Wolfgang B. Haeggersen

Für „Frutti di mare“ könnt’ ich sterben

Ein Toskanakrimi, wie er im Buche steht

Prolog

Das kühle Wasser des in der Sonne glitzernden Mittelmeeres umspielte seit Stunden die Finger der dunkelhäutigen Hand, die scheinbar so lässig über den Rand des grauen Schlauchbootes gehalten wurde.

Kidane wandte seinen Blick ab und suchte mit den Augen am weiten Horizont nach irgendetwas Außergewöhnlichem, irgendetwas Hoffnungsvollem. So wie er es eigentlich den ganzen Tag schon mehrfach getan hatte. Das Ergebnis war aber auch dieses Mal das gleiche …. nichts …… nichts außer Wasser und Himmel und gleißender Sonne.

Durst quälte ihn und seine Füße und Unterschenkel verbreiteten einen brennenden Schmerz, auf Grund der dort verätzten Hautstellen. Aber zumindest lebte er noch, auch wenn ihm viel mehr als das nackte Leben nicht mehr geblieben war.

Mit den wenigen Habseligkeiten, die er am libyschen Strand zurücklassen musste, um zusammen mit den anderen Afrikanern in das rettende Boot einsteigen zu dürfen, hatte er sein ganzes bisheriges Leben im Sand liegen lassen.

Sechs bis sieben Stunden hatten ihnen die Männer versprochen! In sechs bis sieben Stunden seien sie auf der anderen Seite des Mittelmeeres und somit endlich in Freiheit. In der Freiheit, von der er schon so lange geträumt hatte, für die er sein über Jahre zusammengespartes und von seiner Familie geliehenes Geld den Strandmännern gegeben hatte, damit sie ihm einen Platz im Schlauchboot zugeteilt hatten. Und jetzt trieben sie schon seit zwei Tagen ohne Sprit und ohne Wasservorräte hilflos auf dem Meer. Es waren überwiegend junge Männer, die den Weg und die Strapazen auf sich genommen hatten, um später - falls sich jemals eine Gelegenheit dazu ergeben würde - ihre Familien nachzuholen. Aber auch Frauen waren mit an Bord und auch Kinder, einige sogar ganz auf sich allein gestellt.

Die ganze Hoffnung, die Kidane sowie die anderen Afrikaner in dieses Boot gesetzt hatten, die ganzen Träume auf ein Leben in Freiheit, ohne Verfolgung, ohne Furcht vor Folter und ohne ständige Todesangst, verbrannten in der Mittagssonne auf offener See.

Sie hatten keine Ahnung, wie nahe sie es an das europäische Festland heran geschafft hatten. Die zwei mitgegebenen Kanister Sprit hatten in etwa für die angegebene Überfahrtzeit von sechs bis sieben Stunden gereicht, aber so arg sie den Horizontstreifen auch absuchten, rettendes Land konnte keiner von ihnen entdecken.

Und so wurden immer mehr der Bootsinsassen von ihren Kräften verlassen, sackten langsam in sich zusammen und verabschiedeten sich geräuschlos aus dem Leben, aus dem sie sich hatten retten wollen.

Kidane wischte sich mit dem Ärmel seines Kapuzenpullovers Tränen aus dem Gesicht. Den leblosen Körper des afrikanischen Teenagers, dessen Hand schon seit Stunden so spielerisch die Meeresfluten durchkämmte, beförderte er mit Unterstützung eines anderen jungen Mannes über den wulstigen Bootsrand hinaus ins offene Meer. Noch während einige der übrigen Bootsinsassen ein kurzes Gebet murmelten, begann die Leiche sofort in den Tiefen ihres nassen Grabes zu versinken.

Den anderen jungen Mann, der auf den Namen Noah hörte, hatte er in Libyen kennen gelernt. Sie hatten sich getroffen, als sie sich beide in Strandnähe in einem schäbigen Unterschlupf versteckt hatten und auf das Aufbruchsignal der Strandmänner warteten.

Noah kam wie er aus Eritrea und war mit seinen vierundzwanzig Lebensjahren drei Jahre jünger als er. Noah hatte zusammen mit seiner schwangeren Frau die Flucht angetreten, die er nun aber nicht mehr an seiner Seite hatte.

Kidane dachte an das letzte Telefonat, welches er vor vier Tagen mit Feven, seiner Frau führen konnte, kurz bevor er seine Mittelmeer-Todesüberfahrt gestartet hatte. Bei Fevens Erklärung ihres festen Entschlusses, selbst die Flucht anzutreten, ohne auf ein Zeichen von ihm aus Europa zu warten, wurde ihm vor Angst um sie ganz übel. Zu deutlich hatte er die Schilderungen Noahs über die schrecklichen Erlebnisse dessen Frau im Kopf.

Und so schlug Kidane in Anbetracht seiner eigenen aussichtslosen Situation zusammen mit der tiefen Sorge um seine Frau, voller Hoffnungslosigkeit die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.

Fehler im System

Weinen könnt ich, wenn ich so eine Scheiße lese ……!“ Wolfgang schüttelte den Kopf über die aktuelle Fehlermeldung, die gerade mal wieder über seinen Bildschirm flimmerte.

„Probleme des Rechenzentrums für nicht definierbare Dauer!“, stand da und durchkreuzte seinen ganzen Tagesplan. Ausgerechnet heute, dachte er sich, ausgerechnet an seinem letzten Arbeitstag, an dem er noch so einiges zu erledigen hatte. Schließlich wollte er ja nicht „das Messer in der Sau stecken lassen“, bevor er sich zweieinhalb Wochen in den Urlaub verabschieden würde. Wolfgang empfand sich jetzt zwar nicht als den pflichtbewusstesten aller Mitarbeiter seines Arbeitgebers, aber immerhin hatte er als Abteilungsleiter so etwas wie eine Vorbildfunktion. Außerdem hatten seine Leute ja auch einen gewissen Anspruch darauf, dass er sich zumindest soweit für sie einsetzte, wie es ihm als mittleres Rädchen im System möglich war.

Mit inzwischen doch einiger angestauter Wut im Bauch griff Wolfgang zum Hörer und wählte die Nummer der EDV-Abteilung. Das Tuut-Signal ertönte …. einmal …. zweimal …. dreimal, dann sprang der Anruf auf den nächsten Mitarbeiter der Abteilung um … tuut … tuut … tuut …. noch eine Rufweiterleitung … tuut …. „Boah, ihr Spackos, jetzt geht endlich dran!“ …. tuut ….

Am anderen Ende wurde das Gespräch angenommen und Wolfgang holte tief Luft:

„G’morgen Herr Yildirim, sagen sie mal, haben sie eine Ahnung, ab wann die Kisten wieder laufen? …. Ja klar, habe ich den Fehlermeldungsbericht gelesen „Probleme auf unbestimmte Dauer“ und was heißt das? …… Wie, mehr können sie mir auch nicht sagen? …… Verständnis, klar habe ich, ist ja auch erst das dritte Mal in dieser Woche! …Nein, das ist nicht ihre Schuld, aber wie ich ohne die Mühle meine Arbeit machen soll, das können sie mir auch nicht sagen, oder? …. Mhmm, Herr Yildirim, dann mal viel Erfolg beim „Mühe geben“ …. Aja, ihnen dann auch noch nen schönen Tag und erstmal „Danke für nichts“, Herr Yildirim!“

Wolfgang warf den Hörer auf und überlegte kurz, ob er vielleicht eine Spur zu unfreundlich zu dem neuen Kollegen der EDV-Abteilung gewesen war und ob der Herr Yildirim eigentlich ein ausländischer Spezialist sei, den sich die Bank aus Mangel an Fachkräften ins Haus geholt hatte. Freundlich war er ja gewesen, der junge Mann, aber ob der wirklich so eine große Koryphäe im Technikbereich war, das stand für Wolfgang noch lange nicht fest.

„Horst“, rief Wolfgang quer über den Flur, „haben wir den Yildirim eigentlich extra aus der Türkei eingeflogen, damit er die anderen Pfeifen aus der EDV unterstützt?“ „Nein“, rief Horst aus dem Büro gegenüber, „der Mehmet Yildirim ist hier geboren und hat schon seit der D-Jugend beim VR Fußball gespielt. Ich weiß gar nicht, ob der überhaupt türkisch spricht, aber eingeflogen hat den niemand!“

„Ich habe gelesen, dass der Herr Yildirim Informatik studiert hat und der neue Abteilungsleiter der EDV wird, ich glaube mit dem verscherzt man es sich besser nicht!“, rief Simone aus dem anderen Büro der oberen Etage. „Aha, zu spät“, antwortete Wolfgang „schon geschehen!“

„Kann ich ihnen etwas für die Mittagspause mitbringen?“, fragte die junge Auszubildende aus dem ersten Lehrjahr, die plötzlich im Türrahmen stand und ihn mit Rehaugen anblickte. „Ja gerne …. einen Mettigel, bitte!“

„Äähm, einen Mett-was?“ Wolfgang schmunzelte, der Gag funktionierte immer wieder, keiner der jungen Leute konnte sich etwas unter einem Mettigel vorstellen, alle schauten so verdutzt wie das Mädel eben gerade. „Nein, vielen Dank, das war nur ein Spaß!“, sprach er zur Azubine. „Ich bin heute schon mit meinem Kollegen Holger zum Mittagessen verabredet.“

„Okay!“, antwortete das Mädel schüchtern und wackelte davon. Man konnte leicht erkennen, dass sie das Laufen auf hohen Schuhen nicht gewohnt war und sich irgendwie erst an das übliche Bank-Outfit gewöhnen musste.

Er hatte sich mit Holger in erster Linie verabredet, um seinen Wagen gegen Holgers Neunsitzer-Bus zu tauschen, den sie sich wieder für die Urlaubsfahrt ausleihen durften. Er war dieses Jahr bezüglich des für zwei Wochen gemieteten Hauses in der Toskana noch ein wenig skeptisch. Ihre Urlaubsunterkunft lag laut den Internetbildern zwar traumhaft auf einem Hügel der Nord-Toskana und schien einen wunderbaren Blick auf das Meer zu haben, aber von den Bildern der Inneneinrichtung war er nicht wirklich überzeugt. Da wirkte das Interieur doch ziemlich wahllos zusammengestoppelt und altbacken.

Nun, dafür war dieses italienische Haus oberhalb von Viareggio dann auch noch um etwa ein Drittel teurer, als das Haus in Kroatien, welches sie letztes Jahr bewohnt hatten. Wolfgang schmunzelte, als er an die letztjährigen Ferien dachte und an die Verbrecherjagd, in die er mehr oder weniger unfreiwillig geschlittert war. Als Erinnerung hatte er ein großes gerahmtes Foto in seinem Büro aufgehängt, welches sie alle zusammen auf der unbewohnten kroatischen Insel zeigte, auf der sie die geretteten Schildkröteneier am Sandstrand wieder verbuddelt hatten. Dieses Jahr, so dachte er sich, würde er gerne friedlichere Ferien verbringen und mehr das italienische „dolce vita“ genießen.

„Bing“, machte es in diesem Moment und über seinen Bildschirm bewegte sich ein Schriftzug mit einer Nachricht der EDV-Abteilung:

„Das Rechenzentrum arbeitet bundesweit an einem Fehler im System, mit einer Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit ist heute nicht mehr zu rechnen!“

„Chef“, rief Simone aus ihrem Büro, „können wir nach Hause gehen, heute gehen die Computer offenbar gar nicht mehr?!“ Wolfgang rief zurück: „Klar, wir machen unsere Geschäftsstellen zu und hängen ein Schild an die Tür: „Wegen anhaltender Unfähigkeit geschlossen!“

„Echt jetzt?“

„Nein! Aber Leute, wisst ihr was …. ich gehe jetzt …. und zwar in Urlaub! Ich treffe mich jetzt noch mit Holger …. und wir sehen uns in zweieinhalb Wochen wieder!“

Wolfgang fuhr seinen Laptop herunter, brachte seine schmutzige Kaffeetasse in die Küche, nahm seine Jackett-Jacke vom Kleiderhaken, verabschiedete sich anschließend noch etwa zwanzig Minuten von den im Erdgeschoss arbeitenden Jungs und Mädels und fuhr dann relativ entspannt zum Mittagessen. Holger und er hatten sich im Nachbarort in der dortigen Dorfschänke verabredet, wobei sie beide dabei stets vom „Schnitzelpuff“ sprachen.

„Ja“, dachte sich Wolfgang, „der Urlaub hatte hiermit begonnen!“

Zigeunerschnitzel

Daviiid!“ Tina lächelte, als sie sah, wie überschwänglich Charlotte ihren Bruder umarmte, als dieser aus ihrem Urlaubs-Reisebus ausstieg. „Na Großer, hast du auch schon solches Reisefieber wie Lotti?“ Sie begrüßte ihren Stiefsohn auch mit einer Umarmung und meinte: „Mensch, bist du seit letzter Woche noch mal gewachsen? Inzwischen bist du ja fast einen Kopf größer als ich …!“

„Na ja“, meinte David und grinste Tina dabei an, „das ist ja jetzt auch nicht sonderlich schwer.“ Tina konterte: „Hey Langer, nicht frech werd’n, sonst gibt’s gleich was auf die Nuss!“ Sie tänzelte mit wirbelnden Fäusten in Boxermanier vor dem 16-Jährigen herum und drohte ihm scherzhaft Schläge an. „Wie hat der Streit denn angefangen?“ Caro stand in der Eingangstür ihrer Doppelhaushälfte und freute sich offensichtlich auch, den Renault Bus wieder in der gemeinsamen Hofeinfahrt stehen zu sehen. „Der junge Mann hier hat sich über meine Größe lustig gemacht, also über meine immerhin Einmeterzweiundsechzig!“, beschwerte sich Tina bei ihrer Nachbarin. „Na, dann schicke ihn doch gerade mal zu mir herüber!“, antwortete Caro.

„Lasst mal gut sein!“, meinte David und winkte ab. Wolfgang rief vom Heck des Renaults: „Gut Caro, dass du gerade da bist, könntest du mir bitte vom obersten Regal in unserer Garage einmal die Spanngurte herunterreichen, dann muss ich mir von drinnen nicht wieder das Tritt-Leiterchen holen?“ Tina wäre es in diesem Moment zwar lieber gewesen, ihr Mann hätte den Schemel aus der Küche geholt, anstatt Caro einzuspannen, aber klar, hier waren die 1,87 m Größe und die Riesenspannweite ihrer Freundin schon von ungeheurem Nutzen.

Sie waren schon eine recht lustige Truppe, die durchaus auffiel, wenn sie im Urlaub zu sechst gemeinsam auftraten. Tina selbst bezeichnete sich als eher zurückhaltend, durchaus fröhlich und auch kommunikativ, aber sie stand nicht gerne im Mittelpunkt! Ihr Mann Wolfgang war sicherlich als eher extrovertiert zu beschreiben und wenn er wollte, konnte er auch mal einen ganzen Saal unterhalten. Aber er wollte eben nicht immer und bei schlechter Laune ging man ihm dann besser aus dem Weg. Caro war meistens gut gelaunt und für die gemeinsame Ferienzeit höchst kompatibel. Nur, wenn sie sich von Dritten unfair behandelt fühlte, konnte sie doch sehr energisch werden. Da ging dann selbst Wolfgang lieber in Deckung.

„Mädels, wie schaut’s aus, gibt’s denn schon irgendetwas für den Kofferraum?“, meldete der sich jetzt mit einer Portion Ungeduld in der Stimme. „Mach doch mal keinen Stress!“, beruhigte Tina ihren Mann. „Bei uns ist soweit alles gepackt, nur beim Nachbarskind gab es heute noch eine kleine Eskalation! Aber das scheint jetzt im Griff zu sein, oder Caro?“ Caro machte eine abwinkende Handbewegung. „Ja, die Rike ist heute Morgen ein wenig durchgedreht, weil sie sich nicht entscheiden konnte, welche Klamotten sie mitnehmen will. Das ist bei einem achtjährigen Mädchen ja auch alles nicht so einfach. Am liebsten möchte sie sich dreimal am Tag umziehen, aber so einen großen Koffer haben wir eben nicht!“ David verdrehte die Augen: „Weiber hab’n vielleicht Probleme?!“

Charlotte erkläre darauf ganz schulmeisterlich: „Jetzt darf die Rike nur so viel mitnehmen, wie in ihren Koffer geht! Und deswegen kommt sie schon den ganzen Mittag nicht heraus!“ „Ööih Lotti“, warf David ein, „da haben wir ja Glück, dass du so gut wie nie bockig bist ……“ „Heeey! David, das ist gemein!“

„Kommt, dann lasst uns erst noch einmal einen Kaffee trinken, bevor wir den Bus einräumen. Dann kann uns der Papa noch erzählen, ob bei der Übergabe mit Holger alles einwandfrei geklappt hat.“

Kurz darauf saßen die drei Erwachsenen beim gemütlichen Nachmittagskaffe, David beschäftigte sich mit seinem Smartphone und Charlotte bemalte die Straße mit bunter Kreide.

„Warst du heute mit dem Holger wieder zusammen im Schnitzelparadies?“, wollte Tina von ihrem Mann wissen. Der zögerte kurz und antwortete ganz ernst: „Im Schnitzelpuff…?…ja, zum letzten Mal!“ Tina blickte Wolfgang an: „Wieso, hat’s Essen nicht geschmeckt oder was war los?“

Wolfgang setzte die Kaffeetasse ab und begann zu erzählen: „Ach wisst ihr, es hatte mich ja schon genervt, dass da im Lokal heute so eine Kneipen-Atmosphäre geherrscht hatte, als Holger und ich dort eingelaufen waren. Der runde Tisch im Thekenbereich hatte mit vier Dummschwätzern vollgesessen, die Karten spielten und sich ein „Herrengedeck“ nach dem anderen in den Kopf schütteten. Der Wirt saß mit am Tisch und zusammen gaben sie das zotigste Stammtischgeschwätz zum Besten. Also das übliche polemische Gelaber über „Sozialschmarotzer“, „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Schwule“, „Lesben“, „Schokos“, „Kanaken“, „der überdrehten kleinen Göre aus Schweden, die unsere Faulenzer-Jugend zum „Schule-schwänzen“ animiert“ …… und natürlich, wie man es kennt, den „kriminellen Asylanten“, den „laschen Abschiebungen“ und und und …. Der Wirt hatte scheinbar gar keine Zeit oder Lust, unsere Bestellung aufzunehmen. Die hatten sich mit ihren Parolen so ereifert, dass sie dabei ringsherum alles vergessen hatten!“

Caro meinte bitter: „Vielleicht war das ja der braune Parteitag der Ortsgemeinde?“

„Ja, so etwas Ähnliches könnte es gewesen sein, aber da reicht inzwischen leider kein Stammtisch mehr aus, damit füllt man mittlerweile ja ganze Versammlungsräume!“, fuhr Wolfgang fort. „Jedenfalls haben wir uns dann mal bemerkbar gemacht und Holger hatte zum Wirt rüber gerufen, ob denn die Küche wegen Reichtum geschlossen sei.“

„Kam dann jemand zu euch?“, wollte Tina wissen. „Ja, daraufhin kam er dann zu uns, der Herr Wirt und legte uns die Speisekarte auf den Tisch. Wir konnten aber direkt die komplette Bestellung aufgeben, weil wir ja genau wussten, was wir wollten. Holgers Rahmschnitzel wurde problemlos abgenickt, aber bei meinem gewünschten „Zigeunerschnitzel“ schüttelte der Wirt energisch den Kopf! „Zigeunerschnitzel“ hätten sie keines mehr auf der Karte, weil das gegenüber den Sinti und Romas diskriminierend sei. Stattdessen würden sie jetzt Paprikaschnitzel anbieten.“

„Mensch, da haben wir aber alle Glück, dass sich die Jägerinnung noch nicht formiert hat!“, meinte Caro.

„Stimmt, jedenfalls hatte Holger ihm gegenüber dann geäußert, dass wir das die letzte Viertelstunde gut haben wahrnehmen können, wie vorbildlich er und seine Stammtischgäste sich doch für Diskriminierung eingesetzt hätten und, dass er doch sicherlich ganz bestimmt auf seinen „Führer-Schein“ ganz besonders stolz wäre!“

„Hat er den Spruch auf seine Kosten verstanden?“ wollte David wissen und blickte dazu sogar kurz von seinem Smartphone auf. Wolfgang berichtete weiter: „Mhmm, man hatte es dem Herrn Wirt schon ansehen können, dass er kurz überlegt hatte, was denn an Holgers Aussage seltsam gewesen war……aber ich glaube, er kam nicht drauf. Ironie ist eben nur etwas für intelligente Menschen!“

Tina trank ihren restlichen Kaffee aus und begann den Tisch abzuräumen: „Ja, das ganze vordergründige scheinheilige Getue ist schon echt nervig …. Hauptsache wir nennen den „Negerkuss“ nicht mehr „Negerkuss“ oder „Mohrenkopf“, sondern „Schaumkuss“ und benennen das gute alte „Zigeunerschnitzel“ in „Paprikaschnitzel“ um ……“. „……Oder, wie ich es in der letzten Woche in der Zeitung gelesen habe …… darf jetzt die Firma „Sarotti“ ihre Schokolade nicht mehr mit dem „Sarotti-Mohr“ bewerben, also nicht mehr die seit 50 – 60 Jahren verwendete Abbildung eines kleinen dunkelhäutigen Jungen in prächtigen Gewändern benutzen. Dabei könnten, laut den Kritikern „rassistische Assoziationen“ aus der Kolonialzeit geweckt werden. Also musste Sarotti aus dem dunkelhäutigen Diener einen goldhäutigen Magier machen, damit dann wieder Ruhe war!“

„Das meine ich ja, nach außen hin oberflächlich immer korrekt erscheinen, aber innendrin viel schlimmes Gedankengut. An Weihnachten schön den christlichen Pflichtbesuch in der Kirche absitzen, Nächstenliebe und Barmherzigkeit heucheln und den Rest vom Jahr am liebsten die „Neger“ in ihren Schlauchbooten ersaufen lassen und alle Andersartigen möglichst aus dem Land jagen wollen!“

„Habt ihr heute Mittag dann dort überhaupt was gegessen?“, erkundigte sich David.

„Eigentlich wollte ich ihm seine Schnitzel am liebsten um die Ohren hauen, aber dafür hatten wir zu viel Hunger. Also hatte ich zu ihm gesagt, dass er einfach seine braune Sauce ’runter lassen und mir dafür ein Bolognese-Schnitzel zubereiten soll. Daraufhin ist er dann Richtung Küche gewackelt …. und Holger hatte ihm noch hinterhergerufen:

„Bolognese Schnitzel schmeckt doch auch gut, stimmt’s?

Aber darauf hatte er gar nicht mehr reagiert …… nur die Stammtisch-Freunde waren auf einmal ziemlich ruhig geworden!“

„Papa, ich glaube, da braucht ihr nicht mehr hinzugehen!“ „Nö David, später beim Bezahlen haben wir der „braunen Socke“ auch keinen Cent Trinkgeld gegeben!“

„David, schau mal, was ich mit Kreide Tolles gemalt habe!“, machte Charlotte auf sich aufmerksam. „Hey Lotti, das sieht ja klasse aus, ist das ääh ein Busch in Garten?“ „Nein, siehst du das nicht, das ist ein grünes Monster im Garten!“ Charlotte strahlte voller Stolz. „Okay, jetzt sehe ich es auch, hat das Monster auch schon einen Namen?“ „Ja, weil es grün ist habe ich es „Klee“ genannt, ich hatte als Namen noch „Kotze“ zur Auswahl, aber das hätte nur wieder Worte gegeben!“ „Mhmm, aha, cooler Gedankengang für eine Siebenjährige!

„So Leute, genug gebabbelt!“, spornte Tina alle an. „Jetzt lassen wir alle mal die Finger ‘rumgehen und packen unser Reisegepäck in den Bus.“ „Ja, auf geht’s, Toskana, wir kommen!“, ergänzte Caro. „Wann fahren wir morgen früh denn los?“, wollte David wissen.

„Um vier Uhr, wie jedes Jahr!“, legte Wolfgang die Uhrzeit für alle fest. „Wenn du nicht wie jedes Jahr noch irgendetwas suchen musst.“ relativierte Tina die Aussage ihres Mannes. „Witzig, oder wenn nicht noch Teile von uns immer noch am Packen sind?!“ Caro grinste: „Ich bin guter Dinge, dass Rike das bis morgen früh hinbekommen hat!“

Probleme

Maria räumte den Mittagstisch ab. Sie war frustriert, weil ihr Freund und Vater ihres Sohnes mal wieder nicht zum Mittagessen erschienen war, ohne dass er irgendetwas von sich hatte hören lassen. Seit etwa einem Jahr waren sie jetzt hier in der Toskana sesshaft geworden und Maria hatte sich mit ihrer Situation arrangiert. Zwar war die gemeinsame Flucht aus Kroatien im vergangenen Jahr „Hals über Kopf“ gewesen, aber viele Freunde oder Verwandte, von denen sie sich hätte verabschieden wollen, hatte es sowieso nicht gegeben. Sie war damals spontan und unüberlegt, ihrem „Lebensgefährten“, von dem sie zu dem Zeitpunkt eigentlich getrennt gewesen war, außer Landes gefolgt, da der - im Zuge eines Tierschmuggel-Handels - untertauchen musste. Mit dem illegal verdienten Geld hatten sie sich in Viareggio niedergelassen und fühlten sich inzwischen in der Touristenstadt zu Hause. Hier in der Toskana fühlte sich Maria jetzt angekommen und sie hatten seither ihren Lebensunterhalt gut bestreiten können. Durch all ihre Anschaffungen, die dringend benötigt worden waren, hatte ihr Geldvermögen jedoch wesentlich schneller abgenommen, als sie eigentlich kalkuliert hatten. Und so war Marian schneller als gedacht gezwungen gewesen, Geld für ihre kleine Familie dazuzuverdienen.

Unzählige Male hatte er am Hafen, in Restaurants, bei der großen Schiffswerft oder bei anderen hiesigen ansässigen Firmen versucht, als Hilfsarbeiter eine Anstellung zu finden, aber entweder waren es seine dürftigen italienischen Sprachkenntnisse oder seine fehlenden Arbeitspapiere, die jeweils zu Ablehnungen geführt hatten. Aber seit fünf bis sechs Wochen hatte Marian jetzt Arbeit gefunden, irgendwo am Strand, irgendetwas bei den Touristen, genau hatte er es ihr nicht erklären wollen. Wahrscheinlich waren es schmutzige oder niedrige Arbeiten, für die er sich vor ihr schämte … also bedrängte sie ihn nicht weiter und ließ ihn seiner Tätigkeit nachgehen … womit auch immer er sein Geld verdiente.

Marian hatte große Pläne. Er wollte ihnen einen neuen Pass und damit eine neue Identität beschaffen. Scheinbar hatte er dafür in den vergangenen Wochen bereits erste Kontakte geknüpft, zumindest hatte er ihr gegenüber diesbezügliche Andeutungen gemacht. Genaues wusste sie nicht, aber sie vertraute Marian. Es blieb ihr eigentlich auch nicht viel anderes übrig, schließlich war sie mit ihm aus ihrem Heimatland geflüchtet, hatte sich somit in seine Obhut begeben und war nun von ihm und seinem Geld abhängig.

Maria hob ihren kleinen, zweieinhalbjährigen Sohn aus seinem Hochstuhl und drückte ihn an sich. Wie viel besser ging es ihnen beiden hier in Italien. Wie viel mehr Lebensqualität, Schutz und Geborgenheit hatten sie hier im Vergleich zu der schlimmen Zeit in Kroatien, als Marian sie damals verlassen hatte.

Gemeinsam mit ihrem Sohn war sie vor einem Jahr mittellos und ohne Wohnung umhergezogen, war auf die Barmherzigkeit ihrer Freunde und Bekannten angewiesen gewesen, die ihnen ab und an Schlafplätze für die Nacht angeboten hatten. Aber nicht selten hatten sie am Strand geschlafen oder bei schlechter Witterung auch in Kirchen.

Nun führten sie ein fast normales Familienleben, monatelang war Marian entspannt und fürsorglich mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn umgegangen. Er war ein verlässlicher Partner und treusorgender Vater gewesen. Aber seit er „Geld verdienen“ gehen musste, hatte er sich irgendwie wieder verändert. Er war angespannter und verschlossener geworden, kam zu unregelmäßigen Zeiten nach Hause, manchmal auch erst mitten in der Nacht und Maria wusste nicht, wie sie diese Veränderungen deuten sollte. Waren das die üblichen Reaktionen auf das tägliche „zur Arbeit gehen“. Schließlich war Marian regelmäßige Arbeitszeiten schon eine ganze Ewigkeit nicht mehr gewohnt oder war da noch viel mehr im Geheimen verborgen? Maria würde mit Marian sprechen, ob er sich ihr öffnen und anvertrauen würde …… denn sie liebte den stolzen Kroaten und würde ihn gerne unterstützen, falls er Probleme haben sollte.

Ohne Grenzen

Mirko streckte die Arme aus und bekam von der Gruppe erschöpfter Schwarzafrikaner ein Bündel Mensch, eingewickelt in zwei verschlissene Handtücher, übergeben. Damit lief er die an der Bordwand der „Aquatica“ angebrachten Eisentreppe empor und trug den Säugling Richtung Eva, der Kinderärztin, die sie auf dieser Fahrt mit an Bord hatten. Eva kam aus England, hatte gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen und stellte sich, genau wie er, für einige Zeit in den Dienst der Menschlichkeit.

Sie waren auf dem Schiff insgesamt fünf ausgebildete Mediziner mit mehr oder weniger Berufserfahrung und dazu nochmal zehn weitere Helfer mit unterschiedlichsten Berufen. Krankenpfleger, Mechaniker, Elektriker, Kaufleute, ein Koch und ein Psychologe bildeten das Rettungsteam, welches seit Wochen durch das Mittelmeer kreuzte, um hilflose Menschen vor dem sicheren Ertrinkungstod zu retten. Die Arbeit war hart, sowohl physisch als auch psychisch. Manchmal arbeiteten sie zwanzig Stunden am Stück, denn der lauernde Tod war erbarmungslos und nahm niemals Rücksicht! Das Leid und Elend, das sie dabei ständig zu sehen bekamen, war erschreckend und grausam und prägte sich tief in ihren Erinnerungen ein. Und nur zu oft suchten die schrecklichen Bilder sie nachts auch in ihren Träumen wieder heim.

Die „Aquatica“ war auf lange Sicht gechartert, für eine medizinische Erstversorgung relativ gut ausgestattet und hatte ausreichend Verpflegung an Bord, um etwa zweihundertfünfzig Menschen eine gute Woche lang versorgen zu können. Mirco und seine Kollegen arbeiteten alle unentgeltlich und anfallende Kosten wurden zum größten Teil durch Spendengelder einer privaten Hilfsorganisation aufgefangen. Bei allen Strapazen und allen Unwägbarkeiten erlebten sie alle eine tiefe, innere Zufriedenheit. Bei jedem Menschenleben, das sie vor dem Tod retten oder jeder Wunde und jeder Verletzung, der sie sich annehmen konnten.

Von den Menschen selbst ernteten sie tiefe Dankbarkeit. Teilweise konnten die Leute diese nur mit Blicken, Gesten oder Umarmungen zum Ausdruck bringen, einfach weil die sprachliche Barriere jede verbale Kommunikation unmöglich machte, aber dafür kam ihr Dank stets aus dem Innersten ihrer Herzen.

Wie viele der armen Kreaturen sie in den vergangenen zwei bis drei Wochen aus dem Wasser gefischt hatten, konnte er gar nicht genau sagen, aber es waren etliche gewesen …… viele hunderte, wahrscheinlich eher über tausend!

Mirco hatte Eva erreicht, die sich bereits um ein anderes Kind bemühte, welches auch gerade aus dem grauen Schlauchboot mit einer nahezu schlaffen Luftkammer gerettet worden war. Der Junge war, nach Mircos Schätzung, etwa sieben bis acht Jahre alt und hatte verätzte Unterschenkel bis hoch an seine Kniegelenke. Solche Verletzungen hatten viele der Seenotleidenden, die sie aus ihren Booten fischten. Die Verätzungen kamen von dem aggressiven Benzin-Salzwasser-Gemisch, welches sich im Bootsinneren bildete. Benzin schwappte aus den Plastikkanistern, denen es häufig an Deckeln fehlte und nur notdürftig mit Lappen verschlossen waren und mischte sich mit dem im Boot befindlichen Meerwasser. Hieraus bildete sich allzu häufig ein Gemisch, welchem die Insassen permanent ausgesetzt waren und was dazu führte, dass sich bei den Menschen die Haut abzulösen begann. Gerade die Frauen und die Kinder, die zumeist in der Mitte der Boote saßen, waren betroffen und litten dabei an starken Schmerzen.

Der Junge ließ sich nahezu regungslos von Eva mit sauberem Wasser die verätzten Hautstellen säubern, die sie später mit einer antibiotischen Salbe behandeln würde. Mirco übergab den Säugling an Annegret, einer niederländischen Krankenschwester, die Eva bei ihrer Arbeit unterstützte und machte sich wieder auf den Weg zum Schlauchboot, da dort noch dutzende Menschen auf ihre Hilfe warteten.

Er selbst war 49 Jahre und Chirurg. Gemeinsam mit einem Partner führte er eine eigene chirurgische Praxis, in der sie ambulante Operationen durchführten. Im Frühjahr hatten sie sich beide entschlossen, nacheinander jeweils für einige Wochen bei der Hilfsorganisation mitzuwirken, um - ganz im Sinne ihres hippokratischen Eides - Menschenleben zu retten. Dass er soviel Leid und Elend antreffen würde, hatte anfänglich seine Vorstellungskraft überstiegen. Es waren nicht nur dehydrierte Menschen mit Hautverätzungen, die sie da aus dem Meer fischten. Es waren teilweise schwer traumatisierte Menschen, die tagelang in akuter Todesangst verbracht hatten, weil ihre Boote, mit denen man sie auf’s offene Meer hinaus geschickt hatte, alles andere als hochseetauglich waren und jederzeit Gefahr liefen, mit der nächsten überschwappenden Welle zu kentern.

Dabei hatten die Menschen bereits bevor, sie die Boote in ihre vermeintliche Freiheit bestiegen, viel Schlimmes erlebt. Gewalt, Misshandlung, Folter und Vergewaltigung hatten sie dazu genötigt, die lebensgefährliche Flucht überhaupt anzutreten. Zumindest konnte er dies aus Unterhaltungen mit diesen Menschen immer wieder heraushören. Mirco dachte sich in den letzten Wochen immer wieder, dass wenn nur die Hälfte der Erzählungen der Flüchtlinge wahr wäre, die kritischen Stimmen der Europäer eigentlich leiser werden müssten, sofern diese sich auch nur ein klein wenig mit dem Schicksal dieser Menschen beschäftigen würden.

Er selbst war jetzt zwar kein besonders gläubiger Christ, aber zumindest war er als Kind von seinen Eltern im Sinne des christlichen Glaubens erzogen worden. Und so ordnete er ihre aller Arbeit hier auf dem Schiff doch klar den ihm stets vermittelten christlichen Werten zu.

Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit …. und zwar gänzlich ohne Grenzen!

Wieder am Schlauchboot angekommen half Mirco den Leuten wieder beim Aussteigen. Viele mussten gestützt werden, da sie mittlerweile zu schwach waren, um selbst Balance zu halten.

Mirco fiel im Schlauchboot selbst ein großgewachsener junger Mann auf, der die anderen Insassen unterstützte und ein wenig das Kommando übernommen hatte. Zumindest gab er an, wer als Nächstes an der Reihe war, auf das rettende Schiff überzusetzen. Dabei schien er die landestypische Sprache der Afrikaner zu sprechen, aber teilweise auch französisch und außerdem kommunizierte er mit den Rettern auf Englisch.

Kein dummer Junge, dachte Mirco für sich, wirklich kein dummer Junge!

Intuitiv machte er diesem Afrikaner gegenüber das „Daumen hoch“- Zeichen und nickte ihm zu.

Auf der Autobahn

Geil, eben läuft’s wie ein Länderspiel, jetzt machen wir auch ordentlich Kilometer!“ Wolfgang freute sich wie ein Schneekönig und tätschelte Tina den Oberschenkel. „Das haben wir wirklich clever gemacht, dass wir über den Pass gefahren sind! Da haben wir richtig Zeit eingespart.“

„Ja, das stimmt“, meinte seine Frau „jetzt werden inzwischen schon zwei Stunden Stau wegen der Blockabfertigung vor dem Gotthard-Tunnel gemeldet.“

„Klasse eigentlich, je länger der Stau vorm Tunnel wird, umso mehr freue ich mich über die Entscheidung, uns über den Berg gequält zu haben.“ Wolfgang lehnte sich genüsslich im Fahrersitz zurück und trommelte beim Fahren mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.

„Ja, das stimmt!“, meldete sich Caro zu Wort. „Außerdem hatten wir dabei ein wunderbares Alpenpanorama, wenngleich die Schweiz dort oben schon mit ein bisschen zu viel Beton zugegossen war.“

„War das die Schweiz, Mama?“ fragte Charlotte von der hinteren Sitzbank aus. „Ja, Schatz!“ „Jo, Lotti, das ist sie sogar immer noch.“ antwortete ihr auch David.

„Ich habe da eben oben auf den Bergen aber keine Heidi gesehen, Mama?“

David lachte: „Ooch, wie süß …. du weist aber schon, dass Heidi nur eine Figur aus einer Geschichte ist, oder?“ „Klar weiß ich das, aber trotzdem hätte ich sie gerne gesehen!“, antwortete Charlotte …. schon leicht bockig.

Ihr Bruder verdrehte die Augen, startete aber einen neuen Versuch: „Mhmm, der Spiderman oder der Harry Potter, die laufen hier ja auch nicht rum und Bibi und Tina halt auch nicht!“ „Jaaa, na klar, die wohnen ja auch nicht hier in der Schweiz!“

David klatschte sich die Hand an die Stirn.

Wolfgang dachte sich, dass er jetzt besser intervenieren würde, bevor sich die Situation zuspitzte: „Lotti, du schaust doch immer die Heidi im Fernsehen an …. stimmt’s?“ „Jaa!“ „Naja, und die Heidi ist eben im Fernsehen drin und spielt da die Geschichten, die du dir dann zum Beispiel vom Wohnzimmer aus anschauen kannst…“

„Was erzählst du denn dem Kind für einen Quatsch?“, raunte Tina ihm zu. „Bin ja noch gar nicht fertig!“, antwortete er ihr.

„… das ist also eigentlich Heidis Beruf, verstehst du Lotti?“ „Mhmm, Ja?!“

Wolfgang konnte das große Fragezeichen über dem Kopf seiner Tochter sehen und setzte noch einen drauf. „Und die Heidi, die hat in ihrem Job, genau wie Mama und Papa oder auch wie Caro, nur dreißig Urlaubstage im Jahr und kommt deswegen gar nicht so oft aus dem Fernseher raus. Genau wie der Peter – der mit den Ziegen -, dem geht’s da genau so.“

„Papa, das glaube ich dir nicht, du willst mich nur veräppeln!“, grinste Charlotte. „Doch Lotti, das kannst du dem Papa glauben!“, meinte David, „und weil die beiden auch keine schulpflichtigen Kinder haben, machen die immer außerhalb der Ferien Urlaub, die konntest du also heute gar nicht entdecken.“

„Hä?“

„Mama, das stimmt doch gar nicht, was der Wolli da erzählt, oder?“, machte sich nun auch Rike bemerkbar. „Äähm, nein, nicht ganz …. ich habe zum Beispiel nur sechsundzwanzig Tage Urlaub!“, erklärte Caro ihrer Tochter. „Aber du arbeitest doch auch beim Fernsehen, Mama, du kommst aber danach immer wieder nach Hause.“

„Ja, Rike“, übernahm Wolfgang wieder, „deine Mama arbeitet freiberuflich fürs Fernsehen, da kann sie nach ihrem Feierabend heim gehen, die Heidi hat aber eine Festanstellung, das ist was ganz anderes!“

Stille! Kinder verwirrt …… und zumindest herrschte für einen Augenblick Ruhe!

Caro arbeitete tatsächlich als Freiberuflerin in der Nachrichtenredaktion eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, hierbei hatte Wolfgang gar nicht flunkern müssen. Tina und er arbeiteten beide bei einer Bank, dort hatten sie sich auch vor Jahren kennengelernt. David, sein Sohn aus erster Ehe, hatte gerade die elfte Klasse der Oberstufe hinter sich gebracht. Charlotte, von allen Lotti genannt - außer von ihrer besten Freundin Rike, die nannte sie Lotte - war seine gemeinsame Tochter mit Tina und würde nach den Ferien mit ihren sieben Jahren in die zweite Klasse gehen. Freundin Rike war ein Jahr älter als sie und kam demnächst in die dritte Klasse.

Wolfgang dachte sich beim „Gemütlich-vor-sich-hin-fahren“, dass bei ihnen und den Kindern alles weitestgehend paletti sei. Im Rückspiegel sah er die beiden Mädchen, die gedankenverloren aus dem Fenster schauten und wahrscheinlich immer noch an die arme Heidi dachten. Zudem sah er David und Caro, die beide ihre Kopfhörer in den Ohren hatten. David schaute vermutlich weitere Folgen von „Haus des Geldes“ an, die er sich zu Hause auf das Tablet geladen hatte und Caro hörte eines ihrer etlichen Hörbücher und futterte dabei Nudelsalat.

Vom Spiegel wanderte sein Blick nach rechts zu Tina, die inzwischen die Augen geschlossen hatte und ein wenig fehlenden Schlaf nachzuholen versuchte. Was für eine friedliche Stimmung, dachte sich Wolfgang, genau richtig, um entspannte Urlaubstage zu erleben.

Sein Blick wanderte wieder nach vorne auf die Straße und nahm dort einige rote Lichter war, die sich teilweise lustig mit blinkenden gelben Lichtern mischten. Wolfgang brauchte einen Augenblick, bis sein Gehirn von „ach, wie schön bunt“ umschaltete auf ……

….. „Scheiße, Stau! Jetzt leck’ mich doch am …!“

Voller Wucht trat er auf die Bremse, weil die bunten Lichter von vorne jetzt doch arg schnell näher kamen. „Schaaaaatzi!“, rief Tina. „Wouh!“ kam von David. Wolfgang aber erkannte, dass sie noch zu viel Geschwindigkeit drauf hatten, zumindest wenn man die Bremswirkung mit dem noch zur Verfügung stehenden Restabstand zum Stauende ins Verhältnis setzte. Die relativ unvermeidbare Kollision vor Augen, fragte sich Wolfgang kurz, wie man eigentlich bei dem bevorstehenden Crash die Schuldfrage entscheiden würde. Dann schob er den Gedanken aber beiseite und konzentrierte sich mit Tunnelblick auf die sich auftuende Lücke zwischen den beiden Autoschlangen der linken und der rechten Fahrbahn. Zwei, drei kurze korrigierende Lenkmanöver und ihr Bus rauschte mehr oder weniger exakt auf dem Mittelstreifen etwa zwanzig Meter an den stehenden Fahrzeugen vorbei. Das Schicksal schien es ganz gut mit ihnen zu meinen, denn kurz bevor ihr Renault das Ende der eigenen Fahrspur am Heck eines polnischen Reisebusses erreichen konnte, erkannte Wolfgang vor einem Lastwagen einen größeren Abstand zum Vordermann und lenkte ihren Bus gekonnt rechts in die sich anbietende Lücke hinein. Mit einem kleinen Ruck kam ihr Bus neben dem „Polenbomber“ zum Stehen!

„Uuuiih!“, meinte Wolfgang, „da bekommt der Begriff „Rettungsgasse“ nochmal eine ganz andere Bedeutung!“

„Arsch!“, meinte Charlotte von ganz hinten. „Wie, Arsch …. wie meinst du das, Lotti?“ Wolfgang runzelte kurz die Stirn, aber seine Tochter klärte ihn auf: „Du wolltest: „Leck’ mich doch am Arsch“ sagen!“

„Ja, Lotti, da hast du recht …… leck’ mich am Arsch …… das war eben echt knapp!“