und musste das Land binnen 48 Stunden verlassen.

Die gleiche Ausweisung erhielten auch zwei Serviererinnen, eine Deutsche aus Freiburg im Breisgau und eine Österreicherin, Letztere noch nicht ganz 20 Jahre alt, aus dem königlich-kaiserlichen Agram, dem heutigen Zagreb, bei den Behörden als Studentin Terezija Skringer angemeldet und ordentlich als solche an einer katholischen Sprachschule eingeschrieben. In Francescos Bar arbeitete sie ohne Bewilligung als Aushilfe. Das war nicht die ganze Wahrheit. Sie arbeitete von Anfang an beinahe jeden Abend, sie brauchte das Geld, sie war zuhause nach bestandenem Abitur ausgerissen, um einer von den Eltern arrangierten Heirat zu entgehen. Das Ausland hatte sie gewählt, um der K&K-Polizei zu entgehen und Italien, weil sie in Zagreb Italienisch in der Schule als Freifach bezogen hatte.

Francesco war ihr von Anfang an verfallen. Sie war gescheit, attraktiv und charmant, lernte schnell, arbeitete effizient, machte guten Umsatz und somit auch gutes Trinkgeld. Sie benahm sich den Gästen gegenüber genau richtig, um beliebt zu sein, ohne sich mit ihnen einzulassen.

Was ausser dem Paar niemand wusste: Resa war schwanger und Francesco der Vater des ungeborenen Wesens. Er mochte mit allen Wassern gewaschen sein, aber er war kein Lump. Mit Hilfe des Schweizer Konsuls in Genua erhielt er für sich selbst und Resa die Bestätigung einer «konsularischen» Ehe mit Resa und konnte so ohne weitere Schikane in die Schweiz einreisen. Diese Hilfe war nicht ganz ohne Aufpreis zu haben, ein Vorgang, den Francesco aus anderen Geschäften zur Genüge kannte und ihm auch nicht schwerfiel. Er lebte durch all die Jahre auf Grund seiner Herkunft sehr karg, er konnte zwar das Inventar der Bar wegen der Kürze der Zeit nicht verkaufen, aber immerhin einige Dutzend ersparte italienische Gold-Lire über die Grenze retten, und das war damals ein kleines Vermögen.

Auf ihrer Fahrt nach Luzern, die damals zwölf Stunden dauerte, fanden sie zum ersten Mal Zeit, sich gegenseitig über ihre Herkunft und Geschichte auszutauschen. Die bisherige Nähe war zwar nicht nur, aber vor allem ein gegenseitiges wildes Begehren gewesen. Für Francesco kam Resa sehr gelegen. Er gab sich wenig Zeit für das seiner Ansicht nach komplizierte Geschäft der Liebe. In seinem bisherigen bewegten Leben hatte er gelernt, so etwas wie Liebe auch zu kaufen, aber irgendwie hatte er es nicht geschafft, darin mehr als ein notwendiges Übel zu sehen. Immerhin, Resa mochte er von Anfang an, er fühlte sich zu ihr hingezogen. Nein, er dachte nicht an Liebe, aber an Lust, an trunkene Hingabe. Sie war einfach das Mädchen oder die Frau der Stunde. Er konnte ihr auch sonst bieten, was sie dringend brauchte, nämlich ein Obdach, ganz in seiner und der Nähe der Bar in einer mehr als bescheidenen Mansarde.

Für sie repräsentierte der 33-Jährige so etwas wie Erfahrung, kein Spiesser wie die Menschen der Welt, aus der sie entflohen war. Sie wollte ihre Unschuld nie für einen tumben Ehemann aufsparen und war über die Affäre, die sich sehr bald ergab, hocherfreut. Mit einer so raschen Schwangerschaft hatte sie allerdings nicht gerechnet und Francesco konnte der «Sache» nicht entgehen. Zu eindeutig waren die Umstände seiner Vaterschaft.

Im Zug benahmen sich die beiden wie ein junges Paar auf der Hochzeitsreise. Um 13 Uhr rollte er, gezogen von der riesigen stampfenden Dampflokomotive, aus dem Bahnhof. Der vielen Reisenden wegen hatte sich der sonst sehr behäbige Francesco die Kosten der ersten Klasse geleistet und die beiden begannen die Fahrt im noblen Speisewagen mit einer üppigen Mahlzeit. Zu Unterhaltungen mit anderen Fahrgästen kam es kaum. Alle redeten an den Tischen über Politik und Krieg, insbesondere über den Eintritt des Königreichs Italien auf der Seite der Entente. Die meisten Mitreisenden waren Deutsche, somit von der anderen Seite. Francesco hielt sich da heraus. Er machte sich jetzt Gedanken über die nahe Zukunft, gemeinsam mit dieser aus seiner Sicht noch kaum erwachsenen werdenden Mutter. Alles hatte er sich vorstellen können, nur das nicht und vor allem nicht in einer so unsicheren Zeit.

Resa hatte ihm über ihr bisheriges behütetes, aber auch langweiliges Leben längst alles erzählt. Ihr Vater war ein in Wien ausgebildeter kroatischer Sprachlehrer. Er hatte in den ersten Jahren sein Geld als Privatlehrer für Kinder nobler Familien verdient und es geschafft, den Kindern eines Offiziers der kaiserlichen Garde Kroatisch beizubringen. Durch diese Beziehung wurde er als 40-Jähriger mit Resas Mutter bekannt, sie heirateten und zogen kurz nach Resas Geburt im August 1895 als Familie nach Agram. Der Vater fand dort eine Anstellung am Institut für Fremdsprachen der kaiserlichen Universität. An all das konnte sich Resa selbst nicht erinnern. Sie verbrachte ihrer Meinung nach eine zwar strenge, aber sehr behütete Jugend, zu behütet, zu langweilig. Endgültig zur Flucht ins Abenteuer entschloss sich die 19-Jährige, als ihr ihre Eltern – der Vater war inzwischen mit 60 Jahren beinahe ein Greis und fühlte sich dafür verantwortlich, die Tochter unter die Haube zu bringen – eine Heirat mit einem plumpen, auch schon in die Jahre gekommenen Arzt zumuten wollten.

Jetzt fuhr sie mit Francesco in die Schweiz und ihre Eltern hatten weder über die Umstände noch über ihren Verbleib auch nur die kleinste Ahnung. Sie fand, Francesco wusste nun alles über ihr ereignisloses Leben, er aber liess sie über seine Vergangenheit völlig im Dunkeln. Sie begann auf dieser Reise in ihn zu dringen. Immerhin erwartete sie von ihm ihr erstes Kind und jetzt fuhr sie mit ihm in ein gemeinsames Leben in einem für sie fremden Land. Es war aus ihrer Sicht nicht wirklich die Lust auf Abenteuer, die sie von zu Hause hatte ausbrechen lassen, sondern die Beklemmung vor einer zermürbenden Zukunft. Ähnlich fühlte sie sich jetzt, nur konnte sie sich selbst nicht entfliehen. Das Wesen in ihr würde, wo auch immer, dabei sein. Sie war darüber weder wütend noch traurig, eher ängstlich, sie wollte vor allem diesen Mann besser kennen lernen.

Francesco hatte mit seiner Vergangenheit kein Problem. Wenn er bisher mit Resa kaum darüber gesprochen hatte, war das vor allem der sehr knappen Freizeit zuzuschreiben. Er arbeitete sieben Tage die Woche von früh bis spät in seiner Bar und machte so viel wie möglich selbst, um die Kosten tief zu halten. So waren seine Ersparnisse, seine Gold-Lire, zusammengekommen, darum konnten sie sich jetzt die erste Klasse und das opulente Mittagessen leisten. Dabei kam er selbst auf seine Vergangenheit zu reden. Schon mit 24 Jahren fuhr er als Kellner im Speisewagen der Züge von Hamburg nach Genua, nicht immer auf der ganzen Strecke, meistens ab Luzern nach Norden oder nach Süden. Das war ein hoch angesehener und für Francescos Verhältnisse einträglicher Beruf.

Die grosse Speisekarte versprach mehrgängige Menüs und die Kleine Karte bot vielfältige Abwechslung für die lange Reise, die meisten ohnehin wohlhabenden Gäste hatten Zeit, viel Zeit.

Speisewagen-Kellner zu sein war ein Privileg und nur die Korrektesten, Schnellsten und Aufmerksamsten schafften die Anstellung. Es ging um jedes Detail, äussere Erscheinung, Haltung, Hilfsbereitschaft, ganz abgesehen von der beruflichen Routine. Nichts durfte dem schnellen Blick entgehen. Fleckenlose Tischtücher und Servietten, makelloses Porzellan, glänzendes Silberbesteck, blitzende Kristallgläser zierten die Tische und selbst die zwar kleinen, aber feinen Blumengestecke durften nicht fehlen, alles musste perfekt aufgetischt sein. Selbstverständlich musste nicht nur der Rahmen, sondern vor allem der Service stimmen. Jede Geste, jede Handreichung war eingeübt und kein Zwischenfall durfte den Ablauf stören, auch nicht, wenn der Zug über Weichen holperte, durch Kurven jagte oder unvermittelt anhielt. Nur so waren die Gäste glücklich und zufrieden und die Trinkgelder reichlich. Kaffee, edle Spirituosen und Zigarren gehörten am Ende der Malzeiten dazu. Essen im Speisewagen war ein grosser Luxus, Koch und Kellner hüteten den Ruf.

Mittagessen und Nachtessen wurden in zwei oder gar drei Etappen angeboten und jeweils in den Waggons durch einen der Kellner mit einer Handglocke in der 1. und 2. Klasse angekündigt. Gäste aus der 3. Wagenklasse waren in der Regel nicht erwünscht und es gab der Preise wegen auch kaum eine Nachfrage. Die assen auf ihren hölzernen Sitzbänken ihre mitgebrachten Brote.

In diesem Beruf hatte Francesco so etwas wie die grosse weite Welt kennen gelernt. Ein wenig schon zuvor im Hotel Gotthard am Bahnhof Luzern. Da begann er seine Karriere als 14-Jähriger in einer etwas spassigen Livree als Laufbursche und Lift Boy, wechselte für eine Weile in die Küche, wurde danach Kellner im Restaurant und im grossen Saal der reichen Feriengäste, lernte Leute kennen, die nur einmal kamen und solche, die immer wieder im Sankt Gotthard abstiegen. Da hatte er nicht nur arbeiten, sondern auch sparen gelernt, wie sich die einzelnen Münzen auf die Länge auszahlten, wenn er sie zusammenhielt. Das hatte ihm schon seine Mutter aus dem armen Entlebuch eingetrichtert, aber jetzt hatte er es selbst erfahren.

Immer wieder begegneten ihm bei seiner Arbeit auch Kellner aus den Zügen, die im Restaurant Pause machten. In Luzern wurden die Lokomotiven mit Kohle und Wasser versorgt oder gar ausgewechselt und so hatten die Männer Zeit für eine Abwechslung. Eher selten, doch ab und zu, etwa wenn sie den Zug zu wechseln hatten, nahmen sie sich für die Nacht eines der einfachsten Zimmer. Durch sie fand Francesco, den damals alle einfach Franz riefen, eine Anstellung als Kellner im Waggonrestaurant der grossen Züge. Franz war sprachbegabt, er lernte nach und nach Italienisch, Französisch und auch etwas Englisch. Er musste sich alles Wissen und jede Fähigkeit zusammenklauben. Es gab für ihn keine echte Berufslehre, keine Weiterbildungsmöglichkeiten oder so etwas wie Kurse. Seine Eltern kamen aus einem der ärmsten Winkel des Landes, aus dem Tal der kleinen Emme, er war das fünfte von sieben Kindern und von klein auf neugierig, umtriebig, aufmerksam, wissbegierig …

Noch nie hatte er einer Frau so viel erzählt, sich noch nie so viel Zeit genommen. Resa fühlte sich danach erleichtert. Sie fuhren jetzt zusammen nach Luzern. Vor Mitternacht würden sie dort ankommen und im Hotel Sankt Gotthard absteigen.

An der Rezeption kannte man den Franz, den Oberkellner von damals. Immer wieder hatte er vorbeigeschaut, auf seinen Fahrten nach Norden oder Süden. Franz hoffte ohne Erfolg, hier für sie beide Arbeit zu finden. Der Direktor vermittelte ihm einen Kontakt zum Hotel Münsterhof in Zürich, wo er und seine Geliebte nach wenigen Tagen hinreisten und bleiben konnten. Er war jetzt wieder einfacher Kellner und sie Buffetdame, beides mit ordentlicher Anmeldung in der Stadt Zürich. Das Hotel bot ihnen auch eine Unterkunft in zwei kleinen unbeheizten, getrennten Zimmern. Mehr liessen Zürichs Sittengesetze für ein unverheiratetes Paar nicht zu. Im August, Resa war gerade 20 geworden, kam Pit zur Welt. Nichts veränderte sich sonst. Schon nach wenigen Tagen stand sie wieder hinter dem Büffet und schenkte Bier aus, spülte und trocknete Gläser, sah ab und zu nach dem Kleinen in der Remise neben der Küche und gab ihm zu trinken, wenn er schrie und sie es der Arbeit wegen richten konnte. Ein solches Arrangement war ein grosses Entgegenkommen seitens des Patrons und nur möglich, weil Francesco aus Luzern eine tadellose Empfehlung brachte.

Immerhin gab es für die junge Mutter eine für ihr späteres Leben entscheidende Begegnung. Sie befreundete sich mit einer Studentin aus dem österreichisch-kaiserlichen Galizien, aus Lemberg. Sie hiess Elsbetia Pfau, kurz Elsa, und war die Tochter einer in die Schweiz eingewanderten vornehmen jüdischen Familie. Elsa studierte an der Universität Zürich Juristerei und Nationalökonomie und kam beinahe jeden Tag zum Essen in den Münsterhof. Für die damalige Zeit war eine Freundschaft zwischen einer jungen Dame aus besserem Haus und einer gewöhnlichen Büffetdame unbekannter Herkunft, die nachweislich ein ganzes Leben hielt, sehr erstaunlich. Die junge Mutter lernte auch deren Eltern kennen und fand in ihnen so etwas wie eine Hoffnung auf Hilfe, wenn alle Stränge reissen sollten. Auch dies war nicht selbstverständlich in jener von Standesdünkeln strotzenden Welt. Pepe erzählte, Elsas Vater hätte nach dem Zusammenbruch einer Bank einen Rest seines Vermögens in die Schweiz gerettet und dies hätte ihn und seine Familie gegenüber Schicksalen anderer sanfter gemacht. Mitgeholfen habe zudem die Erinnerung an die gemeinsam erlebte und verlassene Heimat, das kaiserliche Österreich. Immerhin erlaubte diese Beziehung die Vermutung, dass sich Resa bei den vornehmen Leuten trotz aller «fragwürdigen Umstände und Widerwärtigkeiten» als junge Frau von Format ausweisen konnte.

Am 17. Juli 1917 kam ihr zweiter Sohn Pepe zur Welt. Noch immer war das Paar nicht verheiratet und das Verhältnis der beiden ein ständiges Auf und Ab und Hin und Her der Gefühle, ein Leben zwischen Trieb und Trott, voll inniger Umarmungen und heftiger Streitereien. Keine Basis für eine Ehe, aber auch ohne Perspektive für eine heilsame Trennung. Sie waren sich einig, in einer anderen neuen Umgebung und Aufgabe würden sie sich wiederfinden.

Franz hatte mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, vorwiegend im Luzernischen lebend, längst Kontakt aufgenommen. Vor allem die Frauen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen über die Zustände, in denen ihr Sohn und Bruder mit dieser Frau und «deren Bälgen» zusammenlebte. Doch Franz liess sich nicht beirren, dazu hatte er zu viel Lebenserfahrung. Er hielt die Kontakte auf kleinem Feuer und war längst auf der Suche nach einem neuen Horizont für das weitere Leben. Im August 1917, kurz nach Pepes Geburt, übernahm er zusammen mit Resa in Lugano das Hotel Grütli als Gerant. Er hatte dafür seine in Italien gemachten Ersparnisse flüssig gemacht. Er glaubte an eine gemeinsame Zukunft, aber vielleicht fühlte sich Resa jetzt mit zwei Kindern und ständig von Arbeit im Betrieb bedrängt mehr in die Enge getrieben denn je.

Lugano war damals bei Weitem nicht der renommierte Kur- und Ferienort, zu dem er sich durch die folgenden Jahrzehnte entwickelte. Zudem tobte im Westen und Osten nach wie vor ein mörderischer Krieg, in dem Hunderttausende buchstäblich geschlachtet wurden. Gäste aus dem Ausland waren kaum zu erwarten und auch wohlhabende Schweizer hatten andere Sorgen, als Ferien im Tessin zu machen. Zwar gab es die Deutsche Naturisten- und Künstlerbewegung «Monte Verita», die über Ascona siedelte und deren Mitglieder mehrheitlich aus deutschen Pfründen lebten. Aber daneben gab es nur sehr spärlichen Fremdenverkehr. Die Aussichten auf Erfolg waren für Francesco nicht übermässig gross. Immerhin war die Pacht entsprechend niedrig und das Haus stand an bester Lage, am unteren Ende der damals noch fast neuen Seilbahn zum Bahnhof der Gotthardbahn. Das war in der damals noch beinahe automobillosen Zeit ein zugkräftiger Faktor.

Im November 1918 ging der Krieg zu Ende. Mehrmals hatte Resa im Lauf der Zeit erfolglos versucht, ihre Eltern per Brief oder Telegramm zu erreichen. Sie blieb durch all die Zeit ohne Antwort und an eine Reise dahin war ohnehin nicht zu denken. Im gleichen Jahr zerbrach das Reich der Habsburger. Immerhin musste Franz Josef I. diese Schmach nicht erleben. Er starb im Alter von 86 Jahren, er hatte das Land seit 1848 regiert. Sein Krieg auf dem Balkan und letztlich auch an der Seite des Deutschen Wilhelm II. war vermutlich sein grösster und gröbster Fehler. Österreich schrumpfte zu einer kleinen Republik. Aus Agram wurde Zagreb und aus der Österreicherin Resa eine Bürgerin des Königreiches Jugoslawien.