RÜEGGISBERG

EINE BERNER
KRIMINAL GE SCHICHTE

Inhalt

Vorwort

Die Protagonisten

Prolog

Die Rückkehr des verlorenen Sohnes

Eine leere Handtasche

Fiona Decorvet

Tschernobyl

Von den Beatles und ABBA

Die Aussagen der Linnea Olsen aus Tromsö

Stephanie Imboden und ihre Fotos vom Oppenheim-Brunnen

Das Zollfreilager Genf als grösstes Kunstmuseum der Welt

Victorija Rudenko zu Besuch im Ringhof

Die Lehre von Süss- und Salzwasser

Das Haus an der Milkenstrasse in Schwarzenburg

Lupo macht noch einmal Karriere

Einmal mit, einmal ohne Bart

Von einem Psychologen und einem Diplomatensohn

Von Freikirchen und Sekten

«Guten Tag, Herr Schindler»

Von seltsamen Ritualen in Rüeggisberg

Der Folterhof der Sexsekte

Eine wenig ruhmreiche Vergangenheit des GMI

Der Chip unter den Büroklammern

Die leere Handtasche von Fiona Decorvet

Epilog

Zum Making of …

Ein spezieller Dank …

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Vorwort

Sie wissen es bereits aus meinem Vorwort von «Wohlensee»: Ich schreibe so, wie ich es auch gerne lesen würde. Deshalb sind meine Kriminalgeschichten keine reinen Krimis, in denen es ausschliesslich um einen Fall und dessen Aufklärung geht. Nein, ich flechte auch aktuelle Themen von allgemeinem Interesse ein. Letztes Jahr ging es unter anderem um Doping und Manipulationen im Sport. Die Reaktionen waren zum Teil heftig. Dieses Mal gibt es einiges in Bezug auf den internationalen Kunsthandel zu erfahren, es geht um Atomkraft am Beispiel von Tschernobyl, wo ich auf Recherche war, ich schreibe aber auch über Freikirchen und Sekten.

Stimmt: Ein reiner Krimi-Fan kann mit dieser Art der Geschichte(n) vermutlich nicht sehr viel anfangen. Aber viele Leserinnen und Leser ermuntern mich, auch in Zukunft genau so und nicht anders zu schreiben. Diesem Wunsch komme ich natürlich gerne nach. Erstaunt Sie das?

2020, das sei bereits verraten, wird es für die Ermittler der Kantonspolizei Bern um eine riesige Ferienüberbauung oberhalb von Wengen gehen, von einem kaukasischen Investor initiiert. Lokale und regionale Politik wird ebenso ein Thema sein wie die Formel-1 und, logisch, der Schweizer Tourismus und seine schwierigen Herausforderungen.

Das wäre es für heute. Und nun wünsche ich Ihnen viel Spass mit Joseph «J.R.» Ritter und seinem Team. DANKE für Ihr Interesse!

Mit freundschaftlichen Grüssen

Wohlen, im Oktober 2019

Die Protagonisten

Joseph Ritter, Leiter des Dezernats Leib und Leben bei der Kantonspolizei Bern

1960 im Berner Länggassquartier geboren. Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten in einem Sportgeschäft in Bern, danach im Bereich Security tätig. Anstellung bei der US-Botschaft in Bern, anschliessend im Pentagon/Washington D. C., wo er seine spätere Ehefrau Cheryl Boyle kennenlernt. Zum zehnten Hochzeitstag Reise nach Hawaii. Bei der Rückreise Zwischenhalt in San Francisco, wo sie schuldlos in eine Schiesserei rivalisierender Banden geraten. Cheryl wird von einem Querschläger getroffen und stirbt. Ritter geht für drei Jahre nach Südkorea, findet eine Anstellung im Sicherheitsbereich der US Air Force. Er kehrt 2003 nach Bern zurück, wird Quereinsteiger beim Kriminaltechnischen Dienst KTD der Kantonspolizei Bern, und ist seit zehn Jahren in der heutigen Position tätig. Er wohnt seit drei Jahren mit Stephanie Imboden in Münsingen zusammen. Ritter wird, seiner Initialen wegen, nur J. R. genannt («Tschei Ahr»), wie einst J. R. Ewing in der legendären US-amerikanischen TV-Serie Dallas.

Elias Brunner

Solothurner, 38 Jahre alt. Sportler, spielt Fussball beim FC Bern. Elias Brunner war zuerst bei der uniformierten Polizei, bevor er ins Dezernat Leib und Leben wechselte. Er ist der ruhende Pol in der Abteilung, ihn kann offenbar nichts aus der Fassung bringen – ausser seine langjährige Partnerin und Ehefrau Regula Wälchli, die ab und an gerne provoziert. Was sich liebt, neckt sich. Seit kurzem erstmals Vater.

Stephan Moser

39 Jahre alt, gross gewachsen, seit Jahren Mitarbeiter von Joseph Ritter. Lebt in Hinterkappelen, einem Vorort von Bern. Vor über einem Jahr hat sich seine langjährige Freundin Dolores in aller Freundschaft von ihm getrennt, weil sie während ihrer Tätigkeit auf der Botschaft Spaniens in Bern von der spanischen Regierung ein unwiderstehliches Jobangebot in Madrid erhielt. Nach drei Monaten der Fernbeziehung folgte dann das Ende der Partnerschaft, weil Stephan Moser nicht nach Spanien ziehen wollte. Im Moment noch immer Single. Im Team gilt er als Bürokalb, immer zu einem Spässchen aufgelegt. Bekennender Fan des BSC Young Boys, wartete während Jahrzehnten auf einen Titel für YB, seit 2018 erlöst.

Claudia Lüthi

Die 40-jährige Bernerin ist erst seit knapp einem Jahr im Team Ritter. Nachdem sie vor drei Jahren aus der Privatwirtschaft als Quereinsteigerin in den administrativen Bereich der Kantonspolizei wechselte, bewarb sie sich um den frei werdenden Posten von Regula Wälchli, der Partnerin von Elias Brunner, die vor wenigen Monaten erstmals Mutter geworden ist. Alle notwendigen Ausbildungen zur Kriminalistin hat Claudia Lüthi mit Auszeichnung bestanden. Sie wohnt alleine in Köniz bei Bern.

Eugen Binggeli und Georges Kellerhals

Zwei Spezialisten des KTD, die eng mit dem Team von Joseph Ritter zusammenarbeiten. Binggeli wird mit Vornamen in der US-Version, «Iutschiin», gerufen, Kellerhals mit «Schöre», berndeutsch für Georges.

Veronika Schuler

Rechtsmedizinerin im Institut für Rechtsmedizin IRM Bern. Thurgauerin, mit unverkennbarem Dialekt. Fachfrau, gibt auch Fehler zu. Wird von Ritter & Co. enorm geschätzt.

Gabriela Künzi und Ursula Meister

Mediensprecherinnen bei der Kantonspolizei, beides Kommunikationsprofis.

Max Knüsel

Staatsanwalt Bern-Mittelland. 56 Jahre alt. Spricht die Leute nur mit Familiennamen an, macht selten bis gar nie Komplimente. Hat einen Hang zu schwarzem Humor. Zwei seiner Lieblingssprüche: «Ritter, haben Sie daran gedacht, dass …?» und «Halten Sie mich auf dem Laufenden». Seit letztem Jahr mit Ritter per Du.

Regula Wälchli

Die Gstaaderin (35) war einige Jahre Mitglied des Dezernats Leib und Leben bei Joseph Ritter, zusammen mit ihrem Partner Elias Brunner. Aufgrund ihrer seit sechs Monaten veränderten Lebensumstände – als Mutter von Noah – hat sie ihren Fulltime-Job als Kriminalistin aufgegeben und wird nach dem Mutterschaftsurlaub eine Teilzeitstelle im administrativen Bereich der Kantonspolizei annehmen. Ihren Dienstplan wird sie mit jenem von Elias Brunner abgleichen. Die Familie wohnt im Moment noch am Seidenweg 17 im Berner Länggass-Quartier, sucht aber nach einer neuen Wohnung oder einem Haus in der Agglomeration Bern. Regula hat nach ihrer Heirat ihren Mädchennamen behalten.

Personen, die ebenfalls in Rüeggisberg vorkommen

Die 59-jährige Bernerin Fiona Decorvet ist die eigentliche Hauptfigur in dieser Kriminalgeschichte. Sie wohnt in Schwarzenburg, ist zweimal geschieden und besitzt die beiden Kunstgalerien Avantgarde in der Berner Altstadt und in Zürich an der Bahnhofstrasse. Zusammen mit vier Freundinnen ist sie auf einer jedes Jahr stattfindenden Kulturreise, 2019 in der Ostsee. Am Abend des 8. August verschwindet sie auf der Alberta Imperator plötzlich während der Schiffspassage zwischen Stockholm und Hamburg.

Auf dieser Reise wird sie von der Bündnerin Luzia Cadei (56), einer früheren Direktionssekretärin, der Schauspielerin Prisca Antoniazzi (57), der Mäzenin Ruth Bär (59) und der Kunstschaffenden Ruth Gnädinger (58) aus Schaffhausen begleitet.

Victorija Rudenko stammt ursprünglich aus Tschernobyl und führt die Zürcher Galerie Avantgarde im Auftrag von Fiona Decorvet mit grossem Erfolg. Allerdings hält sich die Freude von Fiona Decorvet darüber in sehr engen Grenzen, hat die Ukrainerin ihr doch den zweiten Ehemann, Nazar Klitschko, ausgespannt. Es handelt sich bei den beiden Frauen also um eine reine, allerdings sehr erfolgreiche Zweckgemeinschaft.

Zusammen mit dem Leiter des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern gehen in Stockholm – nach einem dreitägigen Kongress in der schwedischen Hauptstadt – die Kriminalbeamten Luigi Bevilaqua aus Mailand, Holger «HH» Herrlich aus Hamburg, François Hommard aus Lyon und Adalbert König aus Innsbruck an Bord der Alberta Imperator. Kapitän ist Enrico Tosso, der aus einer alten Seefahrerdynastie Genuas stammt.

Zu den real existierenden Personen, die in Rüeggisberg vorkommen: Roland Jeanneret, noch heute sozusagen der Inbegriff der Glückskette, ist ebenso an Bord der Alberta Imperator wie seine Frau Suzanne. Marianne Reich Arn wiederum, eine aparte Erscheinung, ist Inhaberin nicht bloss der Galerie Kunstreich in Bern, sondern auch des gleichnamigen Rahmenateliers in Ostermundigen. Maxe Sommer aus Kaltacker ist selber Künstler, Kunstvermittler und Kunstförderer, Valentin Landmann einer der bekanntesten Anwälte der Schweiz. Sonya Mosimann ist die führende Kinderhypnosespezialistin der Schweiz, Werner Schürch führt(e) den Emmenhof in Burgdorf. Wolfgang Beltracchi ist ein bekannter Künstler und Kunstfälscher, Lothar Schäfer war lange Jahre Leiter des sozialpädagogischen Rüdli in Brodhüsi/Wimmis, Mike Shiva kennt man aus dem TV, Hans Stöckli ist Berner Ständerat.

Prolog

«Vermisst wird seit dem 8. August: Fiona Decorvet aus Schwarzenburg. Die Vermisste ist 59 Jahre alt, schlank und trägt kurze schwarze Haare. Fiona Decorvet wurde letztmals am Abend des 8. August auf dem Kreuzfahrtschiff Alberta Imperator zwischen Stockholm und Hamburg gesehen, seither fehlt von ihr jede Spur. Die Polizei schliesst nicht aus, dass sich Fiona Decorvet noch am Leben befinden und in der Schweiz aufhalten könnte. Sachdienliche Mitteilungen über den Verbleib von Fiona Decorvet sind erbeten an die Kantonspolizei Bern oder jede andere Polizeidienststelle.»

Medienmitteilung der Kantonspolizei Bern mit einer Foto der Vermissten am Dienstag, 11. August.

Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (Mittwoch, 5. August)

«Dass ich das noch erleben darf, das ist unglaublich!»

Fiona Decorvet konnte ihre Begeisterung nicht für sich behalten, wollte – ja musste – sie mit ihren vier Freundinnen teilen. Grund ihrer Freude war das Gemälde Die Heimkehr des verlorenen Sohnes von Rembrandt Harmenszoon van Rijn, der Weltöffentlichkeit hauptsächlich durch seinen Vornamen bekannt.

Das Werk des niederländischen Malers aus dem Barock (1606–1669) zeigt dem Betrachter einen Vater, der seinem Sohn das sündhafte Leben vergibt. Es bezieht sich auf die Geschichte des verlorenen Sohns im Lukas-Evangelium, Kapitel 15, Verse 11–32, und lässt vermuten, dass der dargestellte Vater im Grunde genommen ein Selbstporträt von Rembrandt sein könnte. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes ist eines der letzten Werke des Malers und, nebst Der Mann mit dem Goldhelm oder Die Nachtwache, eines der bekanntesten Gemälde Rembrandts, der es wie kein Zweiter verstand, in seinen Bildern mit dem Effekt von Licht und Dunkelheit Einzigartiges und Atemberaubendes zu schaffen.

Die 59-jährige Fiona Decorvet, Berner Altstadt-Galeristin mit einer zweiten Niederlassung an der Zürcher Bahnhofstrasse, stand nicht zufälligerweise vor dem Bild. Zusammen mit ihren vier Freundinnen hatte sie noch vor den letzten Weihnachtstagen beschlossen, den jährlich stattfindenden Mädels-Ausflug dieses Mal nach Sankt Petersburg zu unternehmen. Vorletztes Jahr waren die Damen in Breslau, europäische Kulturhauptstadt 2016, im vergangenen Sommer in Bordeaux, das sich in den letzten Jahren zum eigentlichen Kulturtipp entpuppt hatte. Begleitet wurde Fiona Decorvet, die nach zweifacher Scheidung alleine in Schwarzenburg lebte, von ihren vier Freundinnen: Von Luzia Cadei, einer Bündnerin, die als Direktionssekretärin arbeitete; von der Schauspielerin Prisca Antoniazzi; von Ruth Bär, Mäzenin, mit einem Multimillionär verheiratet, und von Ruth Gnädinger, Kunstschaffende aus Schaffhausen und weithinaus noch mit dem verstorbenen Schauspieler Mathias Gnädinger verwandt.

Vor allem die Galerie in Zürich hatte sich in den letzten Jahren – nachdem sich der Kunsthandel von einer weltweiten Schwindsucht erholt hatte – für Fiona Decorvet als Goldgrube erwiesen. Werke von Andy Warhol, Keith Haring und Roy Lichtenstein wechselten via Galerie Avantgarde ebenso die Besitzer wie Arbeiten von Franz Gertsch, Gerhard Richter oder Annie Leibovitz. Geführt wurde die Galerie von der 43-jährigen Victorija Rudenko, die 1986 nach dem Super-GAU in Tschernobyl aus der Nachbar- und heutigen Geisterstadt Prypjat mit ihren Eltern zuerst nach Kiew, wenig später nach Zürich zügelte, wohin ihr Vater ans Physik-Institut der Universität Zürich als Dozent berufen wurde. Aber auch die Erfolge der Berner Galerie Avantgarde – nicht mit der tatsächlich existierenden Boutique gleichen Namens an der Kramgasse zu verwechseln – konnten sich sehen lassen, obwohl die Kunstsammlerinnen und -sammler in der Bundesstadt – bekannte Politiker, ranghohe Beamte und Diplomaten – weit mehr auf Diskretion aus waren als die Käuferschaft in der Limmatstadt. Dort gehörte es zum guten Ton, den neuesten Ankauf gezielt unter die Leute zu bringen, um auf sich aufmerksam zu machen, meistens per Boulevardzeitung und Hochglanzmagazin.

«Nur einmal im Leben so ein Werk vermitteln zu können …», Fiona Decorvet stiess dabei am frühen Nachmittag einen Seufzer aus, «das wäre schon ein Riesending!», war jedoch den bekannten Auktionshäusern wie Christie’s oder Sotheby’s vorbehalten. Die Galeristin wollte ausführlich über das Bild referieren, sah sich aber mit ihren Begleiterinnen gezwungen, der russischen Reiseführerin Tatyana mit ihrer gut sichtbaren Tafel Imperator 8 zu folgen. Follow the guide.

Die Reise nach Sankt Petersburg hatte die kleine Truppe durch Vermittlung einer bekannten Schweizer Reiseagentur gebucht. Es handelte sich um eine kulturelle Kurzreise mit jeweils zwei zweitägigen Aufenthalten in Sankt Petersburg und in Stockholm, am Mittwoch/Donnerstag respektive Freitag/Samstag. Die Hinreise erfolgte mit Aeroflot ab Zürich nach Sankt Petersburg, die Rückreise vom ehemaligen Leningrad nach Hamburg via Stockholm mit dem erst vor wenigen Wochen eingeweihten Kreuzfahrtschiff Alberta Imperator, welches aus Riga und Tallinn einfuhr und Platz für knapp 800 Passagiere und etwa 500 Crewmitglieder bot. Es handelte sich dabei um ein schwimmendes Luxushotel der Extraklasse, gegen andere Kolosse der Weltmeere vergleichsweise klein. Entsprechend teuer schlugen die Passagen zu Buche, die sich die fünf Damen allerdings nicht vom Munde absparen mussten, hatten sie alle doch ein genügend grosses finanzielles Polster. Das Kommando an Bord lag bei Capitano Enrico Tosso, einem 45-jährigen Genuesen aus einer bekannten Seefahrerfamilie.

Die Heimkehr des verlorenen Sohnes von Rembrandt in der Eremitage St. Petersburg.
Foto: Fiona Decorvet, die das Bild ihren vier Freundinnen zeigt. Mit freundlicher Genehmigung von The State Hermitage Museum, St. Petersburg.

Während der beiden Tage in Sankt Petersburg bekam das Quintett all das zu sehen, was man in und um die zweitgrösste Stadt Russlands mit fünf Millionen Einwohnenden in so kurzer Zeit besichtigen konnte, unter anderem den Winterpalast mit der Eremitage, den Katharinenpalast in Puschkin mit dem nachgebauten Bernstein-Zimmer, Schloss Petershof mit einem 150 Hektaren grossen Park, die Peter-Paul-Kirche oder die Bluterlöser-Kirche.

«Auch wenn wir immer in Bewegung sind hier im Winterpalast und der Eremitage», stellte Luzia Cadei fest, «zum Glück haben wir eine offizielle Gruppe gebucht. Nicht auszudenken, wenn wir als Privatpersonen vor dem Eingang warten müssten.» In der Tat: Touristengruppen wurden, offiziell angemeldet, innerhalb eines ganz bestimmten Zeitfensters eingelassen, sodass die Wartezeit jeweils kaum mehr als eine Viertelstunde betrug, trotz Tausenden von Besucherinnen und Besuchern vor den klassischen Sehenswürdigkeiten. Schlüssel zum Erfolg bei derart vielen Besuchern war, dass die Gruppen von ihren Führerinnen ständig in Bewegung gehalten wurden, sodass sich keine Staus bilden konnten. Aber eben: Sich vor einem Kunstwerk Zeit nehmen, das konnte man nicht. Im Gegensatz dazu standen sich private Gäste nicht selten bis zu vier Stunden die Füsse in den Bauch, bevor ihnen Einlass gewährt wurde. Wenn überhaupt. Und ohne Russischkenntnisse wäre es ohnehin sinnlos gewesen, aufbegehren zu wollen.

Die fünf Reisenden hatten für die erste Nacht die Qual der Wahl ihrer Übernachtung in Sankt Petersburg: entweder auf dem Schiff oder aber im Hotel. Die Alberta Imperator lag zwei Tage im Cruiseterminal in unmittelbarer Nähe des modernen, mit einer Milliarde Euro für die Weltmeisterschaften 2018 gebauten Fussballstadions vor Anker. Genauso konnten sie im Park Inn Pribaltiyskaya nächtigen, welches ebenso in der Nähe vom Schiffshafen lag und mit fast 1200 Zimmern das grösste Hotel der Stadt war. Die Schweizerinnen entschieden sich – wenn schon, dann schon – erwartungsgemäss für das Schiff, mit zwei Aussenkabinen und Balkon und einer Aussenkabine mit Balkon zur Alleinbenutzung durch Fiona Decorvet, wobei ihre Kabine nicht auf der gleichen Etage wie jene ihrer Mitreisenden lag, sondern ein Deck höher. Registriert wurden Luzia Cadei, Prisca Antoniazzi, Fiona Decorvet, Ruth Bär und Ruth Gnädinger unter den Passagiernummern 2017–2021, dies als Folge der chronologisch erfolgten Reservationen seit Buchungsbeginn. Eingecheckt hatte die Gruppe am späteren Vormittag, da das Flugzeug bereits um 10 Uhr in St. Petersburg gelandet war.

An diesem Abend unterliessen es die Damen, für ihr Nachtessen auf das Kreuzfahrtschiff zurückzukehren, und assen in der Stadt. Danach stand nämlich ein weiterer Höhepunkt an: das Ballett Cinderella in drei Akten von Sergei Prokofjew im Mariinsky-Theater mit dem Kirov-Ballett.

Am nächsten Tag, Donnerstag, 6. August, verliess die Alberta Imperator bei schönstem Wetter um 17 Uhr das Cruiseterminal in St. Petersburg, um Kurs auf das 363 Seemeilen entfernte Stockholm zu nehmen. Unübersehbar in den ersten Minuten nach dem Ablegen: der neue Hauptsitz von Gazprom am Rande der Stadt, ein Turm von über 450 Meter Höhe, den das Unternehmen nur zu gerne im Zentrum als neues Wahrzeichen Sankt Petersburgs gebaut hätte, was zum Glück jedoch verhindert werden konnte.

Die fünf Freundinnen standen auf dem obersten Deck, alle mit einem Glas Champagner in der Hand, in grosser Vorfreude auf die schwedische Hauptstadt, die am nächsten Morgen um 10 Uhr erreicht werden sollte. Vor allem die letzten beiden Stunden vor dem Anlegen in Stockholm boten Natur vom Schönsten, führten sie doch an vielen kleinen Schären und Inseln vorbei.

«Fiona, zum Mitschreiben für uns», scherzte Prisca Antoniazzi, ihren Freundinnen zuprostend, «in welcher Reihenfolge genau werden wir in Stockholm die Sehenswürdigkeiten beehren?» Ihrer Frage hängte sie – in korrektem Schwedisch und zur grossen Überraschung – gleich ein weltbekanntes Lied an, das mit Tjolahopp tjolahej tjolahoppsan-sa, här kommer Pippi Långstrump, ja, här kommer faktisk jag endete und zu einer einarmigen Ola-Welle ihrer Mitreisenden führte, was wiederum nichts anderes bewies, als dass die Frauen in aufgeräumter Stimmung waren, was definitiv nicht auf das eine Glas Champagner zurückzuführen war.

«Also, ihr Lieben – nein, ihr Liebsten! –, gut aufpassen: Zieht eure Sportschuhe an, denn morgen und übermorgen werden wir zusammen zwischen 20 und 30 Kilometer zu Fuss absolvieren», verkündete Fiona, was zu Erstaunen führte. «Die Stadt kann man vom Schiff aus gut zu Fuss erreichen, wie mir eine schwedische Künstlerin erzählt hat, das Zentrum liegt nur knapp drei Kilometer entfernt. Und einmal dort angelangt, werden wir die Altstadt besichtigen, die Gamla Stan, sicher aber auch das Vasa-Museum, das ABBA-Museum, den Königspalast.»

«Kein Museum für Pippi Langstrumpf?»

«Nein, Prisca, von einem eigentlichen Museum für Pippi oder Astrid Lindgren in Stockholm selber weiss ich nichts. Allerdings gibt es im Vergnügungspark Junibaken ein Kindermuseum, wo man auf seine Kosten kommt, auch in Bezug auf Pippi Langstrumpf», führte Fiona aus.

«Nein, muss nicht sein, ich vermute ohnehin, dass zu Vasa, ABBA und dieser Gamla noch einige Kirchen dazukommen werden», weissagte Prisca.

«Prisca, du bist eine Schlaue, wie immer», kam es lachend von Fiona zurück, worauf sich die Frauen nach einigen Minuten in Richtung ihrer Kabinen zurückzogen.

Abends wurde den Passagieren ein Gala-Diner serviert, wobei diese Feststellung nur die Kleidung der Gäste betraf, denn die Abendessen waren jeden Tag Gala-Essen an sich. Um 21 Uhr liess sich das helvetische Trüppchen von einer stündigen Show im grossen Theatersaal, von einem Bauchredner und einer Tanzgruppe begeistern, bevor man sich zum Schlummerbecher in einer der vielen Bars traf.

Es war keine eigentliche Überraschung, dass am nächsten Morgen Fiona, Luzia, Prisca und die beiden Ruth sich – ohne dies untereinander abgesprochen zu haben – bereits um 7 Uhr auf dem obersten Deck der Alberta Imperator trafen, um die grossartige Landschaft vor Stockholm nicht zu verpassen.

Eine leere Handtasche (Samstag, 8. August)

Fiona Decorvet hatte die Situation für und in Stockholm richtig eingeschätzt, die Füsse wurden während beinahe zwei Tagen arg strapaziert, das vorgesehene Programm absolviert, sogar samt dem Junibaken mit dem Kindermuseum. Und am Abend des 7. August hatte man «auswärts hervorragend gegessen», wie nicht nur Ruth Gnädinger festgestellt hatte, im Fem små hus, in der Gamla Stan, einem Restaurant mit fünf miteinander verbundenen Altstadtkellern. Nicht billig, aber top.

Das Auslaufen der Alberta Imperator wurde für den Samstag, 8. August um 14 Uhr angesetzt, mit Kurs auf Hamburg. An diesem Vormittag ebenfalls noch kurz als Touristen unterwegs waren fünf Kriminalbeamte, die einen dreitägigen internationalen Kongress in Stockholm besucht hatten, der am späten Nachmittag des 7. August zu Ende gegangen war. Joseph «J. R.» Ritter, Dezernatsleiter Leib und Leben bei der Kantonspolizei Bern, hatte bereits vor dem Kongress mit vier seiner ausländischen Kollegen abgemacht, sich das Zwischenstück der Rückreise nach Zürich ab Stockholm bis nach Hamburg mit der Alberta Imperator zu leisten, auf eigene Kosten, versteht sich. Begleitet wurde er von Commissario Luigi Bevilaqua aus Milano, von Holger «H H» Herrlich, Chef der Davidwache in Hamburg, von François Hommard, Commissaire aus Lyon, und von Adalbert König von der Landespolizeidirektion in Innsbruck. Auch diese fünf Herren trafen – wie die fünf Schweizerinnen – rechtzeitig vor dem Kreuzfahrtschiff ein, wo, wie inzwischen überall üblich, die Securityleute des Schiffes die Passagiere zuerst anhand ihrer Bordkarten, anschliessend mit Scanner die Rucksäcke und Handtaschen kontrollierten.

«Lustig, die Herren vor uns könnten Polizisten sein», schmunzelte Ruth Bär, und das nicht gerade im Flüsterton, worauf sich einer der Herren zu ihr umdrehte.

«Sehr gute Einschätzung, ich bin tatsächlich Polizist. Wollen Sie sich nicht bei uns bewerben? Übrigens, darf ich mich vorstellen? Joseph Ritter von der Kantonspolizei Bern. Vier Kollegen aus vier verschiedenen Ländern begleiten mich. Und bevor Sie sich wundern, ob unsere Kommissariate im Geld schwimmen: Wir waren an einem Kongress in Stockholm, leisten uns die Überfahrt nach Hamburg auf eigene Kosten. Wir wollen dieses Wunderschiff einmal im Leben selber besteigen.»

Ritter wurde in diesem Augenblick von einer Sicherheitsbeamtin aufgefordert, seinen Rucksack auf das Förderband zu legen, sodass er nicht mehr sehen konnte, wie Ruth Bär errötete, zur Gaudi ihrer Begleiterinnen. Die Reederei, im Wissen um das Zusteigen der fünf Herren, hatte das Gepäck der Polizisten am frühen Morgen in ihrem Stockholmer Hotel abholen und die Bordpässe mit Angabe der Kabinennummern hinterlegen lassen, damit die Beamten den Vormittag noch in der schwedischen Hauptstadt verbringen konnten. Nach den Kontrollen standen die Herren und Frauen kurz zusammen, stellten sich gegenseitig vor und lachten über das Gespür von Ruth Bär.

«Herr Ritter, wissen Sie bereits, wo Sie heute zum Abendessen sitzen werden? Erste oder zweite Sitzung?», erkundigte sich Fiona Decorvet.

«Wir haben eine Tischnummer für die erste Sitzung um 19 Uhr erhalten. Weshalb fragen Sie, Frau Decorvet?»

«Wäre das nicht eine gute Idee, wenn wir den Chef de Service fragen, ob er uns für heute Abend einen Zehnertisch zuweisen könnte?»

«Ja! Guter Einfall, ich liebe nämlich Kriminalromane! Mich würde interessieren, ob der Alltag von Ermittlern wirklich so spannend ist!», platzte Ruth Gnädinger ins Gespräch.

«Kollegen, was meint ihr dazu?», erkundigte sich Ritter in Englisch, nachdem er seinen Begleitern die «Tatumstände» erklärt hatte.

«Mais oui!» und «Assolutamente!» waren ebenso zu hören wie zweimal «Gerne, doch!», weil die Schweizerinnen sympathische Erscheinungen zu sein schienen.

«Meine Herren, ich kümmere mich darum. Geben Sie mir Ihre Kabinennummern, ich lasse Ihnen eine Message zukommen», sagte Fiona Decorvet, worauf man sich verabschiedete, die Herren in Richtung eines unteren Decks, wo es auch einige wenige Innenkabinen gab, die besser zu ihren Budgets passten. Aber für eine einzige Nacht spielte das überhaupt keine Rolle, denn man(n) gedachte ohnehin nicht, bereits um 22 Uhr ins Bett zu gehen. Ritter teilte sich die Kabine mit Holger Herrlich, die übrigen Herren arrangierten sich zu dritt in einer Kabine.

Während des Nachmittags traf man die eine oder den anderen auf dem obersten Deck, nicht zuletzt, um die grossartige Landschaft zu geniessen. Entlang dieser Gegend befand man sich in schwedischen Gewässern, am späteren Nachmittag in internationalen. Um die internationalen Seefahrtvorschriften zu erfüllen, mussten die fünf Polizisten ebenfalls die vorgeschriebene Rettungsübung bestreiten, unter allerdings eher ungewöhnlichen Bedingungen, nämlich auf der Brücke und unter Leitung von Capitano Enrico Tosso, der über die Anwesenheit der Kriminalisten informiert worden war.

«Meine Herren, es ist uns allen auf der Alberta Imperator eine Freude und Ehre, Sie an Bord zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich hoffe, Ihre Dienste allerdings nicht in Anspruch nehmen zu müssen», lachte er.

«Wie weit ist es eigentlich bis nach Hamburg?», gab sich François Hommard interessiert.

«Von Sankt Petersburg nach Stockholm waren es 363 nautische Seemeilen, von Stockholm nach Hamburg sind es 436, das sind etwas mehr als 830 Kilometer. Wenn alles nach Plan läuft, treffen wir morgen Sonntag um 12 Uhr in der Hansestadt ein. Haben Sie dort noch Pläne?»

«Das», sagte Holger Herrlich, dessen Initialen mit dem Autokennzeichen für die Hansestadt Hamburg übereinstimmten, «kommt auf die Weiterflüge an. Ich selber werde am Nachmittag auf der Davidwache vorbeischauen, habe aber erst übermorgen, am 10. August, wieder Dienst.»

«Die Davidwache auf Sankt Pauli, die vermutlich bekannteste in ganz Europa …»

«Ja, Capitano, wir können uns über Arbeit nicht beklagen, vor allem am Wochenende nicht, da brennt der Baum.»

«Brennt der Baum?», hakte Tosso nach.

«Eine Redensart, Capitano, das heisst, dass wir dann sehr viel zu tun haben, vor allem mit Touristen, die in Bars angeblich zu viel bezahlen mussten, auf der Grossen Freiheit, oder von Bordsteinschwalben gerupft wurden.» Der Capitano unterliess daraufhin eine weitere Frage nach der Bedeutung des letzten Ausdrucks. Es folgten einige Minuten, in denen vor allem über die Seefahrt gesprochen wurde, auch darüber, dass die Reederei Alberta mit ihren neun Schiffen auf allen Weltmeeren zusammen mit der MSC praktisch die einzige bedeutende Reederei in Privatbesitz war und nicht zu Riesen wie die Carnival Corp. gehörte, unter deren Flagge nicht bloss die eigene Flotte fuhr, sondern unter anderen auch die Schiffe von Aida, Costa, Cunard, Holland-America oder Princess. Enrico Tosso ging dabei auch auf technische Fragen ein. Eine halbe Stunde später verabschiedete man sich, die Polizisten verbrachten danach eine Stunde bei der offenen Portofino-Bar auf dem Promenadendeck, die angesichts des schönen und warmen Wetters gut besucht war.

Um 19 Uhr traf man sich im Speisesaal Roma, wo der Chef de Service den gewünschten Zehnertisch reserviert hatte, unmittelbar neben einer riesigen Fensterfront. Es schien, als würden sich die Polizisten und die kulturinteressierten Damen auf das Wiedersehen freuen, entsprechend wurden die Stühle des Tisches jeweils mit dem anderen Geschlecht zur Rechten und zur Linken besetzt. Die Damen wussten vor allem über das Gesehene in Sankt Petersburg zu berichten, samt Fotos auf ihren Handys, die Herren berichteten über ihren Alltag, was die Schweizerinnen offensichtlich zu beeindrucken vermochte. Wie aus dem Nichts heraus erklärte Fiona Decorvet plötzlich, sie müsse dringend auf die Toilette, und zwar auf eine Art und Weise, die vor allem Joseph Ritter irritierte, der aber möglicherweise gar nicht vorhandene Gespenster sah.

Als Fiona Decorvet an den Tisch zurückkehrte, schien sie irgendwie zerstreut, aber nichts deutete auf Ungewöhnliches hin, «alles bestens», versicherte sie, als sich Ritter bei ihr erkundigte. «Déformation professionnelle» würde François Hommard dem vermutlich sagen, Ritter musste ob sich selber schmunzeln. Gemeinsam machte man sich gegen 20.45 Uhr in Richtung des Theatersaals auf, wo um 21 Uhr eine ABBAmania angesagt war mit der Tanztruppe der Alberta Imperator, die meisten davon absolute Spitzentänzerinnen und -tänzer aus Russland, der Ukraine und Polen.

«Entschuldigt mich bitte schnell», flüsterte Fiona Decorvet zu Ruth Gnädinger zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung und nachdem sie eine Nachricht auf ihrem Handy gelesen hatte. Es war das letzte Mal, dass man sie an Bord sah.

«Ich schaue kurz in ihrer Kabine vorbei», erklärte Ruth Gnädinger nach der Vorstellung, «es ist ja nicht ihre Art, einfach wortlos zu verschwinden. Es wird ihr vermutlich unwohl geworden sein. Wo finde ich euch?»

«Wir gehen auf einen Schlummertrunk in die Venezia Bar», sagte Ritter, «kommt ihr auch noch?», worauf die vier Damen nickten.

Zehn Minuten später erschien auch Ruth Gnädinger. Allein.

«Sie hat die Türe nicht geöffnet, ich habe deshalb eine Angestellte gebeten, schnell einen Blick in ihre Kabine zu werfen.»

«Und?», erkundigte sich Holger Herrlich.

«Herr Herrlich, leer. Was ist da passiert?»

«Vor allem sollten Sie sich keine Sorgen machen, vielleicht hat sie ja einen Bekannten getroffen und die Zeit vergessen», versuchte Adalbert König sie zu beruhigen.

«Ich hoffe sehr, dass Ihre Einschätzung stimmt, Herr König, aber ich habe ein komisches Gefühl.»

«Warten wir eine Viertelstunde, dann werde ich die Rezeption bitten, Frau Decorvet auszurufen», empfahl Luigi Bevilaqua, worauf die vier Kollegen zustimmend in seine Richtung nickten. «Lassen wir uns überraschen, vielleicht taucht sie ja vorher mit einer ganz normalen Geschichte auf.»

Um 22.15 Uhr wies sich Luigi Bevilaqua bei einer Mitarbeitenden an der Rezeption aus, mit dem Wunsch, Fiona Decorvet von Kabine 1007 auszurufen und sie an die Kundeninformation zu bitten. Die Durchsage wurde auch in der Venezia Bar gehört.

«Und wenn wir sie nicht finden, was machen wir dann?», erging von Luzia Cadei in die Runde.

«Dann werden wir beim Capitano vorsprechen und ihn bitten, das ganze Schiff durchsuchen zu lassen. Ich bin überzeugt, dass er dem zustimmen wird.»

«Und wenn auch das zu keinem Ergebnis führt und Fiona vielleicht sogar …», Prisca Antoniazzi mochte ihre Gedanken nicht weiter auszusprechen.

«Meine Damen, eines nach dem anderen, jetzt warten wir erst einmal ab, ob sich Frau Decorvet bei der Kundeninformation meldet», wechselte Ritter zurück ins unmittelbare Jetzt.

Eine Viertelstunde später kehrte Luigi Bevilaqua die Schultern zuckend und mit Kopfschütteln zurück. Als ob er die Gedankengänge seiner Kollegen hätte erahnen können, schlug er selber vor, Enrico Tosso zu kontaktieren und ihn zu bitten, von seiner Mannschaft das Schiff durchsuchen zu lassen.

«Luigi, ich denke, das ist der einzig richtige Weg», antwortete König respektvoll, «als Landsmann des Capitanos, machst du das?»

«Certo. In internationalen Gewässern gilt übrigens die Gesetzgebung jenes Landes, in welchem das Schiff immatrikuliert ist, in unserem Fall also italienisches Recht. Aber das nur nebenbei. Bleibt ihr hier? Machen wir aus der Bar einen offiziellen Treffpunkt?», wollte er wissen, worauf alle acht übrigen Anwesenden zustimmten.

Enrico Tosso hatte zwar seinen Arbeitstag seit wenigen Minuten beendet, er hielt sich jedoch noch immer auf der Brücke auf und besprach sich mit seinem Ersten Offizier, der jetzt für das Schiff verantwortlich war, als ihn der Anruf von Luigi Bevilaqua erreichte. Er bat den Polizisten zu sich auf die Brücke.

«Commissario, was kann ich für Sie tun?»

«Capitano, zuerst einmal bedaure ich, dass ich Sie um Unterstützung bitten muss, aber eine Passagierin ist nicht auffindbar.»

«Frau Deco …»

«Decorvet, ja, Fiona Decorvet, Sie haben die Durchsage auch gehört?»

«Ja, gewiss. Seit wann vermissen Sie sie?»

«Ihre Mitreisenden haben sie kurz nach Beginn der Vorstellung im Theater aufstehen und zum Ausgang gehen sehen, also wenige Minuten nach neun Uhr.»

Enrico Tosso schaute auf seine Uhr.

«Capitano, ich will mit der Vermutung, dass sie nicht mehr auf dem Schiff sein könnte, nicht den Teufel an die Wand malen, deshalb: Können Sie von Ihren Leuten die Imperator durchsuchen lassen? Und glauben Sie mir, uns ist das unangenehm, sehr unangenehm.»

«Kein Problem, Commissario, ich werde das sofort veranlassen. Zudem werde ich die Videoaufzeichnungen der letzten beiden Stunden visionieren lassen, wobei …»

«Wobei?»

«Die Innenbereiche sind zwar zu 100 % überwacht, nicht so aber gewisse Aussenbereiche. Die Aufzeichnungen werden uns also möglicherweise keine Gewissheit geben, was eventuell passiert sein könnte.»

Bereits zehn Minuten später waren an die 200 Crewmitglieder diskret daran, auf der Suche nach dem Verbleib von Fiona Decorvet die ihnen zugeteilten Bereiche zu kontrollieren. Eine halbe Stunde später stellte sich auch diese Aktion als ergebnislos heraus. Luigi Bevilaqua hatte sich zu Beginn der Schiffsdurchsuchung wieder zu seiner Gruppe begeben, um ihnen über die Besprechung mit dem Kapitän zu berichten, auch, was die Videoaufzeichnungen betraf. Enrico Tosso seinerseits hatte dem Commissario versprochen, ihn in der Venezia Bar aufzusuchen, sobald er Neues erfahren würde. Dies war gegen 23.45 Uhr der Fall.

«Signore e Signori, purtroppo – ich habe Ihnen keine guten Neuigkeiten. Frau Decorvet haben wir nicht gefunden, aber das hier auf Deck 5, wo sich die Rettungsboote befinden.» Er zeigte der Gruppe eine kleine, längliche Damenhandtasche von Freitag, eine Ottendorfer aus der Reference Collection.

«Die gehört Fiona!», riefen die vier Damen fast gleichzeitig.

«Was hat das zu bedeuten, Capitano?», wandte sich Bevilaqua an Tosso.

«Commissario, ich kann das nicht einschätzen. Jener Teil des Decks, auf welchem wir die Tasche gefunden haben, befindet sich knapp ausserhalb des Bereichs für die Videoaufzeichnungen bei den Rettungsbooten. Es ist um 21.21 Uhr kurz ein Schatten zu sehen, der sich von einem Boot wegbewegen könnte, mehr nicht. Auffallend: In der Tasche finden sich nur Kosmetikartikel. Keine Ausweise, kein Handy, kein Geld.»

«Eine ultimative Frage, die ich eigentlich gar nicht stellen dürfte …»

«Bitte, Herr Ritter.»

«Umkehren, Frau Decorvet suchen?»

«Meine Damen und Herren, ich hätte das sofort veranlasst, würde nur der Hauch einer Chance bestehen, Frau Decorvet zu finden. Aber seit ihrem Verschwinden sind fast drei Stunden vergangen, eine Suche wäre schon allein deshalb hoffnungslos, dazu ist es Nacht.»

«Hilfe von den Küstenwachen, mit Suchhelikoptern?» Prisca Antoniazzi stellte die Frage.

«Signora, wir sind zu weit von den Küsten entfernt, zudem wüssten wir gar nicht, in welchen Abschnitten zu suchen wäre. Nein, ich kann und will Ihnen keine Hoffnung machen. Das Einzige, was wir tun können, ist zu hoffen, dass sie bei unserer Suche übersehen wurde. Wir werden uns die Passagiere beim Aussteigen in Hamburg genau anschauen und zu jener Zeit das Schiff nochmals durchsuchen.»

«Capitano, soll ich in Hamburg Spürhunde anfordern, die bei der Suche behilflich sind?», schlug Herrlich vor.

«Das wäre eine sehr gute Idee, Herr Herrlich. Grazie.»

«Würden Sie mir ein ungewaschenes Kleidungsstück aus der Kabine von Frau Decorvet zur Verfügung stellen?», bat er die vier Damen.

«Das machen wir, Herr Herrlich», sagte Luzia Cadei, «aber mit diesem Umstand haben wir uns noch gar nicht beschäftigt, mit dem Kofferpacken für Fiona», worauf sie ihre Freundinnen wortlos ansah.

«Capitano, ist es möglich, uns die Passagierliste zur Verfügung zu stellen?», ersuchte Ritter.

«Herr Ritter, in diesem speziellen Fall mit Sicherheit, allerdings nur zur Ansicht, Sie dürfen sie nicht mitnehmen oder kopieren, dazu benötige ich die Zustimmung der Reederei, was nicht umgehend der Fall sein wird. Die Leute benötigen ihrerseits Zeit für juristische Abklärungen.»

«Das ist überhaupt kein Problem, Capitano, danke.»

Joseph Ritter wandte sich an die Anwesenden, derweil Enrico Tosso sich vorübergehend verabschiedete, im Wissen, dass er die Verantwortliche für die Administration wecken musste, um an das ausgedruckte Dokument heranzukommen. In den nächsten Minuten überlegte Ritter laut, wie das weitere Vorgehen bis zum Ausschiffen in Hamburg aussehen würde, immer wieder mit der Zustimmung seiner Kollegen: Die vier Frauen hatten die Aufgabe, die Passagierliste spontan zu begutachten. Unter Umständen würden sie auf Namen stossen, die in einem möglichen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Fiona Decorvet stehen könnten. Vor allem galt es, sich die Namen der Schweizer Passagiere zu notieren. Luigi Bevilaqua erklärte sich bereit, zusammen mit dem Capitano in Genua Druck zu machen, damit die Berner Ermittler möglichst rasch offiziell und juristisch abgesichert an die Liste herankommen konnten, um sie in den nächsten Tagen im Detail durchzupflügen. Von wem hatte Fiona Decorvet eine Nachricht erhalten, die derart wichtig schien, dass sie mitten in der Vorstellung das Theater verliess? Wohin ging sie? Traf sie jemanden? Vor allem aber: Wo befand sie sich jetzt, was hatte es mit der Handtasche auf Deck 5 auf sich? Hatte sie schon während des Nachtessens eine SMS erhalten, die sie aufstehen liess? Ratlosigkeit herrschte. Die nächsten Minuten gehörten den Kriminalisten, die Damen begnügten sich mit der Rolle der Zuhörerinnen.

In der Nähe dieses Rettungsbootes auf der Alberta Imperator auf Deck 5 wurde die Handtasche von Fiona Decorvet gefunden.

«Kollegen, wie gehen wir bei den Ermittlungen vor? Wer von uns macht was?»

«J. R., es geht hier um eine Schweizer Bürgerin, also bist du schon einmal involviert.»

«Ja, Holger, aber demnächst treffen wir in Deutschland ein, dort bist du – im wahrsten Sinne des Wortes – Hausherr, abgekürzt HH», witzelte Ritter. «Nicht vergessen, cari amici sportivi, la nostra nave ist italienisches Hoheitsgebiet», warf Bevilaqua ein.

«J. R., müssen wir Interpol zuschalten?», bedachte König.

«Nein, Adalbert, das müssen wir nicht. Denn: Es liegt kein Verbrechen vor, es wird lediglich jemand vermisst. Die Spürhunde stellen wir zur Verfügung, sofern der Capitano und Luigi damit einverstanden sind.»

«Claro. Verzwickt wird unser Fall erst, sollten wir Signora Decorvet leblos an Bord finden, was wir alle natürlich nicht hoffen.»

In diesem Moment kehrte Enrico Tosso zur Gruppe zurück, die jetzt noch allein in der Venezia Bar sass. Dies war kein Zufall, denn der Kapitän hatte auf dem Weg zur Administration den Barkeeper gebeten, die anderen wenigen Gäste zu motivieren, für einen Gratisdrink in einen anderen Salon zu wechseln. Tosso überliess vorerst Ritter die Passagierliste, mit der Bitte, diese nicht aus der Venezia Bar zu tragen und dafür später seinem Zweiten Offizier Carlo Colombi auszuhändigen, der Nachtdienst hatte. Er verabschiedete sich danach bei den Polizisten und den Kulturtouristinnen mit der Feststellung, dass er um 6 Uhr wieder auf der Brücke zur Verfügung stünde.

Mitternacht war seit 90 Minuten vorbei, als Luzia Cadei, Prisca Antoniazzi, Ruth Bär und Ruth Gnädinger die Passagierliste Joseph Ritter wieder überreichten.

«Herr Ritter», Ruth Gnädinger amtete als Gruppensprecherin, «es sind total nur 22 Schweizer an Bord, minus uns fünf Damen, also nur 17 andere. Mit Ausnahme eines Namens können wir nichts anfangen, haben sie aber notiert, mit Adressen. Sie wohnen in Münsingen?», worauf der Schweizer schmunzeln musste.

«Minus mich selber, macht noch 16. Ja, ich bin in Münsingen zu Hause. Sagen Ihnen die Namen anderer Passagiere per Zufall etwas, Frau Gnädinger?»

«Überhaupt nicht, vielleicht mit Ausnahme eines Mark Spitz.»

«X-facher Olympiasieger im Schwimmen», ergänzte Prisca Antoniazzi.

«Siebenfach, 1972 in München», stellte Ritter weiter fest, «aber ich denke kaum, dass wir ihn befragen müssen, zumal er Amerikaner ist. Dennoch eine Frage: Sie sagten mit Ausnahme eines Namens, wen haben Sie damit gemeint, etwa Roland Jeanneret?»

«Herr Ritter, können Sie Gedanken lesen oder sind Sie eventuell sogar bei der NSA?», scherzte Ruth Gnädinger.

«Nein, keine Angst, Frau Gnädinger», gab sich Ritter ernsthaft, «aber mir war, ich hätte ihn und seine Frau Suzanne vorhin von Weitem gesehen. Wir kennen uns nicht, aber das ehemalige Aushängeschild der Glückskette ist noch heute schweizweit bekannt. 16 minus 2. Es gibt demnach 14 Schweizer, auf die wir eventuell zurückkommen müssen. Jeanneret wird kaum etwas mit Frau Decorvet zu tun gehabt haben, sonst hätten sie sich zweifelsohne begrüsst. Das wäre Ihnen bestimmt aufgefallen, nicht wahr?»

«Ja, das ist so, Fiona hätte uns Herrn Jeanneret bestimmt vorgestellt.»

Entgegen der Anweisung an alle anderen in Hamburg aussteigenden Passagiere, ihre Koffer mit zur Verfügung gestellten verschiedenfarbigen Etiketten bis 1 Uhr vor ihre Kabinen für den Abtransport und reibungslosen Abschluss ihrer Reise zu stellen, konnten die neun Anwesenden damit bis 7 Uhr zuwarten. Das hatte ihnen Carlo Colombi mitgeteilt. Gegen 1.45 Uhr verabschiedete man sich, Ritter mit der Bitte an die Damen, ihn um 7 Uhr im Speisesaal Roma zu treffen, weil er doch einige Fragen zur Verschwundenen hatte.