Thomas Bornhauser

FEHLSCHUSS

Inhalt

Prolog

Kein Tag wie jeder andere

Der Schuss

Bern, die USA und Korea

Ein intelligentes Gewehr

Der Fall Martin Bigler

Von den Pfadi ins Bundeshaus

Von Skulpturen und Satelliten

Mary-Ann, Murielle oder Marianne?

Ein emotionaler Wasserfall

Im Hirschen zu Ortschwaben

Murielle Devanthéry und Arthur Aufdermauer

Aneta Gomulka

Thomas Kowalski

«Erstunken und erlogen!»

Die engere Beziehung

Liste Polterabend

Zu schnell unterwegs

Der Eclat

Zwei Schweizer in Polen

Einsatz in Lodz

High Frequency Trading

Der Fall Arthur Aufdermauer

Einige Wochen später

Mögliche Verdächtige im Multipack

Der Brief

Eine nächste Dienstreise nach Polen

Epilog

Einige Intermezzi zu «Fehlschuss»

Thomas Bornhauser

Oberhalb des Glasbrunnens im Bremgartenwald Bern brannte der Ferrari aus.

Prolog

«BERN. Wie die Kantonspolizei Bern mitteilt, wurde in der Nacht auf heute im Bremgartenwald bei Bern ein ausgebrannter Sportwagen mit zwei noch nicht identifizierten Toten entdeckt. Wer sachdienliche Mitteilungen oder Beobachtungen zum Vorfall machen kann, wird gebeten, sich bei der Kantonspolizei Bern oder bei jeder anderen Polizeidienststelle zu melden.»

Medienmitteilung der Kantonspolizei Bern

am 2. Mai um 10:03 Uhr.

Kein Tag wie jeder andere

Montag, 5. Mai. Ein schöner Tag, wie gestern Sonntagabend von Sandra Boner auf dem Dach der Fernsehstudios in Zürich bereits vorausgesagt. Die Pendlerzeitung hatte in ihrer heutigen Ausgabe den Bericht aus einer Sonntagzeitung vom Vortag aufgenommen, wonach in den letzten Jahren die Zahl der Vollzeitstellen in der zentralen Verwaltung der SBB von 737 auf 1500 gestiegen ist.

«Und womöglich sitzen diese Spezialisten, denen Kostenoptimierung und Prozesse über alles gehen, in diesem Regionalzug und belegen die Sitzplätze», ging es ihm durch den Kopf.

Es konnte denn auch nicht erstaunen, dass diese Umstände im RE 3154 entsprechend lautstark gewürdigt wurden. Pech hatte nämlich, wer an Werktagen um 07:08 Uhr in Münsingen die von Thun herkommende doppelstöckige Zugskomposition nach Bern-Hauptbahnhof nehmen musste, war doch meistens Stehen angesagt, auch heute.

Also geduldete er sich auf der Plattform zwischen den Türen ausserhalb der Abteile, mit vielen anderen Pendlern – unter anderem war da eine junge Frau mit ihrem Velo und einem schätzungsweise zweijährigen Meitli im Sitzli auf dem Gepäckträger – wie Sardinen in der Büchse. Zwei Jungverliebte indes liessen trotz der Menschenmenge nichts anbrennen und schmusten bis Bern-Hauptbahnhof hemmungslos miteinander, sehr zum Entsetzen (oder Neid?) der Reisenden.

Erstaunlicherweise war nichts darüber zu lesen, ob die Berner Polizei Neues zu ihren Ermittlungen im Fall des am letzten Freitag ausgebrannten Sportwagens im Berner Bremgartenwald mit zwei Toten zu vermelden hatte. Abgesehen davon: Es war in diesem Gschtungg1 schier unmöglich, Zeitung zu lesen, was sich ohnehin erübrigte, da die wichtigsten Themen sowieso mündlich besprochen wurden, vor allem die wieder einmal unnötige Heimniederlage der Berner Young Boys vom Vortag.

Komisch: Der ausgebrannte Sportwagen kam auch bei den Mitstehenden nicht zur Sprache, obwohl der Fall das ganze letzte Wochenende ein echtes Medienthema. Sogar «schweiz aktuell» berichtete am Freitagabend live vom Fundort im Bremgartenwald bei Bern.

Joseph Ritter, Chef Dezernat «Leib und Leben» – so hiess in Bern das Mordkommissariat der Kriminalabteilung der Kantonspolizei –, fragte sich insgeheim, weshalb er nicht einen früheren Zug mit weniger Pendlern genommen hatte. Und obwohl sich eigentlich der Rufname «Sepp» aufgedrängt hatte, war er seit seinem Eintritt bei der Kapo nur als «J.R.» bekannt, benannt nach John Ross Ewing aus der US-amerikanischen TV-Serie «Dallas» der Achtzigerjahre.

07:20 Uhr. Pünktlich traf der Zug im Hauptbahnhof Bern auf Gleis 4 ein. Auf der Rampe zur Unterführung im Bahnhof die übliche Menschenmasse. «Man könnte sich direkt auf den Stufen des Grand Station Terminals in Richtung Park Avenue oder der 42nd Street wähnen», erinnerte sich Ritter an seine Zeit in Manhattan zurück. Joseph Ritter arbeitete seit 2003 im sogenannten Ringhof, im Lorrainequartier, am Nordring, musste heute aber husch noch ein bestimmtes Dokument in Zusammenhang mit dem Sportwagen-Vorfall beim Kommando der Kantonspolizei am unteren Waisenhausplatz abholen.

Im Volksmund hiess das Gebäude noch immer «Polizeikaserne», zurückzuführen auf die Zeit, als Stadt- und Kantonspolizei bis vor wenigen Jahren getrennte Bereiche waren. Auf dem Weg dorthin kaufte sich Ritter wie üblich bei einem Take-away linkerhand seinen Becher mit einem heissen Kakaogetränk, lief am Restaurant Sous-Sol und der Bäckerei Eichenberger vorbei, anschliessend stieg er die Treppe zur Neuengasse hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Rolltreppe rechts von ihm unbeachtet lassend. Der Bahnhofplatz, am Ende der Treppen liegend, teilte die Welt in zwei Zonen: Links Burger King, rechts Gübelin mit einer Schmuck- und Uhrenauslage, die sich auch an der Park Avenue in New York gut machen würde.

Er lief die mit Berner und Schweizer Fahnen beflaggte Neuengasse entlang, wo ein grosser Coop-Sattelschlepper auf der linken Strassenseite das Warenhaus Ryfflihof mit neuer Ware belieferte. Auf halbem Weg bog Ritter nach links ins Ryffligässli ab, angeblich der kürzere Weg zur ehemaligen Polizeikaserne, da die Neuengasse auf ihrer zweiten Hälfte einen ganz leichten Rechtsknick zum Bärenplatz aufweist. Am Ende des Ryffligässlis zweigte er rechts in die Aarbergergasse ein, wo rechterhand unzählige 110-Liter-Abfallsäcke lagen, einige davon aufgeschlitzt, der Inhalt den Boden bedeckend.

Das Prozedere auf dem Kommando war eine kurze Sache, eine Routineangelegenheit: Hier C4-Briefumschlag, da Unterschrift für die Aushändigung. Ritter erwähnte zum Schluss noch die Sauerei in der Aarbergergasse. Anschliessend ging er zu Fuss – bei diesem schönen Wetter – links am Kunstmuseum Bern vorbei, zu einer Sonderausstellung zu Hodler, Segantini und Anker einladend. Gleich gegenüber lag das Amthaus, wo auch die Staatsanwaltschaft zu finden war. Ritter drehte kurz nach der Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse nach rechts auf die Lorrainebrücke ab, um 800 Meter später den Ringhof – unter anderem die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern – zu erreichen.

Mit einem inzwischen leeren Pappbecher, den er beim Eingang in einen Abfallbehälter entsorgte, betrat Ritter das Gebäude. «J.R., guete Tag», dieser Morgengruss wiederholte sich vom Eingang bis zu seinem Büro im ersten Stock einige Male. Joseph Ritter war bei seinen Kolleginnen und Kollegen beliebt, nicht zuletzt, weil der 55-Jährige seine zugeteilten Fälle immer pragmatisch anging, ohne übertriebenen Aktivismus.

Sein Büro teilte Ritter mit Stephan Moser, Regula Wälchli und Elias Brunner, mit drei Leuten, mit denen er bereits länger zusammenarbeitete. Der Raum selber war spartanisch eingerichtet, die vier Pulte mit ihren PCs und Telefonstationen standen jeweils zu zweit Kopf an Kopf; Ritter und Wälchli, Moser und Brunner. Ausser den Garderobenschränken und einer grossen mobilen Pinwand mit Stichworten zum jeweils aktuellen Fall – wie im Moment dem ausgebrannten Sportwagen im Bremgartenwald –, gab es im Zimmer bloss noch eine Kaffeemaschine und ein Radio, die beide auf einem kleinen Kühlschrank in der rechten Ecke des Zimmers standen.

«Hopp YB!», rief Stephan Moser nach der Begrüssung zur neuen Woche, ein echter YB-Fan, der hinter seinem Pult an der Wand ein inzwischen stark vergilbtes Poster von Jean-Marie Conz aufgehängt hatte, dem damaligen Captain, wie er 1986 noch im alten Wankdorf-Stadion zum letzten Mal für den Berner Traditionsclub den Meisterpokal in die Höhe stemmte.

«Es geht nicht mehr lange, lieber Steff, da beginnt eine neue Saison mit neuen Hoffnungen – und die stirbt bekanntlich zuletzt», sagte Ritter.

Regula Wälchli und Elias Brunner konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn diese Durchhalteparolen jährten sich bereits zum x-ten Mal.

Moser war eine Art «Büro-Kalb», immer zu einem Spässchen oder zu einem Bonmot aufgelegt. Er war ungefähr 180 cm gross, sportlich-schlank und lebte seit Längerem in einer festen Beziehung in Hinterkappelen bei Bern mit der Spanierin Dolores zusammen, einer ausgesprochen sportlichen und attraktiven Erscheinung. Trotz seiner erst 36 Altersjahre hatte Moser bereits eine Halbglatze, weshalb er seine Haare bei seinem Coiffeur jeweils extrem kurz schneiden liess, fast typisch für einen Kriminalisten. Bei der Kantonspolizei Bern war er seit seiner Ausbildung.

«Gutes Wochenende gehabt?», fragte Ritter in die Runde, wobei die Frage unisono bejaht wurde, sah man vom Standpunkt aus gelbschwarzer Sicht ab, den Klubfarben von YB.

«Ich habe dich gestern aus der Ferne an der BEA2 gesehen, im Gespräch mit Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Gehörst du eigentlich zur Cervelatprominenz?», wollte Regula Wälchli vom Chef wissen. Wälchli arbeitete, nach der Polizeischule 2006 und nach einigen Jahren bei der mobilen und stationierten Polizei – letztere waren die eigentlichen Generalisten im Polizeikorps –, seit zwei Jahren beim Dezernat «Leib und Leben». Sie erhielt nur ein kurzes Kopfschütteln als Antwort, man konnte dieses im weitesten Sinne durchaus als verständnislos bezeichnen.

Dieses Poster von YB-Captain Jean-Marie Conz 1986 bei der Übergabe des Meisterbechers hing hinter dem Arbeitsplatz von Stephan Moser an der Wand.

«Wieso sind die Papierkörbe nicht geleert worden?», wollte der Chef wissen. Wälchli hob die rechte Hand, mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben: «Sparmassnahmen, das Putzpersonal kommt bloss noch Dienstag und Donnerstag.» Elias Brunner setzte noch einen drauf: «Der Kommandant meinte, wir könnten das notfalls selber machen.»

«Klar doch, ganz sicher», entgegnete Ritter leicht echauffiert. «Wir könnten ja aber auch gleich alle vertraulichen Papiere jeden Abend einfach aufs Trottoir stellen, damit jeweils ein Journalist das alles abholen und sichten kann. Montag ‹Berner Zeitung BZ›, Dienstag ‹Der Bund›, Mittwoch ‹Blick am Abend›, Donnerstag ‹20 Minuten›, Freitag das Regionaljournal von SRF 1 und am Samstag der ‹SonntagsBlick›.»

Er hängte seine rot-schwarze Jack-Wolfskin-Jacke über die Stuhllehne und überflog rasch die Anordnung der Unterlagen auf dem Pult, um festzustellen, ob sich seit Sonntagmittag etwas verändert hatte, bevor er zur BEA aufgebrochen war. Das schien nicht der Fall zu sein.

«Gits öppis Nöis?», wollte J.R. wissen, wobei das Team genau wusste, worauf sich diese Frage bezog.

«Nein, so wie es scheint, nicht», meinte Wälchli, «auch das IRM3 tut sich mit den verlangten Ergebnissen schwer.»

Dabei stand die Journaille wie Bluthunde vor der Eingangstüre, denn die «Gruppe Ritter» war seit Freitag samt Wochenendarbeit daran, einen Aufsehen erregenden Fall zu untersuchen, der eben nicht nur von den Berner Medien – das Berner Medienhaus der Espace-Media-Gruppe lag nur unweit des Ringhofs entfernt – hautnah verfolgt und mit Spekulationen angereichert wurde.

Fakt war: In der Nacht auf Freitag, 2. Mai, hatte Franz Gottschling aus Paderborn (D) um 00:33 Uhr der Polizei per Handy gemeldet, dass beim Glasbrunnen ein Auto brenne. Er war mit dem Velo auf der ehemaligen Formel-1-Rennstrecke im Bremgartenwald im Norden Berns in Richtung Eymatt am Wohlensee unterwegs. Im TCS-Camping hatte er einen Wohnwagen stehen, verbrachte dort fast immer seine Ferien. Um 00:34 Uhr wurde die Berufsfeuerwehr der Stadt Bern alarmiert. Und tatsächlich: Direkt oberhalb des Glasbrunnens – in dessen Wasser gewisse Bernerinnen und Berner noch immer eine übernatürliche Kraftquelle vermuteten – brannte ein Sportwagen. Trotz sofortigem Einsatz mit Löschschaum konnte die Feuerwehr, die dank ihres Stützpunktes am Rand des Bremgartenwalds bereits vier Minuten nach dem Alarm eintraf, das vollständige Ausbrennen des Autos nicht mehr verhindern. Es handelte sich bei der Brandruine ohne Kontrollschilder um einen Ferrari 360 Modena, den ein Boulevard-Journalist sogleich und mit denkbar wenig Taktgefühl in «Todena» umgetauft hatte. Dass es sich um einen 360er-Ferrari gehandelt hatte, war bei diesem Wrack selbst für Autofans nicht sofort erkennbar, man hätte das Chassis auf den ersten Blick mit dem Vorgängermodell Ferrari 355 oder einem heutigen Jaguar XKR verwechseln können.

Die Ferrari- und Maserati-Garage in Hinterkappelen.

Im Innenraum des ursprünglich gelben Sportwagens befanden sich zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen, wobei es sich beim Toten auf dem Fahrersitz um den Halter des Autos handelte. Diese Klärung war dem IRM noch im Laufe des Freitagnachmittags aufgrund auswertbarer DNA-Spuren im Hause des Opfers relativ schnell gelungen. Der entscheidende Tipp dazu kam noch am frühen Morgen von der nur knapp einen Kilometer Luftlinie entfernten, in Hinterkappelen gelegenen Ferrari- und Maserati-Garage von Josef Németh.

Dank der Chassisnummer konnte Németh die Identität des Fahrers feststellen, denn sehr viele gelbe 360-Modena fuhren in und um Bern nicht umher. Im Weiteren standen dem einst über 200 000 Franken teuren Schlitten ohnehin noch die genauen Untersuchungen durch den Kriminaltechnischen Dienst (KTD) bevor. Die Leute des KTD waren noch in der Nacht samt dem Staatsanwalt zur Stelle, hatten den Fundort hell beleuchtet und grossräumig abgesperrt. Der Ferrari seinerseits war inzwischen mit einem grossen Sichtschutzzelt vor den Augen Neugieriger abgedeckt.

«Wenn es ein gelber 360er-Modena ist – oder sollte man nicht viel eher war sagen? –, dann kann es sich beim Besitzer eigentlich nur um Thomas Kowalski handeln», stellte Josef Németh im Unwissen um die näheren Tatumstände bei der Befragung durch Elias Brunner am frühen Freitagmorgen fest. «Warten Sie schnell, ich hole die Unterlagen», sagte er und verschwand für ungefähr drei Minuten aus dem Blickfeld des Kriminalbeamten.

Bedeuteten drei Minuten Wartezeit bei einer Befragung im Normalfall eine kleine Ewigkeit – bei der man fast versucht war, eine Vermisstenanzeige aufzugeben –, so waren es für den Autofan an diesem Tag gefühlte 30 Sekunden, denn nur zu gerne hätte Brunner sich im Showroom die dort ausgestellten Ferrari und Maserati länger angesehen. Und im Übrigen musste er schmunzeln wegen der Bemerkung «Warten Sie schnell», denn wie sollte das in der Praxis gehen, schnell … warten? Aber diese Frage hatte vor langer Zeit schon einmal ein Berner Kabarettist italienischer Abstammung öffentlich gestellt.

Németh konnte seine Vermutung anhand der mitgebrachten Papiere bestätigen. Beim Käufer handelte es sich tatsächlich um Thomas Kowalski. Dieser Name war Brunner nicht unbekannt. Kowalski hatte seine beste Zeit als Milieu-König von Bern zwar längst hinter sich, aber «TomCat», wie er im Milieu noch immer genannt wurde – in Anlehnung an das Kampfflugzeug der US-Navy «F-14 Tomcat» –, war noch immer eine graue Eminenz in der Bundesstadt, wobei niemand so genau wusste, womit er seinen Lebenswandel heute finanzierte.

Tatsache war, dass nicht nur in Bern einigen Nachtklubs das Wasser bis zum Hals stand, weil immer weniger Herren bereit waren, sich für eine bis zu 1 000 Franken teure Champagnerflasche von nur vordergründig trinkwilligen Damen anmachen und im Séparée mit Fingerspitzengefühl zwischen den Beinen aufgeilen zu lassen. Auch diese Branche war eines der vielen Opfer des Internets geworden, weil Kontakte zu Escortservices und offen deklarierten Prostituierten längst direkt stattfanden, ohne sogenannte Vermittlungsgebühren durch Zuhälter.

«Thomas Kowalski hat den gelben Ferrari 360 Modena am 8. November im vorletzten Jahr gekauft, aus erster Hand.»

«Aus erster Hand, was heisst das?», wollte Brunner wissen.

Németh schmunzelte.

«Nun, bei einem VW Golf würden wir davon reden, dass es eine Occasion war, bei unseren Marken aber spricht man von ‹aus erster Hand›, nicht einmal ‹second hand› wird einem Ferrari oder einem Maserati gerecht.»

«Und wer war demzufolge, nun, wie sagt man, der Neuwagenbesitzer?»

«Ein Industrieller aus der Ostschweiz, der den 360er für seine Freundin gekauft hatte. Als die Beziehung nach einigen heftigen Streitereien, so erzählte er mir, zerbrach, wollte der Mann den Ferrari so schnell als möglich loswerden.»

«Ein Ostschweizer, der nach Hinterkappelen fährt, um seinen Wagen verkaufen zu lassen? Ist das nicht ein bisschen merkwürdig?»

«Wissen Sie, Herr Brunner, Diskretion ist das Nonplusultra in unserer Branche, deshalb werde ich Ihnen den Namen des Verkäufers auch nicht nennen, weil wohl völlig irrelevant.»

Womit Németh im Grunde genommen recht hatte, es aber ausser Acht liess, dass man den vorherigen Halter beim Strassenverkehrsamt in Erfahrung hätte bringen können. Nach diesen Worten verabschiedete man sich.

Unklar blieb bis dato die Identität der zweiten Person, wodurch die Spekulationen bei den Journalisten bereits am Freitagnachmittag via Online-Newsportale ins Kraut zu schiessen begannen («Abrechnung im Milieu oder Beziehungsdelikt?»), weil es sich beim Opfer auf dem Beifahrersitz um eine Frau handelte und der Name des Toten auf dem Fahrersitz bereits durchgesickert war. Die Todesumstände beider Opfer indes blieben im Unklaren. Der Fahrer wurde durch einen vermutlich aufgesetzten Schuss auf Herzhöhe umgebracht, das Fenster auf seiner Seite war offen. Die weibliche Leiche wiederum, und einzig dies stand bis zum Montag, 5. Mai, nach Ermittlungen im IRM fest, hatte keinen Rauch in der Lunge. Die Frau starb offensichtlich an den Folgen eines Schlages auf den Hinterkopf. An weiteren Erkenntnissen arbeitete das IRM noch. «Mit Hochdruck», wie es jeweils hiess.

«Gibt es keine Vermisstenanzeige, die uns weiterbringen könnte?», wollte Ritter von seinem Team wissen.

Kopfschütteln allenthalben.

«Haben wir bereits nähere Informationen, wo der Fahrer den Donnerstag und die Nacht auf den Freitag verbracht, was er gemacht hat?»

«Wir sind weiter im Stadium der Befragungen, allerdings noch ohne konkrete Hinweise, es scheint eine Mauer des Schweigens zu geben», stellte Regula Wälchli fest.

«Und weshalb das?», fragte Ritter leicht gereizt nach.

Eine Art Schützenhilfe für seine Kollegin kam von Stephan Moser: «Kowalski scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein, zumindest in letzter Zeit, nicht einmal von einer möglichen Freundin oder Begleiterin wollten die bisher Befragten etwas wissen.»

«Haben die Leute Angst vor möglichen Aussagen?», fragte Ritter und dachte unvermittelt daran, dass, wer in Sizilien gegen die örtliche Mafia aussagt, selten das Pensionsalter erreicht: «Gibt es eine Art bernische Omertà?»

«Nein, das glaube ich nicht, ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl. Du etwa, Regula?»

«Nein, auch nicht. Oops! J.R., es ist gleich 09:45 Uhr.»

Was nichts anderes hiess, als dass die Staatsanwaltschaft im Amthaus an der Hodlerstrasse 7 – vom Ringhof aus bequem in zehn Minuten zu Fuss erreichbar – um 10:00 Uhr Neuigkeiten zum Fall erwartete, die es jedoch nicht gab. Max Knüsel war ein Staatsanwalt der alten Schule, so, wie man sich einen Staatsanwalt vorstellt: Mitte 50, unauffällig gekleidet, eine Art kleiner Machiavelli, seiner Macht bewusst. Von ihm hiess es, er habe einen rabenschwarzen Humor, den er aber im beruflichen Alltag nicht allzu oft aufblitzen liess.

Joseph Ritter war froh, dass die Sitzung beim Staatsanwalt bereits um 10:50 Uhr zu Ende war, denn um 11:15 Uhr begann in der Klubschule an der Marktgasse der von einer halbstündigen Mittagspause unterbrochene zweistündige Kurs «Redetraining und Rhetorik», zu dem er und drei weitere Dezernatsleiter vom Kommandanten der Kantonspolizei angemeldet worden war, weil man den Medienvertretern gegenüber nicht selbstsicher genug auftreten konnte, denn von Zeit zu Zeit musste auch Joseph Ritter als Spezialist vor die Journalistinnen und Journalisten treten, wobei das normale Tagesgeschäft professionell von den Mitarbeitenden der Medienstelle der Kapo Bern erledigt wurde.

Punkt 11:00 Uhr trafen sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Mario Egli mit Joseph seph Ritter wie abgemacht vor der Haupttüre des Amthauses. Auf dem Fussweg in die Innenstadt – am immer noch umstrittenen Brunnen von Meret Oppenheim vor dem Polizeikommando am Waisenhausplatz vorbei – drehte sich das Gespräch logischerweise rund um den «Todena», wie Lüthi den Ferrari Modena bezeichnete, den zur Todesfalle gewordenen Sportwagen.

«Muesch itz nid o no aafa, mit däm ‹Todena›, Beätu!»4

«Habt ihr noch keine verwertbaren Aussagen, auch rund um TomCat Kowalski nicht?», wollte Jenni wissen.

«Bis jetzt nicht, nein, aber wir arbeiten daran.» Zum Glück liess sich keiner seiner drei Kollegen zu einem «Sicher mit Hochdruck» verleiten.

1 Gedränge.

2 Grosse Frühlings-Publikumsmesse in Bern.

3 IRM ist die Abkürzung für das Institut für Rechtsmedizin an der Bühlstrasse im Berner Länggassquartier

4 Jetzt musst du aber nicht auch noch mit dem «Todena» beginnen, Beat!

Der Schuss

Um 11:10 Uhr traf das Quartett beim Sekretariat der Klubschule im zweiten Stock der Liegenschaft ein. «Der Kurs findet im Zimmer 211 statt», stand an der Infotafel zu lesen. Diese Schule an der Marktgasse war in ihrer Art ein Unikum, mit einem grossen Innenhof, den bei schönem Wetter nicht bloss Raucherinnen und Raucher für eine Pause benutzten. Auf der gleichen Etage war auch eine Turnhalle untergebracht, wo verschiedene Sportkurse unterrichtet wurden. Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Innenhof und eine Turnhalle mitten in der Innenstadt, bei diesen Bodenpreisen. Kein Wunder also, plante die Klubschule nach eigenen Angaben, ihre verschiedenen Standorte in Bern an einem einzigen Ort beim Hauptbahnhof zusammenzulegen.

Die vier Mannen liefen in Richtung Treppenhaus im zweiten Stock an zwei Eisenplastiken von Oscar Wiggli und Bernhard Luginbühl vorbei. Im Zimmer 211 wurden sie bereits von drei anderen Kursteilnehmern erwartet – und von Kursleiterin Barbara Schmid, hauptberuflich in der Nachrichtenredaktion bei Radio SRF an der Schwarztorstrasse in Bern beschäftigt, begrüsst. Seit einigen Jahren erteilte sie auch Medientraining.

«Hoppla, J.R., eine Frau, die zu allem auch noch attraktiv aussieht …», flüsterte Mario Egli vor dem Absitzen.

«Meine Herren, wenn wir diesen Kurs beendet haben, können Sie auf Augenhöhe selbst mit sehr kritischen Journalisten kommunizieren.»

Und in der Tat: Bereits in der ersten Stunde, die nach Programm bis 12:05 Uhr dauerte, ging es zur Sache.

Um 12:07 Uhr – ein Rollenspiel zwischen Barbara Schmid und Beat Lüthi dauerte etwas länger als vorgesehen – waren die vier Polizeibeamten bereits ein ganzes Stück schlauer, hatten sie doch eine Art Crashkurs mit der Mnemotechnik hinter sich, die sie aber bis zur nächsten Doppelstunde am kommenden Montag sowohl im Büro, als auch zu Hause weiter perfektionieren mussten. Die Begeisterung bei allen Teilnehmenden darüber war gross, denn mit einfachen Merkmalen der Mnemotechnik konnte man einen halbstündigen Vortrag scheinbar mühelos halten, in der freien Rede, ohne Spickzettel. Berühmte Zeitgenossen bedienen sich heute dieser Vortragstechnik mit Erfolg vor einer staunenden Zuhörerschaft, die sich jeweils wunderte, dass der Referent keine Notizen benötigt.

Mario Egli anerbot sich, den drei Kollegen und sich selber unten im Take-away Sandwichs zu posten, ein Vorschlag, den die drei Übrigen gerne annahmen. Derweil hielten sich Beat Lüthi, Thomas Jenni und Joseph Ritter in Erwartung der «Eingeklemmten» im vom Wind geschützten Innenhof auf, etwas abseits der ebenfalls anwesenden Raucher. Beat und Thomas waren mit ihren Smartphones beschäftigt, J. R. seinerseits beobachtete durch die grosse Scheibenfront das emsige Treiben in der Nähe des Sekretariats. Um diese Zeit waren jeweils besonders viele Leute auf der Fläche: Kursteilnehmende, die gestresst in Richtung Ausgang auf ein schnelles Mittagessen aus waren, andere, die die Mittagszeit für ihre Weiterbildung nutzten und zu den Kursräumen strömten, allerdings weit weniger gehetzt.

Joseph Ritter fielen einige Farbige auf, vielleicht auf dem Weg zu einem Deutsch- oder gar Berndeutsch-Kurs, kombinierte er. Sodann waren neun oder zehn Leute mit Musikinstrumenten unterm Arm in Richtung Ausgang zu sehen. Das war nicht schwer zu erraten, denn einige Koffer hatten die Form einer Gitarre, einer Geige oder eines Saxophons. Die Musikkurse wurden eigentlich als Individualstunden angeboten, weil das musikalische Niveau der Schüler jeweils sehr unterschiedlich war. Natürlich gab es Ausnahmen, wenn zum Beispiel mehrere Mitglieder einer Band gleichzeitig bestimmte Akkorde professionell aufeinander abstimmen wollten. Das schien heute der Fall zu sein. Ritter beobachtete auch eine kleine Gruppe von jungen Erwachsenen, die auf Klappstühlen die halbschalige Eisenplastik von Bernhard Luginbühl auf Papier skizzierten.

Augenblicke später klingelte das Handy von Joseph Ritter, laut Digitalanzeige war der Anrufer Mario Egli. Komisch und typisch zugleich, dachte sich Ritter, hatte Mario bereits vergessen, wer welches Sandwich wollte?

«Hier unten liegt ein Toter!»

In den nächsten 60 Sekunden ging alles blitzschnell, weil die drei Herren praktisch gleichzeitig mit zwei uniformierten Beamten auf Patrouille am Tatort eintrafen. Dort jagte Mario Egli mit lauter Stimme bereits anwesende Gaffer zur Seite. Sanitätspolizei und Notarzt trafen wenig später ein.

Sofort wurde die nähere Umgebung des Opfers mit rot-weissen Absperrbändern abgesteckt, derweil sich die Leute der unmittelbar danach eingetroffenen Sanitätspolizei mit dem Defibrillator über den Mann beugten.

«Bitte treten Sie zurück, machen Sie der Polizei und den Rettungskräften Platz!», rief Ritter routinemässig in die Menge.

Derweil regelten drei weitere herbeigeeilte Uniformierte vorläufig den Verkehr, denn das Opfer lag nur gerade einen Meter von den Tramschienen entfernt, direkt vor einer Filiale der Credit Suisse. Minuten später wurde die Einsatzzentrale von Bernmobil – der Betreiberin von Trams und Bussen in der Stadt Bern – darüber informiert, dass die Marktgasse in beiden Richtungen sofort für jeden Durchgangsverkehr zu sperren sei, die ordentlichen Bus- und Tramkurse umzuleiten, respektive ab / von Zytglogge wieder aufzunehmen. Dieser Unterbruch sollte schliesslich über vier Stunden dauern.

Das Tohuwabohu rund um den Tatort war total, nicht zuletzt, weil die Redaktionsräume einer Boulevardzeitung an der Zeughausgasse ganz in der Nähe lagen und ein Fotoredaktor, vermutlich von einem Passanten benachrichtigt, blitzartig vor Ort auftauchte. Dies zusammen mit unzähligen Möchtegern-Reportern, die mit ihren Handys Fotos schiessen wollten, wohl in der Annahme, bei Pendler- oder Onlinezeitungen das grosse Geld mit einem Leserfoto zu machen.

«Hat jemand etwas gesehen, etwas bemerkt?», rief Ritter in die Runde, ohne äusserlich auch nur ein minimes Anzeichen von Nervosität zu zeigen. «Dann melden Sie sich bitte bei meinen Kollegen oder mir.»

Es mochten knapp fünf Minuten vergangen sein, seit die Polizei und der Arzt vor Ort waren. Inzwischen sickerte jedoch durch, dass der Mann erschossen worden war, denn die Sanitäter hatten mit ihren Wiederbelebungsversuchen nach einem Gespräch mit dem Arzt aufgehört und den Mann mit einem weissen Tuch bedeckt. Die Szene erinnerte Ritter auf einmal an ein Ereignis in San Francisco. Er wurde blass.

«Hat jemand etwas beobachtet, kann jemand eine Zeugenaussage machen? Bitte melden Sie sich bei mir oder einem meiner Kollegen, wir sind für jede Beobachtung dankbar», wiederholte er, sich ans Publikum richtend.

Ritter schaute sich um, sah plötzlich einen ungefähr 50-jährigen Mann vor den Lauben5 auf dem Trottoir stehen, der abwesend vor sich hinstarrte. Er ging auf ihn zu, fragte nach seinem Namen, erhielt aber keine Antwort, weshalb er die Frage wiederholte.

«Man, man, man hat den Falschen getroffen. Mich. Will. Man. Umbringen. Ich werde erpresst. Das, das da, das war ein Fehlschuss, man hat den Falschen getroffen …», stammelte der Mann, brach zusammen und musste vor Ort ärztlich betreut werden.

Nach einigen Minuten kam er zwar wieder zu Bewusstsein, war aber nicht mehr ansprechbar, zeigte auch keine Reaktionen, weshalb er von den Leuten der Sanitätspolizei ins Inselspital gebracht wurde, zu weiteren Untersuchungen.

5 Arkaden in der Berner Altstadt.