Über das Buch

In Köln geboren, liegt Manuel Andrack der Karneval quasi im Blut. Doch steckt hinter der Faszination für die tollen Tage eigentlich mehr als die Lust am Feiern? Und warum haben wir so großen Spaß an der Verkleidung? Um der Sache auf den Grund zu gehen, begibt sich Andrack auf ein fastnächtliches Lehrjahr, trifft leidenschaftliche Narren und spricht mit Psychologen und Volkskundlern.

Sein Buch ist die Geschichte von einem, der auszog, das Närrisch-Sein zu lernen. Kreuz und quer durch Deutschland und bis in die Schweiz, nach Österreich, Italien und Belgien führt ihn seine Reise. In Düsseldorf wird er Zeuge, wie der Hoppeditz am 11.11. zum Leben erweckt wird und den Mächtigen erstmal eine ordentliche Standpauke hält. Er gondelt durch Venedig auf der Suche nach dem Geheimnis der Maskerade. Im Saarland steigt er selbst in die Bütt. In Rottweil ist er dabei, wenn die Abstauber kommen, ehrwürdige Herren in Frack und Zylinder, die das traditionelle Narrenkleid für die kommende Session säubern.

Und schließlich darf er – ein Traum wird wahr – bei den Roten »Funken« im Kölner Rosenmontagszug mitgehen. Bald erkennt Andrack, dass Karneval, Fasching und Fasnacht weit mehr sind als ein paar Tage Ausnahmezustand. Es ist eine Lebenseinstellung.

Über Manuel Andrack

Manuel Andrack, geboren 1965, verdankt sein Leben dem Karneval, denn dort haben sich seine Eltern kennengelernt. Bekannt wurde er als Redaktionsleiter und Sidekick von Harald Schmidt, erfolgreich ist er mit Bestsellern über Fußball und Wandern. Andrack weiß, wo das Herz der Massen schlägt, mit dem Thema Karneval, Fasching, Fastnacht zielt er tief in die Seele des Landes.

 

 

 

 

Ich danke allen, die mir Ohr, Auge und Herz für die Schönheit von Karneval, Fastnacht und Fasching geöffnet haben.

VORWORT

Eine Maskenpflicht ist eine Maskenpflicht ist eine Maskenpflicht

Endlich Maskenpflicht! Wie geil ist das denn, mag sich mancher Narr in den Karnevalshochburgen von Köln, Mainz und Rottweil gedacht haben (obwohl es in Rottweil eigentlich Larvenpflicht heißen müsste, aber dazu später mehr). Maskenpflicht, heißt das nicht 365 Tage im Jahr feiern, närrisch sein, unerkannt bleiben, eine Verpflichtung zum Ausnahmezustand? Tatsächlich scheint die Lust an der Verkleidung zuzunehmen. Die Anlässe der Kostüm-Events im deutschsprachigen Raum explodieren, das habe ich in meinem närrischen Jahr an vielen Orten erlebt. Aber einfach das ganze Jahr maskiert durchfeiern, ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten?

Leider verstehen wir unter Maskenpflicht seit der weltweiten Verbreitung von COVID-19 etwas ganz anderes. Der Mund-Nasen-Schutz ist eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Die Maske als Schutz vor dem Virus, nicht als Spaß-Accessoire. Daheim bleiben, statt feiern gehen. Corona hat natürlich auch Karneval, Fastnacht und Fasching infiziert. Der Ausbruch der Epidemie in Deutschland ist fest verbunden mit einer Kappensitzung in Gangelt im Kreis Heinsberg. 300 Leute feiern am 15. Februar 2020 fünf Stunden lang. Sie schunkeln, singen, lachen. Und Superspreader (zu deutsch: Virenschleudern) stecken dabei wohl Dutzende Narren an, die das Virus verbreiten. Seit dem 23. März 2020 dann landesweites Kontaktverbot, eine Art virusbedingte Fastenzeit, während der man auf sehr vieles verzichten musste.

Die Recherche für mein Buch Mein Jahr als Narr begann Anfang März 2019 und endete in den letzten Tagen des Februar 2020. Ich hatte das Glück, die komplette Session/Kampagne 2020 miterleben zu dürfen. Corona war bis einschließlich Aschermittwoch in Düsseldorf, Villach, Veitshöchheim, in Mainz, Rottweil, Überlingen und Köln ein Randthema. Den Nubbel habe ich in Köln am Abend des Karnevalsdienstags noch standesgemäß verbrannt, am Montag darauf wollte ich den Morgestraich in Basel miterleben.

Dazu kam es nicht mehr. Nach Aschermittwoch stieg die Anzahl der Infizierten in Europa exponentiell, die Basler Fasnacht wurde abgesagt. Mir blieb nur, mich mit Baslern über ihr närrisches Fest zu unterhalten und mir mithilfe von Büchern und YouTube ein Bild von Morgestraich, Cortège und Schnitzelbängg zu machen. Wenn das Live-Ereignis nicht erlebbar ist, muss man auf die glorreiche Vergangenheit zurückgreifen. Nun ist Mein Jahr als Narr zu einer Reportage aus einer fernen Zeit geworden, als man noch eng beieinander am Zugweg stand, bei Sitzungen schunkelte, sang und Bützen der Normalfall und kein Angriff auf die Gesundheit war.

Einige Experten sagen, COVID-19 wird nie verschwinden. Das Virus wird mutieren, wir werden zwar Impfstoffe haben, wirksame Medikamente, aber weggehen wird es wahrscheinlich nie. Wir werden mit dem Virus leben müssen. Und wenn wir das verinnerlichen, wird klar, dass vielleicht nicht alles wieder gut wird. Nicht alles wird wieder so sein wie in Prä-Corona-Zeiten. Keiner kann in die Glaskugel schauen und wissen, ob die närrische Zeit im nächsten und übernächsten Jahr normal oder anders normal sein wird.

Mummenschanz light ist seit dem Mittelalter eigentlich nicht vorgesehen, entweder volle Pulle oder gar nicht. Andererseits sind Rosenmontagsumzüge schon oft abgesagt worden – während der Weltkriege, wegen heftiger Sturmböen oder des Irak-Krieges. Die Sitzungen werden wahrscheinlich erst mal etwas ungewohnt aussehen. Mit weniger Publikum, dafür aber strengen Abstandsregelungen – Schunkeln und Singen verboten, Mitsummen vielleicht erlaubt. Und besser nicht so laut über einen gelungenen Gag der Büttenrede lachen, sonst verbreiten sich womöglich noch virusgetränkte Aerosole im Raum.

Ich bin mir aber sicher, dass es einen kompletten närrischen Lockdown während der tollen Tage nicht geben wird. Im Karneval kämpfte schon immer der Leichtsinn der Fastnacht gegen die Vernunft der Fastenzeit. Unten ist oben, oben ist unten, jedes Jahr findet eine närrische Revolution statt – Prinz Karneval herrscht über die Stadt. Aber aus dem Prinz wird nie ein richtiger König, der Prinz will das verdammte Corona-Krönchen einfach nicht haben. Es bleibt dabei: Die Narren sind los! Vorwärts Marsch, Huhuhu, Ahoi, Allez Hopp, Helau und – Alaaf!

Kapitel 1

AM ASCHERMITTWOCH IST ALLES VORBEI – ABER NICHT IN BASEL

72 Stunden Ausnahmezustand – Eine närrische Energie, die sich entlädt – Yypfyffe – Blagedde ist Pflicht!

Um Schlag vier Uhr am frühen Montagmorgen gehen in Basel die Lichter aus. Es wird dunkel, stockdunkel, zappenduster. Nur die Groß-Laternen und die Kopflichter an den übergroßen Larven der Fasnächtler bewegen sich wie kunterbunte Glühwürmchen durch die Nacht. Gleichzeitig bricht ein infernalischer Lärm los, die Aktiven sind mit Trommeln und Piccoloflöten bewaffnet. Die Parole ist »Vorwärts Marsch«, und dann geht es los, mit den Laternen wie überdimensionierte Lollis – einige haben die Ausmaße eines Kleinwagens –, den Trommeln, den Piccolos.

Ist das ein karnevalistischer Umzug wie in Köln, Mainz, Düsseldorf, alle schön der Reihe nach? Nein, so ist das nicht, ich werde es erzählen. Es geht kreuz und quer, jede Clique dreht ihre eigenen Runden, in den engen Gassen der Basler Altstadt kommt es zu Begegnungen und Kreuzungen, dann vermischen sich die Cliquen kurz, trennen sich wieder, kakofonieren instrumental, entwirren sich wieder und gehen für sich weiter. Anarchie in der ansonsten so ordentlichen Schweiz.

Aber was läuft hier eigentlich bei den Eidgenossen, mitten in der Nacht, bei ohrenbetäubendem Lärm, bunten Lichtern – und einer Affenkälte? Ich will der Sache auf den Grund gehen. Die Bildungsreisenden der Romantik, Wilhelm Meister und der Grüne Heinrich beispielsweise, verstanden unter Bildung nicht das Studium der Bücher. Das Herz sollte sich bilden, die Seele, nicht zuletzt der Verstand. Begegnungen, Erlebnisse, Reisen, der Bildungsroman als Road Movie.

In diesem Sinne möchte ich mich in meinem närrischen Jahr bilden. Ich werde Fastnacht, Fasching, Karneval durch Gespräche, Erfahrungen und Selbstversuche erlernen. Obwohl in Köln geboren, schien mir die närrische Zeit in den letzten beiden Jahrzehnten ein finsteres Paralleluniversum zu sein. Mit Anfang 30 hatte ich nach heftigen Sauf- und Schunkeljahren in Jugend und Studentenzeit geschworen, für immer ins Lager der Karnevals-Flüchtlinge zu wechseln. No more Alaaf anymore.

Mit diesem Buch fange ich auch persönlich wieder bei der närrischen Null an. Ein fastnächtliches Lehrjahr. Ich möchte die Historie des Mummenschanzes verstehen, die psychologische Komponente der Maskerade. Mein Ziel ist es, das Geheimnis der Narren zu begreifen. So universell das Närrisch-Sein ist, scheint es doch jeweils auch starke regionale Komponenten zu haben. Schafft es also einen besonderen Bezug zur Heimat? Oder geht es einfach darum, eine gute Zeit zu haben, Party zu feiern, wir machen durch bis morgen früh und singen Bumsfallera? Und was treiben die Narren eigentlich zwischen Aschermittwoch und Sessionsbeginn? Fallen die in eine Art karnevalistischen Sommerschlaf, oder gibt es da konspirative Geheimtreffen, von denen der Rest der Welt nichts ahnt, an denen aber eifrig Vorbereitungen für die kommende Session getroffen werden? Entscheidend wird für mich als Rheinländer vor allem der Blick über den närrischen Tellerrand sein – wie feiert man in Veitshöchheim, Villach, Venedig, Waldbröl und Rottweil?

Mein närrisches Jahr beginnt in Basel und damit gleich mit einer für mich als kölscher Jung etwas schrägen Version der fünften Jahreszeit. Die augenfälligste Besonderheit ist das Timing. Hier stehen die Fans der Fasnacht am Montagmorgen nach Aschermittwoch um 4.00 Uhr zum Morgestraich stramm. Nach Aschermittwoch, was soll das denn? Am Aschermittwoch ist doch alles vorbei, die Schwüre von Treue, sie brechen entzwei. Die Fastenzeit beginnt, Schluss mit lustig. So kennt man das in den meisten deutschsprachigen Regionen.

Die Basler dagegen feiern nach dem alten Fastnachtskalender, und das kam so: Bekanntlich dauert eine Fastenzeit 40 Tage, so hat Jesus das vorgelebt, als er sich allein in die Wüste zurückzog, so hat man das schon immer gemacht. Wenn man genau nachrechnet, liegen aber zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag nicht fünfeinhalb, sondern sechseinhalb Wochen. Denn 40 Tage am Stück zu fasten, auf Fleisch, tierische Produkte und Sex zu verzichten, das ist schon ziemlich hart. So sah man das zumindest 1091 auf der Synode von Benevent. Die Kirchenfürsten beschlossen – wahrscheinlich auch im eigenen Interesse –, man könne doch zumindest an den Sonntagen der Fastenzeit eine Pause machen und es so richtig krachen lassen. Dadurch sollte aber nicht die Netto-Fastenzeit gekürzt werden, also wurden die sechs Sonntage draufgerechnet, und schon dauerte die Fastenzeit 46 Tage, von Aschermittwoch bis einschließlich Karsamstag.

Aber warum ist das in Basel anders? Nun, vielleicht sagte man sich, dass man als reformierte Stadt sowieso auf die katholischen Regeln pfeifen könne (deswegen vielleicht die vielen Piccoloflöten der Basler Fastnacht. Nur so eine Vermutung …). Der Reformator Huldrych Zwingli – wie übrigens auch sein Wittenberger Kollege Martin Luther – stand dem Fasten nach einem standardisierten Kalender ohnehin kritisch gegenüber. Deswegen ist dann auch nicht schon wieder am Dienstag nach dem Morgestraich Schluss – Aschermittwoch plus sechs Tage würde ja an sich Ascherdienstag ergeben –, sondern man feiert gut gelaunt weiter bis zum Donnerstag.

Auch in einigen Regionen der Schwäbisch-Alemannischen Fastnacht hat sich übrigens bis heute die »neue« Regel von 1091 nicht durchgesetzt, sie wird als eine Vorgabe von denen da oben empfunden, den feinen Herren und Pfaffen. Daher spricht man im Südwesten Deutschlands von der »Pfaffen-Fastnacht« oder der »Herren-Fastnacht«, wenn man die Zeit von Donnerstag bis Dienstag vor Aschermittwoch meint. Im Badischen findet man nach dem alten Fastnachts-Kalender die »Bauernfastnacht«. Diese Buurefasnacht wird zum Beispiel in Hauingen – einem Dorf, das erst seit den 1970er-Jahren zu Lörrach gehört – und in Weil am Rhein an der Grenze zur Schweiz am Sonntag nach Aschermittwoch gefeiert. In anderen Städten der Schweiz dagegen gilt wie in Deutschland, Beginn der tollen Tage ist an einem Donnerstag. Im katholischen Luzern beispielsweise geht’s Donnerstagmorgen um 5.00 Uhr mit dem Urknall los, einem Feuerwerk am Vierwaldstätter See, einer Art närrisches Silvester. Nicht Weiberfastnacht, sondern Urknall-Donnerstag. Allgemein aber scheint in der Schweiz die Redensart zu gelten: »Der frühe Vogel fängt den Wurm.«

Wenn man genau hinschaut, gibt es in der Region weitere traditionelle Bräuche, die nach Ablauf der üblichen Fastnachtszeit gepflegt werden. In Südbaden – es gibt die Badischen und die Symbadischen, sagt man in Basel –, in der Region von Lörrach also, werden am Samstag oder Sonntag nach Aschermittwoch glühende Scheiben von einer Abschussrampe abgefeuert. Die fliegen dann in hohem Bogen durch die Gegend. Die Scheiben symbolisieren kleine Sonnen und sollen den Frühling anlocken. Also eher ein Winter-Vertreibungsbrauch, der nur bedingt etwas mit Fastnacht und der darauffolgenden Fastenzeit zu tun hat.

In den Dörfern südlich von Basel kennt man diesen Brauch auch, das heißt dort Reedlischigge. Man trifft sich meist auf einer Anhöhe und entzündet ein großes Feuer, in dem die Reedlis zum Glühen gebracht werden. Anschließend jagt man sie via Abschussrampe ins Tal. Im Basler Land betont man, dass die Scheiben in Baden traditionell viereckig seien, während die auf Schweizer Seite rund sind, man dort also gewissermaßen schon das Rad erfunden habe. Aber auch die Basler Fasnächtler – man sollte die aktiven Teilnehmer der Basler Fasnacht niemals, aber auch wirklich niemals »Narren« nennen – sind am Sonntag nach Aschermittwoch aktiv beim Ladäärne yypfyffe. »Yypfyffe«, das sind mehr y als in so manchem finnischen oder ungarischen Wort. Die Laternen werden angepfiffen, Übung macht den Meister, damit die Fasnacht in Basel auch schön laut wird.

Also zurück zum Morgestraich. Vor Müdigkeit fröstelnd fragt man sich als neutraler Beobachter: Wo nehmen die rund 8000 Aktiven eigentlich diese Energie her, morgens um vier so derart fit und gut gelaunt (ich hoffe, die Fasnächtler sind gut gelaunt, unter den riesigen Voll-Larven kann man ja keine Mimik erkennen) durch Basel zu marschieren? »Vor dem Morgestraich liegt ein Zauber, und es ziehen sich kribbelnde Schauer wetterleuchtend durch die Brust«, hat mal jemand gesagt, der eine poetische Ader haben muss. Das ist es vielleicht, diese unsichtbare Energie, die die echten Fasnächtler antreibt wie die Batterie das Duracell-Häschen.

Der Basler Musiker George sagte mir bei einem Glas Wein: »Am eigentlich ruhigen Sonntag merkt man, wie sich die Stadt elektrisch auflädt. Der Tourist sagt vielleicht, ich sehe nichts. Aber ich spüre das, ich weiß ja, wie die Stadt normalerweise tickt. Es liegt etwas in der Luft, die Stadt lädt sich auf. Es liegt total viel Energie in der Luft, um sich dann am Montagmorgen um vier Uhr explosiv zu entladen.« Das ist ein sehr schönes Bild. Wie bei einem Gewitter entlädt sich die Energie der Basler Fastnacht: der Lärm der Trommeln und Piccolos ist der Donner, die tanzenden Lichter der Laternen sind die Blitze. Oder, ein anderes Bild, der Welt des Theaters entlehnt: Der Zuschauerraum verdunkelt sich, der Vorhang geht hoch und das Theaterstück mit dem Titel »Basler Fasnacht« beginnt. Mit einer Länge von 72 Stunden ist es nicht zu kurz.

Dass die Fasnachtsvereine in Basel Cliquen heißen, das hat etwas Konspiratives, Verschwörerisches. Auf den großen, zwei Meter hohen Hauptlaternen, die wie illuminierte Plakatwände den Cliquen vorangehen, werden die Sujets (»Mottos« würde man in Deutschland sagen) jeder Clique in Schrift und Bild vorgestellt. Es gibt also nicht ein Motto für alle wie im Rheinland, sondern für jede der ungefähr 80 bis 90 Cliquen ein eigenes. Ein Sujet ist beispielsweise »Drey Daag Drybbe mer’s bunt«. Drei Tage möchte es die Clique bunt treiben, das ist gesellschaftspolitisch hochbrisant, könnte es doch als Aufruf zur öffentlichen Unzucht während der Fasnacht interpretiert werden.

Die Hauptlaternen sehen selten selbstgebastelt aus, viele sind von Profis designt worden und kunstvoll bemalt. So wie der Laokoon, der mit einer mächtigen Müll-Schlange kämpft, wahrscheinlich eine Karikatur auf irgendeine regionale Umweltsauerei. Auf zahlreichen Hauptlaternen wird auch einfach das Jubiläum der Clique gefeiert: 30 Jahre! 40 Jahre! 60 Jahre! Dass diese altehrwürdigen Cliquen dabei sind, ist wirklich bemerkenswert, denn es ist nicht unüblich, dass sich Cliquen über die Wahl eines Sujets total in die Haare kriegen. Dann spalten sich die Abweichler von der Ursprungs-Clique ab und gründen eine neue, eigenständige Clique. Von wegen Cliquenwirtschaft, dieses System gleicht eher einer närrischen, permanenten Zellteilung. Undenkbar im Rheinland mit seinen traditionsreichen Karnevalsgesellschaften, die würden sich nie aufteilen. Pro Clique gehen 100 bis 150 Teilnehmer beim Morgestraich und auch später am Tag beim Cortège mit.

»Wenn Sie der Meinung sind, dass an der Fasnacht ›alles erlaubt‹ ist, muss ich Sie leider enttäuschen. Vergessen Sie nicht, dass wir hier in der Schweiz sind. Das oberste Prinzip der Fasnacht ist Ordnung, nicht Chaos«, schreibt Peter Habicht in seinem Buch Pfyffe, Ruesse, Schränze. Die Fasnacht verläuft trotz aller vordergründigen Anarchie so geordnet, dass viele Aktivitäten in kurzer Zeit »abgearbeitet« werden. Wofür andere närrische Regionen im deutschsprachigen Raum sechs tolle Tage, eine ganze Session, mitunter ein ganzes närrisches Jahr benötigen, sagen die Fasnächtler in Basel: Wir schaffen das in 72 Stunden. So lange müssen die Aktiven pausenlos trommeln, pfeifen, zwei Umzüge erledigen, einkehren – und sie müssen sich umziehen. Beim Morgestraich tragen die Cliquenmitglieder ihr erstes Kostüm, das zum gewählten Sujet passen muss. Nachmittags beim Cortège wird ein anderes angezogen. Abends behält man entweder die Maske vom Nachmittag an oder wirft sich in ein drittes Kostüm. Da alle Cliquen jeweils die gleichen Kostüme und Wasserkopf-Larven (die Gesamtheit von Kostüm und Larve heißt Maske) tragen, sollte man bei der ganzen Umzieherei nicht durcheinanderkommen.

Eine extreme, bunte Vielfalt ist die Basler Fasnacht, die aber – Achtung, Achtung!!! – nur für die Fasnächtler gilt, keineswegs für die Zuschauer. Kommt bloß nicht auf die Idee, euch kostümiert, womöglich auch noch geschminkt oder mit Pappnase, unter die Cliquen zu mischen. Das Publikum, das sind in Basel die Zivilisten. Es gibt eine ganz klare Trennung, wie beim Militär. Die einen haben Uniformen/Kostüme und marschieren (»Vorwärts Marsch!«) zur Musik voran. Die anderen tragen zivil. Während also die Narren – Verzeihung, Fasnächtler – ihre Marschmusik spielen, steht oder geht der Zivilist ohne Kostüm und Larve daneben.

Die Zivilisten dürfen sogar Pause beim 72-stündigen Fasnacht-Marathon machen, sich mal aufs Ohr hauen, bevor sie wieder durch die Gassen ziehen. Aber sie müssen eine schwerwiegende Frage beantworten: Soll man mit den Cliquen ziehen, oder sich einen festen Standort suchen, von dem aus man wie in einem Open-Air-Stadion einen guten Überblick über das Spektakel hat? Ich denke, ich bin eher der Typ Cliquen-Verfolger, derjenige, der den Truppen hinterherdackelt, was Familie und Freunde der Cliquenmitglieder ja auch machen. Mir wurde von den alten Hasen unter den Zivilisten eingeschärft, niemals vor den Cliquen zu gehen, sonst versperre man denen womöglich noch den Weg. Gegen einen festen Platz beim Morgestraich spricht auch, dass es je nach Winterkälte angenehmer ist, ständig in Bewegung zu sein, als an einer Stelle festzufrieren.

Egal ob Stand-Zivilist oder Zivilist-to-Go: Blagedde muss sein. Durch den Verkauf von Plaketten, die jedes Jahr ein anderes Motiv haben, unterstützt jeder Zivilist die Basler Fasnacht. Das Fasnachts-Comitee gibt die Einnahmen größtenteils an die Cliquen weiter, die Zivilisten subventionieren also die Aktiven. Ich habe am Bahnhof Basel SBB für neun Franken eine Blagedde in Kupfer erstanden. Die Silber-Version für 18 Franken war wohl ausverkauft, denn der freundliche Blageddenmann mit dem Bauchladen hätte mir noch die Gold-Variante für 40 Franken, oder das Modell Bijou für 100 Franken verkaufen können. So weit geht meine Liebe zur Basler Fasnacht dann doch nicht, außerdem habe ich von einigen gebürtigen Baslern gehört, dass sie auch immer Kupfer kaufen, das passe also schon.

Am Montagnachmittag geht es – atemlos durch den Tag – mit der Cortège weiter. Ein Cortège ist mit einem Umzug rheinländischer Prägung zu vergleichen. Alle Cliquen (die erneut die Hauptdarsteller sind) gehen ordentlich hintereinander auf einem festgelegten Zugweg. Die Piccolos und Trommeln kommen wieder zum Einsatz und zwischen den Fußgängern führen die meisten Cliquen noch einen Wagen mit. Eine Trennung zwischen Musikkapellen und Fußgruppen existiert nicht, es ist eigentlich ganz einfach: Jeder, der mitgeht, musiziert auch. Aber was ist eigentlich, wenn man Cliquenmitglied werden will und absolut unmusikalisch ist? Kein Problem: trotzdem mitmachen. Viele Cliquenmitglieder sind mit der Musikalität eines Backautomaten gesegnet, das hört man durchaus. Die Wagen der Cliquen sind entweder politisch (Trump geht immer) oder unterhaltsam, im besten Fall beides. Während des Cortège werden in homöopathischen Dosen auch Süßigkeiten verteilt, nicht mit großem Schwung massenhaft geworfen wie bei den Rosenmontagszügen in Köln, Mainz, Düsseldorf. Eher vornehm zurückhaltend, so wie das die Alti Dante macht, also die alte Tante.

Die Alti Dante ist eine traditionelle Figur der Basler Fasnacht mit spitzer Nase, langen Wimpern, großem Wagenradhut und ausladendem Kleid mit Rüschen und Spitzen. Meistens steckt in der Maske der Alti Dante ein älterer Mann, das Thema Rollentausch der Geschlechter begegnet einem in allen närrischen Regionen immer wieder, man denke nur an die Jungfrau im Kölner Dreigestirn oder die zahlreichen Männerballetts auf Fastnachtsitzungen. Die Alti Dante klaubt aus ihren Schmuckschatullen einzelne Süßigkeiten und verteilt sie an die Kinder. Diese sehr liebevolle Darreichung, die ein wenig an die Hostienverteilung in einer katholischen Kirche erinnert, wird mir auch in Rottweil bei der Schwäbisch-Alemannischen Fastnacht wieder begegnen. Alternativ ist es auch üblich, Orangen zu werfen, diese Südfrüchte sind begehrt, machen aber eine tierische Sauerei, wenn sie auf dem Asphalt zerplatzen.

Die Basler Fasnacht kennt neben der Alti Dante eine Reihe von standardisierten Figuren. Die bekannteste ist der Waggis. Mit seinem blauen Kittel, der weißen Hose, den Holzschuhen und der vom Weingenuss geröteten, riesigen Nase ist der Waggis eine Parodie auf die elsässische Bauernschaft. Die Farben Blau-Weiß-Rot symbolisieren die französische Fahne. Ist das denn überhaupt noch politisch korrekt? Minderheiten, den Fremden an sich, das Nachbarland so zu verspotten? Ich finde, das ist völlig in Ordnung. Man könnte es sich einfach machen, und mit der langen Tradition dieser Figuren argumentieren – so haben wir das doch immer gemacht. Das, was man schon immer gemacht hat, ist aber ja deswegen nicht automatisch korrekt. Tatsache ist allerdings: Humor und Witz leben von Grenzüberschreitungen und gehen immer auf Kosten von irgendwem. Zielscheibe sind meistens die Dummen oder die, die man für dumm hält (Ostfriesen, Pfälzer, Blondinen, Elsässer). Und Witze gehen eben auch auf Kosten von Minderheiten (Männer zum Beispiel). Aber ist es nicht so, dass während der närrischen Zeit die Mächtigen verspottet werden, sich das Unten nach Oben verkehrt? Das ist prinzipiell richtig, aber erstaunlicherweise manifestiert sich das nicht in den traditionellen Figuren der Fastnacht. Wenn man sich diese im Schwäbisch-Alemannischen Raum anschaut, zu dem auch Basel gehört, sind es durchgängig die Teufel, die Hexen, die Tiere oder die Dorforiginale, also die Außenseiter und Randfiguren des Lebens und der Gesellschaft, die parodiert werden.

Wie viele Larven der Basler Fasnacht, ist die des Waggis so groß, dass derjenige, der sie trägt, durch die Nasenlöcher hindurch nach außen sieht, die Augen der Larve liegen um einiges höher. Der Pappmachékopf ragt also weit über den Kopf des Trägers hinaus, sodass das Ganze gar nicht so leicht auszubalancieren ist, vor allem, wenn man schon den einen oder anderen Schluck intus hat. Wobei … mit so einem Riesenschädel auf dem Kopf kann man ja ohnehin weder trinken noch essen. Klar im Vorteil in Sachen Vereinbarkeit von Larve und Mundfreiheit sind die Flötenspieler. Ihre Larven reichen nur bis knapp über die Nase. So können sie nicht nur fröhlich pfeifen, sondern sich auch ein Gläschen zwischendurch genehmigen – Santé!

Als weitere Figur möchte ich den Blätzlibajass, den Bajazzo erwähnen, der wie der Harlekin und der Pierrot seine Wurzeln in der norditalienischen Comedia dell’Arte hat. Die Figur des Bajazzo findet sich im venezianischen Karneval, in der Mainzer Fastnacht und eben auch in der Basler Fasnacht. Nach allem, was ich in Basel hörte, verkleiden sich aber immer weniger Fasnächtler als Waggis, Alti Danti oder Blätzlibajass, diese Figuren sterben langsam aus. Man verkleidet sich so, wie es dem gewählten Sujet entspricht, oder aber total individuell.

Die Basler Fasnacht in der heutigen Form ist knapp hundert Jahre alt, der Morgestraich in seiner anarchischen Frühform ist etwas älter. Im 19. Jahrhundert hat man in Basel Karneval nach Kölner Vorbild gefeiert, mit »Bunten Abenden« (also Sitzungen), Umzügen und einem Prinz Karneval. Dieses Phänomen wird mich durch mein Jahr als Narr begleiten. Viele närrische Traditionen sind gar nicht so urtümlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Panta Rhei, alles ist im Fluss, das gilt auch für die Fastnacht. Entstanden sind die überdimensionierten Basler Kopflarven, die so archaisch erscheinen, während eines Wettbewerbs des Staatlichen Kunstkredits von 1925. Obgleich die Ursprünge der Larven weit zurück in die Frühe Neuzeit reichen, sind also auch die traditionellen Figuren der Basler Fasnacht in der heutigen Form noch nicht einmal hundert Jahre alt, deswegen beziehen sich die Kostüme zumeist auf die Mode des 19. Jahrhunderts, die schon 1925 als altmodisch galt.

Nach Morgestraich und Cortège wenden sich die nimmermüden Basler Fasnächtler am Montagabend einer weiteren Veranstaltungsform zu: Die Schnitzelbängg finden in Club-Lokalen, in Cliquen-Kellern, aber auch im Theater Basel statt. Von der Wortbedeutung sind die Schnitzelbängg die Hobelbänke des Schreiners, auf denen das Holz bearbeitet wird, bis die Fetzen, die Schnitzel, fliegen. Genauso behandeln die Schnitzelbänggler ihre Themen. Im Bestfall hobeln sie so lange darauf herum, bis die Pointen gehobelten Holzschnitzeln gleich durch den Saal sausen. Also eine ganz normale närrische Sitzung, mit Elferrat und Büttenreden?

Weit gefehlt, ein Schnitzelbängg-Abend ist eher mit einem kabarettistischen Kleinkunst-Event zu vergleichen, auf dem die mit großen Kopflarven verkleideten Bänkelsänger ihre lustigen Geschichten vortragen. Die Schnitzelbänggler gleichen ein wenig den Moritatensängern auf einem Jahrmarkt, die ihrem Publikum von den Weltläuften und außergewöhnlichen menschlichen Schicksalen berichten. Auch sie tragen fantasievolle Larven, die das Gesicht meist allerdings nur bis zum Mund bedecken, schließlich müssen die Schnitzelbänggler ja ungebremst vom Leder ziehen können. Die Schnitzelbängg-Auftritte haben etwas von Frontalunterricht, auf großen Papp-Tafeln werden die Sachverhalte einer Geschichte zeichnerisch glossiert. »Die Goldies« ist beispielsweise der Name von drei Schnitzelbängglern. Die Aufgaben sind klar verteilt: Einer trägt vor, einer zupft dazu eine einfache Melodie auf der Gitarre, der Dritte zeigt dem Publikum die Zeichnungen. Auf einer Skizze ist zu sehen, wie sich ein Mann mit einer Deutschland-Flagge auf dem Shirt in den Schritt greift. Das soll der deutsche Bundestrainer Jogi Löw sein, verkündet der Sänger. Die gereimte Pointe dazu: »Er hat einen Spieler g’sucht – und den Mittelstürmer gefunden!«

Beliebte Themen der Schnitzelbänggler sind die Kirche, die Kommunalpolitik, die Zürcher, die Deutschen. Die Zürcher und die Deutschen sind für den Basler das, was für den Kölner die Düsseldorfer sind und für die Saarländer die Pfälzer – Idioten mit dem Intelligenzquotienten eines Toastbrots. Ein starres Programm ist bei einer Schnitzelbängg nicht vorgesehen, wer Lust hat, tritt auf und zieht weiter, auf der Suche nach der nächsten Bühne. Peter, ein Kumpel aus Basel, hatte am Sonntag vor der Fasnacht eine verrückte Idee. Wir beiden könnten doch ein Duo gründen, einen lustigen Text schreiben – kein Problem –, zwei Kopflarven ausleihen und spontan auftreten. Ich lehne ab. Erstens schüttelt man so einen Schnitzelbängg-Auftritt nicht aus dem Ärmel, zweitens müssten Karikaturen für die großen Papptafeln angefertigt werden. Vor allem aber müsste ich mir drittens innerhalb kürzester Zeit ein flüssiges und perfektes Baslerdeutsch draufschaffen. Das wird nicht gelingen, ich bin nicht sprachbegabt.

Schon das passive Verstehen der Schnitzelbänggler ist für einen Deutschen hartes Brot. Ich kann nur vermuten, dass die meisten Vorträge lustig sind, die Zuschauer amüsieren sich schließlich königlich, ich verstehe nur Wortfetzen. Das große Ganze kann ich mir ausschließlich aus den Zeichnungen zusammenreimen, denn auf den Bühnen der Schnitzelbängg wird eindeutig in fremden Zungen geredet. Ich denke, man will auch gar nicht von Deutschen verstanden werden. Denn wenn sie wollen, sprechen die Basler ausgezeichnetes Hochdeutsch. Nicht so wie die Innerschweizer, bei denen man das Schweizerdeutsch mit seinen berühmten Rachenlauten häufig auch beim Hochdeutsch-Sprechen durchhört. Nein, die Basler können ein so klares Hochdeutsch sprechen, wie das ein Badener gar nicht hinkriegen würde. Aber sie wollen es einfach nicht, zumindest nicht beim Schnitzelbängg.

Ursprünglich war der Dienstag ein Pausentag, Erholung von der Fasnacht, ein ganz normaler Arbeitstag. Ein wenig Kinderfasnacht, das war’s. Früher wurde in Basel auch montags nach dem Morgestraich ab 7.00 Uhr gearbeitet. Nichts anderes erwartet man ja in der Schweiz, fleißig bis zum Anschlag. Mittlerweile aber wird 72 Stunden durchgefeiert. Unverkennbar – nicht nur in Basel – gibt es im deutschsprachigen Raum eine Tendenz, die närrische Zeit auszudehnen. Mehr Kostümierungsanlässe, mehr Alkoholexzesse, mehr Feiern. Und so ist auch in Basel der Dienstag nicht mehr spaßbefreite Zone, sondern in den Gassen ist mehr los als am Montag und Mittwoch. Dafür sorgen neben den Cliquen die Schyssdräggziigli, die Scheißdreckzüge, (angeblich) bedeutungslose, kleine Züge. Familien, ein paar Freunde schließen sich zusammen und ziehen mit Kind und Kegel im Leiterwagen durch die Stadt. Wild kostümiert, unorganisiert.

Aber der Dienstag ist vor allem der große Tag der Guggen. Abends geben die Guggen-Gruppen, wie die Cliquen mit riesiger Kopflarve und Kostüm verkleidet, auf den großen Plätzen der Stadt ihre Konzerte. Die Guggen sind, so Peter Habicht, »Big-Band-artige Blechkapellen, die absichtlich falsch spielen«. Falschspieler? Irgendwie eine hochphilosophische Frage. Spielen die Guggen-Gruppen wirklich absichtlich falsch, oder können sie es einfach nicht? Ist es hohe Kunst, eine Art närrische Zwölftonmusik, oder einfach nur nervender Krach?

Meiner Meinung ist ein komplettes, dreistündiges Guggenkonzert am Dienstagabend mit allen Guggen-Gruppen eher etwas für die Freunde von Karl-Heinz Stockhausen. Da die meisten Guggen Noten vor den Augen haben, vermute ich, dass die Noten schon falsch aufgeschrieben wurden, um einen komplett irren, kakofonischen Effekt zu erzeugen. Gut, dass alle Guggenmusiker voll maskiert sind, so können sie nicht erkennungsdienstlich wegen musikalischer Folter belangt werden. Basler Freunde erzählten mir vor der Fasnacht, die Guggen seien so schrecklich undiszipliniert. Mein Basler Kumpel Peter sagt: »Manche Guggen haben die Tendenz, wenn sie irgendwo Platzkonzert machen, ihre Larven auszuziehen. Das ist verboten. Ein klassischer Fasnächtler kriegt dann einen Herzinfarkt.«

Die Guggen sind nicht sehr beliebt bei den Cliquen, weil sie einen Höllenlärm machen und die traditionellen Trommler und Pfeifer übertönen. Die Guggen gelten als fasnächtliches Proletariat. Peter Habicht schreibt: »›Sie sind schon recht‹, sagen die meisten, ›es gibt einfach zu viele von ihnen.‹« Der Unterschied zwischen Guggen und Cliquen manifestiert sich in einer geografischen Unterscheidung. Die Guggen kommen aus Klein-Basel (auf der deutschen Seite), dort ist es wilder, lauter, anarchischer, alkoholischer. Die Mitglieder der Cliquen sind bürgerliche, schweizerisch-brave Fasnächtler aus Groß-Basel, der französischen Seite. Groß-Basel linksrheinisch, Klein-Basel rechtsrheinisch, der Kölner würde verächtlich sagen: Schäl Sick. Dass der Rhein in Basel auch eine Mentalitätsgrenze ist, wird offensichtlich, wenn man verstanden hat, dass Klein-Basel und Groß-Basel erst seit gut 500 Jahren eine städtische Einheit bilden. In den letzten 40 Jahren gab es eine Inflation der Guggen, es wurde irgendwann auffällig, dass immer mehr Guggen beim Morgestraich mitzogen. Das störte die Cliquen, weswegen diese eine Art Gentlemen’s Agreement durchsetzten: Morgestraich ist unser Ding. Die Guggen dagegen spielen auf der Bühne der großen Plätze Basels am Dienstagabend ihr großes Guggenkonzert, eine Guggengruppe nach der anderen, ein disharmonisches Mega-Event.

Am Mittwoch lassen es wieder die Cliquen krachen, spielen in den Gassen und ziehen vor allem im zweiten großen Cortège am Nachmittag durch die Stadt. Die Legende hält sich hartnäckig, dass die Cliquen nächtens durchmachen. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum sie diese überdimensionierten Wasserkopf-Larven aufsetzen. Darunter können sie entweder zwischendurch einen Power-Nap halten, ihre Musik beherrschen sie sowieso im Schlaf. Oder aber sie wechseln sich geschickt beim häuslichen Schlafen ab und hauen sich abwechselnd aufs Ohr, merkt ja eh keiner, wer unter den Larven steckt. Vor allem, wenn die Guggen lärmen, bietet sich eine hervorragende Gelegenheit, eine Mütze Schlaf zu nehmen.

Ein Geheimnis der Cliquen – so wie bei den meisten anderen närrischen Vereinigungen, egal ob in Köln, Rottweil oder Villach – ist der enge Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Von außen betrachtet haben die Übereinkünfte, Riten und Gebräuche einer solchen Narren-Truppe etwas Sektiererisches. Außerdem wird oft Kungelei unterstellt, so auch in Basel. Ein Basler Fasnachts-Fan in zivil erklärte mir: »Wenn man in Basel Karriere machen will, muss man in einer Clique sein, das ist wie in einer Partei.« Da haben wir es doch wieder, die einen sagen Cliquenwirtschaft dazu, die anderen nennen es Vernetzung. Und dann wahrscheinlich noch ein Männerbund! Für viele Karnevalsvereine im Rheinland trifft das immer noch zu, in Basel finden sich allerdings viele Frauen unter den Larven. In den meisten Cliquen sind die Pfeiferinnen sogar in der Mehrzahl. Als Deutscher werde ich es allerdings nie schaffen, mich einer Clique anzuschließen.

Aber ich habe einen Plan: Ich möchte in meinem Jahr als Narr zumindest temporär Teil eines großen närrischen Vereins werden, am besten in meiner Heimatstadt Köln. Aus der Innensicht kann man besser beurteilen, was so ein Karnevalsverein ist: Sekte, Klüngel-Vereinigung, Cliquenwirtschaft? Eines vereint allerdings alle närrischen Trupps auf der ganzen Welt, die Sambaschule in Rio de Janeiro, die »Ranzengarde« in Mainz, die Hänsele in Überlingen oder eben die Cliquen in Basel. Fastnacht, Karneval, Fasching ist keine Angelegenheit für ein paar »tolle« Tage, man muss sich schon das gesamte Kalenderjahr über damit beschäftigen. In Basel ist das naturgemäß genauso. Das Jahr über üben die Cliquen in ihren Probekellern, trommeln und pfeifen. Die Cliquen planen die Sujets, entwerfen die Larven aus Pappmaché und ihre Kostüme. Die Larven werden selbst gebastelt oder von professionellen Larvenmachern hergestellt, die ein eigenständiger Berufsstand in Basel sind.

Anlässlich der Fasnacht habe ich Uschi kennengelernt, 40 Jahre lang war die alte Dame Kostümbildnerin am Theater Basel, hat aber mit ihrem Team auch freiberuflich für eine Clique die Kostüme genäht. Bis zu 300 Kostüme pro Clique mussten jedes Jahr passend zum Sujet geschneidert werden. Die Cliquenmitglieder zahlen einen jährlichen Cliquenbeitrag, der umfasst das Kostüm, die Larve und dreimal Nachtessen während der 72 Stunden. Alles zusammen für 450 Franken. Eigentlich spottbillig, wenn man die Schweizer Preise für ein Kilo Rinderfilet dagegen hält, dafür wird man locker über 100 Franken los. Aber in Zeiten des Klimawandels, schimpft Uschi, sei es doch absolut falsch, jährlich ein neues Kostüm anzufertigen, total unnachhaltig. Und – könnte man hinzufügen – beim wesentlichen Event, dem Morgestraich, sieht man wegen der Dunkelheit sowieso nichts, da könnte man auch die alten Klamotten und Larven überstreifen. Aber so etwas »erlaubt« die Basler-Fasnacht-Tradition höchstens beim Schyssdräggziigli am Dienstag.

Am Mittwoch tragen die Cliquen wieder alle ihre niegelnagelneuen Kostüme. Am Mittwochabend, nach dem Mittwochs-Cortège, ziehen die Cliquen erneut trillernd und scheppernd durch die Gassen Basels, zwischendrin die Touristen. Es soll Fasnächtler geben, die Touristen als störend empfinden. Andererseits gehört Druggede, das Gedränge der Fasnacht, einfach dazu. Das närrische Element braucht Masse. In der Nacht auf den Donnerstag brechen die letzten Stunden der »drey scheenste Dääg« an, der Ändstraich naht. Kostümbildnerin Uschi schwärmt: »Der Ändstraich ist fürs Herz.«

Die Cliquen versammeln sich vor ihren Stammlokalen. Die Trommler stehen im Kreis – die Pfeifer sind beim Fasnachts-Ausklang nicht gefragt –, und dann spielen sie den Ändstraich. Uschi sagt: »Das ist wahnsinnig schön. Du musst aufbleiben bis vier, aber für den Ändstraich ist es schön.« Am Donnerstagmorgen hat in Basel die Fasnacht fertig. Morgestraich und Ändstraich verhalten sich zueinander wie Alpha und Omega, wie Geburt und Tod. Nun enden auch in Basel die närrischen Tage und die Vorbereitungen für den Morgestraich im nächsten Jahr können beginnen. Wenn man aber bis zur nächsten närrischen Feier nicht so lange warten möchte, sollte man nach Belgien fahren.

Kapitel 2

KARNEVAL MITTEN IN DER FASTENZEIT

Wenn die weißen Mönche verrückt spielen – Das ist doch keine Karnevalsmusik?! – Sauerei mit Konfettikanonen

Dreieinhalb Wochen nach Aschermittwoch macht die Fastenzeit im belgischen Stavelot Pause. Seit dem Mittelalter feiern die Bürger der Stadt ihren Karneval zu einem sehr skurrilen Zeitpunkt, mitten in der Fastenzeit. Eigentlich eine pfiffige Idee, schließlich hatte ja die berühmte Synode von 1091 beschlossen, dass das Kirchenvolk während der Sonntage nicht fasten muss. Logische Folgerung: Wer einmal die Woche nicht fasten muss, der kann an diesem Tag auch völlern und Karneval feiern! So entstand in Stavelot der Mittfasten-Karneval an Laetare, dem vierten Sonntag inmitten der Fastenzeit.

Schon zum 517. Mal findet dieser Umzug in Ostbelgien statt. Dafür, dass es schon die 517. Ausgabe ist, kommt der Mittfasten-Karneval in Stavelot äußerst modern, frisch, poppig daher. Eine Tanzgruppe mit sehr bunten Kostümen, die Ärmel ausladend wie Fledermausflügel, die Frauen in weiten Röcken, tanzen zu »Don’t stop me now« von Queen. Sie sind wirklich nicht zu stoppen und wirbeln nach einer strengen Choreografie vor, zurück, zur Seite, drehen sich, dass die Röcke fliegen. Wer mal im Internet einen Flashmob gesehen hat, kann sich vorstellen, wie das aussieht. Genauso wird beim Karneval in Stavelot getanzt, nur dass man sich nicht spontan verabredet hat, sondern alles minutiös geplant wird. Angeblich ist jeder dritte Einwohner von Stavelot am Mittfasten-Umzug beteiligt. Beim Wort »Mittfasten« muss übrigens auf jedes »t« geachtet werden. »Mitfasten« ist etwas ganz anderes als »Mittfasten«.

Im Zug der vorbeiziehenden Gruppen bilden sich ellenlange Zwischenräume, es entstehen Pausen, in denen nichts passiert. Es wird dann ganz ruhig, und kurz kommt ein klein wenig besinnliche Fastenzeit-Stimmung auf. Klar, auch beim Kölner Rosenmontagszug gibt es mitunter größere Lücken, aber der Grundlärmpegel ist sehr hoch, die Zuschauer rufen, singen, und aus jedem dritten Haus plärren aus riesigen Boxen Karnevalsschlager. In Stavelot dagegen: gediegene, abwartende Ruhe. Dann kommt wieder ein Wagen, viele von ihnen sind grell-bonbonfarben. Bei einem Wagen schaut ein Teufel aus einer Kathedrale, bei einem anderen lugt ein riesiger Dino hinter einem Feuer spuckenden Vulkan hervor. Auf einigen Fahrzeugen stehen Moderatoren, die in 130-Phon-Lautstärke dauerreden, Hauptsache viel und schnell und Französisch. Das erinnert an die Werbekarawane vor der Tour de France, die unter anderem wegen ihres plärrenden Krachs erheblich nervt.

Dann eine Blasmusikkapelle, der Kapellmeister wiegt sich im Takt hin und her, noch ist kein Ton zu hören, aber als er den Einsatz gibt, legt die Combo los. Dididididididi – Dididididididi – Dididididididi – Didididi – Di! Das Riff ist total eingängig, wird das im Original nicht am Keyboard gespielt? Verdammt, was für eine geile Melodie, das ist doch, ich hab᾿s gleich … Dididididididi – Dididididididi – Dididididididi – Didididi – Di! … Mir liegt es auf der Zunge, so ein One-Hit-Wonder-Hit aus Deutschland. Richtig gute Musik, einer meiner All-Time-Lieblings-Songs. Verdammt, wie heißt denn dieses Lied? Eben weil es so eine One-Hit-Wonder-Band ist, hat man sich wahrscheinlich nicht den Namen gemerkt. Irgendetwas mit »L«. La…Lo…Li…Lu…Le… Die Kapelle ist schon fast um die nächste Ecke verschwunden, da fällt es mir ein. Der Song heißt »Narcotic«, die Band Liquido. Was für ein gigantischer Song für eine Blaskapelle in einem Karnevalszug, einfach grandios. Chapeau! In sehr homöopathischen Dosen werden von einigen Gruppen auch Süßigkeiten verteilt. Wohlgemerkt, verteilt, nicht geworfen. Aber dann kommt doch noch ein Wagen, auf dem einige Narren stehen und großzügig Süßes in die Menge schmeißen. Ein politischer Inhalt ist in Stavelot nur selten zu erkennen. Es geht um Entertainment mit cooler Musik, schmissigen Tänzen, peppigen Wagen. Pure Freude, purer Unsinn, pure Narretei.

Zehn Minuten vor Ende des Zugs kommen die Mönche, ganz in Weiß gekleidet, die Blancs Moussis, mit einer penisartigen Möhre im Gesicht. Offenbar trieben es die Mönche in der Reichsabtei Stablo-Malmedy im ausgehenden Mittelalter recht bunt während des Mittfastens. Als dann 1499 mit Wilhelm von Manderscheid ein neuer gestrenger Fürstabt ans Ruder kam, der die Gelage und Ausschweifungen mehr als kritisch sah, erließ er kurzerhand ein Edikt, das den Brüdern fortan das Mittfasten untersagte. Die Bürger der Stadt zeigten sich solidarisch mit den Mönchen, schlüpften in weiße Kutten und verbargen ihr Gesicht hinter weißen Masken mit den charakteristischen roten Nasen.

Die Kirche verbietet das närrische Treiben, und die Narren kümmern sich nicht darum – das ist ein ständig wiederkehrendes Muster in der Geschichte von Fastnacht, Fasching und Karneval. Der russische Kunsttheoretiker Michail Bachtin analysiert in seinem Buch Literatur und Karneval, es gebe seit Urzeiten einen Konflikt zwischen der Macht, egal ob Kirche oder Staat, und dem Humor. Und doch gestand die Obrigkeit dem Volk immer wieder kleine Auszeiten zu, um die hart gerungen wurde. Die Geschichte des Karnevals ist die Geschichte seiner Verbote.

Der mittelalterliche Mensch, so Bachtin, war eingespannt in eine streng hierarchische Welt, wo jeder seinen Platz hatte: der Abt, der Mönch, der Bauer, der Knecht. Aber innerhalb des stark strukturierten Jahresablaufs gab es quasi »kleine Zeitinseln«, in denen die sonst strikten Regeln auf den Kopf gestellt wurden. Der Karneval bot eine Art Gegenkultur oder, wie Bachtin sich ausdrückte: »Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat.« Interessanterweise spielt die Körperlichkeit, »der groteske Leib«, bei Bachtin eine große Rolle, der Unterleib, aber auch Mund und Nase, die oft übertrieben groß und überdimensional dargestellt werden. Die penisartige Nase der Mönche in Stavelot, aber auch die mächtigen Zinken der Basler Larven lassen grüßen!

Auch Umberto Eco hat Michail Bachtins Theorie aufgenommen. Man denke nur an die Story von Der Name der Rose. Ein Buch, das es nicht geben darf, das verschollene zweite Buch der Poetik von Aristoteles über die Komödie, wird von dem blinden Bibliothekar Jorge derart präpariert, dass alle Mönche, die es lesen, sterben müssen. Die Mönche, die das Werk heimlich lasen, haben sich sozusagen totgelacht.

Den »Kampf zwischen Fastnacht und Fasten« illustriert auch anschaulich das berühmte Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren von 1559. Wie bei Brueghel üblich wimmelt es auf diesem Bild von Menschen. Das Fasten – dargestellt unter anderem durch eine Prozession dunkler Gestalten vor dem Portal einer Kathedrale – und die Fastnacht – zechende und feiernde Männer und Frauen vor dem Wirtshaus – stehen sich gegenüber.

Aber der Kampf wurde nicht nur allegorisch ausgefochten. Tatsächlich sind zahlreiche Verkleidungsverbote, um nicht zu sagen Vermummungsverbote, überliefert. 1601 verbot zum Beispiel der Rat der Stadt Köln »jegliche Mummerei«. Der Erfolg war bescheiden, denn schon bald musste man bilanzieren‚ dass »underscheidtliche Leuth, Gottes gebott und unserem publicierten Edicto zuwider, vergessslich und üppig bey offenem tag und nachtlicher zeit Mummen gegangen«. Es hagelte weitere Verbote, beispielsweise in den Jahren 1681, 1682, 1683, 1684, 1685, 1686, 1691, 1696, 1697, 1700, 1702, 1703, 1706, 1707 und – darauf ein dreifacher Tusch – 1708.